Die große Gereiztheit

Wie so die Jährchen wechselten, begann etwas umzugehen im Hause Berghof, ein Geist, dessen unmittelbare Abstammung von dem Dämon, dessen bösartigen Namen wir genannt haben, Hans Castorp ahnte. Mit der unverantwortlichen Neugier des Bildungsreisenden hatte er diesen Dämon studiert, ja, bedenkliche Möglichkeiten in sich vorgefunden, an dem ungeheuerlichen Dienste, den die Mitwelt ihm widmete, ausgiebig teilzunehmen. Dem Wesen zu frönen, das jetzt um sich griff, nachdem es übrigens, genau wie das alte, keimweise und da und dort sich andeutend schon immer vorhanden gewesen, war er nach seiner Gemütsart wenig geschaffen. Trotzdem bemerkte er mit Schrecken, daß auch er, sobald er sich ein wenig gehen ließ, in Miene, Wort und Gehaben einer Infektion unterlag, der niemand in der Runde sich entzog.

Was gab es denn? Was lag in der Luft? – Zanksucht. Kriselnde Gereiztheit. Namenlose Ungeduld. Eine allgemeine Neigung zu giftigem Wortwechsel, zum Wutausbruch, ja zum Handgemenge. Erbitterter Streit, zügelloses Hin- und Hergeschrei entsprang alle Tage zwischen Einzelnen und ganzen Gruppen, und das Kennzeichnende war, daß die Nichtbeteiligten, statt von dem Zustande der gerade Ergriffenen abgestoßen zu sein oder sich ins Mittel zu legen, vielmehr sympathetischen Anteil daran nahmen und sich dem Taumel innerlich ebenfalls überließen. Man erblaßte und bebte. Die Augen blitzten ausfällig, die Münder verbogen sich leidenschaftlich. Man beneidete die eben Aktiven um das Recht, den Anlaß, zu schreien. Eine zerrende Lust, es ihnen gleichzutun, peinigte Seele und Leib, und wer nicht die Kraft zur Flucht in die Einsamkeit besaß, wurde unrettbar in den Strudel gezogen. Die müßigen Konflikte, die gegenseitigen Bezichtigungen vor dem Angesicht der schlichtungsbemühten, aber brüllender Grobheit selbst erschreckend leicht verfallenden Obrigkeit häuften sich im Hause Berghof, und wer es bei leidlich gesunder Seele verließ, konnte nicht wissen, in welcher Verfassung er zurückkehrte. Ein Mitglied des Guten Russentisches, eine recht elegante Provinzdame aus Minsk, noch jung und nur leichtkrank – drei Monate und nicht mehr waren ihr zudiktiert – begab sich eines Tages in den Ort hinunter zum französischen Blusenhaus, um Einkäufe zu machen. Hier zankte sie sich derart mit der Ladnerin, daß sie in letzter Erregung zu Hause wieder eintraf, einen Blutsturz erlitt und fortan unheilbar war. Ihrem herbeigerufenen Gatten wurde eröffnet, daß ihres Bleibens hier oben nun immer und ewig sein müsse.

Das war ein Beispiel dessen, was umging. Widerwillig führen wir weitere an. Dieser und jener wird sich des rund bebrillten Schülers oder ehemaligen Schülers am Tische Frau Salomons erinnern, dieses dürftigen jungen Menschen, der die Gewohnheit hatte, sich seine Speisen auf dem Teller zu einem Kleingemengsel zusammenzuschneiden und dieses, aufgestützt, in sich hineinzuschlingen, wobei er zuweilen mit der Serviette hinter die dicken Augengläser fuhr. So hatte er, immer noch ein Schüler oder ehemaliger Schüler, all die Zeit hier gesessen, geschlungen und sich die Augen gewischt, ohne Anlaß zu einer mehr als flüchtig hinstreifenden Beachtung seiner Person zu geben. Jetzt jedoch, eines Morgens, beim ersten Frühstück, ganz überraschend und sozusagen aus heiterem Himmel, erlitt er einen Zufall und Raptus, der allgemeines Aufsehen erregte, den ganzen Speisesaal auf die Beine brachte. Es wurde laut in der Gegend, wo er saß; bleich saß er dort und schrie, und es galt der Zwergin, die bei ihm stand. „Sie lügen!“ schrie er mit sich überschlagender Stimme. „Der Tee ist kalt! Eiskalt ist mein Tee, den Sie mir gebracht haben, ich will ihn nicht, versuchen Sie ihn doch selbst, bevor Sie lügen, ob er nicht lauwarmes Spülicht ist und von anständigen Menschen überhaupt nicht zu trinken! Wie können Sie es wagen, mir eiskalten Tee zu bringen, wie können Sie auf den Gedanken verfallen und sich einreden, Sie könnten mir solches laue Gesöff vorsetzen mit auch nur einiger Aussicht, daß ich es trinke?! Ich trinke es nicht! Ich will es nicht!“ kreischte er und fing an, mit beiden Fäusten auf den Tisch zu trommeln, daß alles Geschirr der Tafel klirrte und tanzte. „Ich will heißen Tee! Siedeheißen Tee will ich, das ist mein Recht vor Gott und den Menschen! Ich will es nicht, ich will brühheißen, ich will auf der Stelle sterben, wenn ich auch nur einen Schluck – – Verfluchter Krüppel!!“ gellte er auf einmal, indem er gleichsam mit einem Ruck den letzten Zügel abwarf und zur äußersten Freiheit der Raserei begeistert durchstieß. Er hob die Fäuste dabei gegen Emerenzia und zeigte ihr buchstäblich seine beschäumten Zähne. Dann fuhr er fort zu trommeln, zu stampfen und sein „Ich will“, „Ich will nicht“ zu heulen, – während es unterdessen im Saale wie immer ging. Furchtbare und angespannte Sympathie ruhte auf dem tobenden Schüler. Einige waren aufgesprungen und sahen ihm mit ebenfalls geballten Fäusten, zusammengebissenen Zähnen und glühenden Blicken zu. Andere saßen bleich, mit niedergeschlagenen Augen, und bebten. Dies taten sie noch, als der Schüler schon längst, in Erschöpfung versunken, vor seinem ausgewechselten Tee saß, ohne ihn zu trinken.

Was war das?

Ein Mann trat in die Berghofgemeinschaft ein, ein ehemaliger Kaufmann, dreißigjährig, schon lange febril, seit Jahren von Anstalt zu Anstalt gewandert. Der Mann war Judengegner, Antisemit, war es grundsätzlich und sportsmäßig, mit freudiger Versessenheit, – die aufgelesene Verneinung war Stolz und Inhalt seines Lebens. Er war ein Kaufmann gewesen, er war es nicht mehr, er war nichts in der Welt, aber ein Judenfeind war er geblieben. Er war sehr ernstlich krank, hustete schwer beladen und tat zwischendurch, als ob er mit der Lunge nieste, hoch, kurz, einmalig, unheimlich. Jedoch war er kein Jude, und das war das Positive an ihm. Sein Name war Wiedemann, ein christlicher Name, kein unreiner. Er hielt sich eine Zeitschrift, genannt „Die arische Leuchte“, und führte Reden wie diese:

„Ich komme ins Sanatorium X. in A.. Wie ich mich in der Liegehalle installieren will, – wer liegt links von mir im Stuhl? Der Herr Hirsch! Wer liegt rechts? Der Herr Wolf! Selbstverständlich bin ich sofort gereist“ usw.

„Du hast es nötig!“ dachte Hans Castorp mit Abneigung.

Wiedemann hatte einen kurzen, lauernden Blick. Es sah tatsächlich und unbildlich so aus, als hinge dicht vor seiner Nase eine Puschel, auf die er boshaft schielte, und hinter der er nichts mehr sah. Die Mißidee, die ihn ritt, war zu einem juckenden Mißtrauen, einer rastlosen Verfolgungsmanie geworden, die ihn trieb, Unreinheit, die sich in seiner Nähe versteckt oder verlarvt halten mochte, hervorzuziehen und der Schande zuzuführen. Er stichelte, verdächtigte und geiferte, wo er ging und stand. Und kurz, das Betreiben der Anprangerung alles Lebens, das nicht den Vorzug besaß, der sein einziger war, füllte seine Tage aus.

Die inneren Umstände nun, mit deren Andeutung wir eben befaßt sind, verschlimmerten das Leiden dieses Mannes außerordentlich; und da es nicht fehlen konnte, daß er auch hier auf Leben stieß, das den Nachteil aufwies, von dem er, Wiedemann, frei war, so kam es unter dem Einfluß jener Umstände zu einer Elendsszene, der Hans Castorp beizuwohnen hatte, und die uns als weiteres Beispiel für das zu Schildernde dienen muß.

Denn es war da ein anderer Mann, – zu entlarven gab es nichts, was ihn betraf, der Fall war klar. Dieser Mann hieß Sonnenschein, und da man nicht schmutziger heißen konnte, so bildete Sonnenscheins Person vom ersten Tage an die Puschel, die vor Wiedemanns Nase hing, auf die er kurz und boshaft schielte, und nach der er mit der Hand schlug, fast weniger, um sie zu verjagen, als um sie ins Pendeln zu versetzen, damit sie ihn desto besser reize.

Sonnenschein, Kaufmann, wie der andere, von Hause aus, war ebenfalls recht ernstlich krank und krankhaft empfindlich. Ein freundlicher Mann, nicht dumm und selbst scherzhaft von Natur, haßte er Wiedemann für seine Sticheleien und seine Puschelschläge auch seinerseits bald bis zum Leiden, und eines Nachmittags lief alles in der Halle zusammen, weil Wiedemann und Sonnenschein einander dort auf ausschweifende und tierische Weise in die Haare geraten waren.

Es war ein Anblick voll Grauen und Jammer. Sie katzbalgten sich wie kleine Jungen, aber mit der Verzweiflung erwachsener Männer, mit denen es dahin gekommen ist. Sie gingen einander mit den Krallen ins Gesicht, hielten sich an Nase und Kehle, während sie aufeinander losschlugen, umschlangen sich, wälzten sich in furchtbarem und radikalem Ernste am Boden, spieen nach einander, traten, stießen, zerrten, hieben und schäumten. Herbeigeeiltes Bureaupersonal trennte mit Mühe die Verbissenen und Verkrallten. Wiedemann, speichelnd und blutend, wutverblödeten Angesichts, zeigte das Phänomen der zu Berge stehenden Haare. Hans Castorp hatte das noch nie gesehen und nicht geglaubt, daß es eigentlich vorkomme. Die Haare standen Herrn Wiedemann starr und steif zu Berge, und so stürzte er davon, während Herr Sonnenschein, das eine Auge in Bläue verschwunden und eine blutende Lücke in dem Kranz lockigen schwarzen Haares, das seinen Schädel umgab, ins Bureau geführt wurde, wo er sich niederließ und bitterlich in seine Hände weinte.

So ging es mit Wiedemann und Sonnenschein. Alle, die es sahen, bebten noch stundenlang. Es ist vergleichsweise eine Wohltat, im Gegensatz zu solcher Misere von einem wahren Ehrenhandel zu erzählen, der ebenfalls dieser Periode angehört, und der seinen Namen allerdings, der formalen Feierlichkeit wegen, mit der er gehandhabt wurde, bis zur Lächerlichkeit verdiente. Hans Castorp wohnte ihm in seinen einzelnen Phasen nicht bei, sondern belehrte sich über den verwickelten und dramatischen Hergang nur an der Hand von Dokumenten, Erklärungen und Protokollen, die, diese Sache betreffend, im Hause Berghof und außerhalb seiner, nämlich nicht nur am Ort, im Kanton, im Lande, sondern auch im Auslande und in Amerika abschriftlich vertrieben und auch solchen zum Studium zugestellt wurden, von denen ohne weiteres sicher sein mußte, daß sie der Angelegenheit auch nicht einen Deut von Teilnahme widmen konnten und wollten.

Es war eine polnische Angelegenheit, ein Ehrentrubel, entstanden im Schoße der polnischen Gruppe, die sich kürzlich im Berghof zusammengefunden hatte, einer ganzen kleinen Kolonie, die den Guten Russentisch besetzt hielt – (Hans Castorp, dies hier einzuflechten, saß nicht mehr dort, sondern war mit der Zeit an den der Kleefeld, dann an den der Salomon und dann an den Fräulein Levis gewandert). Die Gesellschaft war dermaßen elegant und ritterlich gewichst, daß man nur die Brauen emporziehen und sich innerlich auf alles gefaßt machen konnte, – ein Ehepaar, ein Fräulein dazu, das mit einem der Herren in freundschaftlichen Beziehungen stand, und sonst lauter Kavaliere. Sie hießen von Zutawski, Cieszynski, von Rosinski, Michael Lodygowski, Leo von Asarapetian und noch anders. Im Restaurant des Berghofs nun, beim Champagner, hatte ein gewisser Japoll in Gegenwart zweier anderer Kavaliere über die Gattin des Herrn von Zutawski, wie auch über das dem Herrn Lodygowski nahestehende Fräulein namens Kryloff Unwiederholbares geäußert. Hieraus ergaben sich die Schritte, Taten und Formalien, die den Inhalt der zur Verteilung und Versendung gelangenden Schriftsätze bildeten. Hans Castorp las:

„Erklärung, übersetzt aus dem polnischen Original. – Am 27. März 19.. wandte sich Herr Stanislaw von Zutawski an die Herren Dr. Antoni Cieszynski und Stefan von Rosinski mit der Bitte, sich in seinem Namen zum Herrn Kasimir Japoll zu begeben, um von demselben auf dem durch das Ehrenrecht angezeigten Wege Satisfaktion zu verlangen für ‚die schwere Beleidigung und Verleumdung, welche Herr Kasimir Japoll dessen Frau Gemahlin Jadwiga von Zutawska im Gespräche mit den Herren Janusz Teofil Lenart und Leo von Asarapetian zugefügt hat‘.

„Als von diesem obenerwähnten Gespräch, das Ende November stattgehabt hat, vor einigen Tagen Herr von Zutawski mittelbar Kenntnis erhalten hat, unternahm er sofort Schritte, um völlige Sicherheit über den Tatbestand und das Wesen der geschehenen Beleidigung zu erlangen. Am gestrigen Tage, dem 27. März 19.., wurde durch den Mund des Herrn Leo von Asarapetian, dem unmittelbaren Zeugen des Gespräches, in welchem die beleidigenden Worte und die Insinuationen gefallen sind, die Verleumdung und Beleidigung festgestellt; hierdurch wurde Herr Stanislaw von Zutawski veranlaßt, sich ungesäumt an die Unterzeichneten zu wenden, um ihnen das Mandat zur Einleitung des ehrenrechtlichen Verfahrens gegen Herrn Kasimir Japoll zu erteilen.

„Die Unterzeichneten geben folgende Erklärung ab:

‚1. Unter Zugrundelegung des von einer Partei abgefaßten Protokolls vom 9. April 19.., welches in Lemberg von den Herren Zdzistaw Zygulski und Tadeusz Kadyj in der Angelegenheit des Herrn Ladislaw Goduleczny gegen Herrn Kasimir Japoll verfaßt worden ist, ferner unter Zugrundelegung der Erklärung des Ehrengerichtes vom 18. Juni 19.., die zu Lemberg in ebenderselben Angelegenheit abgefaßt worden ist, welch beide Schriftstücke in gemeinsamem Übereinklang stehend feststellen, daß Herr Kasimir Japoll ‚infolge seines wiederholten Verhaltens, welches nicht mit dem Begriff der Ehre in Einklang zu bringen ist, als Gentleman nicht angesehen werden kann‘,

‚2. ziehen die Unterzeichneten die aus Obigem sich ergebenden Konsequenzen in ihrer vollen Tragweite und stellen die absolute Unmöglichkeit fest, daß Herr Kasimir Japoll irgendwie noch satisfaktionsfähig wäre.

‚3. Dieselben erachten für ihre Person als unzulässig, gegen einen Mann, der außerhalb des Begriffes der Ehre steht, die Ehrenangelegenheit zu führen oder in derselben zu vermitteln.‘

„In Anbetracht dieser Sachlage machen die Unterzeichneten Herrn Stanislaw von Zutawski darauf aufmerksam, daß es zwecklos sei, seinem Recht auf dem Wege eines ehrenrechtlichen Verfahrens gegen Herrn Kasimir Japoll nachzugehen und raten ihm, den strafgerichtlichen Weg einzuschlagen, um zu verhindern, daß von seiten einer Persönlichkeit, die in dem Maße außerstande ist, Satisfaktion zu leisten, wie es beim Herrn Kasimir Japoll der Fall ist, weitere Schädigungen ergehen. – (Datiert und gezeichnet:) Dr. Antoni Cieszynski, Stefan von Rosinski.“

Ferner las Hans Castorp:

„Protokoll

„der Zeugen über den Vorgang zwischen Herrn Stanislaw von Zutawski, Herrn Michael Lodygowski

„und den Herren Kasimir Japoll und Janusz Teofil Lenart in der Bar des Kurhauses zu D., am 2. April 19.. zwischen 7½ und 7¾ h abends.

„Da Herr Stanislaw von Zutawski auf Grund der Erklärung seiner Vertreter, der Herren Dr. Antoni Cieszynski und Stefan Rosinski, in der Angelegenheit des Herrn Kasimir Japoll am 28. März 19.. nach reifer Überlegung zu der Überzeugung gekommen war, daß ihm die empfohlene strafgerichtliche Verfolgung des Herrn Kasimir Japoll für ‚die schwere Beleidigung und Verleumdung‘ seiner Gemahlin Jadwiga keine Satisfaktion wird geben können, da:

1. der berechtigte Verdacht bestand, daß Herr Kasimir Japoll im gegebenen Augenblick vor Gericht nicht erscheinen und seine weitere Verfolgung mit Rücksicht darauf, daß er österreichischer Staatsangehöriger ist, nicht nur erschwert, sondern geradezu unmöglich sein wird,

2. da außerdem eine gerichtliche Bestrafung des Herrn Kasimir Japoll die Beleidigung, durch die Herr Kasimir Japoll den Namen und das Haus des Herrn Stanislaw von Zutawski und seiner Gemahlin Jadwiga in verleumderischer Weise zu schänden versuchte, nicht zu sühnen vermöchte,

hat Herr Stanislaus von Zutawski den kürzesten, seiner Überzeugung nach gründlichsten und in Anbetracht der gegebenen Verhältnisse entsprechendsten Weg gewählt, nachdem er indirekt in Erfahrung gebracht hat, daß Herr Kasimir Japoll beabsichtigt, hiesigen Ort am nächsten Tage zu verlassen,

und hat am 2. April 19.. zwischen 7½ – 7¾ h abends in Gegenwart seiner Gemahlin Jadwiga und der Herren Michael Lodygowski und Ignaz von Mellin Herrn Kasimir Japoll, der in Gesellschaft des Herrn Janusz Teofil Lenart und zweier unbekannter Mädchen in der American Bar hiesigen Kurhauses bei alkoholischen Getränken saß, mehrfach geohrfeigt.

„Unmittelbar darauf hat Herr Michael Lodygowski Herrn Kasimir Japoll geohrfeigt, indem er hinzufügte, daß dies für die dem Fräulein Krylow und ihm zugefügten schweren Beleidigungen sei.

„Sofort danach ohrfeigte Herr Michael Lodygowski Herrn Janusz Teofil Lenart für das Herrn und Frau von Zutawski zugefügte unqualifizierbare Unrecht, worauf noch,

„ohne einen Augenblick zu verlieren, auch Herr Stanislaus von Zutawski Herrn Janusz Teofil Lenart für die verleumderische Besudelung seiner Gemahlin sowohl wie Fräulein Krylows wiederholt und mehrfach ohrfeigte.

„Die Herren Kasimir Japoll und Janusz Teofil Lenart verhielten sich während dieses ganzen Vorganges völlig passiv. (Datiert u. gezeichnet:) Michael Lodygowski, Ign. v. Mellin.“

Die inneren Umstände erlaubten Hans Castorp nicht, über dies Schnellfeuer offizieller Ohrfeigen zu lachen, wie er es sonst wohl getan haben würde. Er erbebte, indem er davon las, und der untadelige Komment der einen –, die bübische und schlaffe Ehrlosigkeit der anderen Seite, wie beides aus den Dokumenten dem Leser in die Augen sprang, erregten ihn in ihrer etwas unlebendigen, aber eindrucksvollen Gegensätzlichkeit aufs tiefste. So ging es allen. Weit und breit wurde der polnische Ehrenhandel leidenschaftlich studiert und mit zusammengebissenen Zähnen besprochen. Etwas ernüchternd wirkte ein Gegenflugblatt des Herrn Kasimir Japoll, dahingehend, dem von Zutawski sei ganz genau bekannt gewesen, daß er, Japoll, seinerzeit in Lemberg von irgendwelchen aufgeblasenen Laffen für satisfaktionsunfähig erklärt worden sei, und alle seine sofortigen und ungesäumten Schritte seien das reine Affentheater gewesen, da er von vornherein gewußt habe, daß er sich nicht werde schlagen müssen. Auch habe von Zutawski einzig und allein aus dem Grunde darauf verzichtet, ihn, Japoll, zu verklagen, weil, wie jedermann und er selbst ebenfalls recht gut wisse, seine Gemahlin Jadwiga ihn mit einer ganzen Geweihsammlung versehen habe, wofür er, Japoll, spielend den Wahrheitsbeweis hätte erbringen können, wie denn auch mit der allgemeinen Aufführung der Krylow vor Gericht wenig Ehre einzulegen gewesen wäre. Übrigens sei nur seine eigene, Japolls, Satisfaktionsunfähigkeit erhärtet, nicht auch bereits die seines Gesprächspartners Lenart, und von Zutawski habe sich hinter die erstere verschanzt, um keine Gefahr zu laufen. Von der Rolle, die Herr Asarapetian in der ganzen Sache gespielt habe, wolle er nicht reden. Was aber den Auftritt in der Kurhaus-Bar betreffe, so sei er, Japoll, ein wenn auch mundscharfer und zum Witz geneigter, so doch äußerst schwächlicher Mensch; von Zutawski habe sich mit seinen Freunden und der ungewöhnlich kräftigen Zutawska in physischer Überlegenheit befunden, zumal die beiden Dämchen, die sich in seiner, Japolls, und Lenarts Gesellschaft befunden, zwar lustige Geschöpfe, aber schreckhaft wie die Hühner gewesen seien; und so habe er, um eine wüste Schlägerei und öffentlichen Skandal zu vermeiden, Lenart, der sich habe zur Wehr setzen wollen, veranlaßt, sich ruhig zu verhalten und die flüchtigen gesellschaftlichen Berührungen der Herren von Zutawski und Lodygowski in Gottes Namen zu dulden, die nicht weh getan hätten und von den Umsitzenden als freundschaftliche Neckerei aufgefaßt worden seien.

So Japoll, für den natürlich nicht viel zu retten war. Seine Korrekturen vermochten den schönen Kontrast von Ehre und Misere, wie er aus den Feststellungen der Gegenseite hervorging, nur oberflächlich zu stören, zumal er nicht über die Vervielfältigungstechnik der Zutawskischen Partei verfügte, sondern nur ein paar Maschinendurchschläge seiner Replik unter die Leute zu bringen wußte. Jene Protokolle dagegen, wie gesagt, erhielt jedermann, auch völlig Fernstehende erhielten sie. Naphta und Settembrini z. B. hatten sie ebenfalls zugestellt bekommen, – Hans Castorp sah sie in ihren Händen, und zu seiner Überraschung bemerkte er, daß auch sie mit verbissenen und sonderbar hingerissenen Mienen darauf niederblickten. Den heiteren Spott, den er selbst vermöge der herrschenden inneren Umstände nicht aufbrachte, von Herrn Settembrini wenigstens hatte er ihn erwartet. Aber auch über den klaren Geist des Maurers übte die umlaufende Infektion, die Hans Castorp beobachtete, offenbar eine Gewalt, die ihm das Lachen verschlug, ihn für die aufpeitschenden Reize des Ohrfeigenhandels ernstlich empfänglich machte; und außerdem verdüsterte ihn, den Mann des Lebens, sein langsam und unter foppenden Rückschlägen zum Guten, aber unaufhaltsam sich verschlechternder Gesundheitszustand, den er verwünschte, und dessen er sich ingrimmig und mit Selbstverachtung schämte, der ihn aber um diese Zeit schon alle paar Tage zwang, das Bett zu hüten.

Naphta, seinem Hausgenossen und Widersacher, erging es nicht besser. Auch in seinem organischen Innern schritt die Krankheit fort, die der physische Grund – oder muß man sagen: Vorwand gewesen, weshalb seine Ordenslaufbahn ein so verfrühtes Ende genommen, und die hohen und dünnen Bedingungen, unter denen man lebte, konnten ihrer Ausbreitung nicht Einhalt tun. Auch er war oft bettlägerig; der Tellersprung seiner Stimme klapperte stärker, wenn er sprach, und er sprach bei erhöhtem Fieber mehr noch, schärfer und beißender als ehedem. Jene ideellen Widerstände gegen Krankheit und Tod, deren Niederlage vor der Übergewalt einer niederträchtigen Natur Herrn Settembrini so schmerzte, mußten dem kleinen Naphta fremd sein, und seine Art, die Verschlimmerung seines Körperzustandes aufzunehmen, war denn auch nicht Trauer und Gram, sondern eine höhnische Aufgeräumtheit und Angriffslust sondergleichen, eine Sucht nach geistiger Bezweifelung, Verneinung und Verwirrung, die die Melancholie des anderen aufs schwerste reizte und ihre intellektuellen Streitigkeiten täglich verschärfte. Hans Castorp, natürlich, konnte nur von denen reden, denen er beiwohnte. Aber er war so ziemlich gewiß, daß er keine versäumte, daß seine, des pädagogischen Objektes, Gegenwart vonnöten war, um bedeutende Kolloquien zu entzünden. Und wenn er Herrn Settembrini nicht den Kummer ersparte, Naphtas Bosheiten hörenswert zu finden, so mußte er doch zugeben, daß sie nachgerade alles Maß und häufig genug die Grenze des geistig Gesunden überschritten.

Dieser Kranke besaß nicht die Kraft oder den guten Willen, sich über die Krankheit zu erheben, sondern sah die Welt in ihrem Bilde und Zeichen. Zum Ingrimm Herrn Settembrinis, der den lauschenden Zögling am liebsten aus dem Zimmer gewiesen oder ihm die Ohren zugehalten hätte, erklärte er die Materie für ein bei weitem zu schlechtes Material, um den Geist darin verwirklichen zu können. Dies anzustreben, sei eine Narrheit. Was komme dabei heraus? Eine Fratze! Das Wirklichkeitsergebnis der gepriesenen französischen Revolution sei der kapitalistische Bourgeoisstaat – eine schöne Bescherung! die man in der Weise zu verbessern hoffe, daß man den Greuel universal mache. Die Weltrepublik, das werde das Glück sein, sicher! Fortschritt? Ach, es handele sich um den berühmten Kranken, der beständig die Lage wechsele, weil er sich Erleichterung davon verspreche. Der uneingestandene, aber heimlich ganz allgemein verbreitete Wunsch nach Krieg sei davon ein Ausdruck. Er werde kommen, dieser Krieg, und das sei gut, obgleich er anderes zeitigen werde, als seine Veranstalter sich davon versprächen. Naphta verachtete den bürgerlichen Sicherheitsstaat. Er nahm Veranlassung, sich darüber zu äußern, als man im Herbst auf der Hauptstraße spazieren ging und bei beginnendem Regen plötzlich und wie auf Kommando alle Welt Regenschirme über die Köpfe hielt. Das war ihm ein Symbol für die Feigheit und ordinäre Verweichlichung, die das Ergebnis der Zivilisation seien. Ein Zwischenfall und Menetekel wie der Untergang des Dampfers „Titanic“ wirke atavistisch, aber wahrhaft erquicklich. Danach großes Geschrei nach mehr Sicherheit des „Verkehrs“. Überhaupt immer die größte Empörung, sobald die „Sicherheit“ bedroht scheine. Das sei jämmerlich und reime sich in seiner humanitären Schlaffheit recht artig auf die wölfische Krudität und Niedertracht des wirtschaftlichen Schlachtfeldes, das der Bürgerstaat darstelle. Krieg, Krieg! Er sei einverstanden, und die allgemeine Lüsternheit danach scheine ihm vergleichsweise ehrenwert.

Sobald aber etwa Herr Settembrini das Wort „Gerechtigkeit“ ins Gespräch einführte, und dieses hohe Prinzip als vorbeugendes Mittel gegen innen- und außenpolitische Katastrophen empfahl, da zeigte es sich, daß Naphta, der kürzlich noch das Geistige für zu gut befunden hatte, als daß seine irdische Ausprägung je gelingen könne und solle, eben dies Geistige selbst unter Zweifel zu setzen und zu verunglimpfen bestrebt war. Gerechtigkeit! War sie ein anbetungswürdiger Begriff? Ein göttlicher? Ein Begriff ersten Ranges? Gott und Natur waren ungerecht, sie hatten Lieblinge, sie übten Gnadenwahl, schmückten den einen mit gefährlicher Auszeichnung und bereiteten dem anderen ein leichtes, gemeines Los. Und der wollende Mensch? Für ihn war Gerechtigkeit einerseits eine lähmende Schwäche, war der Zweifel selbst – und auf der anderen Seite eine Fanfare, die zu unbedenklichen Taten rief. Da also der Mensch, um im Sittlichen zu bleiben, stets „Gerechtigkeit“ in diesem Sinne durch „Gerechtigkeit“ in jenem Sinne korrigieren mußte, – wo blieben Unbedingtheit und Radikalismus des Begriffs? Übrigens war man „gerecht“ gegen den einen Standpunkt oder gegen den anderen. Der Rest war Liberalismus, und kein Hund war heutzutage mehr damit vom Ofen zu locken. Gerechtigkeit war selbstverständlich eine leere Worthülse der Bürgerrhetorik, und um zum Handeln zu kommen, müsse man vor allen Dingen wissen, welche Gerechtigkeit man meine: diejenige, die jedem das Seine, oder diejenige, die allen das Gleiche geben wolle.

Wir haben da nur auf gut Glück aus dem Uferlosen ein Beispiel herausgegriffen dafür, wie er es darauf anlegte, die Vernunft zu stören. Aber noch schlimmer wurde es, wenn er auf die Wissenschaft zu sprechen kam, – an die er nicht glaubte. Er glaube nicht an sie, sagte er, denn es stehe dem Menschen völlig frei, an sie zu glauben oder nicht. Sie sei ein Glaube, wie jeder andere, nur schlechter und dümmer als jeder andere, und das Wort „Wissenschaft“ selbst sei der Ausdruck des stupidesten Realismus, der sich nicht schäme, die mehr als fragwürdigen Spiegelungen der Objekte im menschlichen Intellekt für bare Münze zu nehmen oder auszugeben und die geist- und trostloseste Dogmatik daraus zu bereiten, die der Menschheit je zugemutet worden sei. Ob etwa nicht der Begriff einer an und für sich existierenden Sinnenwelt der lächerlichste aller Selbstwidersprüche sei? Aber die moderne Naturwissenschaft als Dogma lebe einzig und allein von der metaphysischen Voraussetzung, daß die Erkenntnisformen unserer Organisation, Raum, Zeit und Kausalität, in denen die Erscheinungswelt sich abspiele, reale Verhältnisse seien, die unabhängig von unserer Erkenntnis existierten. Diese monistische Behauptung sei die nackteste Unverschämtheit, die man dem Geiste je geboten. Raum, Zeit und Kausalität, das heiße auf monistisch: Entwicklung, – und da habe man das Zentraldogma der freidenkerisch-atheistischen Afterreligion, womit man das erste Buch Mosis außer Kraft zu setzen und einer verdummenden Fabel aufklärendes Wissen entgegenzustellen meine, als ob Haeckel bei der Entstehung der Erde zugegen gewesen sei. Empirie! Der Weltäther sei wohl exakt? Das Atom, dieser nette mathematische Scherz des „kleinsten, unteilbaren Teilchens“ – bewiesen? Die Lehre von der Unendlichkeit des Raumes und der Zeit fuße sicherlich auf Erfahrung? In der Tat, man werde, ein wenig Logik vorausgesetzt, zu lustigen Erfahrungen und Ergebnissen gelangen mit dem Dogma von der Unendlichkeit und Realität des Raumes und der Zeit: nämlich zum Ergebnis des Nichts. Nämlich zur Einsicht, daß Realismus der wahre Nihilismus sei. Warum? Aus dem einfachen Grunde, weil das Verhältnis jeder beliebigen Größe zum Unendlichen gleich null sei. Es gebe keine Größe im Unendlichen und weder Dauer noch Veränderung in der Ewigkeit. Im räumlich Unendlichen könne es, da jede Distanz dort mathematisch gleich null sei, nicht einmal zwei Punkte nebeneinander, geschweige denn Körper, geschweige denn gar Bewegung geben. Dies stelle er, Naphta, fest, um der Dreistigkeit zu begegnen, mit der die materialistische Wissenschaft ihre astronomischen Flausen, ihr windiges Geschwätz vom „Universum“ für absolute Erkenntnis ausgäbe. Beklagenswerte Menschheit, die sich durch ein prahlerisches Aufgebot nichtiger Zahlen ins Gefühl eigener Nichtigkeit habe drängen, um das Pathos der eigenen Wichtigkeit habe bringen lassen! Denn es möge noch leidlich heißen, wenn menschliche Vernunft und Erkenntnis sich im Irdischen hielten und in dieser Sphäre ihre Erlebnisse mit den Subjektiv-Objekten als real behandle. Greife sie aber darüber hinaus ins ewige Rätsel, indem sie sogenannte Kosmologie, Kosmogonie treibe, so höre der Spaß auf, und die Anmaßung komme auf den Gipfel ihrer Ungeheuerlichkeit. Welch ein lästerlicher Unsinn, im Grunde, die „Entfernung“ irgendeines Sternes von der Erde nach Trillionen Kilometern oder auch Lichtjahren zu berechnen und sich einzubilden, mit solchem Zifferngeflunker verschaffe man dem Menschengeist Einblick ins Wesen der Unendlichkeit und Ewigkeit, – während doch Unendlichkeit mit Größe und Ewigkeit mit Dauer und Zeitdistanzen überhaupt und schlechterdings nichts zu schaffen hätten, sondern, weit entfernt, naturwissenschaftliche Begriffe zu sein, vielmehr geradezu die Aufhebung dessen bedeuteten, was wir Natur nennten! Wahrhaftig, die Einfalt eines Kindes, das glaube, die Sterne seien Löcher im Himmelszelt, durch welche die ewige Klarheit scheine, sei ihm vieltausendmal lieber, als das ganze hohle, widersinnige und anmaßende Geschwätz, das die monistische Wissenschaft vom „Weltall“ verübe!

Settembrini fragte ihn, ob er, seinesteils, in betreff der Sterne jenen Glauben hege. Worauf er antwortete, er behalte sich jede Demut und Freiheit der Skepsis vor. Daraus war wieder einmal zu ersehen, was er unter „Freiheit“ verstand, und wohin ein solcher Begriff davon zu führen vermochte. Und wenn nur nicht Herr Settembrini Grund gehabt hätte, zu fürchten, Hans Castorp möchte das alles hörenswert finden!

Naphtas Bosheit lag auf der Lauer nach Gelegenheiten, die Schwächen des naturbezwingenden Fortschritts zu erspähen, seinen Trägern und Pionieren menschliche Rückfälle ins Irrationale nachzuweisen. Aviatiker, Flieger, sagte er, seien meist recht üble und verdächtige Individuen, vor allem sehr abergläubisch. Sie nähmen Glücksschweine, eine Krähe mit an Bord, sie spuckten dreimal dahin und dorthin, sie zögen die Handschuhe von glücklichen Fahrern an. Wie sich so primitive Unvernunft mit der ihrem Beruf zum Grunde liegenden Weltanschauung reime? – Der Widerspruch, den er aufzeigte, ergötzte ihn, bereitete ihm Genugtuung; er hielt sich lange darüber auf ... Aber wir greifen im Unerschöpflichen hin und her nach Proben von Naphtas Feindseligkeit, während es nur allzu Gegenständliches zu erzählen gibt.

Eines Nachmittags im Februar vereinigten sich die Herren, nach Monstein auszufliegen, einem Orte, anderthalb Stunden Schlittenfahrt von der Stätte ihres Alltags entfernt. Es waren Naphta und Settembrini, Hans Castorp, Ferge und Wehsal. In zwei einspännigen Schlitten fuhren sie, Hans Castorp mit dem Humanisten, Naphta mit Ferge und Wehsal, der neben dem Kutscher saß, um 3 Uhr, gut eingehüllt, vom Domizil der Auswärtigen ab und nahmen unter Schellengeläut, das so freundlich durch schneestille Landschaft geht, ihren Weg an der rechten Lehne hin, vorbei an Frauenkirch und Glaris, gegen Süden. Schneebedeckung rückte rasch aus dieser Himmelsrichtung vor, so daß bald nur noch hinten über der Rhätikonkette ein blaßblauer Streifen zu sehen war. Der Frost war stark, das Gebirge nebelig. Die Straße, die sie führte, schmale, geländerlose Plattform zwischen Wand und Abgrund, hob sich steil ins Tannenwilde. Es ging schrittweise. Abfahrende Rodler kamen oft auf sie zu, die bei der Begegnung absteigen mußten. Hinter Biegungen klang zart und warnend fremdes Geläute auf, Schlitten, mit zwei Pferden hintereinander bespannt, gingen vorbei, und das Ausweichen forderte Behutsamkeit. Nahe dem Ziele tat ein schöner Blick auf eine felsige Partie der Zügenstraße sich auf. Man stieg aus den Decken vor dem kleinen Gasthaus von Monstein, das sich „Kurhaus“ nannte, und, die Schlitten zurücklassend, ging man noch einige Schritte weiter, um gegen Südosten nach dem „Stulsergrat“ auszuschauen. Die Riesenwand, dreitausend Meter hoch, war nebelverhüllt. Nur irgendwo ragte eine himmelhohe Zacke, überirdisch, walhallmäßig fern und heilig unzugänglich aus dem Gedünst hervor. Hans Castorp bewunderte das sehr und forderte auch die andern auf, es zu tun. Er war es, der mit Unterwerfungsgefühlen das Wort „unzugänglich“ aussprach und damit Herrn Settembrini Anlaß gab, zu betonen, daß jener Fels natürlich sehr wohl betreten sei. Überhaupt gäbe es das kaum noch: Unzugänglichkeit und irgendwelche Natur, auf die der Mensch nicht schon seinen Fuß gesetzt habe. Eine kleine Übertreibung und Dicktuerei, erwiderte Naphta. Und er nannte den Mount Everest, der dem Vorwitz des Menschen bis dato eisige Ablehnung entgegengesetzt habe und in dieser Reserve dauernd verharren zu wollen scheine. Der Humanist ärgerte sich. Die Herren kehrten zum „Kurhaus“ zurück, vor dem neben den eigenen ein paar fremde, ausgespannte Schlitten standen.

Man konnte hier wohnen. Im Obergeschoß gab es Hotelzimmer mit Nummern. Dort lag auch das Eßzimmer, bäurisch und wohl geheizt. Die Ausflügler bestellten einen Imbiß bei der dienstwilligen Wirtin: Kaffee, Honig, Weißbrot und Birnenbrot, die Spezialität des Ortes. Den Kutschern ward Rotwein geschickt. Schweizerische und holländische Besucher saßen an anderen Tischen.

Wir hätten Lust zu sagen, daß an demjenigen unserer fünf Freunde die Erwärmung durch den heißen und sehr löblichen Kaffee ein höheres Gespräch gezeitigt habe. Doch wären wir ungenau damit, denn dies Gespräch war eigentlich ein Monolog Naphtas, der es nach wenigen Worten, die andere beigetragen, allein bestritt, – ein Monolog, geführt auf recht sonderbare und gesellschaftlich anstößige Art, da der Ex-Jesuit sich nämlich, liebenswürdig instruierend, ausschließlich an Hans Castorp damit wandte, Herrn Settembrini, der an seiner anderen Seite saß, den Rücken zukehrte und auch die beiden anderen Herren völlig unbeachtet ließ.

Es wäre schwer gewesen, das Thema seiner Improvisation, der Hans Castorp mit halb und halb zustimmendem Kopfnicken folgte, bei Namen zu nennen. Einheitlichen Gegenstandes war sie wohl eigentlich nicht, sondern bewegte sich locker im Geistigen, da und dort anstreifend und im wesentlichen darauf aus, die Zweideutigkeit der geistigen Lebenserscheinungen, die irisierende Natur und kämpferische Unbrauchbarkeit der daraus abgezogenen großen Begriffe auf eine entmutigende Art nachzuweisen und bemerklich zu machen, in wie schillerndem Gewande das Absolute auf Erden erscheine.

Allenfalls hätte man seinen Vortrag auf das Problem der Freiheit festlegen können, das er im Sinne der Verwirrung behandelte. Unter anderem sprach er von der Romantik und dem faszinierenden Doppelsinn dieser europäischen Bewegung vom Anfang des 19. Jahrhunderts, vor der die Begriffe der Reaktion und der Revolution zunichte würden, sofern sie sich nicht zu einem höheren vereinigten. Denn es sei selbstverständlich höchst lächerlich, den Begriff des Revolutionären ausschließlich mit dem Fortschritt und der siegreich anrennenden Aufklärung verbinden zu wollen. Die europäische Romantik sei vor allem eine Freiheitsbewegung gewesen: antiklassizistisch, antiakademisch, gerichtet gegen den altfranzösischen Geschmack, gegen die Alte Schule der Vernunft, deren Verteidiger sie als gepuderte Perückenköpfe verhöhnt habe.

Und Naphta fiel auf die Freiheitskriege, auf Fichte’sche Begeisterungen, auf jene rausch- und gesangvolle völkische Erhebung gegen eine unerträgliche Tyrannei, – als welche nur leider, he, he, die Freiheit, das heiße: die Ideen der Revolution verkörpert habe. Sehr lustig: Laut singend habe man ausgeholt, um die revolutionäre Tyrannei zugunsten der reaktionären Fürstenfuchtel zu zerschlagen, und das habe man für die Freiheit getan.

Der jugendliche Zuhörer werde da des Unterschiedes oder auch Gegensatzes von äußerer und innerer Freiheit gewahr – und zugleich der kitzlichen Frage, welche Unfreiheit mit der Ehre einer Nation am ehesten, he, he, am wenigsten verträglich sei.

Freiheit sei wohl eigentlich mehr noch ein romantischer, als ein aufklärerischer Begriff, denn mit der Romantik habe er die unentwirrbare Verschränkung menschheitlicher Ausdehnungstriebe und leidenschaftlich verengernder Ichbetonung gemeinsam. Individualistischer Freiheitstrieb habe den historisch-romantischen Kultus der Nationalen gezeitigt, der kriegerisch sei, und den der humanitäre Liberalismus finster nenne, wiewohl dieser doch ebenfalls den Individualismus lehre, nur eben ein wenig anders herum. Der Individualismus sei romantisch-mittelalterlich in seiner Überzeugung von der unendlichen, der kosmischen Wichtigkeit des Einzelwesens, woraus die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, die geozentrische Lehre und die Astrologie sich ergäben. Andererseits sei Individualismus eine Angelegenheit des liberalisierenden Humanismus, welcher zur Anarchie neige und jedenfalls das liebe Individuum davor schützen wolle, der Allgemeinheit geopfert zu werden. Das sei Individualismus, eins und auch wieder das andere, ein Wort für manches.

Aber das müsse man einräumen, daß Freiheitspathos die glänzendsten Freiheitsfeinde, die geistreichsten Ritter des Vergangenen im Kampf mit dem andachtslos zersetzenden Fortschritt erzeugt habe. Und Naphta nannte Arndt, der den Industrialismus verflucht und den Adelsstand verherrlicht, nannte Görres, der die Christliche Mystik verfaßt habe. Und ob denn Mystik etwa nichts mit Freiheit zu tun habe? Ob sie etwa nicht anti-scholastisch, anti-dogmatisch, anti-priesterlich gewesen sei? Man sei freilich gezwungen, in der Hierarchie eine Freiheitsmacht zu erblicken, denn sie habe der schrankenlosen Monarchie einen Damm entgegengesetzt. Die Mystik des ausgehenden Mittelalters aber habe ihr freiheitliches Wesen als Vorläuferin der Reformation bewährt, – der Reformation, he, he, die ihrerseits ein unauflösliches Filzwerk von Freiheit und mittelalterlichem Rückschlag gewesen sei ...

Luthers Tat ... Ei ja, sie habe den Vorzug, mit derbster Anschaulichkeit das fragwürdige Wesen der Tat selbst, der Tat überhaupt zu demonstrieren. Ob Naphtas Zuhörer wisse, was eine Tat sei? Eine Tat sei beispielsweise die Ermordung des Staatsrats Kotzebue durch den Burschenschaftler Sand gewesen. Was habe dem jungen Sand, kriminalistisch zu reden, „die Waffe in die Hand gedrückt“? Freiheitsbegeisterung, selbstverständlich. Sehe man jedoch näher hin, so sei es eigentlich nicht diese, es seien vielmehr Moralfanatismus und der Haß auf unvölkische Frivolität gewesen. Allerdings nun wieder habe Kotzebue in russischen Diensten, im Dienste der Heiligen Allianz also, gestanden; und so habe Sand denn doch wohl für die Freiheit geschossen, – was freilich aufs neue der Unwahrscheinlichkeit verfalle kraft des Umstandes, daß sich unter seinen nächsten Freunden Jesuiten befunden hätten. Kurzum, was immer die Tat auch sein möge, auf jeden Fall sei sie ein schlechtes Mittel, sich deutlich zu machen, und zur Bereinigung geistiger Probleme trage sie auch nur wenig bei.

„Darf ich mir die Erkundigung erlauben, ob Sie mit Ihren Schlüpfrigkeiten bald zu Rande zu kommen gedenken?“

Herr Settembrini hatte es gefragt und zwar mit Schärfe. Er hatte gesessen, mit den Fingern auf dem Tisch getrommelt und den Schnurrbart gedreht. Jetzt war es genug. Seine Geduld war zu Ende. Aufrecht saß er, mehr als aufrecht: – sehr bleich, hatte er sich sozusagen im Sitzen auf die Zehen gestellt, so daß nur noch seine Schenkel den Stuhlsitz berührten, und so begegnete er blitzenden schwarzen Auges dem Feinde, der sich mit geheucheltem Erstaunen nach ihm umgewandt hatte.

Wie beliebten Sie sich auszudrücken?“ lautete Naphtas Gegenfrage ...

„Ich beliebte“, sagte der Italiener und schluckte hinunter, „– ich beliebe mich dahin auszudrücken, daß ich entschlossen bin, Sie daran zu hindern, eine ungeschützte Jugend noch länger mit Ihren Zweideutigkeiten zu behelligen!“

„Mein Herr, ich fordere Sie auf, nach Ihren Worten zu sehen!“

„Einer solchen Aufforderung, mein Herr, bedarf es nicht. Ich bin gewohnt, nach meinen Worten zu sehen, und mein Wort wird präzis den Tatsachen gerecht, wenn ich ausspreche, daß Ihre Art, die ohnehin schwanke Jugend geistig zu verstören, zu verführen und sittlich zu entkräften, eine Infamie und mit Worten nicht streng genug zu züchtigen ist ...“

Bei dem Wort „Infamie“ schlug Settembrini mit der flachen Hand auf den Tisch und stand, seinen Stuhl zurückschiebend, nun vollends auf, – das Zeichen für alle übrigen, ein Gleiches zu tun. Von anderen Tischen blickte man aufhorchend herüber, – von einem eigentlich nur, die Schweizer Gäste waren schon aufgebrochen, und nur die Holländer lauschten mit verdutzten Mienen auf den ausbrechenden Wortwechsel.

Sie standen also alle steif aufrecht an unserem Tisch: Hans Castorp und die beiden Gegner und ihnen gegenüber Ferge und Wehsal. Alle fünf waren sie blaß, mit erweiterten Augen und zuckenden Mündern. Hätten nicht die drei Unbeteiligten den Versuch machen können, beschwichtigend einzuwirken, mit einem Scherzwort die Spannung zu lösen, durch irgendein menschliches Zureden alles zum Guten zu wenden? Sie unternahmen ihn nicht, diesen Versuch. Die inneren Umstände hinderten sie daran. Sie standen und bebten, und unwillkürlich ballten ihre Hände sich zu Fäusten. Selbst A. K. Ferge, dem alles Höhere erklärtermaßen völlig fern lag und der von vornherein gänzlich darauf verzichtete, die Tragweite des Streites zu ermessen, – auch er war überzeugt, daß es hier auf Biegen und Brechen gehe, und daß man, selbst mit hingerissen, nichts tun könne, als den Dingen ihren Lauf zu lassen. Sein gutmütiger Schnurrbartbausch wanderte heftig auf und nieder.

Es war still, und so hörte man Naphta mit den Zähnen knirschen. Das war für Hans Castorp eine ähnliche Erfahrung, wie die mit Wiedemanns gesträubtem Haar: Er hatte gedacht, es sei nur eine Redensart und komme in Wirklichkeit nicht vor. Nun aber knirschte Naphta tatsächlich in der Stille, ein furchtbar unangenehmes, wildes und abenteuerliches Geräusch, das sich aber immerhin als Zeichen einer gewissen fürchterlichen Beherrschung erwies, denn er schrie nicht, sondern sagte leise und nur mit einer Art von keuchendem Halblachen:

„Infamie? Züchtigen? Werden die Tugendesel stößig? Haben wir die pädagogische Schutzmannschaft der Zivilisation so weit, daß sie blank zieht? Das nenne ich einen Erfolg, für den Anfang, – leicht erzielt, wie ich mit Geringschätzung hinzufüge, denn eine wie gelinde Neckerei hat hingereicht, den wachhabenden Tugendsinn in Harnisch zu jagen! Das Weitere wird sich finden, mein Herr. Auch die ‚Züchtigung‘, auch diese. Ich hoffe, daß Ihre zivilen Grundsätze Sie nicht hindern, zu wissen, was Sie mir schuldig sind, sonst wäre ich gezwungen, diese Grundsätze durch Mittel auf die Probe zu stellen, die –“

Eine steile Bewegung Herrn Settembrinis ließ ihn fortfahren:

„Ah, ich sehe, das wird nicht nötig sein. Ich bin Ihnen im Wege, Sie sind es mir, – gut denn, wir werden den Austrag dieser kleinen Differenz an den gehörigen Ort verlegen. Für den Augenblick nur eines. Ihre frömmelnde Angst um den scholastischen Begriffsstaat der Jakobiner-Revolution sieht in meiner Art, die Jugend zweifeln zu lassen, die Kategorien über den Haufen zu werfen und die Ideen ihrer akademischen Tugendwürde zu berauben, ein pädagogisches Verbrechen. Diese Angst ist nur allzu berechtigt, denn es ist geschehen um Ihre Humanität, seien Sie dessen versichert, – geschehen und getan. Sie ist schon heute nur noch ein Zopf, eine klassizistische Abgeschmacktheit, ein geistiges Ennui, das Gähnkrampf erzeugt, und mit dem aufzuräumen die neue, unsere Revolution, mein Herr, sich anschickt. Wenn wir als Erzieher den Zweifel stiften, tiefer, als euere modeste Aufgeklärtheit sich je hat träumen lassen, so wissen wir wohl, was wir tun. Nur aus der radikalen Skepsis, dem moralischen Chaos geht das Unbedingte hervor, der heilige Terror, dessen die Zeit bedarf. Dies zu meiner Rechtfertigung und Ihrer Belehrung. Das Weitere steht auf einem anderen Blatt. Sie werden von mir hören.“

„Sie werden Gehör finden, mein Herr!“ rief Settembrini ihm nach, der den Tisch verließ und zum Kleiderständer eilte, um sich seines Pelzwerks zu bemächtigen. Dann ließ der Freimaurer sich hart auf seinen Stuhl zurücksinken und preßte sein Herz mit den Händen.

„Distruttore! Cane arrabbiato! Bisogna ammazzarlo!“ stieß er kurzen Atems hervor.

Die anderen standen noch immer am Tisch. Ferges Schnurrbart fuhr fort auf und ab zu wandern. Wehsal hatte den Unterkiefer schief gestellt. Hans Castorp ahmte die Kinnstütze seines Großvaters nach, denn ihm zitterte das Genick. Alle bedachten, wie wenig man sich bei der Ausfahrt solcher Dinge versehen habe. Alle, Herrn Settembrini nicht ausgenommen, bedachten gleichzeitig, welch ein Glück es sei, daß man in zwei Schlitten und nicht in einem gemeinsamen gekommen war. Dies erleichterte vorderhand einmal die Heimkehr. Aber was dann?

„Er hat Sie gefordert“, sagte Hans Castorp beklommen.

„Allerdings“, antwortete Settembrini und warf zu dem neben ihm Stehenden einen Blick empor, um sich gleich danach von ihm abzuwenden und den Kopf in die Hand zu stützen.

„Sie nehmen an?“ wollte Wehsal hören ...

„Sie fragen?“ antwortete Settembrini und betrachtete auch ihn einen Augenblick ... „Meine Herren“, fuhr er fort und erhob sich vollkommen gefaßt, „ich beklage den Ausgang unseres Vergnügens, allein mit solchen Zwischenfällen muß jeder Mann im Leben rechnen. Ich mißbillige theoretisch das Duell, ich denke gesetzlich. Mit der Praxis jedoch ist es eine andere Sache; und es gibt Lagen, wo, – Gegensätze, die – kurzum, ich stehe diesem Herrn zur Verfügung. Es ist gut, daß ich in meiner Jugend ein wenig gefochten habe. Ein paar Stunden Übung werden mir das Handgelenk wieder geläufig machen. Gehen wir! Das Nähere wird zu verabreden sein. Ich vermute, daß jener Herr bereits anzuspannen befohlen hat.“

Hans Castorp hatte Augenblicke, während der Heimfahrt und nachher, wo ihm vor der Ungeheuerlichkeit des Bevorstehenden schwindelte, namentlich, als sich herausstellte, daß Naphta von Hieb und Stich nichts wissen wollte, sondern auf einem Pistolenduell bestand, – und daß tatsächlich er die Waffe zu wählen hatte, da er nach ehrenrechtlichen Begriffen der Beleidigte war. Augenblicke, sagen wir, kamen dem jungen Mann, wo er seinen Geist aus der allgemeinen Verstrickung und Benebelung durch die inneren Umstände bis zu einem gewissen Grade befreien konnte und sich vorhielt, daß dies ja Wahnsinn sei, und daß man es verhindern müsse.

„Wenn eine wirkliche Beleidigung vorläge!“ rief er im Gespräch mit Settembrini, Ferge und Wehsal, den Naphta schon auf der Rückfahrt als Kartellträger gewonnen hatte, und der den Verkehr zwischen den Parteien vermittelte. „Eine Beschimpfung bürgerlicher, gesellschaftlicher Art! Wenn einer des anderen ehrlichen Namen in den Schmutz gezogen hätte, wenn es sich um eine Frau handelte, um irgendein solches handgreifliches Lebensverhängnis, bei dem man keine Möglichkeit des Ausgleichs sieht! Gut, für solche Fälle ist das Duell als letzter Ausweg da, und wenn dann der Ehre Genüge geschehen und die Sache glimpflich abgegangen ist, und es heißt: Die Gegner schieden versöhnt, so kann man sogar finden, daß es eine gute Einrichtung ist, heilsam und praktikabel in gewissen Verwicklungsfällen. Aber was hat er getan? Ich will ihn nicht etwa in Schutz nehmen, ich frage nur, was er zu Ihrer Beleidigung getan hat. Er hat die Kategorien über den Haufen geworfen. Er hat, wie er sich ausdrückt, den Begriffen ihre akademische Würde geraubt. Dadurch haben Sie sich beleidigt gefühlt, – mit Recht, wollen wir mal unterstellen –“

„Unterstellen?“ wiederholte Herr Settembrini und sah ihn an ...

„Mit Recht, mit Recht! Er hat Sie beleidigt damit. Aber er hat Sie nicht beschimpft! Das ist ein Unterschied, erlauben Sie mal! Es handelt sich um abstrakte Dinge, um geistige. Mit geistigen Dingen kann man beleidigen, aber man kann nicht damit beschimpfen. Das ist eine Maxime, die jedes Ehrengericht annehmen würde, ich kann es Ihnen bei Gott versichern. Und darum ist auch das, was Sie ihm von ‚Infamie‘ und ‚strenger Züchtigung‘ geantwortet haben, keine Beschimpfung, denn auch das war geistig gemeint, es hält sich alles im geistigen Bezirke und hat mit dem persönlichen überhaupt nichts zu tun, worin es einzig so etwas wie Beschimpfung gibt. Das Geistige kann niemals persönlich sein, das ist die Vervollständigung und die Erläuterung der Maxime, und deshalb –“

„Sie irren, mein Freund“, versetzte Herr Settembrini mit geschlossenen Augen. „Sie irren erstens in der Annahme, daß Geistiges nicht persönlichen Charakter gewinnen könne. Sie sollten das nicht meinen“, sagte er und lächelte eigentümlich fein und schmerzlich. „Sie gehen jedoch vor allem fehl in Ihrer Einschätzung des Geistigen überhaupt, das Sie offenbar für zu schwach halten, um Konflikte und Leidenschaften zu zeitigen von der Härte derjenigen, die das reale Leben mit sich bringt, und die keinen anderen Ausweg lassen, als den des Waffenganges. All’ incontro! Das Abstrakte, das Gereinigte, das Ideelle ist zugleich auch das Absolute, es ist damit das eigentlich Strenge, und es birgt viel tiefere und radikalere Möglichkeiten des Hasses, der unbedingten und unversöhnlichen Gegnerschaft, als das soziale Leben. Wundern Sie sich, daß es sogar direkter und unerbittlicher, als dieses, zur Situation des Du oder Ich, zur eigentlich radikalen Situation, zu der des Duells, des körperlichen Kampfes führt? Das Duell, mein Freund, ist keine ‚Einrichtung‘ wie eine andere. Es ist das Letzte, die Rückkehr zum Urstande der Natur, nur leicht gemildert durch eine gewisse Regelung ritterlicher Art, die sehr oberflächlich ist. Das Wesentliche der Lage bleibt das schlechthin Ursprüngliche, der körperliche Kampf, und es ist Sache jedes Mannes, sich in aller Entfernung vom Natürlichen dieser Lage gewachsen zu halten. Er kann täglich in sie geraten. Wer für das Ideelle nicht mit seiner Person, seinem Arm, seinem Blute einzutreten vermag, der ist seiner nicht wert, und es kommt darauf an, in aller Vergeistigung ein Mann zu bleiben.“

Da hatte Hans Castorp seine Zurechtweisung. Was gab es darauf zu erwidern? Er schwieg in bedrücktem Grübeln. Herrn Settembrinis Worte taten gefaßt und logisch, und dennoch klangen sie fremd und unnatürlich aus ihm hervor. Seine Gedanken waren nicht seine Gedanken, – wie er ja auch auf den des Zweikampfes gar nicht von selbst verfallen war, sondern ihn nur von dem terroristischen kleinen Naphta übernommen hatte –; sie waren Ausdruck der Umfangenheit durch die allgemeinen inneren Umstände, deren Knecht und Werkzeug Herrn Settembrinis schöner Verstand geworden war. Wie, das Geistige, weil es streng war, sollte unerbittlich zum Tierischen, zum Austrag durch den körperlichen Kampf führen? Hans Castorp lehnte sich auf dagegen, oder er versuchte doch, es zu tun, – um zu seinem Schrecken zu finden, daß er es auch nicht konnte. Sie waren stark auch in ihm, die inneren Umstände, er war nicht der Mann, er auch nicht, sich ihnen zu entwinden. Furchtbar und letztgültig wehte es ihn an aus jener Erinnerungsgegend, wo Wiedemann und Sonnenschein sich in ratlos tierischem Kampfe wälzten, und er begriff mit Grauen, daß am Ende aller Dinge nur das Körperliche blieb, die Nägel, die Zähne. Ja, ja, man mußte sich wohl schlagen, denn so war wenigstens jene Milderung des Urstandes durch ritterliche Regelung zu retten ... Hans Castorp bot sich Herrn Settembrini als Sekundanten an.

Das wurde abgelehnt. Nein, es passe nicht, es wolle sich nicht schicken, wurde ihm geantwortet, – zuerst von Herrn Settembrini mit einem Lächeln, das fein und schmerzlich war, dann auch, nach kurzer Überlegung, von Ferge und Wehsal, die ebenfalls ohne besondere Begründung fanden, es gehe nicht an, daß Hans Castorp sich an der Mensur in dieser Eigenschaft beteilige. Als Unparteiischer etwa – denn auch die Anwesenheit eines solchen gehörte ja zu den vorgeschriebenen ritterlichen Milderungen des Tierischen – möge er auf dem Kampfplatz zugegen sein. Selbst Naphta ließ sich durch den Mund seines Ehrengeschäftsträgers Wehsal in diesem Sinne vernehmen, und Hans Castorp war es zufrieden. Zeuge oder Unparteiischer, auf jeden Fall gewann er die Möglichkeit, Einfluß auf die Festsetzung der Modalitäten zu nehmen, was sich als bitter nötig erwies.

Denn Naphta war ja außer Rand und Band mit seinen Vorschlägen. Er verlangte fünf Schritt Distanz und dreimaligen Kugelwechsel, falls es nötig sein sollte. Diesen Wahnsinn ließ er noch am Abend des Zerwürfnisses durch Wehsal überbringen, der sich völlig zum Mundstück und Vertreter seiner wilden Interessen gemacht hatte und teils im Auftrage, teils gewiß auch nach eigenem Geschmack mit größter Zähigkeit auf solchen Bedingungen bestand. Natürlich fand Settembrini nichts daran auszusetzen, aber Ferge, als Sekundant, und der unparteiische Hans Castorp waren außer sich, und dieser wurde sogar grob mit dem elenden Wehsal. Ob er sich nicht schäme, fragte er, solche wüsten Unannehmlichkeiten auszukramen, wo es sich um ein rein abstraktes Duell handle, dem gar keine Realinjurie zugrunde liege! Pistolen seien schon kraß genug, aber nun diese mörderischen Einzelheiten. Da höre die Ritterlichkeit auf, und ob man sich nicht gleich übers Schnupftuch schießen wolle! Er, Wehsal, solle ja nicht auf sich feuern lassen auf solche Entfernung, darum gehe ihm der Blutdurst wohl so leicht von den Lippen – und so fort. Wehsal zuckte die Achseln, wortlos andeutend, daß eben die radikale Situation vorliege, wodurch er denn die Gegenseite, die dies zu vergessen geneigt war, gewissermaßen entwaffnete. Immerhin gelang es dieser beim Hin und Her des folgenden Tages, vor allem den dreimaligen Kugelwechsel auf einen zurückzuführen, dann aber die Distanzfrage so zu regeln, daß die Kombattanten sich auf fünfzehn Schritte gegenüberstehen und das Recht haben sollten, fünf Schritte vorzugehen, bevor sie schössen. Aber auch dies wurde nur erreicht gegen die Zusicherung, daß keine Versöhnungsversuche gemacht werden sollten. Übrigens hatte man keine Pistolen.

Herr Albin hatte welche. Außer dem blanken kleinen Revolver, mit dem er die Damen zu ängstigen liebte, besaß er noch ein Zwillingspaar in den Samt eines gemeinsamen Etuis gebetteter Offizierspistolen, die aus Belgien stammten: automatische Brownings mit Griffen aus braunem Holz, in denen sich die Magazine befanden, bläulich stählerner Geschützmaschinerie und blank gedrehten Rohren, auf deren Mündungen knapp und fein die Visiere saßen. Hans Castorp hatte sie irgendwann einmal bei dem Windbeutel gesehen und erbot sich gegen seine Überzeugung, aus reiner Umfangenheit, sie von ihm auszuleihen. So tat er, indem er aus dem Zwecke sachlich kein Hehl machte, ihn aber in persönliches Ehrengeheimnis hüllte und mit leichtem Erfolge sich an den Kavalierssinn des Windbeutels wandte. Herr Albin unterwies ihn sogar im Laden und gab mit ihm im Freien blinde Probeschüsse aus beiden Gewehren ab.

Das alles kostete Zeit, und so kam es, daß bis zum Stelldichein zwei Tage und drei Nächte vergingen. Der Treffpunkt war von Hans Castorps Erfindung: Es war der malerische, im Sommer blau blühende Ort seiner Regierungs-Zurückgezogenheit, den er in Vorschlag gebracht hatte. Hier sollte am dritten Morgen nach dem Streit, sobald es nur hell genug war, der Handel seine Erledigung finden. Erst am Vorabend, ziemlich spät, verfiel Hans Castorp, der sehr aufgeregt war, auf den Gedanken, daß es ja nötig sei, einen Arzt mit auf den Kampfplatz zu nehmen.

Er beriet sofort mit Ferge den Punkt, der sich als sehr schwierig erwies. Radamanth war zwar Korpsstudent gewesen, aber unmöglich konnte man den Chef der Anstalt um Unterstützung einer solchen Ungesetzlichkeit angehen, zumal es sich um Patienten handelte. Überhaupt bestand kaum Hoffnung, daß man hier einen Arzt werde ausfindig machen, der bereit sein würde, zu einem Pistolenduell zwischen zwei Schwerkranken die Hand zu bieten. Krokowski angehend, so war nicht einmal sicher, ob dieser spirituelle Kopf überhaupt sehr fest in der Wundbehandlung sei.

Wehsal, der zugezogen wurde, teilte mit, Naphta habe sich schon geäußert, nämlich dahin, er wolle keinen Arzt. Er gehe an jenen Ort nicht, um sich salben und wickeln zu lassen, sondern um sich zu schlagen und zwar sehr ernsthaft. Was nachher komme, sei ihm gleichgültig und werde sich finden. Das schien eine finstere Kundgebung, die aber Hans Castorp so zu deuten sich bemühte, als sei Naphta der stillen Meinung, ein Arzt werde nicht nötig sein. Hatte nicht auch Settembrini durch den zu ihm entsandten Ferge sagen lassen, man solle die Frage absetzen, sie interessiere ihn nicht? Es war nicht ganz unvernünftig, zu hoffen, die Gegner möchten im Grunde einig sein in dem Vorsatz, es zu keinem Blutvergießen kommen zu lassen. Man hatte zweimal geschlafen seit jenem Wortwechsel und würde es ein drittes Mal tun. Das kühlt, das klärt, dem Zuge der Stunden hält eine bestimmte Gemütsverfassung nicht ungewandelt stand. Morgen früh, das Schießzeug in der Hand, würde keiner der Streitbaren noch der Mann sein, der er am Abend des Zwistes gewesen. Höchstens mechanisch noch und ehrenzwangsweise, nicht nach gegenwärtigem freien Willen würden sie handeln, wie sie damals aus Lust und Überzeugung gehandelt hätten; und eine solche Verleugnung ihres aktuellen Selbst zugunsten dessen, was sie einmal gewesen, mußte sich irgendwie ja verhüten lassen!

Hans Castorp hatte nicht unrecht mit seiner Überlegung, – nicht unrecht nur leider auf eine Art, von der er sich nichts träumen lassen konnte. Er hatte sogar vollkommen recht damit, soweit Herr Settembrini in Frage kam. Hätte er aber geahnt, in welchem Sinn Leo Naphta bis zum entscheidenden Augenblick seine Vorsätze würde geändert haben oder in eben diesem Augenblick ändern würde, so hätten selbst die inneren Umstände, aus denen dies alles hervorging, ihn nicht vermocht, das Bevorstehende zuzulassen.

Um 7 Uhr war die Sonne weit entfernt, hinter ihrem Berge hervorzukommen, aber es tagte mühsam qualmend, als Hans Castorp nach unruhig verbrachter Nacht Haus Berghof verließ, um sich zum Rendezvous zu begeben. Dienstmägde, die die Halle putzten, sahen verwundert von der Arbeit nach ihm auf. Er fand jedoch das Haupttor nicht mehr verschlossen: Ferge und Wehsal, einzeln oder zu zweien, hatten es gewiß schon passiert, der eine, um Settembrini, der andere, um Naphta zum Kampfplatze abzuholen. Er, Hans, ging allein, da seine Eigenschaft als Unparteiischer ihm nicht gestattete, sich einer der beiden Parteien anzuschließen.

Er ging mechanisch und ehrenzwangsweise unter dem Druck der Umstände. Daß er dem Treffen beiwohnte, war selbstverständliche Notwendigkeit. Unmöglich, sich davon auszuschließen und das Ergebnis im Bette zu erwarten, erstens, weil – aber das Erstens führte er nicht aus, sondern fügte gleich das Zweitens hinzu, daß man die Dinge überhaupt nicht sich selbst überlassen dürfe. Noch war nichts Schlimmes geschehen, gottlob, und es brauchte nichts Schlimmes zu geschehen, es war sogar unwahrscheinlich. Man hatte bei künstlichem Licht aufstehen müssen und mußte nun ungefrühstückt, in bitterer Frostfrühe im Freien zusammenkommen, so war es einmal verabredet. Aber dann würde, unter der Einwirkung von seiner, Hans Castorps, Gegenwart sich zweifellos irgendwie alles zum Guten und Heiteren wenden, – auf eine Weise, die nicht vorauszusehen war, und die erraten zu wollen, man besser unterließ, da die Erfahrung lehrte, daß selbst der bescheidenste Vorgang anders verlief, als man vorwegnehmend ihn sich auszumalen versucht hatte.

Dennoch war es der unangenehmste Morgen seiner Erinnerung. Flau und übernächtig, neigte Hans Castorp zu nervösem Zähneklappern und war schon in geringer Tiefe seines Wesens sehr versucht, seinen Selbstbeschwichtigungen zu mißtrauen. Es waren so ganz besondere Zeiten ... Die zankzerstörte Dame aus Minsk, der tobende Schüler, Wiedemann und Sonnenschein, der polnische Ohrfeigenhandel gingen ihm wüst durch den Sinn. Er konnte sich nicht vorstellen, daß vor seinen Augen, wenn er zugegen war, zwei aufeinander schießen, sich blutig zurichten würden. Aber wenn er bedachte, was mit Wiedemann und Sonnenschein vor diesen seinen Augen zur Tatsache geworden war, so mißtraute er sich und seiner Welt und fröstelte in seiner Pelzjacke, – während übrigens immerhin und bei alldem ein Gefühl von der Außerordentlichkeit und Pathetik der Lage, zusammen mit den stärkenden Elementen der Frühluft ihn erhob und belebte.

Unter so gemischten und wechselnden Empfindungen und Gedanken stieg er im Halbhellen, langsam sich Erhellenden in „Dorf“ von der Mündung der Bobbahn auf schmalstem Pfade die Lehne hinan, erreichte den tief verschneiten Wald, überschritt die Holzbrücken, unter denen die Bahn hinablief, und stapfte auf einem Wege, der mehr ein Erzeugnis von Fußspuren, als der Schaufel war, zwischen den Stämmen weiter. Da er hastig ging, überholte er sehr bald Settembrini und Ferge, welcher mit einer Hand den Pistolenkasten unter seinem Radmantel festhielt. Hans Castorp nahm keinen Anstand, sich zu ihnen zu gesellen, und kaum war er an ihrer Seite, so erblickte er auch schon Naphta und Wehsal, die geringen Vorsprung hatten.

„Kalter Morgen, mindestens achtzehn Grad,“ sagte er in guter Absicht, erschrak aber selbst über die Frivolität seiner Worte und fügte hinzu: „Meine Herren, ich bin überzeugt ...“

Die anderen schwiegen. Ferge ließ seinen gutmütigen Schnurrbart auf und nieder wandern. Nach einer Weile blieb Settembrini stehen, nahm Hans Castorps Hand, legte auch noch seine andere darauf und sprach:

„Mein Freund, ich werde nicht töten. Ich werde es nicht. Ich werde mich seiner Kugel darstellen, das ist alles, was mir die Ehre gebieten kann. Aber ich werde nicht töten, verlassen Sie sich darauf!“

Er ließ los und ging weiter. Hans Castorp war tief ergriffen, sagte jedoch nach einigen Schritten:

„Das ist wunderbar schön von Ihnen, Herr Settembrini, nur, andererseits ... Wenn er für sein Teil ...“

Herr Settembrini schüttelte nur den Kopf. Und da Hans Castorp überlegte, daß, wenn einer nicht schösse, auch der andere sich dessen unmöglich würde unterwinden können, so fand er, daß alles sich glücklich anlasse und daß seine Annahmen sich zu bestätigen begönnen. Es wurde ihm leichter ums Herz.

Sie überschritten den Steg, der über die Schlucht führte, worin im Sommer der jetzt in Starre verstummte Wasserfall niederging, und der so sehr zu dem malerischen Charakter des Ortes beitrug. Naphta und Wehsal gingen im Schnee vor der mit dicken weißen Kissen gepolsterten Bank auf und ab, auf der Hans Castorp einst, unter ungewöhnlich lebendigen Erinnerungen, das Ende seines Nasenblutens hatte erwarten müssen. Naphta rauchte eine Zigarette, und Hans Castorp prüfte sich, ob er ebenfalls Lust hätte, das zu tun, fand aber nicht die geringste Neigung dazu in sich vor und schloß, daß es also bei jenem erst recht auf Affektation beruhen müsse. Mit dem Wohlgefallen, das er hier stets empfand, sah er sich in der kühnen Intimität seiner Stätte um, die unter diesen eisigen Umständen nicht weniger schön war, als zu Zeiten ihrer blauen Blüte. Stamm und Gezweig der schräg ins Bild ragenden Fichte waren mit Schnee beschwert.

„Guten Morgen!“ wünschte er mit heiterer Stimme, in dem Wunsch, einen natürlichen Ton sofort in die Versammlung einzuführen, der Böses zerstreuen helfen sollte, – hatte aber kein Glück damit, denn niemand antwortete ihm. Die gewechselten Grüße bestanden in stummen Verbeugungen, die bis zur Unsichtbarkeit steif waren. Dennoch blieb er entschlossen, seine Ankunftsbewegung, den herzlichen Hochgang seines Atems, die Wärme, die der rasche Gang durch den Wintermorgen ihm mitgeteilt, ohne Säumen zum guten Zweck zu verwenden und fing an:

„Meine Herren, ich bin überzeugt ...“

„Sie werden Ihre Überzeugungen ein andermal entwickeln,“ schnitt Naphta ihm kalt das Wort ab. „Die Waffen, wenn ich bitten darf,“ fügte er mit demselben Hochmut hinzu. Und Hans Castorp, auf den Mund geschlagen, mußte zusehen, wie Ferge das fatale Etui unter seinem Mantel hervorholte, und wie Wehsal, der zu ihm getreten war, eine der Pistolen von ihm empfing, um sie an Naphta weiterzugeben. Settembrini nahm aus Ferges Hand die andere. Dann mußte man Raum geben, Ferge ersuchte murmelnd darum und fing an, die Distanzen auszugehen und sichtbar zu machen: die äußere Begrenzung, indem er mit dem Absatz kurze Linien in den Schnee grub, die inneren Barrieren mit zwei Spazierstöcken, seinem eigenen und dem Settembrinis.

Der gutmütige Dulder, womit befaßte er sich da? Hans Castorp traute seinen Augen nicht. Ferge war langbeinig und griff gehörig aus, so daß wenigstens die fünfzehn Schritte eine stattliche Entfernung ergaben, wenn da auch noch die verdammten Barrieren waren, die wirklich nicht weit voneinander lagen. Gewiß, er meinte es redlich. Doch immerhin, im Zwange welcher Umnebelung handelte er, indem er Vorkehrungen so ungeheuerlichen Sinnes traf?

Naphta, der seinen Pelzmantel in den Schnee geworfen hatte, so daß man das Nerzfutter sah, trat, die Pistole in der Hand, auf einen der äußeren Absatzstriche, sobald er nur gezogen war und während Ferge an weiteren Markierungen noch arbeitete. Als er fertig war, bezog auch Settembrini, die schadhafte Pelzjacke offen, seine Stellung. Hans Castorp riß sich aus einer Lähmung und trat hastig noch einmal vor.

„Meine Herren,“ sagte er bedrängt, „keine Übereilungen! Es ist trotz allem meine Pflicht ...“

„Schweigen Sie!“ rief Naphta schneidend. „Ich wünsche das Zeichen.“

Aber niemand gab ein Zeichen. Das war nicht gut verabredet. Es sollte wohl „Los!“ ausgesprochen werden, allein daß es Sache des Unparteiischen sein werde, die furchtbare Aufforderung ergehen zu lassen, war nicht bedacht und jedenfalls nicht erwähnt worden. Hans Castorp blieb stumm und niemand sprang für ihn ein.

„Wir beginnen!“ erklärte Naphta. „Gehen Sie vor, mein Herr, und schießen Sie!“ rief er zu seinem Gegner hinüber und begann selbst vorzugehen, die Pistole mit gestrecktem Arm auf Settembrini, in Brusthöhe, gerichtet, – ein unglaubwürdiger Anblick. Auch Settembrini tat so. Beim dritten Schritt – der andere war, ohne zu feuern, schon bis zur Barriere gelangt – hob er die Pistole sehr hoch und drückte ab. Der scharfe Schuß weckte vielfaches Echo. Die Berge warfen einander Hall und Widerhall zu, das Tal lärmte davon, und Hans Castorp dachte, die Leute müßten zusammenlaufen.

„Sie haben in die Luft geschossen,“ sagte Naphta mit Selbstbeherrschung, indem er die Waffe sinken ließ.

Settembrini antwortete:

„Ich schieße, wohin es mir beliebt.“

„Sie werden noch einmal schießen!“

„Ich denke nicht daran. Die Reihe ist an Ihnen.“ Herr Settembrini, erhobenen Hauptes gen Himmel blickend, hatte sich etwas seitlich zum anderen gestellt, nicht ganz in Front, was rührend zu sehen war. Man merkte deutlich, daß er gehört hatte, man solle dem Gegner nicht gerade die volle Breitseite bieten, und daß er nach dieser Weisung handelte.

„Feigling!“ schrie Naphta, indem er mit diesem Aufschrei der Menschlichkeit das Zugeständnis machte, daß mehr Mut dazu gehöre, zu schießen, als auf sich schießen zu lassen, hob seine Pistole auf eine Weise, die nichts mehr mit Kampf zu tun hatte, und schoß sich in den Kopf.

Kläglicher, unvergeßlicher Anblick! Er taumelte oder stürzte, während die Berge mit dem scharfen Lärm seiner Untat Fangball spielten, ein paar Schritte rückwärts, indem er die Beine nach vorn warf, beschrieb mit dem ganzen Körper eine schleudernde Rechtsdrehung und fiel mit dem Gesicht in den Schnee.

Alle standen einen Augenblick starr. Settembrini, nachdem er sein Schießzeug weit von sich geworfen, war der erste bei ihm.

„Infelice!“ rief er. „Che cosa fai per l’amor di Dio!“

Hans Castorp war ihm behilflich, den Körper umzulegen. Sie sahen das schwarzrote Loch neben der Schläfe. Sie sahen in ein Gesicht, das man am besten mit dem seidenen Schnupftuch bedeckte, von dem ein Zipfel aus Naphtas Brusttasche hing.

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