Als Soldat und brav

Immer hatte Hans Castorp kurze Nachrichten von seinem Vetter, erst gute, übermütige, dann weniger günstige, endlich solche, die etwas recht Trauriges matt beschönigten. Die Reihe der Postkarten fing an mit der lustigen Meldung von Joachims Dienstantritt und von der schwärmerischen Zeremonie, bei der er, wie Hans Castorp auf seiner Antwortkarte sich ausdrückte, Armut, Keuschheit und Gehorsam gelobt hatte. Dann ging es heiter fort: die Etappen einer glatten, begünstigten Laufbahn, geebnet durch leidenschaftliche Liebe zur Sache und durch die Sympathie der Oberen, wurden grüßend und winkend bezeichnet. Da Joachim ein paar Semester studiert hatte, war er des Besuches der Kriegsschule überhoben, vom Fähnrichsdienst befreit. Neujahr wurde er zum Unteroffizier befördert und schickte eine Photographie, die ihn mit den Tressen zeigte. Das Entzücken an dem Geist der ehrenstraffen, eisern gefügten und dennoch verbissen-humoristisch dem Menschlichen nachgebenden Hierarchie, in die er eingefügt war, leuchtete aus jedem seiner knappen Rapporte. Er gab Anekdoten von dem romantisch-verzwickten Verhalten seines Feldwebels, eines bärbeißigen und fanatischen Soldaten, zu ihm, dem fehlbaren jungen Untergebenen, in dem er jedoch den geweihten Vorgesetzten von morgen sah, welcher tatsächlich schon im Offizierskasino verkehrte. Es war drollig und wild. Dann war von der Zulassung zur Offiziersprüfung die Rede. Anfang April war Joachim Leutnant.

Augenscheinlich gab es keinen glücklicheren Menschen, keinen, dessen Wesen und Wünsche in dieser besonderen Lebensform reiner aufgegangen wären. Mit einer Art von verschämter Wonne erzählte er, wie er zum erstenmal in seiner jungen Pracht am Rathaus vorübergegangen und dem Posten, der zur Ehrenbezeigung stillgestanden sei, aus einiger Entfernung abgewinkt habe. Er berichtete von kleinen Verdrießlichkeiten und Genugtuungen des Dienstes, von glänzend-wohliger Kameradschaft, von der verschmitzten Treue seines Burschen, komischen Zwischenfällen beim Exerzieren und in der Instruktionsstunde, von Besichtigungen und Liebesmahlen. Auch von gesellschaftlichen Dingen, Visiten, Diners, Bällen, war gelegentlich die Rede. Von seiner Gesundheit überhaupt nicht.

Bis gegen den Sommer nicht. Dann hieß es, er hüte das Bett, habe sich leider krank melden müssen: Katarrhfieber, Angelegenheit von ein paar Tagen. Anfang Juni tat er wieder Dienst, aber Mitte des Monats hatte er abermals „schlapp gemacht“, klagte bitter über sein „Pech“, und die Angst brach durch, er möchte etwa zum großen Manöver, Anfang August, auf das er sich von ganzem Herzen freute, nicht auf dem Posten sein. Unsinn, im Juli war er kerngesund, wochenlang, so lange, bis eine Untersuchung am Horizont erschien, die durch die vermaledeiten Schwankungen seiner Temperatur zur Notwendigkeit geworden war, und von der viel abhängen würde. Über das Ergebnis dieser Untersuchung hörte Hans Castorp dann lange nichts, und als es geschah, war es nicht Joachim, der ihm schrieb, – sei es, weil er nicht in der Lage war, zu schreiben, oder weil er sich schämte, – sondern seine Mutter, Frau Ziemßen, und sie telegraphierte. Sie zeigte an, die Beurlaubung Joachims auf einige Wochen sei ärztlicherseits als unumgänglich befunden worden. Hochgebirge indiziert, alsbaldige Abreise geraten, Belegung zweier Zimmer erbeten. Rückantwort bezahlt. Gezeichnet: Tante Luise.

Es war Ende Juli, als Hans Castorp in seiner Balkonloge diese Depesche durchflog, dann las und wieder las. Er nickte leise dazu, nicht nur mit dem Kopf, sondern mit dem ganzen Oberkörper, und sagte zwischen den Zähnen: „Szo, szo, szo! Szieh, szieh, szieh! – Joachim kommt wieder!“ durchfuhr ihn plötzlich die Freude. Aber er wurde gleich wieder still und dachte: „Hm, hm, schwerwiegende Neuigkeiten. Man könnte sie auch als schöne Bescherung bezeichnen. Verdammt, das ist schnell gegangen – schon reif für die Heimat! Die Mutter fährt mit –“ (er sagte „die Mutter“, nicht „Tante Luise“; sein Gefühl für Verwandtschaft, Familienbeziehungen hatte sich unvermerkt bis zur Fremdheit abgeschwächt) – „das ist gravierend. Und gerade vor den Manövern, auf die der Gute so brannte! Hm, hm, es liegt eine hübsche Portion Gemeinheit darin, höhnische Gemeinheit, es ist ein gegen-idealistisches Faktum. Der Körper triumphiert, er will es anders als die Seele, und setzt sich durch, zur Blamage der Hochfliegenden, die lehren, er sei der Seele untertan. Es scheint, sie wissen nicht, was sie sagen, denn wenn sie recht hätten, so würfe das ein zweifelhaftes Licht auf die Seele, in einem Fall wie diesem. Sapienti sat, ich weiß, wie ichs meine. Denn die Frage, die ich aufstelle, ist eben, wie weit es verfehlt ist, sie gegeneinander zu stellen, wie weit sie vielmehr unter einer Decke stecken und eine abgekartete Partie spielen, – das fällt den Hochfliegenden zu ihrem Glück nicht ein. Guter Joachim, wer wollte dir und deinem Biereifer zu nahe treten! Du meinst es ehrlich – aber was ist Ehrlichkeit, frage ich, wenn Körper und Seele nun mal unter einer Decke stecken? Sollte es möglich sein, daß du gewisse erfrischende Düfte, eine hohe Brust und ein grundloses Gelächter nicht hast vergessen können, die am Tische der Stöhr deiner warten? ... Joachim kommt wieder!“ dachte er neuerdings und zog sich zusammen vor Freude. „Er kommt in schlechtem Zustande, offenbar, aber wir werden wieder zu zweien sein, ich werde nicht mehr so ganz auf eigene Hand hier oben leben. Das ist gut. Es wird nicht alles genau wie früher sein; sein Zimmer ist ja besetzt: Mistreß Macdonald, da hustet sie auf ihre klanglose Art und hat natürlich wieder die Photographie ihres kleinen Sohnes neben sich auf dem Tischchen oder auch in der Hand. Aber das ist finales Stadium, und wenn das Zimmer noch nicht wieder vorgemerkt ist, so ... Vorläufig wird ja ein anderes zu haben sein. 28 ist frei, meines Wissens. Ich will gleich auf die Verwaltung und namentlich zu Behrens. Ist das eine Neuigkeit, – traurig von der einen und famos von der anderen Seite, aber jedenfalls eine mächtige Neuigkeit! Ich möchte nur auf den gdießenden Kameraden warten, der gleich kommen muß, da es, wie ich sehe, halb vier ist. Ich möchte ihn fragen, ob er auch in diesem Falle der Meinung bleibt, daß man das Körperliche als sekundär zu betrachten hat ...“

Noch vorm Tee war er im Verwaltungsbureau. Das gedachte Zimmer, am selben Korridor wie seines gelegen, stand zur Verfügung. Auch für Frau Ziemßen würde sich Unterkunft finden. Er eilte zu Behrens. Er traf ihn im „Labor“, eine Zigarre in der einen Hand, in der anderen ein Reagenzglas mißfarbenen Inhalts.

„Herr Hofrat, wissen Sie was?“ begann Hans Castorp ...

„Ja, daß der Ärger nicht abreißt“, erwiderte der Pneumotom. „Das ist Rosenheim aus Utrecht“, sagte er und wies mit der Zigarre auf das Glas. „Gaffky zehn. Und da kommt Fabrikdirektor Schmitz und zetert und beschwert sich, daß Rosenheim auf der Promenade ausgespuckt hat, – mit Gaffky zehn. Und ich soll ihn rüffeln. Aber wenn ich ihn rüffle, so kriegt er Zustände, denn er ist maßlos irritabel und hat mit Familie drei Zimmer belegt. Ich kann ihn nicht rausgraulen, ich kriege es mit der Generaldirektion zu tun. Da sehen Sie, in was für Konflikte man jeden Augenblick gerät, und wenn man auch noch so gern still und unbefleckt seines Weges ziehen möchte.“

„Dumme Geschichte“, sagte Hans Castorp mit der Einsicht des Intimen und Altsassen. „Ich kenne die Herren. Schmitz ist kolossal korrekt und strebsam und Rosenheim reichlich salopp. Vielleicht bestehen aber auch noch andere, als hygienische, Reibungsflächen, ich möchte es glauben. Schmitz und Rosenheim sind beide befreundet mit Doña Perez aus Barcelona, vom Tisch der Kleefeld, das wird es im Grunde wohl sein. Ich würde vorschlagen, das betreffende Verbot vielleicht allgemein wieder in Erinnerung zu bringen und übrigens ein Auge zuzudrücken.“

„Natürlich drücke ich. Ich kriege ja schon Blepharospasmus vor lauter Augenzudrücken. Was treten Sie hier denn an?“

Und Hans Castorp rückte heraus mit seiner traurigen und auch wieder famosen Neuigkeit.

Nicht, daß der Hofrat überrascht gewesen wäre. Er wäre es auf keinen Fall gewesen, war es aber besonders nicht, weil Hans Castorp ihn, gefragt oder ungefragt, über Joachims Ergehen auf dem laufenden gehalten und schon im Mai Bettlägerigkeit signalisiert hatte.

„Aha“, machte Behrens. „Na also. Und was habe ich Ihnen gesagt? Was habe ich ihm und Ihnen nicht zehn-, sondern hundertmal wörtlich gesagt? Da haben Sie’s nun. Dreiviertel Jahr lang hat er seinen Willen und sein Himmelreich gehabt. Aber ein nicht restlos entgiftetes Himmelreich, dabei ist kein Segen, das hat der Ausbrecher dem ollen Behrens nicht glauben wollen. Man soll aber immer dem ollen Behrens glauben, sonst zieht man den kürzeren und kommt zu spät zu Verstand. Da hat er es nun zum Leutnant gebracht, allerdings, nichts zu sagen. Was hat er davon? Gott sieht ins Herze, der sieht nicht auf Rang und Stand, vor dem stehen wir alle in unsrer Blöße, ob General oder gemeiner Mann ...“ Er geriet ins Kohlen, rieb sich mit der riesigen Hand, zwischen deren Fingern er die Zigarre hielt, die Augen und sagte, nun solle Hans Castorp ihm aber für diesmal nicht länger lästig fallen. Eine Bude für Ziemßen sei ja wohl faßbar, und wenn er komme, solle sein Vetter ihn ohne Verzug ins Bett stecken. Ihn, Behrens, betreffend, so trage er keinem was nach, er halte die Arme väterlich geöffnet und sei bereit, ein Kalb für den Ausreißer zu schlachten.

Hans Castorp telegraphierte. Er erzählte nach rechts und links, daß sein Vetter wiederkomme, und alle, die Joachim kannten, waren betrübt und erfreut, und zwar beides aufrichtig, denn Joachims propperes, ritterliches Wesen hatte die allgemeine Zuneigung gewonnen, und manches unausgesprochene Urteil und Gefühl ging in der Richtung, daß er der Beste gewesen sei von allen hier oben. Wir haben niemanden persönlich im Auge, glauben aber an eine gewisse Genugtuung, die mancher darüber empfand, daß Joachim aus dem Soldatenstande zur horizontalen Lebensweise zurückkehren mußte und in seiner Propperkeit nun wieder einer der Unsrigen sein würde. Frau Stöhr, bekanntlich, hatte sich gleich das ihre gedacht; sie fand sich bestätigt in dem ordinären Zweifelsinn, mit dem sie Joachims Aufbruch ins Flachland begleitet hatte, und verschmähte nicht, sich seiner zu rühmen. „Faul, faul“, machte sie. Sie habe die Sache sogleich als faul erkannt und wolle nur hoffen, daß Ziemßen sie nicht oberfaul gemacht habe mit seinem Eigensinn. („Oberfaul“ sagte sie vor lauter unermeßlicher Gewöhnlichkeit.) Da sei es denn doch viel besser, man bleibe gleich bei der Stange, wie sie, die auch ihre Lebensinteressen im Flachlande, nämlich in Cannstadt, habe, einen Mann und zwei Kinder, sich jedoch zu beherrschen wisse ... Es kam gar keine Rückäußerung mehr von Joachim oder Frau Ziemßen. Hans Castorp blieb unwissend über Tag und Stunde ihrer Ankunft; zu einem Empfang am Bahnhof kam es aus diesem Grunde nicht, sondern drei Tage nach Absendung von Hansens Depesche waren sie einfach da, und Leutnant Joachim trat mit erregtem Lachen an seines Vetters Dienstlager.

Es war nach begonnener Abendliegekur. Derselbe Zug hatte sie hergebracht, mit dem Hans Castorp vor Jahren, die weder kurz noch lang, sondern ohne Zeit, in hohem Grade erlebnisreich und dennoch null und nichtig gewesen waren, hier oben eingetroffen war, und auch die Jahreszeit war dieselbe, sogar genau: der allerersten Augusttage einer. Joachim, wie gesagt, trat freudig – ja, für den Augenblick unzweifelhaft freudig erregt bei Hans Castorp ein oder vielmehr aus dem Zimmer, das er im Geschwindschritt durchmessen, auf den Balkon hinaus und grüßte lachend, rasch atmend, gedämpft und abgerissen. Er hatte die weite Reise, durch mehrerer Herren Länder, über den meerartigen See und dann auf gedrangen Pfaden hoch – hoch herauf wieder zurückgelegt, und da stand er nun, als sei er nie weggewesen, von seinem aus der Horizontale halb aufgefahrenen Verwandten mit Hallos und Nanus empfangen. Seine Farbe war lebhaft, sei es dank dem Freiluftleben, das er geführt, oder durch Reiseerhitzung. Direkt, ohne sein Zimmer erst zu betreten, war er auf Nr. 34 geeilt, um den Genossen alter Tage, die nun wieder Gegenwart wurden, zu begrüßen, während seine Mutter mit ihrer Toilette beschäftigt war. Man wollte zu Abend essen in zehn Minuten, natürlich im Restaurant. Hans Castorp würde schon noch etwas mitessen können oder doch einen Schluck Wein trinken. Und Joachim zog ihn hinüber auf Nr. 28, wo es ging, wie einst am Abend von Hansens Ankunft, nur umgekehrt: Joachim, fiebrig plaudernd, wusch sich am blitzenden Becken die Hände, und Hans Castorp sah ihm zu, – erstaunt übrigens und gewissermaßen enttäuscht, den Vetter in Zivil zu sehen. Man merke ihm von seiner Karriere ja gar nichts an. Er habe ihn sich immer als Offizier, in Uniform vorgestellt, und nun stehe er da in grauem Uni, wie irgend jemand. Joachim lachte und fand ihn naiv. Ach nein, die Uniform habe er hübsch zu Hause gelassen. Mit der Uniform, müsse Hans Castorp wissen, habe es was auf sich. Nicht jedes Lokal besuche man in Uniform. „Ach so. Danke gehorsamst“, sagte Hans Castorp. Aber Joachim schien sich keines beleidigenden Sinnes seiner Erklärung bewußt zu sein, sondern erkundigte sich nach allen Personen und Umständen im „Berghof“ nicht nur ohne jeden Hochmut, sondern mit der ganzen angelegentlichen Bewegtheit des Heimgekehrten. Dann erschien Frau Ziemßen durch die Verbindungstür, begrüßte den Neffen in der Form, die manche Leute bei solchen Gelegenheiten wählen, nämlich als sei sie freudig überrascht, ihn hier zu treffen, ein Ausdruck, der übrigens durch Abgespanntheit und stillen Kummer, welcher sich offenbar auf Joachim bezog, melancholisch gedämpft wurde, – und sie fuhren hinunter.

Luise Ziemßen hatte dieselben schönen, schwarzen und sanften Augen wie Joachim. Ihr ebenfalls schwarzes, mit Weiß aber schon stark vermischtes Haar war durch ein fast unsichtbares Schleiernetz in Form und Sitz befestigt, und das paßte zu ihrer Wesenshaltung überhaupt, die besonnen, freundlich gemessen und sanft zusammengenommen war und ihr bei deutlicher Geistesschlichtheit eine angenehme Würde verlieh. Es war klar, und Hans Castorp wunderte sich auch nicht darüber, daß sie sich auf Joachims Lustigkeit, auf den raschen Gang seiner Atmung und seiner sich überstürzenden Rede, Erscheinungen, die zu seinem Verhalten zu Hause und auf der Reise wahrscheinlich in Widerspruch standen und tatsächlich seiner Lage widersprachen, nicht verstand und gewissermaßen Anstoß daran nahm. Dieser Einzug erschien ihr traurig, und sie glaubte sich dementsprechend halten zu sollen. In die Empfindungen Joachims, turbulente Empfindungen der Heimkehr, die im Augenblick alles Entgegenstehende trunken überwogen und durch das Wiederatmen der Luft, unserer unvergleichlich leichten, nichtigen und erhitzenden Luft hier oben, wohl noch befeuert wurden, konnte sie sich nicht finden, sie waren ihr undurchsichtig. „Mein armer Junge“, dachte sie, und dabei sah sie den armen Jungen sich mit seinem Vetter einer ausgelassenen Fröhlichkeit hingeben, hundert Erinnerungen auffrischen, hundert Fragen stellen und sich mit der Antwort lachend in den Stuhl zurückwerfen. Mehrmals sagte sie: „Aber, Kinder!“ Und was sie schließlich sagte, sollte erfreut kommen, kam aber mit Befremdung und leisem Tadel: „Joachim, wahrhaftig, so habe ich dich lange nicht gesehen. Es scheint, wir müßten hierher fahren, damit du wieder wärest wie am Tag deiner Beförderung.“ Worauf es denn freilich mit Joachims Lustigkeit zu Ende war. Seine Stimmung schlug um, er kam zur Besinnung, schwieg, aß nichts vom Nachtisch, obgleich es ein überaus leckeres Schokolade-Soufflé mit Schlagrahm war, das erschien, (Hans Castorp hielt sich statt seiner daran, obgleich seit Abschluß des übergewaltigen Diners erst eine Stunde vergangen war) und blickte endlich überhaupt nicht mehr auf, offenbar weil er Tränen in den Augen hatte.

Das war Frau Ziemßens Meinung nun gewiß nicht gewesen. Eigentlich mehr anstandshalber hatte sie ein wenig gemäßigten Ernst herbeiführen wollen, unwissend, daß gerade das Mittlere und Gemäßigte hier ortsfremd und nur die Wahl zwischen Extremen gegeben war. Da sie den Sohn so gebrochen sah, schien sie selbst den Tränen nicht fern und war ihrem Neffen dankbar für seine Bemühungen, den Tieftraurigen wieder zu beleben. Ja, was den Personalbestand angehe, sagte er, so werde Joachim manches verändert und erneuert finden, anderes dagegen habe sich während seiner Abwesenheit schon wieder hergestellt und sei wie vordem. Die Großtante zum Beispiel mit Begleitung sei längst wieder da. Die Damen säßen, wie immer, am Tische der Stöhr. Marusja lache viel und herzlich.

Joachim schwieg, Frau Ziemßen dagegen fand sich durch diese Worte an eine Begegnung erinnert und an Grüße, die auszurichten seien, ehe sie es vergesse, – die Begegnung mit einer Dame, nicht unsympathisch, wenn auch alleinstehend und mit etwas gar zu ebenmäßigen Augenbrauen, die in München, wo man zwischen zwei Nachtfahrten einen Tag verbracht hatte, im Restaurant an ihren und Joachims Tisch herangetreten sei, um Joachim zu begrüßen. Eine ehemalige Mitpatientin, – Joachim möge ihr doch helfen ...

„Frau Chauchat“, sagte Joachim still. Sie halte sich zur Zeit in einem Kurort des Allgäus auf und wolle im Herbst nach Spanien gehen. Zum Winter werde sie dann wahrscheinlich wieder hierher kommen. Beste Grüße von ihr.

Hans Castorp war kein Knabe mehr, er hatte Gewalt über die Gefäßnerven, die sein Gesicht hätten erblassen oder erröten lassen können. Er sagte:

„Ach, die war das? Sieh an, da ist sie also wieder hinter dem Kaukasus hervorgekommen. Und nach Spanien will sie?“

Die Dame hatte einen Ort in den Pyrenäen genannt. „Hübsche oder doch reizvolle Frau. Angenehme Stimme, angenehme Bewegungen. Aber freie Manieren, nachlässig“, sagte Frau Ziemßen. „Redet uns einfach an wie alte Freunde, fragt und erzählt, obgleich Joachim, wie ich höre, eigentlich nie ihre Bekanntschaft gemacht hat. Fremdartig.“

„Das ist der Osten und die Krankheit“, erwiderte Hans Castorp. Mit Maßstäben der humanistischen Gesittung dürfe man da nicht herantreten, das sei verfehlt. Und da denke er nun darüber nach, daß Frau Chauchat also nach Spanien zu gehen beabsichtige. Hm. Spanien, das liege andererseits ebensoweit von der humanistischen Mitte ab, – nicht nach der weichen, sondern nach der harten Seite; es sei nicht Formlosigkeit, sondern Überform, der Tod als Form, sozusagen, nicht Todesauflösung, sondern Todesstrenge, schwarz, vornehm und blutig, Inquisition, gestärkte Halskrause, Loyola, Eskorial ... Interessant, wie es Frau Chauchat in Spanien gefallen werde. Das Türenwerfen werde ihr dort wohl vergehen, und vielleicht könne eine gewisse Kompensation der beiden außerhumanistischen Lager zum Menschlichen sich vollziehen. Es könne aber auch etwas recht boshaft Terroristisches zustande kommen, wenn der Osten nach Spanien gehe ...

Nein, er war nicht rot oder blaß geworden, aber der Eindruck, den die unverhofften Nachrichten über Frau Chauchat auf ihn gemacht, äußerte sich in Reden, auf die denn freilich nur betretenes Schweigen die Antwort sein konnte. Joachim war weniger erschrocken; er kannte des Vetters Scharfköpfigkeit hier oben von früher her. Aber in Frau Ziemßens Augen malte sich größte Bestürzung; sie verhielt sich nicht anders, als habe Hans Castorp grobe Unanständigkeiten geäußert, und hob nach einer peinlichen Pause die Tafel mit Worten taktvoller Vertuschung auf. Bevor man sich trennte, teilte Hans Castorp die Order des Hofrats mit, daß Joachim jedenfalls morgen im Bett bleiben solle, bis jener ihn untersucht habe. Das Weitere werde sich finden. Dann lagen die drei Verwandten bald in ihren offenen Zimmern in der Frische der Hochgebirgs-Sommernacht, – ein jeder mit seinen Gedanken, Hans Castorp vornehmlich mit dem an Frau Chauchats binnen Halbjahrsfrist zu erwartende Wiederkehr.

Und so war denn der arme Joachim zu einer rätlich gewordenen kleinen Nachkur wieder in die Heimat eingerückt. Dies Wort von der kleinen Nachkur war offenbar die im Flachland ausgegebene Parole, und auch hier oben ließ man sie gelten. Selbst Hofrat Behrens nahm die Wendung an, obgleich es allein schon vier Wochen Bettlage waren, die er Joachim vor allem einmal aufbrummte: die seien nötig, um das Gröbste zu reparieren, zur neuen Akklimatisation und um seinen Wärmehaushalt vorläufig etwas zu regeln. Sich auf eine Befristung der Nachkur festlegen zu lassen, wußte er zu vermeiden. Frau Ziemßen, verständig, einsichtsvoll, durchaus nicht sanguinisch, brachte, fern von Joachims Lager, den Herbst, Oktober etwa, als Entlassungstermin in Vorschlag, und Behrens stimmte ihr insofern zu, als er erklärte, um diese Zeit werde man jedenfalls weiter sein als gegenwärtig. Übrigens gefiel er ihr ausgezeichnet. Er war ritterlich, sagte „meine gnädigste Frau“, indem er sie mit seinen blutunterlaufenen Quellaugen mannentreu anblickte, und sprach so korpsstudentisch redensartlich, daß sie bei aller Betrübnis lachen mußte. „Ich weiß ihn in besten Händen“, sagte sie, und reiste acht Tage nach ihrer Ankunft nach Hamburg zurück, da von der Notwendigkeit irgendwelcher Pflege nicht ernstlich die Rede sein konnte und Joachim außerdem ja Verwandtengesellschaft hatte.

„Also, sei froh: im Herbst“, sagte Hans Castorp, wenn er auf Nr. 28 an seines Vetters Bette saß. „Der Alte hat sich doch einigermaßen gebunden; du kannst dich daran halten und damit rechnen. Oktober – das ist so die Zeit. Da gehen manche Leute nach Spanien, und du kehrst dann auch zu deiner bandera zurück, um dich über Gebühr auszuzeichnen ...“

Sein täglich Geschäft war, Joachim zu trösten, namentlich darüber, daß dieser das große Kriegsspiel hier oben versäumen mußte, das in diesen Augusttagen begann, – denn das verwand er nicht und äußerte geradezu Selbstverachtung der gottverfluchten Schlappheit wegen, der er im letzten Augenblick unterlegen war.

„Rebellio carnis“, sagte Hans Castorp. „Was willst du da machen? Da kann der tapferste Offizier nichts machen, und sogar der heilige Antonius wußte ein Lied davon zu singen. In Gottes Namen, Manöver sind jedes Jahr, und dann kennst du doch die hiesige Zeit! Es ist ja gar keine, du bist nicht lange genug fort gewesen, um nicht ganz leicht wieder ins Tempo zu kommen, und eh du die Hand drehst, ist deine kleine Nachkur vorbei.“

Immerhin war die Auffrischung des Zeitsinnes, die Joachim durch das Leben im Flachlande erfahren hatte, zu bedeutend, als daß er sich vor den vier Wochen nicht hätte fürchten sollen. Doch war man ihm vielfach behilflich, sie zurückzulegen; die Sympathie, die man allgemein seiner propperen Natur entgegenbrachte, äußerte sich in Besuchen von nahe und ferner: Settembrini kam, war teilnehmend und charmant und redete Joachim, da er ihn immer schon „Leutnant“ genannt hatte, nun „Capitano“ an; auch Naphta sprach vor, und aus dem Hause selbst ließen sich nach und nach die alten Bekannten sehen, indem sie eine dienstfreie Viertelstunde benutzten, um sich an sein Bett zu setzen, das Wort von der kleinen Nachkur zu wiederholen und sich seine Schicksale erzählen zu lassen: die Damen Stöhr, Levi, Iltis und Kleefeld, die Herren Ferge, Wehsal und andere mehr. Einige brachten ihm sogar Blumen. Als die vier Wochen um waren, stand er auf, da sein Fieber so weit gedämpft war, daß er umhergehen konnte, und setzte sich im Speisesaal zu seinem Vetter, zwischen ihn und die Brauersgattin Frau Magnus, Herrn Magnus gegenüber, an den Eckplatz, den seinerzeit Onkel James und ein paar Tage lang auch Frau Ziemßen eingenommen hatten.

So lebten die jungen Leute denn wieder Seite an Seite wie ehedem; ja, damit das alte Bild noch vollständiger wieder erstehe, fiel ihm, da Mistreß Macdonald, das Bild ihres Knaben in Händen, den letzten Seufzer getan, auch sein angestammtes Zimmer, das neben Hans Castorps, wieder zu, selbstverständlich nach gründlicher Entkeimung durch H₂CO. Eigentlich und gefühlsmäßig gesprochen, war es nun so, daß Joachim an Hans Castorps Seite lebte und nicht mehr umgekehrt: dieser war nun der Eingesessene, dessen Daseinsform der andere auf kurze Zeit und besuchsweise teilte. Denn den Oktobertermin bemühte sich Joachim steif und fest im Auge zu behalten, obgleich gewisse Punkte seines Zentralnervensystems sich nicht zu humanistischer Norm des Verhaltens wollten anhalten lassen und die kompensatorische Wärmeausgabe seiner Haut verhinderten.

Auch ihre Besuche bei Settembrini und Naphta sowie die Spaziergänge mit diesen beiden feindlich Verbundenen nahmen sie wieder auf, und wenn A. K. Ferge und Ferdinand Wehsal sich beteiligten, was öfters geschah, so waren sie zu sechsen, und jene Widersacher im Geiste lieferten ihre unaufhörlichen Duelle, bei deren Vorführung wir irgendwelche Vollständigkeit nicht anstreben könnten, ohne uns ebenso ins Desperat-Unendliche zu verlieren, wie sie es täglich taten, vor einem stattlichen Publikum, wenn auch Hans Castorp seine arme Seele als Hauptgegenstand ihres dialektischen Wettstreites betrachten wollte. Von Naphta hatte er erfahren, daß Settembrini Freimaurer sei, – was keinen geringeren Eindruck auf ihn gemacht hatte als des Italieners Eröffnung über Naphtas jesuitische Herkunft und Versorgtheit. Wiederum war er phantastisch überrascht gewesen, zu hören, daß es im Ernst noch dergleichen gäbe und hatte den Terroristen mit Fleiß über den Ursprung und das Wesen dieser kuriosen Einrichtung ausgeholt, die in einigen Jahren ihr zweihundertjähriges Jubiläum würde begehen können. Wenn Settembrini über Naphtas geistiges Wesen hinter seinem Rücken, im Tone pathetischer Warnung und als von etwas Teuflischem sprach, so machte sich Naphta, hinter dem des anderen, über die Sphäre, die dieser vertrat, ohne Anstrengung lustig, indem er zu verstehen gab, daß es sich da um etwas recht Altmodisches und Rückständiges handle: um bürgerliche Aufklärung und eine Freigeisterei von vorgestern, welche nichts weiter sei, als armseliger Geisterspuk, sich aber der skurrilen Selbsttäuschung hingebe, noch immer revolutionären Lebens voll zu sein. Er sagte: „Was wollen Sie, schon sein Großvater war Carbonaro, zu deutsch also Köhler. Von ihm hat er den Köhlerglauben an die Vernunft, die Freiheit, den Menschheitsfortschritt und diese ganze Mottenkiste klassizistisch-bourgeoiser Tugendideologie ... Sehen Sie, was die Welt verwirrt, ist das Mißverhältnis, das zwischen der Geschwindigkeit des Geistes und der ungeheueren Unbeholfenheit, Langsamkeit, Beharrungsträgheit und -kraft der Materie besteht. Man muß zugeben, daß dieses Mißverhältnis ausreichen würde, jede Interesselosigkeit des Geistes am Wirklichen zu entschuldigen, denn die Regel ist, daß die Fermente, die die Revolutionen der Wirklichkeit herbeiführen, ihm längst zum Ekel geworden sind. Tatsächlich ist toter Geist dem lebendigen widerwärtiger als irgendwelche Basalte, die wenigstens nicht den Anspruch erheben, Geist und Leben zu sein. Solche Basalte, Reste ehemaliger Wirklichkeiten, die der Geist so weit hinter sich gelassen hat, daß er sich weigert, den Begriff des Wirklichen überhaupt noch damit zu verbinden, erhalten sich träge fort und bewahren durch ihren plumpen und toten Fortbestand das Abgeschmackte leidigerweise davor, seiner Abgeschmacktheit inne zu werden. Ich spreche allgemein, aber Sie werden die Nutzanwendung auf jenen humanitären Freisinn zu ziehen wissen, der glaubt, sich gegen Herrschaft und Autorität noch immer in heroischem Stande zu befinden. Ach, und nun gar die Katastrophen, vermittelst deren er sich sein Leben beweisen möchte, die verspäteten und spektakulösen Triumphe, die er vorbereitet und die er eines Tages zu feiern träumt! Beim bloßen Gedanken daran könnte der lebendige Geist sich zu Tode langweilen, wüßte er nicht, daß in Wahrheit doch nur er aus solchen Katastrophen als Sieger und Nutznießer hervorgehen wird, – er, der Elemente des Alten in sich mit Zukünftigstem zu wahrer Revolution verschmilzt ... Wie geht es Ihrem Vetter, Hans Castorp? Sie wissen, daß ich ihm viel Sympathie entgegenbringe.“

„Danke, Herr Naphta. Dem bringt wohl jedermann aufrichtige Sympathie entgegen, ein so braver Junge, wie er ja offensichtlich ist. Auch Herr Settembrini mag ihn ausgesprochen gern leiden, wenn er auch einen gewissen schwärmerischen Terrorismus, der in Joachims Stande liegt, natürlich mißbilligen muß. Da höre ich nun, daß er Logenbruder ist. Sehe einer an. Es berührt mich nachdenklich, das muß ich sagen. Es rückt mir seine Person in eine neue Beleuchtung und verdeutlicht mir manches. Ob er gelegentlich auch seine Füße in den rechten Winkel stellt und seinem Händedruck eine besondere Beschaffenheit verleiht? Ich habe nie etwas bemerkt ...“

„Über solche Kindereien,“ meinte Naphta, „ist unser guter Drei-Punkte-Bruder wohl hinaus. Ich nehme an, daß das Logenzeremoniell eine recht kümmerliche Anpassung an den nüchternen Staatsbürgergeist der Zeiten erfahren hat. Man würde sich des Rituals von ehedem wohl als eines unzivilen Hokuspokus schämen, – nicht mit Unrecht, denn den atheistischen Republikanismus als Mysterium einzukleiden, wäre am Ende wirklich ungereimt. Ich weiß nicht, mit welchen Schrecknissen man Herrn Settembrinis Standhaftigkeit auf die Probe gestellt hat, – ob man ihn mit verbundenen Augen durch allerlei Gänge geführt und ihn in finsteren Gewölben hat warten lassen, bevor der von gespiegeltem Licht erfüllte Bundessaal sich ihm auftat. Ob man ihn feierlich katechisiert und angesichts eines Totenkopfes und dreier Lichter seine entblößte Brust mit Schwertern bedroht hat. Sie müssen ihn selber fragen, aber ich fürchte, Sie werden ihn wenig gesprächig finden, denn sollte es auch viel bürgerlicher dabei zugegangen sein, auf jeden Fall hat er Verschwiegenheit geloben müssen.“

„Geloben? Verschwiegenheit? Also doch?“

„Gewiß. Verschwiegenheit und Gehorsam.“

„Auch noch Gehorsam. Hören Sie, Professor, jetzt kommt mir vor, als ob er gar nicht Ursache hätte, sich über Schwärmerei und Terrorismus im Stande meines Vetters aufzuhalten. Verschwiegenheit und Gehorsam! Nie hätte ich gedacht, daß ein so freisinniger Mann wie Settembrini sich so ausgemacht spanischen Bedingungen und Gelöbnissen unterwerfen könnte. Ich spüre da geradezu was Militärisch-Jesuitisches in der Freimaurerei ...“

„Sie spüren ganz richtig“, erwiderte Naphta. „Ihre Wünschelrute zuckt und klopft auf. Die Idee des Bundes überhaupt ist untrennbar und schon in der Wurzel verbunden mit der des Unbedingten. Folglich ist sie terroristisch, das heißt: antiliberal. Sie entlastet das individuelle Gewissen und heiligt im Namen des absoluten Zweckes jedes Mittel, auch das blutige, auch das Verbrechen. Man hat Anhaltspunkte, daß auch in Maurerlogen ehemals der Bruderbund symbolisch mit Blut besiegelt wurde. Ein Bund ist niemals etwas Beschauliches, sondern immer und seinem Wesen nach etwas in absolutem Geist Organisatorisches. Sie wissen nicht, daß der Gründer des Illuminatenordens, der eine Zeitlang mit der Maurerei beinahe verschmolz, ein ehemaliger Angehöriger der Gesellschaft Jesu war?“

„Nein, das ist mir natürlich neu.“

„Adam Weishaupt organisierte seinen humanitären Geheimbund ganz nach dem Muster des Jesuitenordens durch. Er selbst war Maurer, und die angesehensten Logenmänner der Zeit waren Illuminaten. Ich spreche von der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, die Settembrini nicht zögern wird, Ihnen als eine Zeit der Verderbnis seiner Gilde zu kennzeichnen. In Wirklichkeit war sie die ihrer Hochblüte, wie des ganzen geheimen Bundeswesens überhaupt, die Zeit, wo die Maurerei wahrhaft höheres Leben gewann, ein Leben, von dem sie später durch Leute vom Schlage unseres Menschheitsfreundes wieder gereinigt wurde, der damals unbedingt zu denen gehört hätte, die ihr Jesuitismus und Obskurantismus zum Vorwurf machten.“

„Und dafür gab es Gründe?“

„Ja, – wenn Sie wollen. Die triviale Freigeisterei hatte Gründe dafür. Es war die Zeit, wo unsere Väter den Bund mit katholisch-hierarchischem Leben zu erfüllen suchten, und wo zu Clermont in Frankreich eine jesuitische Freimaurerloge blühte. Es war ferner die Zeit, wo das Rosenkreuzertum in die Logen eindrang, – eine sehr merkwürdige Brüderschaft, von der Sie sich merken dürfen, daß sie rein rationale politisch-gesellschaftliche Verbesserungs- und Beglückungsziele mit eigentümlichen Beziehungen zum Geheimwissen des Ostens, zu indischer und arabischer Weisheit und magischer Naturerkenntnis verband. Damals vollzog sich die Reform und Berichtigung vieler Freimaurerlogen im Sinne der strikten Observanz, – einem ausgesprochen irrationalen und geheimnisvollen, magisch-alchimistischen Sinn, dem die schottischen Hochgrade des Maurertums ihr Dasein verdanken, – Ordensrittergrade, die man der alten militärischen Rangstufenordnung von Lehrling, Geselle und Meister hinzufügte, Großmeistergrade, die ins Hieratische führten und von rosenkreuzerischem Geheimwissen erfüllt waren. Es handelt sich da um ein Zurückgreifen auf gewisse geistliche Ritterorden des Mittelalters, die Templer insbesondere, Sie wissen, die vor dem Patriarchen von Jerusalem das Gelübde der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams ablegten. Noch heute führt ein Hochgrad der Freimaurerhierarchie den Titel ‚Großfürst von Jerusalem‘.“

„Mir neu, mir alles ganz neu, Herr Naphta. Ich komme da unserem Settembrini auf Schliche ... ‚Großfürst von Jerusalem‘ ist nicht schlecht. So sollten Sie ihn bei Gelegenheit scherzweise auch mal nennen. Er seinerseits hat Ihnen neulich den Spitznamen ‚Doctor angelicus‘ gegeben. Das fordert Rache.“

„Oh, es gibt noch eine Menge ähnlich bedeutender Titel für die Hoch- und Templergrade der Strikten Observanz. Wir haben da einen Vollkommenen Meister, einen Ritter vom Osten, einen Großen Oberpriester, und der einunddreißigste Grad heißt sogar der ‚Erhabene Fürst des königlichen Geheimnisses‘. Sie bemerken, daß alle diese Namen auf Beziehungen zur morgenländischen Mystik deuten. Das Wiedererscheinen des Templers selbst bedeutete nichts anderes, als die Aufnahme solcher Beziehungen, tatsächlich den Einbruch irrationalen Gärstoffes in eine Ideenwelt vernünftig-nützlicher Gesellschaftsverbesserung. Dadurch gewann das Maurertum einen neuen Reiz und Glanz, der den Zulauf erklärt, dessen es sich damals erfreute. Es zog sämtliche Elemente an sich, die der Vernünftelei des Jahrhunderts, seiner humanen Auf- und Abgeklärtheit müde waren und nach stärkeren Lebenstränken durstig. Der Erfolg des Ordens war derart, daß die Philister klagten, er entfremde die Männer dem häuslichen Glück und der weiblichen Würde.

„Nun, hören Sie, Professor, dann muß man es verstehen, daß Herr Settembrini sich nicht gern an diese Hochblüte seines Ordens erinnert.

„Nein, er erinnert sich nicht gern daran, daß es Zeiten gab, wo sein Bund all die Antipathie auf sich versammelte, die Freigeisterei, Atheismus, enzyklopädische Vernunft sonst dem Komplex von Kirche, Katholizismus, Mönch, Mittelalter zuwendete. Sie hörten, daß man die Maurer des Obskurantismus zieh ...“

„Warum? Ich möchte gern deutlicher hören, wieso.“

„Das will ich Ihnen sagen. Die Strikte Observanz war gleichbedeutend mit einer Vertiefung und Erweiterung der Überlieferungen des Ordens, mit einer Zurückverlegung seiner historischen Ursprünge in die Geheimniswelt, die sogenannte Finsternis des Mittelalters. Die Hochmeistergrade der Logen waren Eingeweihte der physica mystica, Träger magischen Naturwissens, in der Hauptsache große Alchimisten ...“

„Jetzt muß ich mich aus allen Kräften zu besinnen suchen, was es mit der Alchimie im Großen-Ganzen noch ungefähr auf sich hatte. Alchimie, das ist also Goldmacherei, Stein der Weisen, Aurum potabile ...“

„Ja, populär gesprochen. Etwas gelehrter gesprochen ist sie Läuterung, Stoffverwandlung und Stoffveredlung, Transsubstantiation, und zwar zum Höheren, Steigerung also, – der lapis philosophorum, das mann-weibliche Produkt aus Sulfur und Merkur, die res bina, die zweigeschlechtige prima materia war nichts weiter, nichts Geringeres als das Prinzip der Steigerung, der Hinauftreibung durch äußere Einwirkungen, – magische Pädagogik, wenn Sie wollen.“

Hans Castorp schwieg. Er blickte augenblinzelnd schräg empor.

„Ein Symbol alchimistischer Transmutation,“ fuhr Naphta fort, „war vor allem die Gruft.“

„Das Grab?“

„Ja, die Stätte der Verwesung. Sie ist der Inbegriff aller Hermetik, nichts anderes als das Gefäß, die wohlverwahrte Kristallretorte, worin der Stoff seiner letzten Wandlung und Läuterung entgegengezwängt wird.“

„‚Hermetik‘ ist gut gesagt, Herr Naphta. ‚Hermetisch‘ – das Wort hat mir immer gefallen. Es ist ein richtiges Zauberwort mit unbestimmt weitläufigen Assoziationen. Entschuldigen Sie, aber ich muß immer dabei an unsere Weckgläser denken, die unsere Hamburger Hausdame – Schalleen heißt sie, ohne Frau und Fräulein, einfach Schalleen – in ihrer Speisekammer reihenweise auf den Börtern stehen hat, – hermetisch verschlossene Gläser mit Früchten und Fleisch und allem möglichen darin. Sie stehen Jahr und Tag, und wenn man eines aufmacht, nach Bedarf, so ist der Inhalt ganz frisch und unberührt, weder Jahr noch Tag hat ihm was anhaben können, man kann ihn genießen, wie er da ist. Das ist nun allerdings nicht Alchimie und Läuterung, es ist bloß Bewahrung, daher der Name Konserve. Aber das Zauberhafte daran ist, daß das Eingeweckte der Zeit entzogen war; es war hermetisch von ihr abgesperrt, die Zeit ging daran vorüber, es hatte keine Zeit, sondern stand außerhalb ihrer auf seinem Bort. Na, soviel von den Weckgläsern. Es ist nicht viel dabei herausgekommen. Pardon. Sie wollten mich, glaube ich, noch weiter belehren.“

„Nur wenn Sie es wünschen. Der Lehrling muß wißbegierig und furchtlos sein, im Stil unseres Gegenstandes zu reden. Die Gruft, das Grab war immer das hauptsächliche Sinnbild der Bundesweihe. Der Lehrling, der zum Wissen Einlaß begehrende Grünling, hat unter ihren Schaudern seine Unerschrockenheit zu bewähren, der Ordensbrauch will, daß er probeweise in sie hinabgeführt wird, und in ihr verweilen muß, um dann an unbekannter Bruderhand daraus hervorzugehen. Daher die verworrenen Gänge und finsteren Gewölbe, durch die der Novize zu wandern hatte, das schwarze Tuch, womit selbst der Bundessaal der Strikten Observanz ausgeschlagen war, der Kultus des Sarges, der bei dem Einweihungs- und Versammlungszeremoniell eine so wichtige Rolle spielte. Der Weg der Mysterien und der Läuterung war von Gefahren umlagert, er führte durch Todesbangen, durch das Reich der Verwesung, und der Lehrling, der Neophyt, ist die nach den Wundern des Lebens begierige, nach Erweckung zu dämonischer Erlebnisfähigkeit verlangende Jugend, geführt von Vermummten, die nur Schatten des Geheimnisses sind.“

„Ich danke sehr, Professor Naphta. Vorzüglich. Das wäre also die hermetische Pädagogik. Es kann nicht schaden, daß mir auch von ihr mal etwas zu Ohren gekommen ist.“

„Um so weniger, als es sich da um eine Führung zum Letzten handelt, zum absoluten Bekenntnis des Übersinnlichen und damit zum Ziele. Die alchimistische Logenobservanz hat viele edle, suchende Geister in späteren Jahrzehnten zu diesem Ziele geführt, – ich muß es nicht nennen, denn es kann Ihnen nicht entgangen sein, daß die Rangstufenfolge der schottischen Hochgrade nur ein Surrogat ist der Hierarchie, daß die alchimistische Weisheit des Meister-Maurers sich im Mysterium der Wandlung erfüllt, und daß die geheime Führung, die die Loge ihren Zöglingen angedeihen ließ, sich ebenso deutlich in den Gnadenmitteln wiederfindet, wie die sinnbildlichen Spielereien des Bundeszeremoniells in der liturgischen und baulichen Symbolik unserer heiligen katholischen Kirche.“

„Ach so!“

„Ich bitte, auch das ist noch nicht alles. Ich erlaubte mir schon anzudeuten, daß die Ableitung des Logenwesens aus jenen handwerkerlich ehrsamen Maurergilden nur eine historische Veräußerlichung ist. Die Strikte Observanz wenigstens verlieh ihr weit tiefere menschliche Fundamente. Das Geheimnis der Logen hat mit gewissen Mysterien unserer Kirche die deutliche Beziehung gemeinsam zu festlichen Verschwiegenheiten und heiligen Ausschweifungen der frühesten Menschheit ... Ich habe, was die Kirche betrifft, das Nacht- und Liebesmahl im Auge, den sakramentalen Genuß von Leib und Blut, in Dingen der Loge aber –“

„Einen Augenblick. Einen Augenblick für eine Randbemerkung. Es gibt auch in dem unbedingten Bundesleben, dem mein Vetter angehört, sogenannte Liebesmahle. Er hat mir oft davon geschrieben. Natürlich geht es bis auf ein bißchen Betrunkenheit sehr anständig dabei zu, nicht mal so stark wie bei den Korpskneipen ...“

„In Dingen der Loge aber den Gruft- und Sargeskult, auf den ich vorhin Ihre Aufmerksamkeit lenkte. In beiden Fällen handelt es sich um eine Symbolik des Letzten und Äußersten, um Elemente orgiastischer Urreligiosität, gelöste und nächtliche Opferdienste zu Ehren von Sterben und Werden, Tod, Verwandlung und Auferstehung ... Sie erinnern sich, daß die Mysterien der Isis sowohl wie die von Eleusis bei Nacht und in finsteren Höhlen begangen wurden. Nun, der ägyptischen Erinnerungen gab und gibt es im Maurerwesen eine Menge, und unter den geheimen Gesellschaften waren solche, die sich eleusinische Bünde nannten. Es gab da Logenfeste, Feste der eleusischen Mysterien und der aphrodisischen Geheimnisse, bei denen denn endlich doch die Frau ins Spiel trat, – Rosenfeste, auf die jene drei blauen Rosen der Maurerschürze anspielten, und die, wie es scheint, ins Bacchantische auszulaufen pflegten ...“

„Nun, nun, was hör’ ich, Professor Naphta. Und all das ist Freimaurerei? Und mit alldem soll ich in meiner Vorstellung unseren klargesinnten Herrn Settembrini ...“

„Sie täten ihm schweres Unrecht! Nein, von alldem weiß Settembrini durchaus nichts mehr. Ich sagte Ihnen ja, daß die Loge durch seinesgleichen von allen Elementen höheren Lebens wieder gereinigt worden ist. Sie hat sich humanisiert, modernisiert, du lieber Gott. Sie ist aus solchen Verirrungen zum Nutzen, zur Vernunft und zum Fortschritt, zum Kampf gegen Fürsten und Pfaffen, kurzum zu gesellschaftlicher Beglückung zurückgekehrt; man unterhält sich dort jetzt wieder über Natur, Tugend, Mäßigung und Vaterland. Ich nehme an: auch über das Geschäft. Mit einem Wort, es ist die bourgeoise Misere in Klubgestalt ...“

„Schade. Schade um die Rosenfeste. Ich werde Settembrini fragen, ob er denn gar nichts mehr davon weiß.“

„Der ehrliche Ritter vom Winkelmaß!“ höhnte Naphta. „Sie müssen bedenken, daß es ihm gar nicht leicht geworden ist, zum Bauplatz des Menschheitstempels zugelassen zu werden, denn er ist ja arm wie eine Kirchenmaus, und dort wird nicht nur höhere Bildung, humanistische Bildung, ich bitte sehr, verlangt, sondern man muß auch der bemittelten Klasse angehören, um die nicht geringen Aufnahmegebühren und Jahresbeiträge erschwingen zu können. Bildung und Besitz, – da haben Sie den Bourgeois! Da haben Sie die Grundfesten der liberalen Weltrepublik!“

„Allerdings,“ lachte Hans Castorp; „da haben wir sie klipp und klar vor Augen.“

„Dennoch,“ setzte Naphta nach einer Pause hinzu, „möchte ich Ihnen raten, diesen Mann und seine Sache nicht allzu leicht zu nehmen, möchte Sie, da wir denn einmal von diesen Verhältnissen reden, geradezu ersuchen, auf Ihrer Hut zu sein. Das Abgeschmackte ist noch nicht gleichbedeutend mit dem Unschuldigen. Die Beschränktheit braucht nicht harmlos zu sein. Diese Leute haben viel Wasser in ihren Wein getan, der zuzeiten feurig war, aber die Idee des Bundes selbst bleibt stark genug, um viel Verwässerung zu vertragen; sie bewahrt Reste von fruchtbarem Geheimnis, und es ist ebensowenig daran zu zweifeln, daß die Logen ihre Hand im Weltspiel haben, wie daß man in diesem liebenswürdigen Herrn Settembrini mehr zu sehen hat, als eben nur ihn selbst, daß Mächte hinter ihm stehen, deren Verwandter und Emissär er ist ...“

„Ein Emissär?“

„Nun ja, ein Proselytenmacher, ein Seelenfänger.“

Und was bist du für ein Emissär? dachte Hans Castorp. Laut sagte er:

„Danke, Professor Naphta. Aufrichtig verbunden für Wink und Warnung. Wissen Sie was? Ich gehe nun mal eine Etage höher, soweit da oben noch von Etage die Rede sein kann, und fühle dem vermummten Bundesbruder ein bißchen auf den Zahn. Ein Lehrling muß wißbegierig und furchtlos sein ... Natürlich auch vorsichtig ... Mit Emissären ist selbstverständlich Vorsicht geboten.“

Er durfte ungescheut auch Settembrini um weitere Belehrung ansprechen, denn dieser hatte Herrn Naphta in Dingen der Diskretion nichts vorzuwerfen und war übrigens nie sonderlich bedacht gewesen, aus seiner Zugehörigkeit zu jener harmonischen Gesellschaft ein Geheimnis zu machen. Die „Rivista della Massoneria Italiana“ lag offen auf seinem Tisch; Hans Castorp hatte nur eben nicht acht darauf gegeben. Und als er, von Naphta aufgeklärt, das Gespräch auf die königliche Kunst gebracht hatte, so, als sei Settembrinis Verbundenheit mit ihr eine Sache, über die er sich niemals Zweifel gemacht, da war er nur auf geringe Zurückhaltung gestoßen. Zwar gab es Punkte, über die der Literat sich nicht herausließ, sondern bei deren Berührung er mit einer gewissen Ostentation die Lippen verschloß, offenbar gebunden durch jene terroristischen Gelöbnisse, von denen Naphta gesprochen: eine Geheimniskrämerei, die äußere Bräuche und seine eigene Stellung innerhalb der merkwürdigen Organisation betraf. Sonst aber nahm er sogar den Mund sehr voll und gab dem Neugierigen ein bedeutendes Bild von der Ausbreitung seiner Liga, die sich in rund zwanzigtausend Logen und hundertfünfzig Großlogen fast über die ganze Welt und selbst auf Zivilisationen wie Haiti und die Negerrepublik Liberia erstrecke. Auch wußte er sich nicht wenig mit allerlei großen Namen, deren Träger Maurer gewesen waren oder es heute waren, nannte Voltaire, Lafayette und Napoleon, Franklin und Washington, Mazzini und Garibaldi, von Lebenden sogar den König von England und außerdem eine Menge Männer, in deren Händen die Geschäfte der europäischen Staaten lagen, Mitglieder von Regierungen und Parlamenten.

Hans Castorp äußerte Respekt, aber keine Verwunderung. So sei es auch mit den studentischen Korpsverbindungen, meinte er. Die hielten auch zusammen durchs ganze Leben und wüßten ihre Leute wohl unterzubringen, so daß schwerlich jemand im Amtlich-Hierarchischen es zu etwas Rechtem bringe, der nicht Korpsbruder gewesen sei. Darum sei es vielleicht nicht ganz sinngemäß von Herrn Settembrini, daß er die Zugehörigkeit jener Prominenten zur Loge als schmeichelhaft für diese hinstellen wolle; denn es sei umgekehrt anzunehmen, daß die Besetzung so vieler wichtiger Posten mit Bundesbrüdern eben nur die Macht des Bundes beweise, der gewiß mehr, als Herr Settembrini so geradeheraus sagen wolle, seine Hand am Weltspiele habe.

Settembrini lächelte. Er fächelte sich sogar mit dem Heft der „Massoneria“, das er in Händen hielt. Man meine ihm wohl eine Falle zu stellen? fragte er. Man gedenke wohl gar, ihn zu unvorsichtigen Aussagen über das politische Wesen, den wesentlich politischen Geist der Loge zu verleiten? „Unnütze Verschmitztheit, Ingenieur! Wir bekennen uns zur Politik, rückhaltlos, offen. Wir achten das Odium für nichts, das in den Augen einiger Toren – sie sitzen bei Ihnen zulande, Ingenieur, fast nirgends sonst – mit diesem Wort und Titel verbunden ist. Der Menschenfreund kann den Unterschied von Politik und Nichtpolitik überhaupt nicht anerkennen. Es gibt keine Nichtpolitik. Alles ist Politik.“

„Rundweg?“

„Ich weiß wohl, daß es Leute gibt, die auf die ursprünglich unpolitische Natur des Maurergedankens hinzuweisen für gut finden. Aber diese Leute spielen mit Worten und ziehen Grenzen, die als imaginär und unsinnig zu erkennen es längst an der Zeit ist. Erstens zeigten wenigstens die spanischen Logen von allem Anbeginn eine politische Färbung –“

„Kann ich mir denken.“

„Sie können sich wenig denken, Ingenieur. Wähnen Sie nicht, sich von Hause aus viel denken zu können, sondern suchen Sie aufzunehmen und zu verarbeiten – ich bitte Sie darum in Ihrem eigenen Interesse, wie in dem Ihres Landes und im europäischen Interesse – was ich Ihnen zweitens einzuprägen im Begriffe bin. Zweitens nämlich war der Maurergedanke niemals unpolitisch, zu keiner Zeit, er konnte es nicht sein, und wenn er es ja zu sein glaubte, so betrog er sich über sein Wesen. Was sind wir? Bauleute und Handlanger an einem Bau. Der Zweck aller ist einer, das Beste des Ganzen das Grundgesetz der Verbrüderung. Welches ist dieses Beste, dieser Bau? Der kunstgerechte gesellschaftliche Bau, die Vollendung der Menschheit, das neue Jerusalem. Was in aller Welt soll da Politik oder Nichtpolitik? Das gesellschaftliche Problem, das Problem der Koexistenz selbst ist Politik, durch und durch Politik, nichts weiter als Politik. Wer sich ihm weiht – und den Menschennamen verdiente nicht, wer sich dieser Weihe entzöge – gehört der Politik, der inneren wie der äußeren, er versteht, daß die Kunst des freien Maurers Regierungskunst ist –“

„Regierungs...“

„Daß die illuminatistische Maurerei den Regentengrad kannte ...“

„Sehr schön, Herr Settembrini. Regierungskunst, Regentengrad, das gefällt mir. Aber lassen Sie mich nun eines hören: Sind Sie Christen, Sie alle miteinander in Ihrer Loge?“

„Perchè!“

„Entschuldigen Sie, ich will anders fragen, allgemeiner und einfacher. Glauben Sie an Gott?“

„Ich werde Ihnen antworten. Warum fragen Sie?“

„Ich wollte Sie nicht versuchen vorhin, aber es gibt da eine biblische Geschichte, worin jemand den Herrn mit einer römischen Münze versucht und zur Antwort bekommt, man solle dem Kaiser geben, was des Kaisers, und Gott, was Gottes sei. Mir kommt vor: diese Art zu unterscheiden liefert den Unterschied zwischen Politik und Nichtpolitik. Gibt es Gott, so gibt es auch diesen Unterschied. Glauben die Freimaurer an Gott?“

„Ich verpflichtete mich, Ihnen zu antworten. Sie sprechen von einer Einheit, an deren Herstellung gearbeitet wird, die aber heute zum Leidwesen aller Guten noch nicht existiert. Der Weltbund der Freimaurer existiert nicht. Wird er hergestellt sein – und ich wiederhole, es wird mit aller stillen Emsigkeit an diesem großen Werke gearbeitet – so wird ohne Zweifel auch sein religiöses Bekenntnis einheitlich sein, und es wird lauten: ‚Écrasez l’infâme‘.“

„Obligatorisch? Das wäre nicht tolerant.“

„Dem Problem der Toleranz dürften Sie kaum gewachsen sein, Ingenieur. Prägen Sie sich immerhin ein, daß Toleranz zum Verbrechen wird, wenn sie dem Bösen gilt.“

„Gott wäre das Böse?“

„Die Metaphysik ist das Böse. Denn sie ist zu nichts gut, als den Fleiß einzuschläfern, den wir dem Bau des Gesellschaftstempels zuwenden sollen. Und so hat denn schon vor einem Menschenalter der Groß-Orient von Frankreich ein Beispiel gegeben, indem er den Namen Gottes aus seinen sämtlichen Schriftstücken strich. Wir Italiener sind ihm darin nachgefolgt ...“

„Wie katholisch!“

„Sie meinen –“

„Wie enorm katholisch ich das finde, Gott zu streichen!“

„Sie wollen ausdrücken –“

„Nichts Hörenswertes, Herr Settembrini. Achten Sie nicht besonders auf mein Geplapper! Es kam mir nur diesen Moment so vor, als ob Atheismus etwas kolossal Katholisches sei, und als ob man Gott nur streiche, um desto besser katholisch sein zu können.“

Wenn darauf Herr Settembrini eine Pause eintreten ließ, so war klar, daß es einzig aus pädagogischer Besonnenheit geschah. Er antwortete nach gemessenem Stillschweigen:

„Ingenieur, ich bin weit von dem Wunsche entfernt, Sie in Ihrem Protestantismus beirren und kränken zu wollen. Wir sprachen von Toleranz ... Es ist überflüssig, zu betonen, daß ich dem Protestantismus mehr als Duldung, daß ich ihm als dem historischen Opponenten der Gewissensknebelung tiefste Bewunderung entgegenbringe. Die Erfindung der Buchdruckerkunst und die Reformation sind und bleiben die beiden erhabensten Verdienste, die Mitteleuropa sich um die Menschheit erworben hat. Ohne Frage. Allein nach dem, was Sie soeben äußerten, zweifle ich nicht, daß Sie mich aufs Wort verstehen werden, wenn ich darauf hinweise, daß das nur eine Seite der Sache ist, und daß sie ihre zweite hat. Der Protestantismus birgt Elemente ... Die Persönlichkeit Ihres Reformators selbst barg Elemente ... Ich denke an Elemente der Ruheseligkeit und der hypnotischen Versenkung, die nicht europäisch, die dem Lebensgesetz dieses tätigen Erdteils fremd und feindlich sind. Sehen Sie ihn sich doch an, diesen Luther! Betrachten Sie Bildnisse von ihm, jugendliche und spätere! Was ist denn das für ein Schädel, was sind das für Backenknochen, was für ein seltsamer Augensitz! Mein Freund, das ist Asien! Es sollte mich wundern, es sollte mich höchlichst wundern, wenn da nicht Wendisch-Slawisch-Sarmatisches im Spiele gewesen wäre, und wenn also nicht die – wer wollte es leugnen – gewaltige Erscheinung dieses Mannes eine verhängnisvolle Überbelastung einer der beiden in Ihrem Lande so gefährlich gleichstehenden Schalen zu bedeuten gehabt hätte, – ein furchtbares Gewicht in die östliche, von welchem die andere, die westliche Schale, noch heute überwogen gen Himmel flattert ...“

Von dem humanistischen Klapp-Pult am Fensterchen, vor dem er gestanden, war Herr Settembrini an den Rundtisch mit der Wasserflasche getreten, näher zu seinem Schüler hin, der auf dem an die Wand gerückten Ruhebette saß, ohne Rückenlehne, den Ellenbogen aufs Knie und das Kinn in die Hand gestützt.

„Caro!“ sagte Herr Settembrini. „Caro amico! Entscheidungen werden zu treffen sein, – Entscheidungen von unüberschätzbarer Tragweite für das Glück und die Zukunft Europas, und Ihrem Lande werden sie zufallen, in seiner Seele werden sie sich zu vollziehen haben. Zwischen Ost und West gestellt, wird es wählen müssen, wird es endgültig und mit Bewußtsein zwischen den beiden Sphären, die um sein Wesen werben, sich entscheiden müssen. Sie sind jung, Sie werden an dieser Entscheidung beteiligt sein, sind berufen, sie zu beeinflussen. Darum lassen Sie uns das Schicksal segnen, das Sie in diese entsetzlichen Gegenden verschlagen hat, zugleich aber mir Gelegenheit gibt, mit meinem nicht ungeübten, nicht völlig matten Wort auf Ihre bildsame Jugend einzuwirken und ihr die Verantwortlichkeit fühlbar zu machen, die sie –, die Ihr Land vor dem Angesicht der Gesittung trägt ...“

Hans Castorp saß, das Kinn in der Faust. Er blickte zum Mansardenfenster hinaus, und in seinen einfachen blauen Augen war eine gewisse Widerspenstigkeit zu lesen. Er schwieg.

„Sie schweigen“, sprach Herr Settembrini bewegt. „Sie und Ihr Land, Sie lassen ein vorbehaltvolles Schweigen walten, dessen Undurchsichtigkeit kein Urteil über seine Tiefe gestattet. Sie lieben das Wort nicht oder besitzen es nicht oder heiligen es auf eine unfreundliche Weise, – die artikulierte Welt weiß nicht und erfährt nicht, woran sie mit Ihnen ist. Mein Freund, das ist gefährlich. Die Sprache ist die Gesittung selbst ... Das Wort, selbst das widersprechendste, ist so verbindend ... Aber die Wortlosigkeit vereinsamt. Man vermutet, Sie werden Ihre Einsamkeit durch Taten zu brechen suchen. Sie werden Vetter Giacomo“ (Herr Settembrini pflegte Joachim der Bequemlichkeit halber „Giacomo“ zu nennen), „Sie werden Ihren Vetter Giacomo vor Ihr Schweigen treten lassen, ‚und zwei mit gewaltigen Streichen erlegt er, die andern entweichen‘ –“

Da Hans Castorp zu lachen anfing, lächelte auch Herr Settembrini, für den Augenblick auch von dieser Wirkung seines plastischen Wortes befriedigt.

„Gut, lachen wir!“ sagte er. „Zur Heiterkeit werden Sie mich immer bereit finden. ‚Das Lachen ist ein Erglänzen der Seele‘, sagt ein Alter. Auch sind wir abgekommen – auf Dinge, die, wie ich zugebe, mit den Schwierigkeiten zusammenhängen, auf die unsere Vorarbeiten zur Herstellung des maurerischen Weltbundes stoßen, Schwierigkeiten, die namentlich das protestantische Europa entgegenstellt ...“ Und Herr Settembrini fuhr fort, mit Wärme von dem Gedanken dieses Weltbundes zu sprechen, der von Ungarn aus ins Leben getreten und dessen zu erhoffende Verwirklichung bestimmt sei, der Freimaurerei weltentscheidende Macht zu verleihen. Er zeigte leichthin Briefe vor, die er von auswärtigen Bundesgrößen in dieser Sache empfangen, ein eigenhändiges Schreiben des schweizerischen Großmeisters, Bruder Quartier la Tente vom dreiunddreißigsten Grade, und erörterte den Plan, das Kunstidiom Esperanto zur Bundesweltsprache zu erklären. Sein Eifer erhob ihn zur Sphäre der hohen Politik, er richtete sein Auge dahin und dorthin und schätzte die Aussichten ab, die der revolutionär-republikanische Gedanke in seiner eigenen Heimat, in Spanien, in Portugal besitze. Auch mit Personen, die an der Spitze der Großloge der letztgenannten Monarchie standen, wollte er briefliche Fühlung unterhalten. Dort reiften zweifellos die Dinge der Entscheidung entgegen. Hans Castorp möge an ihn denken, wenn in allernächster Zeit da unten die Ereignisse sich überstürzen würden. Hans Castorp versprach, das zu tun.

Es will bemerkt sein, daß diese maurerischen Plaudereien, die zwischen dem Zögling und jedem der beiden Mentoren gesondert verliefen, noch in die Zeit vor Joachims Heimkehr zu Denen hier oben gefallen waren. Die Auseinandersetzung, auf die wir nun kommen, ereignete sich schon während seiner Wiederanwesenheit und in seiner Gegenwart, neun Wochen nach seiner Rückkehr, Anfang Oktober, und Hans Castorp behielt dies Beisammensein in der Herbstsonne vor dem Kurhaus in „Platz“, bei erfrischenden Getränken, darum allezeit so genau im Gedächtnis, weil Joachim ihm damals heimliche Sorge gemacht hatte, – Sorge durch Angaben und Erscheinungen, die sonst eben keine Sorge einzuflößen pflegen, nämlich durch Halsschmerzen und Heiserkeit: harmlose Belästigungen also, die aber dem jungen Castorp in einem irgendwie eigentümlichen Licht erschienen, – eben dem Licht, so kann man sagen, das er in der Tiefe von Joachims Augen zu gewahren glaubte, diesen Augen, die immer sanft und groß gewesen waren, heute aber, genau erst heute, eine gewisse unbestimmbare Vergrößerung und Vertiefung von sinnendem und – man muß das sonderbare Wort hinzufügen – drohendem Ausdruck nebst jener erwähnten stillen Erleuchtung von innen her erfahren hatten, die ganz falsch gekennzeichnet wäre, wenn man sagte, sie hätte Hans Castorp nicht gefallen, – im Gegenteil, sie gefiel ihm sogar sehr gut, nur daß sie ihm dennoch Sorge machte. Und kurz, es ist über diese Eindrücke gar nicht anders als verworren, ihrem eigenen Charakter gemäß, zu reden.

Das Gespräch, die Kontroverse – natürlich eine Kontroverse zwischen Naphta und Settembrini – angehend, so war sie eine Sache für sich und stand mit jenen Sondererörterungen über das Logenwesen nur in lockerem Zusammenhang. Außer den Vettern waren auch Ferge und Wehsal dabei zugegen, und aller Teilnahme war groß, obgleich nicht alle dem Gegenstande gewachsen waren, – Herr Ferge zum Beispiel war es ausdrücklich nicht. Aber ein Streit, der geführt wird, als ob es ums Leben ginge, außerdem aber mit einem Witz und Schliff, als ob es nicht ums Leben, sondern nur um ein elegantes Wettspiel ginge – und so wurden alle Dispute zwischen Settembrini und Naphta geführt –: ein solcher Streit ist selbstverständlich und an und für sich unterhaltend anzuhören, auch für den, der wenig davon versteht und seine Tragweite nur undeutlich absieht. Sogar ganz Unzugehörige, Umsitzende lauschten dem Wortwechsel mit hohen Augenbrauen, gefesselt von Leidenschaft und Zierlichkeit der Wechselrede.

Es war, wie gesagt, vor dem Kurhause, nachmittags nach dem Tee. Die vier Berghofgäste hatten Settembrini dort getroffen, und von ungefähr hatte Naphta sich zugesellt. Sie saßen alle um ein kleines metallenes Tischchen herum bei verschiedenen mit Soda verdünnten Getränken, Anis und Wermut. Naphta, der hier seine Vespermahlzeit einnahm, hatte sich Wein und Kuchen geben lassen, was offenbar eine Erinnerung an seine Alumnenzeit darstellte; Joachim befeuchtete seine leidende Kehle oft mit Naturlimonade, die er sehr stark und sauer trank, weil das zusammenziehe und ihm Erleichterung schaffe, und Settembrini genoß schlechthin Zuckerwasser, jedoch durch einen Strohhalm und auf so anmutig appetitliche Art, als schlürfe er die kostbarste Erquickung. Er scherzte:

„Was höre ich, Ingenieur? Was kommt mir gerüchtweise zu Ohren? Ihre Beatrice kehrt wieder? Ihre Führerin durch alle neun kreisenden Sphären des Paradieses? Nun, ich will hoffen, daß Sie auch dann die leitende Freundeshand Ihres Virgil nicht ganz verschmähen werden! Unser Ekklesiast hier wird Ihnen bestätigen, daß die Welt des medio evo nicht komplett ist, wenn franziskanischer Mystik der Gegenpol thomistischer Erkenntnis fehlt.“

Man lachte über soviel spaßhafte Gelehrsamkeit und sah Hans Castorp an, der ebenfalls lachend „seinem Virgil“ das Wermutglas entgegenhob. Es ist aber kaum zu glauben, was alles aus der, wenn auch geschnörkelten, so doch sehr harmlosen Äußerung Herrn Settembrinis sich an unerschöpflichem Geisteszwist in der nächsten Stunde ergab. Denn Naphta, freilich gewissermaßen herausgefordert, ging sofort zum Angriff über und machte sich über den lateinischen Dichter her, den Settembrini bekanntermaßen abgöttisch liebte, ja, über Homer stellte, während Naphta ihm, wie überhaupt der lateinischen Poesie, schon mehr als einmal die schärfste Geringschätzung bezeigt hatte – und eben hierzu auch jetzt die Gelegenheit prompt und boshaft ergriff. Es sei eine äußerst gutmütige Zeitbefangenheit des großen Dante gewesen, sprach er, diesen mittelmäßigen Versifex so feierlich zu nehmen und ihm in seinem Liede eine so hohe Rolle zuzuweisen, wenn auch Herr Lodovico dieser Rolle wohl eine allzu freimaurerische Bedeutung beilege. Was es denn weiter auf sich gehabt habe mit diesem höfischen Laureatus und Speichellecker des julischen Hauses, diesem Weltstadtliteraten und Prunkrhetor ohne einen Funken von Produktivität, dessen Seele, wenn er eine gehabt habe, jedenfalls aus zweiter Hand gewesen, und der überhaupt kein Dichter, sondern ein Franzose in augusteischer Allongeperücke gewesen sei!

Herr Settembrini zweifelte nicht, daß der Vorredner Mittel und Wege wissen werde, seine Verachtung der römischen Hochzivilisation mit seinem Amt als Lateinlehrer zu vereinbaren, doch scheine es nötig, ihn auf den schwereren Widerspruch hinzuweisen, in den er sich durch solche Urteile mit seinen eigenen Lieblingsjahrhunderten setze, die den Virgilius nicht nur nicht verachtet, sondern seiner Größe auf einfältige Art gerecht geworden seien, indem sie einen weisheitsmächtigen Zauberer aus ihm gemacht hätten.

Recht vergebens, versetzte Naphta, rufe Herr Settembrini die Einfalt jener morgendlichen Zeiten zu seiner Hilfe auf, – die Siegerin, die ihre Schöpferkraft noch in der Dämonisierung des Überwundenen bewährt habe. Übrigens seien die Lehrer der jungen Kirche nicht müde geworden, vor den Lügen der alten Philosophen und Dichter zu warnen, insonderheit davor, sich mit der üppigen Beredsamkeit des Virgil zu beflecken, und heute, wo wieder ein Zeitalter zu Grabe sinke, abermals ein proletarischer Morgen tage, sei wahrhaftig die Stunde günstig, ihnen nachzufühlen! So möge denn, um alles zu beantworten, Herr Lodovico auch überzeugt sein, daß er, Redner, sein bißchen bürgerliche Beschäftigung, worauf jener anzuspielen die Güte gehabt habe, mit aller gebotenen reservatio mentalis betreibe und sich nicht ohne Ironie in einen klassisch-rhetorischen Erziehungsbetrieb einordne, dessen Lebensdauer ein Sanguiniker allenfalls noch nach Jahrzehnten berechnen möge.

„Ihr habt sie,“ rief Settembrini, „ihr habt sie studiert, daß ihr schwitztet, diese alten Dichter und Philosophen, habt euch ihr kostbares Erbe anzueignen versucht, wie ihr das Material der antiken Bauwerke für eure Bethäuser benutztet! Denn ihr fühltet wohl, daß ihr aus eigener Kraft eurer proletarischen Seele keine neue Kunstform hervorzubringen vermöchtet und hofftet, das Altertum mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. So wird es wieder, so wird es immer gehen! Euere ungehobelte Morgendlichkeit wird sich in die Schule begeben müssen bei dem, was zu verachten ihr euch und andere bereden möchtet; denn ohne Bildung bestündet ihr nicht vor dem Angesicht der Menschheit, und es gibt nur eine Bildung: diejenige, die ihr die bürgerliche nennt, und die die menschliche ist!“ Eine Frage von Jahrzehnten – das Ende des humanistischen Erziehungsprinzips? Nur Höflichkeit hinderte Herrn Settembrini, in ein ebenso sorgloses wie spöttisches Gelächter auszubrechen. Ein Europa, das sein Ewigkeitsgut zu wahren wisse, werde über proletarische Apokalypsen, die man da und dort zu erträumen beliebe, in Gemütsruhe zur Tagesordnung klassischer Vernunft übergehen.

Über die Tagesordnung nun gerade, versetzte Naphta beißend, scheine Herr Settembrini nicht ganz wohlunterrichtet. Auf der Tagesordnung eben stehe als Frage, was jener als ausgemacht zu behandeln für gut finde: nämlich, ob die mediterran-klassisch-humanistische Überlieferung eine Menschheitssache und darum menschlich-ewig – oder ob sie allenfalls nur Geistesform und Zubehör einer Epoche, der bürgerlich-liberalen, gewesen sei und mit ihr sterben könne. Dies zu entscheiden, werde Sache der Geschichte sein, und es sei Herrn Settembrini immerhin zu empfehlen, sich nicht allzu sehr in Sicherheit zu wiegen, daß die Entscheidung im Sinn seines lateinischen Konservativismus fallen werde.

Das war eine besondere Unverschämtheit des kleinen Naphta, Herrn Settembrini, den erklärten Diener des Fortschritts, einen Konservativen zu nennen. Alle empfanden es so und mit besonderer Bitterkeit natürlich der Betroffene, der erregt seinen geschwungenen Schnurrbart zwirbelte und im Suchen nach einem Gegenschlage dem Feinde Zeit ließ zu weiteren Ausfällen gegen das klassische Bildungsideal, den rhetorisch-literarischen Geist des europäischen Schul- und Erziehungswesens und seinen grammatisch-formalen Spleen, der nichts als ein Interessenzubehör der bürgerlichen Klassenherrschaft, dem Volke aber längst ein Gelächter sei. Ja, man ahne nicht, wie weidlich das Volk sich über unsere Doktortitel und unser ganzes Bildungsmandarinentum lustig mache und über die staatliche Volksschule, dies Instrument bourgeoiser Klassendiktatur, gehandhabt in dem Wahn, daß Volksbildung verwässerte Gelehrtenbildung sei. Diejenige Bildung und Erziehung, die das Volk im Kampf gegen das morsche Bürgerreich brauche, wisse es sich längst wo anders zu holen als in den obrigkeitlichen Zwangsanstalten, und nachgerade pfiffen die Spatzen es von den Dächern, daß unser Schultypus überhaupt, wie er sich aus der Klosterschule des Mittelalters entwickelt habe, einen lächerlichen Zopf und Anachronismus darstelle, daß niemand in der Welt seine eigentliche Bildung mehr der Schule verdanke, und daß ein freier, offener Unterricht durch öffentliche Vorträge, Ausstellungen, Kinos und so fort jedem Schulunterricht weit überlegen sei.

In der Mischung aus Revolution und Dunkelmännertum, die Naphta da seinen Zuhörern kredenzte, antwortete ihm Herr Settembrini, überwiege der obskurantistische Beisatz in unschmackhafter Weise. Das Gefallen, das seine Sorge um die Aufklärung des Volkes erwecke, leide einige Einbuße durch die Befürchtung, daß hier vielmehr eine Instinktneigung obwalte, Volk und Welt in analphabetische Finsternis zu hüllen.

Naphta lächelte. Analphabetentum! Da glaube man nun ein wahres Entsetzenswort ausgesprochen, das Haupt der Gorgo vorgezeigt zu haben, überzeugt, daß jedermann pflichtschuldig davor erblassen werde. Er, Naphta, bedauere, seinem Gesprächspartner die Enttäuschung bereiten zu müssen, daß die Humanistenfurcht vor dem Begriff des Analphabetentums ihn einfach erheitere. Man müsse ein Renaissanceliterat, ein Prezioser, ein Secentist, ein Marinist, ein Hanswurst des estilo culto sein, um den Disziplinen des Lesens und Schreibens eine so übertriebene erzieherische Vordringlichkeit beizumessen, daß man sich einbilde, Geistesnacht müsse walten, wo ihre Kenntnis fehle. Ob Herr Settembrini sich erinnere, daß der größte Dichter des Mittelalters, Wolfram von Eschenbach, Analphabet gewesen sei? Damals habe es in Deutschland für schimpflich gegolten, einen Knaben, der nicht gerade Geistlicher habe werden wollen, zur Schule zu schicken, und diese adlig-volkstümliche Verachtung der literarischen Künste sei immer das Merkmal vornehmer Wesentlichkeit geblieben, – während der Literat, dieser rechte Sohn des Humanismus und der Bürgerlichkeit, allerdings lesen und schreiben könne, was der Adlige, der Krieger und das Volk nicht könnten oder nur schlecht könnten, – aber weiter könne und verstehe er in aller Welt auch gar nichts, sondern sei noch immer ein latinistischer Windbeutel, der die Rede verwalte und den rechtschaffenen Leuten das Leben überlasse, – weshalb er denn auch aus der Politik einen Beutel voll Wind mache, nämlich voll Rhetorik und schöner Literatur, was in der Parteisprache Radikalismus und Demokratie heiße – und so fort, und so fort.

Darauf denn nun Herr Settembrini! Allzu kühn, rief er, kehre der andere seinen Geschmack an der inbrünstigen Barbarei gewisser Epochen hervor, indem er die Liebe zur literarischen Form verhöhne, ohne die allerdings keine Menschlichkeit möglich und denkbar sei, allerdings nicht und nimmermehr! Vornehmheit? Nur Menschenfeindschaft könne die Wortlosigkeit, die rohe und stumme Dinglichkeit auf ihren Namen taufen. Vornehm vielmehr sei einzig ein gewisser edler Luxus, die generosità, die sich darin bekunde, der Form einen menschlichen, vom Inhalt unabhängigen Eigenwert beizulegen, – der Kultus der Rede als einer Kunst um der Kunst willen, dies Erbe der griechisch-römischen Zivilisation, welches die Humanisten, die uomini letterati, der Romania, ihr wenigstens, zurückgebracht hätten, und das die Quelle jedes weiteren und inhaltlichen Idealismus, auch des politischen, sei. „Jawohl, mein Herr! Was Sie als Trennung von Rede und Leben verunglimpfen möchten, ist nichts als höhere Einheit im Kronrund des Schönen, und mir ist nicht bange, auf welche Seite in einem Streit, dessen Wahlfälle Literatur und Barbarei heißen, hochherzige Jugend sich immer schlagen wird.“

Hans Castorp, dessen Aufmerksamkeit nur halb beim Gespräch gewesen war, da die Person des anwesenden Kriegers und Vertreters vornehmer Wesentlichkeit, oder eigentlich der neuartige Ausdruck seiner Augen ihn beschäftigte, fuhr etwas zusammen, da er sich durch Herrn Settembrinis letzte Worte aufgerufen und angefordert fühlte, machte dann aber ein Gesicht, wie damals, als Settembrini ihn zur Entscheidung zwischen „Ost und West“ feierlich hatte nötigen wollen: ein Gesicht also voller Vorbehalt und Widerspenstigkeit, und schwieg. Alles stellten sie auf die Spitze, diese zwei, wie es wohl nötig war, wenn man streiten wollte, und haderten erbittert um äußerste Wahlfälle, während ihm doch schien, als ob irgendwo inmitten zwischen den strittigen Unleidlichkeiten, zwischen rednerischem Humanismus und analphabetischer Barbarei das gelegen sein müsse, was man als das Menschliche oder Humane persönlich ansprechen durfte. Aber er sprach es nicht an, um nicht beide Geister zu ärgern, und sah, eingehüllt in Vorbehalt, wie sie weiter dahin trieben und einander feindlich behilflich waren, vom Hundertsten ins Tausendste zu kommen, nachdem Settembrini mit seinem kleinen Scherz vom Lateiner Virgil den Anstoß gegeben.

Er gab das Wort noch nicht her, er schwang es, er ließ es triumphieren. Er warf sich zum Schützer auf des literarischen Genius, feierte die Geschichte des Schrifttums von dem Augenblick an, wo zum erstenmal ein Mensch, um seinem Wissen und Fühlen Denkmalsdauer zu geben, Wortezeichen in einen Stein gegraben hatte. Er sprach von dem ägyptischen Gotte Thot, mit dem der dreimalgroße Hermes des Hellenismus identisch gewesen, und der als Erfinder der Schrift, Schutzherr der Bibliotheken und Anreger aller geistigen Bestrebungen verehrt worden war. Er beugte redend das Knie vor diesem Trismegist, dem humanistischen Hermes, dem Meister der Palästra, dem die Menschheit das Hochgeschenk des literarischen Wortes, der agonalen Rhetorik verdankte, und veranlaßte so Hans Castorp zu der Anmerkung: dann sei dieser gebürtige Ägypter offenbar auch ein Politiker gewesen und habe in größerem Stile dieselbe Rolle gespielt wie Herr Brunetto Latini, der speziell den Florentinern Schliff verliehen und sie das Sprechen gelehrt, sowie die Kunst, ihre Republik nach den Regeln der Politik zu lenken, – worauf Naphta erwiderte, Herr Settembrini schwindle ein bißchen und habe ihm von Thot-Trismegistos ein allzu gelecktes Bild gegeben. Denn das sei vielmehr eine Affen-, Mond- und Seelengottheit gewesen, ein Pavian mit einer Mondsichel auf dem Kopf und unter dem Namen des Hermes vor allem ein Todes- und Totengott: der Seelenzwinger und Seelenführer, der schon der späteren Antike zum Erzzauberer und dem kabbalistischen Mittelalter zum Vater der hermetischen Alchimie geworden sei.

Was, was? In Hansens Gedanken und Vorstellungswerkstatt ging es drunter und drüber. Da war der blaubemantelte Tod als humanistischer Rhetor; und wenn man den pädagogischen Literaturgott und Menschenfreund näher ins Auge faßte, so hockte da statt seiner eine Affenfratze mit dem Zeichen der Nacht und der Zauberei an der Stirn ... Er wehrte und winkte ab mit der Hand und legte sie dann über die Augen. Aber in das Dunkel, worein er sich vor der Verwirrung gerettet, klang Settembrinis Stimme, der fortfuhr, die Literatur zu preisen. Nicht nur die betrachtende, auch die aktive Größe, rief er, sei allezeit mit ihr verbunden gewesen; und er nannte Alexander, Cäsar, Napoleon, nannte den preußischen Friedrich und weitere Helden, sogar Lassalle und Moltke. Es focht ihn nicht an, daß Naphta ihn ins Chinesische heimschicken wollte, wo die skurrilste Vergötterung des Abc herrsche, die je erreicht worden sei, und wo man Generalfeldmarschall werde, wenn man alle vierzigtausend Wortzeichen tuschen könne, was recht nach dem Herzen eines Humanisten sein müsse. Eh, Naphta wußte recht wohl, daß es sich nicht ums Tuschen handelte, sondern um die Literatur als Menschheitsimpuls, um ihren Geist, armer Spötter! welcher der Geist selber war, das Wunder der Verbindung von Analyse und Form. Er war es, der das Verständnis für alles Menschliche weckte, die Schwächung und Auflösung dummer Werturteile und Überzeugungen betrieb, die Sittigung, Veredelung und Besserung des Menschengeschlechtes herbeiführte. Indem er die äußerste moralische Verfeinerung und Reizbarkeit schuf, erzog er, fern davon, zu fanatisieren, zugleich zum Zweifel, zur Gerechtigkeit, zur Duldung. Die reinigende, heiligende Wirkung der Literatur, die Zerstörung der Leidenschaften durch die Erkenntnis und das Wort, die Literatur als Weg zum Verstehen, zum Vergeben und zur Liebe, die erlösende Macht der Sprache, der literarische Geist als edelste Erscheinung des Menschengeistes überhaupt, der Literat als vollkommener Mensch, als Heiliger: – aus dieser strahlenden Tonart ging Herrn Settembrinis apologetischer Lobgesang. Ach, aber auch der Widersacher war nicht auf den Mund gefallen; er wußte das englische Halleluja durch schlimme, glänzende Einwände zu stören, indem er sich zur Partei der Erhaltung und des Lebens schlug gegen den Geist der Zersetzung, welcher sich hinter jener seraphischen Gleisnerei verberge. Die Wunderverbindung, von welcher Herr Settembrini tremoliert habe, hieß es nun, laufe auf nichts als Trug und Gaukelspiel hinaus, denn die Form, die der literarische Geist mit dem Prinzip der Untersuchung und Trennung zu vereinigen sich rühme, sei nur eine Schein- und Lügenform, keine echte, gewachsene, natürliche, keine Lebensform. Der sogenannte Verbesserer des Menschen führe wohl Reinigung und Heiligung im Munde, in Wahrheit aber sei es die Entmannung und Entblutung des Lebens, worauf er ausgehe; ja, der Geist, die eifernde Theorie sei lebensschänderisch, und wer die Leidenschaften zerstören wolle, der wolle das Nichts, – das reine Nichts, rein allerdings, da „rein“ denn in der Tat das einzige Attribut sei, das allenfalls dem Nichts noch könne beigelegt werden. Darin nun aber eben zeige Herr Settembrini, der Literat, sich recht als das, was er sei, nämlich als Mann des Fortschritts, des Liberalismus und der bürgerlichen Revolution. Denn der Fortschritt sei reiner Nihilismus und der liberale Bürger ganz eigentlich der Mann des Nichts und des Teufels, ja, er leugne Gott, das konservativ und positiv Absolute, indem er zum Teuflisch-Gegen-Absoluten schwöre und sich mit seinem Todespazifismus noch wunder wie fromm dünke. Er sei aber nichts weniger als fromm, sondern ein Hochverbrecher am Leben, vor dessen Inquisition und strenge Fehme er peinlich gezogen zu werden verdiene – et cetera.

So wußte Naphta zu pointieren, den Lobgesang ins Diabolische zu verkehren und sich selbst als die Inkarnation bewahrender Liebesstrenge hinzustellen, so daß zu unterscheiden, wo Gott und wo der Teufel, wo Tod und wo Leben war, wieder einmal zur reinen Unmöglichkeit wurde. Man wird es uns aufs Wort glauben, daß sein Gegenspieler Manns genug war, ihm die Antwort nicht schuldig zu bleiben, die hervorragend war, und auf die er wieder eine ebenso gute bekam, wonach es noch eine Weile so fortging und das Gespräch in früher schon angedeutete Erörterungen einmündete. Aber Hans Castorp hörte nicht länger zu, da Joachim zwischendurch geäußert hatte, er glaube bestimmt, Erkältungsfieber zu haben und wisse nicht recht, wie er sich nun verhalten solle, da Erkältungen hier doch nicht „reçu“ seien. Die Duellanten waren darüber hinweggegangen, aber Hans Castorp hatte, wie wir zeigten, ein besorgtes Auge auf seinen Vetter und brach auf mit ihm, mitten in einer Replik, indem er es darauf ankommen ließ, ob von dem restlichen Publikum, bestehend aus Ferge und Wehsal, ein hinlänglicher pädagogischer Antrieb zur Fortsetzung des Wettstreits ausgehen werde.

Unterwegs einigte er sich mit Joachim dahin, daß man in Sachen seiner Erkältung und Halsbeschwerden den Dienstweg einschlagen, das heißt also, den Bademeister anstellen wolle, die Oberin zu benachrichtigen, worauf denn für den Leidenden doch wohl etwas geschehen werde. So war es wohlgetan. Noch am Abend, gleich nach dem Diner, klopfte Adriatica bei Joachim, als Hans Castorp gerade bei ihm im Zimmer war, und erkundigte sich kreischend nach den Wünschen und Klagen des jungen Offiziers. „Halsschmerzen? Heiserkeit?“ wiederholte sie. „Menschenskind, was machen Sie für Sprünge?“ Und sie unternahm den Versuch, ihm durchdringend ins Auge zu blicken, wobei es nicht an Joachim lag, daß ein Ineinander-Ruhen ihrer Blicke mißlang: der ihre war es, der beiseite schweifte. Daß sie es immer wieder versuchte, wenn es ihr nun doch erfahrungsgemäß einmal nicht gegeben war, das Unternehmen durchzuführen! Mit Hilfe einer Art von metallenem Schuhlöffel, den sie aus ihrer Gürteltasche zog, sah sie dem Patienten in den Schlund, wobei Hans Castorp mit der Nachttischlampe leuchten mußte. Während sie, auf den Zehenspitzen stehend, um Joachims Zäpfchen herumspähte, sagte sie:

„Sagen Sie mal, geehrtes Menschenkind, – haben Sie sich schon mal verschluckt?“

Was war nun darauf zu antworten! Im Augenblick, solange sie spähte, war überhaupt keine Möglichkeit, Rede zu stehen; aber auch nachdem sie von ihm abgelassen, blieb guter Rat teuer. Natürlich hatte er sich im Leben schon ein und das andere Mal verschluckt, beim Essen und Trinken; doch das war Menschenlos und konnte bei ihrer Frage nicht wohl gemeint sein. Er sagte: Wieso? Er könne sich an das letztemal nicht erinnern.

Na, gut; es sei bloß so ein Einfall von ihr gewesen. Er habe sich also erkältet, sagte sie zum Erstaunen der Vettern, da sonst das Wort Erkältung doch hier im Hause verpönt war. Zur näheren Untersuchung des Halses sei gegebenenfalls des Hofrats Kehlkopfspiegel vonnöten. Sie ließ Formamint zurück bei ihrem Weggang, sowie einen Verbandwickel nebst Guttapercha zu feuchten Umschlägen für die Nacht, und Joachim machte Gebrauch von beidem, meinte auch deutliche Erleichterung zu spüren dank diesen Anwendungen und fuhr also fort damit, zumal seine Heiserkeit sich nicht klären wollte, ja, in den nächsten Tagen noch stärker wurde, obgleich die Halsschmerzen zuweilen fast ganz verschwanden.

Übrigens war sein Erkältungsfieber reine Einbildung gewesen. Der objektive Befund war der gewöhnliche, – eben der, welcher, zusammen mit den Ergebnissen der hofrätlichen Untersuchungen, den ehrliebenden Joachim hier zu einer kleinen Nachkur festhielt, bevor er wieder zur Fahne würde eilen können. Der Oktobertermin war sang- und klanglos vorübergegangen. Niemand verlor ein Wort darüber, weder der Hofrat, noch die Vettern gegeneinander: still und mit niedergeschlagenen Augen gingen sie darüber hinweg. Nach dem, was Behrens bei der Monatsuntersuchung dem seelenkundigen Famulus in die Feder diktierte, und was die photographische Platte zeigte, war allzu klar, daß höchstens von einer ganz wilden Abreise hätte die Rede sein können, während es doch diesmal galt, im Dienste hier oben mit eiserner Selbstzucht auszuharren, bis zum Flachlanddienste, zur Eideserfüllung dort unten endgültige Wetterfestigkeit gewonnen wäre.

Dies war die geltende Parole, über die einig zu sein man stillschweigend vorgab. Aber die Wahrheit sah so aus, daß einer vom andern nicht so ganz sicher war, ob er in tiefster Seele an diese Parole glaubte, und wenn man die Augen voreinander niederschlug, so geschah es in diesem Zweifel, und es geschah nicht, ohne daß zuvor die Augen sich getroffen hätten. Das aber kam öfters vor seit jenem Kolloquium über die Literatur, während dessen Hans Castorp zum erstenmal das neuartige Licht im Hintergrund von Joachims Augen, sowie den eigentümlich „drohenden“ Ausdruck darin bemerkt hatte. Namentlich einmal bei Tische kam es vor: als nämlich der heisere Joachim sich unversehens ausnehmend heftig verschluckte und kaum wieder zu Atem kommen konnte. Da also, während Joachim hinter seiner Serviette keuchte und Frau Magnus, seine Nachbarin, ihm einer alten Praktik gemäß den Rücken klopfte, trafen sich ihre Augen auf eine Art, die Hans Castorp schreckhafter bewegte, als der Unfall selbst, der selbstverständlich jedem zustoßen konnte, und dann schloß Joachim die seinen und verließ, mit der Serviette verhüllt, Tisch und Saal, um sich draußen auszuhusten.

Lächelnd, wenn auch noch etwas blaß, kehrte er nach zehn Minuten zurück, eine Entschuldigung wegen der verursachten Störung auf den Lippen, nahm wie zuvor an der übergewaltigen Mahlzeit teil, und nachher vergaß man sogar, auch nur mit einer Bemerkung auf den trivialen Zwischenfall zurückzukommen. Als aber einige Tage später, diesmal nicht beim Diner, sondern beim üppigen Gabelfrühstück, sich dasselbe ereignete, übrigens ohne daß die Augen sich getroffen hätten, wenigstens nicht diejenigen der Vettern, da Hans Castorp, über seinen Teller gebeugt, scheinbar unachtsam weiter speiste, mußte man nach aufgehobener Tafel wohl dennoch ein Wort daran wenden, und Joachim schalt auf das verdammte Frauenzimmer, die Mylendonk, die mit ihrer vom Zaun gebrochenen Frage ihm einen Floh ins Ohr gesetzt und ihm etwas eingeredet und angehext habe, der Teufel solle sie holen. Ja, offenbar sei es Suggestion, sagte Hans Castorp, – amüsant zu konstatieren bei aller Unannehmlichkeit. Und Joachim, nachdem man die Sache beim Namen genannt, erwehrte sich fortan mit Erfolg der Hexerei, gab acht beim Essen und verschluckte sich nicht häufiger mehr, als nichtbehexte Leute am Ende auch: erst neun oder zehn Tage später einmal wieder, worüber denn weiter nichts zu sagen war.

Jedoch war er außer der Reihe und Zeit zu Rhadamanthys bestellt. Die Oberin hatte ihn angezeigt und wohl nicht einmal dumm daran getan; denn da ein Kehlkopfspiegel im Hause war, so schien diese hartnäckige Heiserkeit, die stundenweise in wirkliche Stimmlosigkeit ausartete, und auch dies Halsweh, das wieder hervortrat, sobald Joachim versäumte, seine Kehle durch speicheltreibende Mittel geschmeidig zu halten, ein hinlänglicher Anlaß, das klug erdachte Instrument einmal aus dem Schranke zu nehmen, – zu schweigen davon, daß, wenn Joachim sich jetzt mit normaler Seltenheit verschluckte, dies nur der großen Vorsicht zu danken war, die er beim Essen aufwandte, und die ihn bei den Mahlzeiten fast regelmäßig in Rückstand hielt.

Der Hofrat also spiegelte, reflektierte und äugte tief und lange in Joachims Hals hinunter, worauf der Patient sich auf Hans Castorps besonderen Wunsch sogleich in dessen Balkonloge einfand, um Bericht zu erstatten. Es sei recht lästig und kitzlich gewesen, teilte er halb flüsternd mit, da gerade Hauptliegekur und Schweigegebot waltete, und schließlich habe Behrens allerlei von einem Reizungszustand gekohlt und gesagt, es müßten jeden Tag Pinselungen vorgenommen werden, gleich morgen wolle er zu ätzen anfangen, er müsse nur erst das Medikament bereitstellen. Also Reizungszustand und Ätzungen. Hans Castorp, den Kopf voller Gedankenverbindungen, die weit liefen und sich auf ganz fernstehende Personen, wie den hinkenden Concierge und jene Dame erstreckten, die sich die ganze Woche ihr Ohr gehalten und dennoch durchaus beruhigt hatte sein können, hatte noch Fragen auf den Lippen, brachte sie aber nicht darüber, sondern beschloß, sie dem Hofrat unter vier Augen vorzulegen und beschränkte sich gegen Joachim auf den Ausdruck seiner Genugtuung, daß das Ärgernis nun der Kontrolle unterstehe und der Hofrat die Sache in die Hand genommen habe. Der sei ein Hauptkerl und werde schon Remedur schaffen. Worauf Joachim nickte, ohne den anderen anzusehen, sich umwandte und in seine Loge hinüberging.

Was war es mit dem ehrliebenden Joachim? In den letzten Tagen waren seine Augen so unsicher und scheu geworden. Noch neulich war Oberin Mylendonk mit ihrem Durchbohrungsversuch an seinem sanften dunklen Blick gescheitert, allein wenn sie jetzt ihr Heil noch einmal versuchte, war man wahrhaftig nicht mehr sicher, wie die Sache ablaufen würde. Jedenfalls vermied er solche Begegnungen, und wenn es dennoch dazu kam (denn Hans Castorp sah ihn viel an), so wurde einem auch dabei nicht wohler. Bedrückt blieb Hans Castorp in seinem Abteil zurück, in treibender Versuchung, den Chef sogleich zur Rede zu stellen. Doch ging das nicht an, da Joachim sein Aufstehen gehört hätte, und so war Aufschub geboten und Behrens im Laufe des Nachmittags abzufangen.

Das aber gelang nicht. Sonderbar! Es wollte durchaus nicht gelingen, des Hofrats habhaft zu werden, und zwar weder diesen Abend, noch während der ganzen beiden folgenden Tage. Natürlich war Joachim etwas hinderlich, da er nichts merken sollte, aber das reichte nicht hin, zu erklären, weshalb die Unterredung nicht zu erlangen und Radamanth auf keine Weise dingfest zu machen war. Hans Castorp suchte und fragte nach ihm im ganzen Hause, wurde dahin und dorthin gewiesen, wo er ihn sicher treffen werde, und fand ihn dann eben nicht mehr dort. Bei einer Mahlzeit war Behrens zugegen, saß aber weit fort, am Schlechten Russentisch und verschwand vor dem Dessert. Ein paarmal glaubte Hans Castorp ihn schon am Knopf zu halten, er sah ihn auf Treppen und Gängen im Gespräch mit Krokowski, mit der Oberin, mit einem Patienten stehen und paßte ihm auf. Aber da er nur eben die Augen abgewandt hatte, war Behrens weg.

Am vierten Tage erst kam er zum Ziel. Von seinem Balkon aus sah er den Verfolgten im Garten dem Gärtner Anweisungen geben, schlüpfte geschwind aus der Decke und eilte hinunter. Eben ruderte der Hofrat mit rundem Nacken gegen seine Wohnung davon. Hans Castorp trabte und erlaubte sich sogar, zu rufen, fand aber kein Gehör. Endlich, atemlos anlangend, brachte er seinen Mann zum Stehen.

„Was haben Sie hier zu suchen!“ herrschte der Hofrat ihn mit quellenden Augen an. „Soll ich Ihnen ein Extra-Exemplar der Hausordnung aushändigen lassen? Meines Wissens ist Liegekur. Ihre Kurve und die Platte geben Ihnen gar kein besonderes Recht, den Freiherrn zu spielen. Man sollte hier irgendwo so eine göttliche Diebsscheuche anbringen lassen, die Leute, die zwischen zwei und vier im Garten Libertinage treiben, mit Aufspießung bedroht! Was wollen Sie eigentlich?“

„Herr Hofrat, ich muß Sie unbedingt einen Augenblick sprechen!“

„Das merke ich, daß Sie sich das schon lange einbilden. Sie stellen mir ja nach, als ob ich ein Frauenzimmer und wunder was für ein Lustobjekt wäre. Was wollen Sie von mir?“

„Es ist nur wegen meines Vetters, Herr Hofrat, entschuldigen Sie! Er wird nun gepinselt ... Ich bin überzeugt, daß damit die Sache auf gutem Wege ist. Sie ist doch harmlos, – wollte ich mir nur zu fragen erlauben?“

„Sie wollen immer alles harmlos haben, Castorp, so sind Sie. Sie sind gar nicht abgeneigt, sich auch einmal mit Nichtharmlosigkeiten einzulassen, aber dann behandeln Sie sie, als ob sie harmlos wären, und damit glauben Sie sich vor Gott und Menschen angenehm zu machen. Sie sind eine Art von Feigling und Duckmäuser, Mensch, und wenn Ihr Vetter Sie einen Zivilisten nennt, so ist das noch sehr euphemistisch ausgedrückt.“

„Kann alles sein, Herr Hofrat. Natürlich, die Schwächen meines Charakters stehen doch außer Frage. Aber das ist es eben, daß sie im Augenblick wohl außer Frage stehen, und was ich Sie schon seit drei Tagen bitten wollte, ist nur –“

„Daß ich Ihnen recht angenehm gezuckerten und gepantschten Wein einschenke! Sie wollen mich behelligen und mich langweilen, damit ich Sie in Ihrer verdammten Duckmäuserei befestige, und damit Sie in Unschuld schlafen können, während andere Leute wachen und sich den Wind um die Nase wehen lassen.“

„Aber, Herr Hofrat, Sie sind recht streng mit mir. Ich wollte im Gegenteil –“

„Ja, Strenge, das ist nun gerade gar nicht Ihre Sache. Da ist Ihr Vetter ein anderer Kerl, von anderem Schrot und Korn. Der weiß Bescheid. Der weiß schweigend Bescheid, verstehen Sie mich? Der hängt sich den Leuten nicht an die Rockschöße, um sich blauen Dunst und Harmlosigkeit vormachen zu lassen. Der wußte, was er tat und was er daransetzte, und ist ein Mannsbild, das sich auf Haltung versteht und aufs Maulhalten, was eine männliche Kunst ist, aber leider nicht die Sache von solchen bipedischen Annehmlichkeiten wie Sie. Aber das sage ich Ihnen, Castorp, wenn Sie hier Szenen aufführen und ein Geschrei erheben und sich Ihren Zivilgefühlen überlassen, so setze ich Sie an die Luft. Denn hier wollen Männer unter sich sein, verstehen Sie mich.“

Hans Castorp schwieg. Er wurde jetzt auch fleckig, wenn er sich verfärbte. Er war zu kupferrot, um ganz blaß zu werden. Schließlich sagte er mit zuckenden Lippen:

„Ich danke sehr, Herr Hofrat. Ich weiß ja nun auch wohl Bescheid, denn ich nehme an, daß Sie nicht so – wie soll ich sagen – so feierlich zu mir sprechen würden, wenn es nicht ernst wäre mit Joachim. Ich bin auch gar nicht für Szenen und für Geschrei, da tun Sie mir unrecht. Und wenn es also auf Diskretion ankommt, so stehe ich auch meinen Mann, das glaube ich zusagen zu können.“

„Sie hängen an Ihrem Vetter, Hans Castorp?“ fragte der Hofrat, indem er plötzlich des jungen Mannes Hand ergriff und ihn mit seinen blauen, weißlich bewimperten, blutunterlaufenen Quellaugen von unten anblickte ...

„Was läßt sich da sagen, Herr Hofrat. Ein so naher Verwandter und so guter Freund und mein Kamerad hier oben.“ Hans Castorp schluchzte kurz und stellte den einen Fuß auf die Spitze, indem er die Ferse nach außen wandte.

Der Hofrat beeilte sich, seine Hand loszulassen.

„Na, dann seien Sie nett mit ihm diese sechs, acht Wochen“, sagte er. „Überlassen Sie sich Ihrer angeborenen Harmlosigkeit, das wird ihm das Liebste sein. Ich bin auch noch da, und zwar dazu, die Sache so kavaliersmäßig und komfortabel wie möglich zu gestalten.“

„Larynx, nicht wahr?“ sagte Hans Castorp, indem er dem Hofrat zunickte.

„Laryngea“, bestätigte Behrens. „Schnell fortschreitende Zerstörung. Und mit der Luftröhrenschleimhaut sieht es auch schon böse aus. Kann sein, daß das Kommandogeschrei im Dienst da einen locus minoris resistentiae geschaffen hat. Aber gefaßt sein müssen wir auf solche Diversionen ja immer. Wenig Aussicht, mein Junge; eigentlich wohl gar keine. Selbstverständlich soll alles versucht werden, was gut und teuer ist.“

„Die Mutter ...“, sagte Hans Castorp.

„Später, später. Eilt ja noch nicht. Sorgen Sie mit Takt und Geschmack dafür, daß sie sukzessive ins Bild kommt. Und nun scheren Sie sich auf Ihren Posten. Er merkt es ja. Und es muß ihm doch peinlich sein, sich so hinter seinem Rücken besprochen zu wissen.“

– Täglich ging Joachim zum Pinseln. Es war ein schöner Herbst, in weißen Flanellhosen zum blauen Rock kam er öfters verspätet von der Behandlung zum Essen, propper und militärisch, grüßte knapp, freundlich und männlich zusammengenommen, indem er seiner Säumigkeit wegen um Pardon bat, und setzte sich zu seiner Mahlzeit nieder, die man ihm jetzt besonders bereitete, da er bei der gewöhnlichen Kost, der Verschluckungsgefahr wegen, nicht mitkam: er erhielt Suppen, Haschees und Brei. Schnell hatten die Tischgenossen die Lage begriffen. Sie erwiderten seinen Gruß mit nachdrücklicher Höflichkeit und Wärme, indem sie ihn „Herr Leutnant“ anredeten. In seiner Abwesenheit befragten sie Hans Castorp, und auch von den anderen Tischen kam man zu ihm und fragte. Frau Stöhr kam mit gerungenen Händen und lamentierte ungebildet. Aber Hans Castorp antwortete nur einsilbig, räumte den Ernst des Zwischenfalles ein, leugnete jedoch bis zu einem gewissen Grade, tat es ehrenhalber, aus dem Gefühle, Joachim nicht vorzeitig preisgeben zu dürfen.

Sie gingen zusammen spazieren, legten dreimal täglich den dienstlichen Lustwandel zurück, auf welchen der Hofrat Joachim nun genauestens eingeschränkt hatte, damit unnötige Kräfteausgabe vermieden werde. Links von seinem Vetter ging Hans Castorp, – sie waren früher so oder auch anders gegangen, wie es gerade kam, aber jetzt hielt sich Hans Castorp vorwiegend links. Sie sprachen nicht viel, redeten die Worte, die der Berghof-Normaltag ihnen auf die Lippen führte, sonst nichts. Über das Thema, das zwischen ihnen stand, ist nichts zu reden, zumal zwischen Leuten von Sittensprödigkeit, die einander nur äußerstenfalls mit Vornamen nennen. Dennoch hob es sich zuweilen drängend und wallend auf in Hans Castorps Zivilistenbrust, im Begriffe, sich zu ergießen. Aber es war unmöglich. Was schmerzlich-stürmisch emporgeschwollen war, sank zurück, und er verstummte.

Joachim ging gebeugten Kopfes neben ihm. Er sah zu Boden, als betrachtete er die Erde. Es war so merkwürdig: er ging hier, propper und ordentlich, er grüßte Vorübergehende auf seine ritterliche Art, hielt auf sein Äußeres und auf bienséance wie immer – und gehörte der Erde. Nun, der gehören wir alle über kurz oder lang. Aber so jung und mit so gutem, freudigem Willen zum Dienst bei der Fahne ganz kurzfristig ihr zu gehören, das ist doch bitter: noch bitterer und unbegreiflicher für einen wissend nebenhergehenden Hans Castorp, als für den Erdmann selbst, dessen anständig verschwiegenes Wissen eigentlich recht akademischer Natur ist, geringen Wirklichkeitscharakter für ihn besitzt und im Grunde weniger seine Sache ist, als die der anderen. Tatsächlich ist unser Sterben mehr eine Angelegenheit der Weiterlebenden, als unserer selbst; denn ob wir es nun zu zitieren wissen oder nicht, so hat das Wort des witzigen Weisen jedenfalls volle seelische Gültigkeit, daß, solange wir sind, der Tod nicht ist, und daß, wenn der Tod ist, wir nicht sind; daß also zwischen uns und dem Tode gar keine reale Beziehung besteht und er ein Ding ist, das uns überhaupt nichts und nur allenfalls Welt und Natur etwas angeht, – weshalb denn auch alle Wesen ihm mit großer Ruhe, Gleichgültigkeit, Verantwortungslosigkeit und egoistischer Unschuld, entgegenblicken. Von dieser Unschuld und Verantwortungslosigkeit fand Hans Castorp viel in Joachims Wesen während dieser Wochen und verstand, daß jener zwar wisse, daß es ihm aber darum nicht schwer falle, über dies Wissen ein anständiges Schweigen zu beobachten, weil seine inneren Beziehungen dazu nur locker und theoretisch waren oder, soweit sie praktisch in Betracht kamen, durch ein gesundes Schicklichkeitsgefühl geregelt und bestimmt wurden, das die Erörterung jenes Wissens ebensowenig zuließ wie diejenige so vieler anderer funktioneller Unanständigkeiten, deren das Leben sich bewußt und durch die es bedingt ist, die es aber nicht hindern, bienséance zu bewahren.

So gingen sie und schwiegen über lebensunziemliche Angelegenheiten der Natur. Auch Joachims anfangs so bewegt und zornig geführte Klagen über das Versäumnis der Manöver, des militärischen Flachlanddienstes überhaupt waren verstummt. Warum aber kehrte statt dessen und trotz aller Unschuld so oft der Ausdruck trüber Scheu in seine sanften Augen zurück, – jene Unsicherheit, die der Oberin, wenn sie es noch einmal hätte darauf ankommen lassen, wahrscheinlich den Sieg gebracht haben würde? War es, weil er sich überäugig und hohlwangig wußte? – Denn so wurde er zusehends in diesen Wochen, viel mehr noch, als er es schon bei seiner Heimkehr vom Flachland gewesen war, und seine braune Gesichtsfarbe ward gelblich-lederner von Tag zu Tag. Als ob eine Umgebung ihm Grund zur Scham und Selbstverachtung gegeben hätte, die mit Herrn Albin auf nichts bedacht war, als darauf, die grenzenlosen Vorteile der Schande zu genießen. Wovor und vor wem also duckte und verbarg sich sein ehemals so offener Blick? Wie seltsam, die Lebensscham der Kreatur, die sich in ein Versteck schleicht, um zu verenden, – überzeugt, daß sie in der Natur draußen keinerlei Achtung und Pietät vor ihrem Leiden und Sterben zu gewärtigen hat, überzeugt hiervon mit Recht, da ja die Schar der schwingenfrohen Vögel den kranken Genossen nicht nur nicht ehrt, sondern ihn in Wut und Verachtung mit Schnabelhieben traktiert. Doch das ist gemeine Natur, und ein hochmenschliches Liebeserbarmen schwoll auf in Hans Castorps Brust, wenn er die dunkle Instinktscham in des armen Joachims Augen sah. Er ging links von ihm, ausdrücklich tat er es; und da Joachim nun auch etwas unsicher zu Fuße wurde, so stützte er ihn wohl, wenn es einen kleinen Wiesenhang zu erklettern galt, indem er, die Sittensprödigkeit überwindend, den Arm um ihn legte, ja, vergaß noch nachher eine Weile, seinen Arm wieder von Joachims Schultern wegzutun, bis dieser ihn halb ärgerlich abschüttelte und sagte:

„Na, du, was soll das. Es sieht ja betrunken aus, wie wir daherkommen.“

Aber dann kam ein Augenblick, wo dem jungen Hans Castorp die Trübung von Joachims Blick noch in einem anderen Lichte erschien, und das war, als Joachim Order erhalten hatte, das Bett zu hüten, Anfang November, – der Schnee lag hoch. Damals nämlich war es ihm allzu schwer geworden, auch nur die Haschees und Breie sich zuzuführen, da jeder zweite Bissen ihm in die falsche Kehle geriet. Der Übergang zu ausschließlich flüssiger Nahrung war indiziert, und zugleich verordnete Behrens dauernde Bettruhe, der Kräfteersparnis wegen. Es war also am Vorabend von Joachims dauernder Bettlägerigkeit, am letzten Abend, da er noch auf den Füßen war, daß Hans ihn betraf, – ihn im Gespräch mit Marusja betraf, der grundlos viellachenden Marusja mit dem Apfelsinentüchlein und der äußerlich wohlgebildeten Brust. Nach dem Diner war das, während der Abendgeselligkeit, in der Halle. Hans Castorp hatte sich im Musiksalon aufgehalten und kam heraus, um nach Joachim zu sehen: da fand er ihn vor dem Kachelkamin neben Marusjas Stuhl, – es war ein Schaukelstuhl, worin sie saß, und Joachim hielt ihn mit der Linken an der Rückenlehne nach hinten geneigt, so daß Marusja aus liegender Stellung mit ihren braunen Kugelaugen in sein Gesicht emporblickte, das er, leise und abgerissen sprechend, über das ihre beugte, während sie manchmal lächelnd und erregt-geringschätzig mit den Schultern zuckte.

Hans Castorp beeilte sich, zurückzutreten, nicht ohne wahrgenommen zu haben, daß noch andere Mitglieder der Gästeschaft auf die Szene, wie das zu gehen pflegte, ein belustigtes Auge hatten, – unbemerkt von Joachim, oder doch unbeachtet von ihm. Dieser Anblick: Joachim, im Gespräche rücksichtslos hingegeben an die hochbrüstige Marusja, mit der er so lange an ein und demselben Tisch gesessen, ohne ein einziges Wort mit ihr zu wechseln; vor deren Person und Existenz er mit strengem Ausdruck, vernünftig und ehrliebend, die Augen niedergeschlagen hatte, obgleich er fleckig erblaßte, wenn von ihr die Rede war, – erschütterte Hans Castorp mehr, als irgendein Zeichen der Entkräftung, das er in diesen Wochen sonst an seinem armen Vetter wahrgenommen. „Ja, er ist verloren!“ dachte er und setzte sich still auf einen Stuhl im Musiksalon, um Joachim Zeit zu lassen für das, was er sich dort in der Halle an diesem letzten Abend noch gönnte.

Von da an also nahm Joachim dauernd die Horizontale ein, und Hans Castorp schrieb davon an Luise Ziemßen, schrieb ihr in seinem vorzüglichen Liegestuhl, er habe nun seinen früheren gelegentlichen Mitteilungen hinzuzufügen, daß Joachim bettlägerig geworden sei und daß er zwar nichts gesagt habe, daß ihm aber der Wunsch, seine Mutter bei sich zu haben, von den Augen abzulesen sei, und daß Hofrat Behrens diesen unausgesprochenen Wunsch ausdrücklich unterstütze. Auch dies fügte er zart und deutlich hinzu. Und so war es denn kein Wunder, daß Frau Ziemßen die schnellsten Verkehrsmittel in Anspruch nahm, um zu ihrem Sohne zu stoßen: schon drei Tage nach Abgang dieses humanen Alarmbriefes traf sie ein, und Hans Castorp holte sie bei Schneegestöber im Schlitten von Station „Dorf“ ab, – legte, auf dem Bahnsteige stehend, bevor das Züglein einfuhr, seine Miene zurecht, daß sie die Mutter nicht gleich zu sehr erschrecke, daß diese aber auch nichts Falsches, Munteres mit dem ersten Blick darin lese.

Wie oft mochten wohl solche Begrüßungen sich hier schon ereignet haben, wie oft dies Aufeinander-Zueilen unter dringlichem und angstvollem Forschen des dem Zuge Entstiegenen in den Augen dessen, der ihn in Empfang nahm! Frau Ziemßen erweckte den Eindruck, als sei sie von Hamburg hierher zu Fuße gelaufen. Erhitzten Gesichtes zog sie Hans Castorps Hand an ihre Brust und stellte, gewissermaßen scheu um sich blickend, hastige und gleichsam geheime Fragen, denen er auswich, indem er ihr dankte, daß sie so rasch gekommen sei, – das sei famos, und wie mächtig werde ihr Joachim sich freuen. Tja, der liege nun leider vorderhand, es sei wegen der flüssigen Nahrung, die ja natürlich auf den Kräftezustand nicht ohne Einfluß sei. Aber da gebe es notfalls noch mancherlei Auskünfte, zum Beispiel die künstliche Ernährung. Übrigens werde sie ja selber sehen.

Sie sah; und an ihrer Seite sah Hans Castorp. Bis zu diesem Augenblick waren ihm die Veränderungen, die sich in den letzten Wochen an Joachim vollzogen hatten, gar nicht so bemerklich geworden, – junge Leute haben ja nicht viel Blick für solche Dinge. Jetzt aber, neben der von außen kommenden Mutter, betrachtete er ihn gleichsam mit ihren Augen, als hätte er ihn lange nicht gesehen, und erkannte klar und deutlich, was zweifellos auch sie erkannte, was aber ganz gewiß am besten von allen dreien Joachim selber wußte, nämlich, daß er ein Moribundus war. Er hielt Frau Ziemßens Hand in der seinen, die ebenso gelb und abgezehrt war, wie sein Gesicht, von welchem, eben infolge der Abmagerung, seine Ohren, dieser leichte Kummer seiner guten Jahre, stärker als ehedem und in bedauerlich entstellendem Maße abstanden, das aber bis auf diesen Fehler und trotz seiner durch den Stempel des Leidens und durch den Ausdruck von Ernst und Strenge, ja Stolz, den es trug, eher noch männlich verschönt erschien, – obgleich seine Lippen mit dem schwarzen Bärtchen darüber jetzt gar zu voll wirkten gegen die schattigen Wangenhöhlen. Zwei Falten hatten sich in die gelbliche Haut seiner Stirn zwischen den Augen eingegraben, die, obgleich tief in knochigen Höhlen liegend, schöner und größer waren als je, und an denen Hans Castorp sich freuen mochte. Denn alle Störung, Trübung und Unsicherheit war, seit Joachim lag, daraus geschwunden, und nur jenes früh bemerkte Licht war in ihrer ruhigen, dunklen Tiefe zu sehen – und freilich auch jene „Drohung“. Er lächelte nicht, während er die Hand seiner Mutter hielt und ihr flüsternd Guten Tag und Willkommen sagte. Auch bei ihrem Eintritt hatte er nicht einen Augenblick gelächelt, und diese Unbeweglichkeit, Unveränderlichkeit seiner Miene sagte alles.

Luise Ziemßen war eine tapfere Frau. Sie löste sich nicht in Jammer auf bei ihres braven Sohnes Anblick. Gefaßt und zusammengenommen im Sinne ihres durch das kaum sichtbare Schleiernetz befestigten Haares, phlegmatisch und energisch, wie man bekanntlich bei ihr zulande war, nahm sie Joachims Wartung in die Hand, durch seinen Anblick gerade gespornt zu mütterlicher Kampflust und erfüllt von dem Glauben, daß, wenn es etwas zu retten gäbe, nur ihrer Kraft und Wachsamkeit die Rettung gelingen könne. Um ihrer Bequemlichkeit willen geschah es gewiß nicht, sondern nur aus Sinn für das Stattliche, wenn sie einige Tage später einwilligte, daß auch eine Pflegeschwester noch zu dem Schwerkranken berufen wurde. Es war Schwester Berta, in Wirklichkeit Alfreda Schildknecht, die mit ihrem schwarzen Handkoffer an Joachims Lager erschien; aber weder bei Tag noch bei Nacht ließ Frau Ziemßens eifersüchtige Energie ihr viel zu tun, und Schwester Berta hatte eine Menge Zeit, auf dem Korridor zu stehen und, ihr Kneiferband hinter dem Ohre, neugierig auszuspähen.

Die protestantische Diakonissin war eine nüchterne Seele. Allein im Zimmer mit Hans Castorp und mit dem Kranken, der keineswegs schlief, sondern offenen Auges auf dem Rücken lag, war sie imstande, zu sagen:

„Das hätte ich mir auch nicht träumen lassen, daß ich einen von den Herren noch einmal zu Tode pflegen würde.“

Der erschrockene Hans Castorp zeigte ihr mit wilder Miene die Faust, aber sie begriff kaum, was er wollte, – weit entfernt, und mit Recht, von dem Gedanken, daß es angebracht sein möchte, Joachim zu schonen und viel zu sachlich gesonnen, um in Erwägung zu ziehen, daß irgendjemand, und nun gar der Nächstbeteiligte, sich über Charakter und Ausgang dieses Falles Täuschungen hingeben könne. „Da“, sagte sie, indem sie Kölnisches Wasser auf ein Taschentuch goß und es Joachim unter die Nase hielt, „tun Sie sich noch ein bißchen gütlich, Herr Leutnant!“ Und wirklich hätte es zu jener Zeit wenig Vernunft gehabt, dem guten Joachim ein X für ein U zu machen, – es sei denn zum Zwecke tonischer Beeinflussung, wie Frau Ziemßen es meinte, wenn sie ihm mit starker, bewegter Stimme von seiner Genesung sprach. Denn zweierlei war deutlich und nicht zu verkennen: daß Joachim erstens mit klarem Bewußtsein dem Tode entgegenging, und daß er es zweitens in Harmonie und Zufriedenheit mit sich selber tat. Erst in der letzten Woche, Ende November, als Herzschwäche sich bemerkbar machte, vergaß er sich stundenweise, von hoffnungsseliger Unklarheit über seinen Zustand umfangen, und sprach von seiner baldigen Rückkehr zum Regiment und seiner Beteiligung an den großen Manövern, die er sich noch im Gange befindlich dachte. Zu demselben Zeitpunkt war es aber auch, daß Hofrat Behrens darauf verzichtete, den Angehörigen Hoffnung zu geben und das Ende nur noch für eine Frage von Stunden erklärte.

Eine Erscheinung, so melancholisch wie gesetzmäßig, diese vergeßlich-gläubige Selbstbetörung auch männlicher Gemüter zu einer Zeit, wo tatsächlich der Zerstörungsprozeß sich seinem letalen Ziele nähert, – gesetzmäßig-unpersönlich und überlegen aller individuellen Bewußtheit, wie die Schlafverführung, die den Erfrierenden umstrickt, und wie das Im-Kreise-Herumkommen des Verirrten. Hans Castorp, den Kummer und Herzensweh nicht hinderten, das Phänomen mit Sachlichkeit ins Auge zu fassen, knüpfte unbeholfene, wenn auch scharfköpfige Betrachtungen daran im Gespräche mit Naphta und Settembrini, als er ihnen über das Befinden seines Verwandten Bericht erstattete, und zog sich einen Verweis des letzteren zu, indem er meinte, die landläufige Auffassung, philosophische Gläubigkeit und auf das Gute vertrauende Zuversicht sei ein Ausdruck von Gesundheit, Schwarzseherei und Weltverurteilung, aber ein Krankheitsmerkmal, beruhe offenbar auf Irrtum; denn sonst könne nicht gerade der trostlos finale Zustand einen Optimismus zeitigen, mit dessen schlimmer Rosigkeit verglichen der vorangegangene Trübsinn als eine derb-gesunde Lebensäußerung erscheine. Gottlob konnte er den Teilnehmenden gleichzeitig melden, daß Rhadamanthys innerhalb der Hoffnungslosigkeit der Hoffnung Raum ließ und einen sanften, trotz Joachims Jugend quallosen Exitus prophezeite.

„Idyllische Herzaffäre, meine gnädigste Frau!“ sagte er, während er Luise Ziemßens Hand in seinen beiden schaufelgroßen hielt und sie mit quellenden, tränenden, blutunterlaufenen Blauaugen von unten anblickte. „Mir lieb, mir ungeheuer lieb, daß es kordialen Verlauf nimmt, und daß er das Glottisödem und sonstige Niedertracht nicht abzuwarten braucht; so bleiben ihm viele Schikanen erspart. Das Herz läßt rapide aus, wohl ihm, wohl uns, wir können pflichtschuldigst das Unsrige dagegen tun mit unserer Kampferspritze, ohne viel Aussicht, ihm damit Weitläufigkeiten zu verursachen. Er wird viel schlafen zuletzt und freundlich träumen, glaube ich versprechen zu können, und wenn er zuguterletzt nicht gerade schlafen sollte, so wird er doch einen knappen, unmerklichen Übertritt haben, es wird ihm ziemlich egal sein, verlassen Sie sich darauf. So ist das übrigens im Grunde immer. Ich kenne den Tod, ich bin ein alter Angestellter von ihm, man überschätzt ihn, glauben Sie mir! Ich kann Ihnen sagen, es ist fast gar nichts damit. Denn was unter Umständen an Schindereien vorhergeht, das kann man ja nicht gut zum Tode rechnen, es ist eine springlebendige Angelegenheit und kann zum Leben und zur Genesung führen. Aber vom Tode wüßte Ihnen keiner, der wiederkäme, was Rechtes zu erzählen, denn man erlebt ihn nicht. Wir kommen aus dem Dunkel und gehen ins Dunkel, dazwischen liegen Erlebnisse, aber Anfang und Ende, Geburt und Tod, werden von uns nicht erlebt, sie haben keinen subjektiven Charakter, sie fallen als Vorgänge ganz ins Gebiet des Objektiven, so ist es damit.“

Dies war des Hofrats Art und Weise, Trost zu spenden. Wir wollen hoffen, daß sie der verständigen Frau Ziemßen ein bißchen wohltat; und seine Zusicherungen trafen denn ja ziemlich weitgehend auch ein. Der schwache Joachim schlief viele Stunden lang in diesen letzten Tagen, träumte auch wohl, was zu träumen ihm angenehm war, Flachländisch-Militärisches also, nehmen wir an; und wenn er erwachte und man ihn nach seinem Befinden fragte, so antwortete er, wenn auch undeutlich, stets, daß er sich wohl und glücklich fühle, – obgleich er fast keinen Puls mehr hatte und schließlich den Einstich der Injektionsspritze überhaupt nicht mehr spürte, – sein Körper war unempfindlich, man hätte ihn brennen und zwacken können, es wäre den guten Joachim bereits nicht mehr angegangen.

Doch hatten sich seit seiner Mutter Eintreffen noch große Veränderungen mit ihm vollzogen. Da ihm das Rasieren beschwerlich geworden war und er es seit acht oder zehn Tagen schon unterlassen hatte, sein Bartwuchs aber sehr kräftig war, so zeigte sein wächsernes Gesicht mit den sanften Augen sich nun von einem schwarzen Vollbart umrahmt, – einem Kriegsbart, wie wohl der Soldat ihn im Felde sich stehen läßt, und der ihn übrigens schön und männlich kleidete, wie alle fanden. Ja, Joachim war plötzlich aus einem Jüngling zum reifen Manne geworden durch diesen Bart und wohl nicht nur durch ihn. Er lebte rasch, wie ein abschnurrendes Uhrwerk, legte im Hui und Galopp die Altersstufen zurück, die in der Zeit zu erreichen ihm nicht vergönnt war, und wurde während der letzten vierundzwanzig Stunden zum Greise. Die Herzschwäche brachte eine angestrengt wirkende Schwellung seines Gesichtes mit sich, derart, daß Hans Castorp den Eindruck gewann, das Sterben müsse zum wenigsten eine große Mühsal sein, wenn auch Joachim dank mancher Ausfälle und Herabminderungen ihrer nicht gewahr zu werden schien; diese Anschwellung aber betraf am stärksten die Lippenpartie, und eine Austrocknung oder Enervation des inneren Mundes wirkte ersichtlich damit zusammen, so daß Joachim beim Sprechen mummelte wie ein ganz Alter und übrigens an dieser Hemmung wirkliches Ärgernis nahm: wäre er ihrer erst ledig, meinte er lallend, so werde alles gut sein, doch sie sei eine verwünschte Belästigung.

Wie er das meinte: es werde „alles gut“ sein, wurde nicht so ganz klar; – die Neigung seines Zustandes zum Zweideutigen trat auffallend hervor, er äußerte mehr als einmal Doppelsinniges, schien zu wissen und nicht zu wissen und erklärte einmal, offenbar von Vernichtungsgefühl durchschauert, mit Kopfschütteln und einer gewissen Zerknirschung: so grundschlecht sei er noch niemals daran gewesen.

Dann wurde sein Wesen ablehnend, streng-unverbindlich, ja unhöflich; er ließ sich keine Fiktionen und Beschönigungen mehr nahe kommen, antwortete nicht darauf, blickte fremd vor sich hin. Namentlich nachdem der junge Pfarrer, den Luise Ziemßen berufen, und der zu Hans Castorps Bedauern keine gestärkte Krause, sondern nur Bäffchen getragen hatte, mit ihm gebetet, nahm seine Haltung amtlich-dienstliches Gepräge an, äußerte er Wünsche nur in Form kurzer Befehlsworte.

Um 6 Uhr nachmittags begann er ein eigentümliches Tun: er fuhr wiederholt mit der rechten Hand, um deren Gelenk sein goldnes Kettenarmband lag, in der Gegend der Hüfte über die Bettdecke hin, indem er sie auf dem Rückwege etwas erhob und dann auf der Decke in schabender, rechender Bewegung wieder zu sich führte, so, als zöge und sammle er etwas ein.

Um 7 Uhr starb er, – Alfreda Schildknecht befand sich auf dem Korridor, nur Mutter und Vetter waren zugegen. Er war im Bette herabgesunken und befahl kurz, man möge ihn höher stützen. Während Frau Ziemßen, den Arm um seine Schultern, der Anordnung nachkam, äußerte er mit einer gewissen Hast, er müsse sofort ein Gesuch um Verlängerung seines Urlaubes aufsetzen und einreichen, und indem er es sagte, vollzog sich der „knappe Übertritt“, – von Hans Castorp im Lichte des rotumhüllten Tischlämpchens mit Andacht verfolgt. Sein Auge brach, die unbewußte Anstrengung seiner Züge wich, die Mühsalsschwellung der Lippen schwand zusehends dahin, Verschönung zu frühmännlicher Jugendlichkeit breitete sich über unseres Joachims verstummtes Antlitz, und so war’s geschehen.

Da Luise Ziemßen sich schluchzend abgewandt hatte, war es Hans Castorp, der dem Regungs- und Hauchlosen mit der Spitze des Ringfingers die Lider schloß, ihm die Hände behutsam auf der Decke zusammenlegte. Dann stand auch er und weinte, ließ über seine Wangen die Tränen laufen, die den englischen Marineoffizier dort so gebrannt hatten, – dies klare Naß, so reichlich-bitterlich fließend überall in der Welt und zu jeder Stunde, daß man das Tal der Erden poetisch nach ihm benannt hat; dies alkalisch-salzige Drüsenprodukt, das die Nervenerschütterung durchdringenden Schmerzes, physischen wie seelischen Schmerzes, unserem Körper entpreßt. Er wußte, es sei auch etwas Muzin und Eiweiß darin.

Der Hofrat kam, von Schwester Berta benachrichtigt. Noch vor einer halben Stunde war er dagewesen und hatte Kampfer gespritzt; nur eben den Augenblick des knappen Übertrittes hatte er verpaßt. „Tja, der hat es hinter sich“, sagte er schlicht, indem er sich mit seinem Hörrohr von Joachims stiller Brust aufrichtete. Und er drückte den beiden Anverwandten die Hände, indem er ihnen zunickte. Danach stand er noch eine Weile mit ihnen zusammen am Bett, Joachims unbewegliches, kriegerbärtiges Antlitz betrachtend. „Toller Junge, toller Kerl“, sagte er über die Schulter, indem er mit dem Kopf auf den Ruhenden wies. „Hat es zwingen wollen, wissen Sie, – natürlich war alles Zwang und Gewaltsamkeit mit seinem Dienst da unten, – febril hat er Dienst gemacht auf Biegen und Brechen. Feld der Ehre, verstehen Sie, – ist uns aufs Feld der Ehre echappiert, der Durchgänger. Aber die Ehre, das war der Tod für ihn, und der Tod – Sie könnens nach Belieben auch umdrehen, – er hat nun jedenfalls ‚Habe die Ehre!‘ gesagt. Toller Bengel das, toller Kerl.“ Und er ging ab, lang und gebückt, mit heraustretendem Nacken.

Joachims Überführung in die Heimat war beschlossene Sache, und Haus Berghof sorgte für alles, was dazu erforderlich war und sonst schicklich und stattlich schien, – Mutter und Vetter brauchten sich kaum zu regen. Am nächsten Tage, in seinem seidenen Manschettenhemd, Blumen auf der Decke, ruhend in matter Schneehelligkeit, war Joachim noch schöner geworden als unmittelbar nach dem Übertritt. Jede Spur der Anstrengung war nun aus seinem Gesicht gewichen; erkaltet, hatte es sich zu reinster, schweigender Form befestigt. Kurzes Gekräusel seines dunklen Haares fiel in die unbewegliche, gelbliche Stirn, die aus einem edlen, aber heiklen Stoff zwischen Wachs und Marmor gebildet schien, und in dem ebenfalls etwas gekrausten Bart wölbten die Lippen sich voll und stolz. Ein antiker Helm hätte diesem Haupte wohl angestanden, wie mehrere der Besucher meinten, die sich zum Abschiede einfanden.

Frau Stöhr weinte begeistert im Anblick der Form des ehemaligen Joachim. „Ein Held! Ein Held!“ rief sie mehrfach und verlangte, daß an seinem Grabe die „Erotika“ von Beethoven gespielt werden müsse.

„Schweigen Sie doch!“ zischte Settembrini sie von der Seite an. Er war nebst Naphta gleichzeitig mit ihr im Zimmer und herzlich bewegt. Mit beiden Händen wies er die Anwesenden auf Joachim hin, indem er sie zur Klage aufforderte. „Un giovanotto tanto simpàtico, tanto stimàbile!“ rief er wiederholt.

Naphta enthielt sich nicht, aus seiner gebundenen Haltung heraus und ohne ihn anzublicken, leise und bissig gegen ihn hin zu äußern:

„Ich freue mich, zu sehen, daß Sie außer für Freiheit und Fortschritt auch noch für ernste Dinge Sinn haben.“

Settembrini steckte das ein. Vielleicht empfand er eine gewisse, durch die Umstände vorübergehend hervorgerufene Überlegenheit von Naphtas Position über die seine; vielleicht war es dies augenblickliche Übergewicht des Gegners, das er durch die Lebhaftigkeit seiner Trauer aufzuwiegen gesucht hatte, und das ihn jetzt schweigen ließ, – auch dann noch, als Leo Naphta, die unbeständigen Vorteile seiner Stellung ausnutzend, scharf sententiös bemerkte:

„Der Irrtum der Literaten besteht in dem Glauben, daß nur der Geist anständig mache. Es ist eher das Gegenteil wahr. Nur wo kein Geist ist, gibt es Anständigkeit.“

„Na“, dachte Hans Castorp, „das ist auch so ein pythischer Spruch! Kneift man die Lippen zusammen, nachdem man ihn hingesetzt, so herrscht Einschüchterung für den Augenblick ...“

Am Nachmittag kam der Metallsarg. Joachims Umlagerung in diesen stattlichen, mit Ringen und Löwenköpfen geschmückten Behälter wollte ein Mann allein als seine Sache betrachtet wissen, der mit ihm gekommen war: ein Verwandter des in Anspruch genommenen Bestattungsinstituts, schwarz gekleidet, in einer Art von kurzem Bratenrock und einen Ehering an seiner plebejischen Hand, in deren Fleisch der gelbe Reif sozusagen eingewachsen, ganz davon überwuchert war. Man war geneigt, zu spüren, daß Leichengeruch seinem Bratenrock entströme, was aber auf Vorurteil beruhte. Doch ließ der Mann die Spezialisten-Einbildung erkennen, daß all sein Tun gleichsam hinter die Kulissen zu fallen habe und nur pietätvoll-parademäßige Ergebnisse den Blicken der Hinterbliebenen auszusetzen seien, – was geradezu Hans Castorps Mißtrauen erweckte und keineswegs nach seinem Sinne war. Er befürwortete zwar, daß Frau Ziemßen sich zurückzöge, ließ sich selbst aber nicht hinauskomplimentieren, sondern blieb und legte mit Hand an: unter den Achseln faßte er die Figur und half sie hinübertragen vom Bett in den Sarg, auf dessen Leilach und Troddelkissen Joachims Hülle hoch und feierlich gebettet wurde, zwischen Standleuchtern, die Haus Berghof gestellt hatte.

Am wieder nächsten Tage jedoch trat eine Erscheinung auf, die Hans Castorp bestimmte, sich innerlich von der Form zu trennen und zu lösen und tatsächlich dem Professionisten, dem üblen Hüter der Pietät, das Feld zu überlassen. Joachim nämlich, dessen Ausdruck bisher so ernst und ehrbar gewesen, hatte in seinem Kriegerbarte zu lächeln begonnen, und Hans Castorp verhehlte sich nicht, daß dieses Lächeln die Neigung zur Ausartung in sich trug – es erfüllte sein Herz mit Empfindungen der Eile. So war es in Gottes Namen denn gut, daß die Abholung bevorstand, der Sarg geschlossen und verschraubt werden sollte. Hans Castorp berührte, eingeborene Sittensprödigkeit beiseite setzend, seines ehemaligen Joachim steinkalte Stirn zum Abschied zart mit den Lippen und ging trotz allem Mißtrauen gegen den Mann der Kehrseite mit Luise Ziemßen folgsam zum Zimmer hinaus.

Wir lassen den Vorhang fallen, zum vorletzten Mal. Doch während er niederrauscht, wollen wir im Geiste mit dem auf seiner Höhe zurückgebliebenen Hans Castorp fern-hinab in einen feuchten Kreuzesgarten des Flachlandes spähen und lauschen, woselbst ein Degen aufblitzt und sich senkt, Kommandoworte zucken und drei Gewehrsalven, drei schwärmerische Honneurs hinknallen über Joachim Ziemßens wurzeldurchwachsenes Soldatengrab.

Share on Twitter Share on Facebook