2.

Dieser Anfang ist über alle Maassen merkwürdig. Ich hatte zu meiner innersten Erfahrung das einzige Gleichniss und Seitenstück, das die Geschichte hat, entdeckt, - ich hatte ebendamit das wundervolle Phänomen des Dionysischen als der Erste begriffen. Insgleichen war damit, dass ich Sokrates als décadent erkannte, ein völlig unzweideutiger Beweis dafür gegeben, wie wenig die Sicherheit meines psychologischen Griffs von Seiten irgend einer Moral-Idiosynkrasie Gefahr laufen werde: - die Moral selbst als décadence-Symptom ist eine Neuerung, eine Einzigkeit ersten Rangs in der Geschichte der Erkenntniss. Wie hoch war ich mit Beidem über das erbärmliche Flachkopf-Geschwätz von Optimismus contra Pessimismus hinweggesprungen! - Ich sah zuerst den eigentlichen Gegensatz: - den entartenden Instinkt, der sich gegen das Leben mit unterirdischer Rachsucht wendet (- Christenthum, die Philosophie Schopenhauers, in gewissem Sinne schon die Philosophie Platos, der ganze Idealismus als typische Formen) und eine aus der Fülle, der Überfülle geborene Formel der höchsten Bejahung, ein Jasagen ohne Vorbehalt, zum Leiden selbst, zur Schuld selbst, zu allem Fragwürdigen und Fremden des Daseins selbst… Dieses letzte, freudigste, überschwänglich-übermüthigste Ja zum Leben ist nicht nur die höchste Einsicht, es ist auch die tiefste, die von Wahrheit und Wissenschaft am strengsten bestätigte und aufrecht erhaltene. Es ist Nichts, was ist, abzurechnen, es ist Nichts entbehrlich - die von den Christen und andren Nihilisten abgelehnten Seiten des Daseins sind sogar von unendlich höherer Ordnung in der Rangordnung der Werthe als das, was der Décadence-Instinkt gutheissen, gutheissen durfte. Dies zu begreifen, dazu gehört Muth und, als dessen Bedingung, ein Überschuss von Kraft: denn genau so weit als der Muth sich vorwärts wagen darf, genau nach dem Maass von Kraft nähert man sich der Wahrheit. Die Erkenntniss, das Jasagen zur Realität ist für den Starken eine ebensolche Nothwendigkeit als für den Schwachen, unter der Inspiration der Schwäche, die Feigheit und Flucht vor der Realität - das "Ideal"… Es steht ihnen nicht frei, zu erkennen: die décadents haben die Lüge nöthig, sie ist eine ihrer Erhaltungs-Bedingungen. - Wer das Wort "Dionysisch" nicht nur begreift, sondern sich in dem Wort "dionysisch" begreift, hat keine Widerlegung Platos oder des Christenthums oder Schopenhauers nöthig - er riecht die Verwesung…

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