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Wer tief in die Welt gesehen hat, erräth wohl, welche Weisheit darin liegt, dass die Menschen oberflächlich sind. Es ist ihr erhaltender Instinkt, der sie lehrt, flüchtig, leicht und falsch zu sein. Man findet hier und da eine leidenschaftliche und übertreibende Anbetung der "reinen Formen", bei Philosophen wie bei Künstlern: möge Niemand zweifeln, dass wer dergestalt den Cultus der Oberfläche nöthig hat, irgend wann einmal einen unglückseligen Griff unter sie gethan hat. Vielleicht giebt es sogar hinsichtlich dieser verbrannten Kinder, der geborenen Künstler, welche den Genuss des Lebens nur noch in der Absicht finden, sein Bild zu fälschen (gleichsam in einer langwierigen Rache am Leben -), auch noch eine Ordnung des Ranges: man könnte den Grad, in dem ihnen das Leben verleidet ist, daraus abnehmen, bis wie weit sie sein Bild verfälscht, verdünnt, verjenseitigt, vergöttlicht zu sehn wünschen, - man könnte die homines religiosi mit unter die Künstler rechnen, als ihren höchsten Rang. Es ist die tiefe argwöhnische Furcht vor einem unheilbaren Pessimismus, der ganze Jahrtausende zwingt, sich mit den Zähnen in eine religiöse Interpretation des Daseins zu verbeissen: die Furcht jenes Instinktes, welcher ahnt, dass man der Wahrheit zu früh habhaft werden könnte, ehe der Mensch stark genug, hart genug, Künstler genug geworden ist…. Die Frömmigkeit, das "Leben in Gott", mit diesem Blicke betrachtet, erschiene dabei als die feinste und letzte Ausgeburt der Furcht vor der Wahrheit, als Künstler-Anbetung und -Trunkenheit vor der consequentesten aller Fälschungen, als der Wille zur Umkehrung der Wahrheit, zur Unwahrheit um jeden Preis. Vielleicht, dass es bis jetzt kein stärkeres Mittel gab, den Menschen selbst zu verschönern, als eben Frömmigkeit: durch sie kann der Mensch so sehr Kunst, Oberfläche, Farbenspiel, Güte werden, dass man an seinem Anblicke nicht mehr leidet. -

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