2.

Aber hier soll mich Nichts hindern, grob zu werden und den Deutschen ein paar harte Wahrheiten zu sagen: wer thut es sonst? - Ich rede von ihrer Unzucht in historicis. Nicht nur, dass den deutschen Historikern der grosse Blick für den Gang, für die Werthe der Cultur gänzlich abhanden gekommen ist, dass sie allesammt Hanswürste der Politik (oder der Kirche -) sind: dieser grosse Blick ist selbst von ihnen in Acht gethan. Man muss vorerst "deutsch" sein, "Rasse" sein, dann kann man über alle Werthe und Unwerthe in historicis entscheiden - man setzt sie fest… "Deutsch" ist ein Argument, "Deutschland, Deutschland über Alles" ein Princip, die Germanen sind die "sittliche Weltordnung" in der Geschichte; im Verhältniss zum imperium romanum die Träger der Freiheit, im Verhältniss zum achtzehnten Jahrhundert die Wiederhersteller der Moral, des "kategorischen Imperativs",… Es giebt eine reichsdeutsche Geschichtsschreibung, es giebt, fürchte ich, selbst eine antisemitische, - es giebt eine Hof-Geschichtsschreibung und Herr von Treitschke schämt sich nicht… Jüngst machte ein Idioten-Urtheil in historicis, ein Satz des zum Glück verblichenen ästhetischen Schwaben Vischer, die Runde durch die deutschen Zeitungen als eine "Wahrheit", zu der jeder Deutsche Ja sagen müsse: "Die Renaissance und die Reformation, Beide zusammen machen erst ein Ganzes - die aesthetische Wiedergeburt und die sittliche Wiedergeburt." - Bei solchen Sätzen geht es mit meiner Geduld zu Ende, und ich spüre Lust, ich fühle es selbst als Pflicht, den Deutschen einmal zu sagen, was sie Alles schon auf dem Gewissen haben. Alle grossen Cultur-Verbrechen von vier Jahrhunderten haben sie auf dem Gewissen!… Und immer aus dem gleichen Grunde, aus ihrer innerlichsten Feigheit vor der Realität, die auch die Feigheit vor der Wahrheit ist, aus ihrer bei ihnen Instinkt gewordnen Unwahrhaftigkeit, aus "Idealismus"… Die Deutschen haben Europa um die Ernte, um den Sinn der letzten grossen Zeit, der Renaissance-Zeit, gebracht, in einem Augenblicke, wo eine höhere Ordnung der Werthe, wo die vornehmen, die zum Leben jasagenden, die Zukunft-verbürgenden Werthe am Sitz der entgegengesetzten, der Niedergangs-Werthe zum Sieg gelangt waren - und bis in die Instinkte der dort Sitzenden hinein! Luther, dies Verhängniss von Mönch, hat die Kirche, und, was tausend Mal schlimmer ist, das Christenthum wiederhergestellt, im Augenblick, wo es unterlag… Das Christenthum, diese Religion gewordne Verneinung des Willens zum Leben!… Luther, ein unmöglicher Mönch, der, aus Gründen seiner "Unmöglichkeit", die Kirche angriff und sie - folglich! - wiederherstellte… Die Katholiken hätten Gründe, Lutherfeste zu feiern, Lutherspiele zu dichten… Luther - und die "sittliche Wiedergeburt"! Zum Teufel mit aller Psychologie! Ohne Zweifel, die Deutschen sind Idealisten. Die Deutschen haben zwei Mal, als eben mit ungeheurer Tapferkeit und Selbstüberwindung eine rechtschaffne, eine unzweideutige, eine vollkommen wissenschaftliche Denkweise erreicht war, Schleichwege zum alten "Ideal", Versöhnungen zwischen Wahrheit und "Ideal", im Grunde Formeln für ein Recht auf Ablehnung der Wissenschaft, für ein Recht auf Lüge zu finden gewusst. Leibniz und Kant - diese zwei grössten Hemmschuhe der intellektuellen Rechtschaffenheit Europa's! - Die Deutschen haben endlich, als auf der Brücke zwischen zwei décadence-Jahrhunderten eine force majeure von Genie und Wille sichtbar wurde, stark genug, aus Europa eine Einheit, eine politische und wirtschaftliche Einheit, zum Zweck der Erdregierung zu schaffen, mit ihren "Freiheits-Kriegen" Europa um den Sinn, um das Wunder von Sinn in der Existenz Napoleon's gebracht, - sie haben damit Alles, was kam, was heute da ist, auf dem Gewissen, diese culturwidrigste Krankheit und Unvernunft, die es giebt, den Nationalismus, diese névrose nationale, an der Europa krank ist, diese Verewigung der Kleinstaaterei Europas, der kleinen Politik: sie haben Europa selbst um seinen Sinn, um seine Vernunft - sie haben es in eine Sackgasse gebracht. - Weiss jemand ausser mir einen Weg aus dieser Sackgasse?… Eine Aufgabe gross genug, die Völker wieder zu binden?…

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