Berl der Schneider

Erew Jom-Kippur – Vorabend des Versöhnungstages – in der Berditschewer Schul. Es senkt sich die Nacht. Die alten Leute haben bereits vor dem Thoraschreine das Gebet: »Mit Wissen des Schöpfers und mit Wissen der Schöpfung …« gesprochen und sind auf ihre Plätze zurückgekehrt. Rabbi Levi-Jizchok steht am Vorbeterpult: er soll das Kol-Nidrej anstimmen, doch er schweigt.

Alle Blicke hängen an seinem Rücken. In der Weiberabteilung ist es still wie auf dem Meere vor dem Sturme. Vielleicht wird er zuvor, wie er das schon manchmal tat, einige Worte sprechen, wird sich in der gemeinen Volkssprache mit dem Schöpfer der Welt auseinandersetzen, wie ein Mensch mit seinem Nächsten spricht.

Aber Rabbi Levi-Jizchok steht, in Kittel(8) und Gebetmantel gehüllt, vor dem Pulte und schweigt.

Was hat das zu bedeuten?

Sind die Tore des Gebets zu einer so späten Stunde noch geschlossen? Hat Rabbi Levi-Jizchok nicht die Kraft anzuklopfen? Er hält seinen Kopf etwas geneigt, wie lauschend; lauscht er, ob man die Tore nicht schon aufschließt?

Und plötzlich wendet sich Rabbi Levi-Jizchok um und ruft:

»Schuldiener!«

Der Schuldiener eilt zu ihm hin, und der Rabbi fragt:

»Ist Berl der Schneider noch nicht da?«

Die Gemeinde ist vor Erstaunen wie versteinert. Der Schuldiener stammelt: »Ich weiß nicht …« und sieht sich um. Auch Rabbi Levi-Jizchok mustert die Anwesenden.

»Nein, er ist noch nicht da!« sagt er schließlich. »Ist zu Hause geblieben.« Und dann wendet er sich wieder zum Schuldiener:

»Geh zu Berl dem Schneider ins Haus und ruf ihn her! Ich, Levi-Jizchok, der Rabbi der Stadt, ließe ihn rufen!«

Berl der Schneider wohnt in der Schulgasse, nicht weit vom Bethause. Und er kommt auch sehr bald, ohne Kittel und Gebetmantel, in Werktagskleidern. Sein Gesicht ist finster, seine Augen sind böse und erschrocken zugleich. Er geht auf Rabbi Levi-Jizchok zu und sagt:

»Ihr habt mich rufen lassen, Rabbi, so bin ich zu Euch gekommen.«

Er betont: »Zu Euch«.

»Sag einmal, Berele,« fragt der Rabbi lächelnd, »warum wird heute dort oben von dir so viel gesprochen? Die himmlischen Heerscharen sind nur mit dir allein beschäftigt. Man hört nichts als: Berl der Schneider und Berl der Schneider!«

»Aha!« triumphiert Berl.

»Hast du irgendeine Beschwerde vorzubringen?«

»Gewiß!«

»Gegen wen denn, Berele?«

»Gegen den Schöpfer der Welt!« antwortet Berl.

Die Gemeinde hätte ihn in Stücke gerissen. Doch Rabbi Levi-Jizchok lächelt noch freundlicher.

»Vielleicht wirst du uns erzählen, um was es sich handelt?«

»Gerne!« sagt Berl. »Von mir aus kann die Sache sogar gleich hier von Euch entschieden werden. Darf ich sprechen?«

»Sprich!«

»Den ganzen Sommer lang«, beginnt Berl der Schneider seine Anklage, »habe ich, nicht auf Euch gesagt, Rabbi, gar keine Arbeit gehabt … Weder von einem Juden, noch von einem Bauern. Ich könnte mich einfach hinlegen und sterben, so schlecht ging es mir!«

»Ach!« zweifelt der Rabbi: »Der Same Abrahams, Isaaks und Jakobs ist doch mildtätig, – du hättest auf die Barmherzigkeit der Leute vertrauen sollen!«

»Darum handelt es sich nicht, Rabbi. Ich sage niemandem ein Wort und nehme von niemandem etwas an.«

Von einem Geschöpf aus Fleisch und Blut nimmt er keine Geschenke an. Er hat vor dem Schöpfer der Welt die gleichen Rechte wie die andern Leute. Das einzige, was er getan hat – er hat seine Tochter in eine größere Stadt zu fremden Menschen dienen geschickt. Und er sitzt allein zu Hause und wartet, was der Schöpfer mit ihm zu tun beschließt.

Einmal vor dem Laubhüttenfeste geht die Tür auf. Aha! Nun hat er es doch erlebt. Und in der Tat, es ist ein Bote vom Gutsherrn: Berl soll ihm einen Mantel mit Pelz füttern. Der Schöpfer will also doch um ihn sorgen! Er geht aufs Schloß, man führt ihn in ein eigenes Zimmer und übergibt ihm den Mantel und die Felle.

»Hättet Ihr nur die Felle gesehen, Rabbi! Die schönsten Fuchsfelle, die es nur gibt!«

Es ist aber die höchste Zeit zum Kol Nidrej-Gebet. Darum sucht der Rabbi die Erzählung abzukürzen:

»Also kurz und gut, du hast den Mantel gefüttert und warst fertig. Was geschah dann?«

»Eine Kleinigkeit geschah: drei Felle blieben mir übrig.«

»Und die hast du eingesteckt?«

»Das ist leichter gesagt, Rabbi, als getan! Denn wenn man aus dem Schlosse kommt, steht vor dem Tore ein Wächter, und wenn dieser Verdacht hat, so durchsucht er die Kleider und zwingt sogar einen, die Stiefel auszuziehen. Und findet man bei mir, Gott behüte, die Felle, so hat der Gutsherr böse Hunde und Reitknechte …«

»Was tatest du nun?«

»Bin ich aber doch Berl der Schneider! Ich gehe in die Küche und bitte, daß man mir ein Brot schenkt.«

»Christenbrot, Berele!«

»Nicht zum Essen brauchte ich es, Rabbi! Man schenkt mir einen großen Laib. Ich gehe damit in das Zimmer, wo ich genäht habe, schneide das Brot auf, höhle die Hälften aus, rolle das Weiche, das ich herausgenommen, so lange in den Händen herum, bis es den Geruch vom Schweiß annimmt, und werfe es dem Hunde vor, der in dem Zimmer liegt. Hunde lieben Menschenschweiß. Und die drei Fuchsfelle stecke ich in den Laib und gehe. Am Tore hält man mich an: Was trägst du, Jude, unterm Arm? Ich zeige den Brotlaib her, und man läßt mich gehen. Etwas weiter beginne ich schon zu laufen. Ich gehe nicht durch die Landstraße, sondern nehme den kürzeren Feldweg.

»So gehe ich und hüpfe beinahe vor Freude: Nun werde ich zum Laubhüttenfest einen eigenen Palmenzweig haben und einen eigenen Paradiesapfel! Nichts von der Gemeinde Geborgtes … So schöne Fuchsfelle!…

»Da erzittert unter mir die Erde … Ich weiß schon, was das ist: ein Reiter jagt mir nach! Das Blut erstarrt in mir. Sie haben wohl die Felle nachgezählt … Entrinnen kann ich nicht: es ist doch ein Reiter, und dazu noch auf einem von den Pferden des Gutsherrn! Ich werfe sofort den Brotlaib in die Stoppeln und merke mir die Stelle, mache mir für alle Fälle ein Zeichen. Und schon höre ich, wie man mich ruft: Berl! Berl! – Ich erkenne die Stimme: es ist wirklich der Reitknecht vom Gutshof. Alle Glieder zittern mir, Rabbi! Meine Seele sitzt mir in den Fußknöcheln … Ich wende mich aber um und gehe dem Reiter entgegen.

»Nun stellt sich heraus, der ganze Schreck war umsonst: ich hatte vergessen, an den Pelzmantel ein Hängsel anzunähen. Darum hatte man mir den Reiter nachgeschickt. Der Reiter setzt mich hinter sich aufs Pferd, und schon reiten wir zurück.

»Ich danke Gott für die Rettung, nähe das Hängsel an und gehe. Doch wie ich zu der bewußten Stelle komme, ist der Brotlaib nicht mehr da! Die Felder sind längst abgemäht, kein Menschenkind kommt da vorbei, und kein Vogel in der Welt hat die Kraft, eine solche Last wegzuschleppen … Es ist also klar, wer das getan hat …«

»Wer?« fragt Rabbi Levi-Jizchok.

»Er!« antwortet Berl der Schneider und deutet mit dem Finger nach oben. »Der Schöpfer der Welt! Sein Werk ists! Und ich weiß, Rabbi, warum er das getan hat: Er, der große Herr, will nicht dulden, daß ich, Berl der Schneider, mir nach Schneiderart einen Rest aneigne …«

»Es stimmt ja auch,« sagt Rabbi Levi-Jizchok mild: »Nach dem Gesetz …«

»Ach was, Gesetz!« ereifert sich Berl. »Der Brauch bricht ein Gesetz. Nicht ich habe den Brauch eingeführt; er stammt von uralten Zeiten!«

»Und wenn schon der Schöpfer der Welt,« fährt er fort, »der große und stolze Herr nicht will, daß ich, Berl der Schneider, der ärmste Knecht von allen Knechten, die ihm dienen, mir einen Rest aneigne, so soll er mir Arbeit verschaffen, so soll er mir, wie jeder andre Herr, Gehalt zahlen! Aber er duldet nicht das eine und gibt mir nicht das andre. Nun will ich ihm, dem Schöpfer der Welt, nicht länger dienen. Ich habe es gelobt! Es ist aus!«

Durch die Gemeinde geht eine Bewegung. Drohende Hände erheben sich. Man will auf den Schneider losstürzen. Doch Rabbi Levi-Jizchok gebietet Ruhe. Es wird wieder still, und der Rabbi fragt gütig:

»Und was geschah weiter, Berl?«

»Nichts! Ich komme nach Hause und esse, ohne zuvor die Hände zu waschen. Mein Weib will mich zur Rede stellen – ich schlage sie ins Gesicht. Ich lege mich zu Bett und spreche nicht das Abendgebet. Meine Lippen wollen von selbst ›Höre Israel!‹ sprechen, doch ich beiße sie mit den Zähnen. Und am Morgen: weder Segensspruch, noch Handwaschung, noch Morgengebet: Er soll mir zu essen geben! Mein Weib rennt aus dem Hause ins Dorf zu ihrem Vater, dem Pächter. Also bleibe ich ohne Weib! Es ist mir sogar lieber so: ich bin ja Berl der Schneider, doch sie ist nur ein schwaches jüdisches Weib, – soll sie lieber damit nichts zu tun haben. Und ich tue das meinige: am Laubhüttenfest weder Laubhütte, noch Palmenzweig. An den Festtagen spreche ich keinen Segensspruch über den Wein, und am Simchas-Tojre-Tag, an dem uns die Thora gegeben wurde, ziehe ich mir, wie Mordechai nach Hamans Mordbeschluß, zum Zeichen der Trauer einen Sack an!

»Und wie die Zeit vor dem Neujahrsfeste kommt, wenn man jede Nacht ins Bethaus geht, um Bußgebete zu sprechen, da wird es mir schon etwas bange: der Schuldiener klopft jede Nacht ans Fenster, um mich zu wecken, und mein Herz klopft auch. Es zieht mich hin … Aber ich bin ja Berl der Schneider und halte mein Wort! Ich ziehe mir die Bettdecke über den Kopf und gebe nicht nach. Dann kommt das Neujahrsfest – ich rühre keinen Finger. Und wenn die Stunde kommt, wenn man Schojfer(9) bläst, stopfe ich mir Werg in die Ohren … Das Herz will mir aus dem Leibe springen, Rabbi! Ich habe vor mir selbst Ekel: ich bin ungewaschen und trage schmutzige Werktagskleider. Ein kleiner Spiegel hängt bei mir in der Stube – ich kehre ihn um zur Wand, ich will mich nicht sehen! Und wie ich höre, daß die Gemeinde zum Flusse geht, um die Sünden ins Wasser abzuschütteln …«

Er verstummt für eine Weile und ruft dann aus:

»Aber recht habe ich, Rabbi! Und ohne was zu erreichen, will ich nicht nachgeben!«

Rabbi Levi-Jizchok denkt eine Weile nach und fragt:

»Was willst du also, Berl? Willst du Arbeit und Verdienst?«

»Ich spucke auf Verdienst!« erwiderte Berl beleidigt. »Verdienst hätte ich vorher haben sollen! Auf Verdienst hat jedermann Anrecht! Der Vogel in der Luft, der Wurm in der Erde – sie alle haben ihr Auskommen. Verdienst ist etwas Selbstverständliches. Jetzt will ich mehr!«

»Sag doch, Berl, was du willst!«

»Ist es wahr, Rabbi, daß am Jom-Kippur nur die Sünden des Menschen gegen Gott verziehen werden?«

»So ist es!«

»Und die Sünden des Menschen gegen seinen Nächsten nicht?«

»Nein.«

Berl der Schneider richtet sich auf und sagt laut und bestimmt:

»Also werde ich, Berl der Schneider, nur dann nachgeben und wieder in den Dienst des Schöpfers der Welt treten, wenn er mir zuliebe an diesem Jom-Kippur auch die andern Sünden verzeiht! Habe ich nicht recht, Rabbi?«

»Du hast recht!« erwidert der Rabbi. »Bleibe nur dabei – man wird dir schon nachgeben müssen …«

Und er wendet sich wieder zum Betpult, richtet den Kopf in die Höhe, lauscht hinauf und verkündet nach einer Weile:

»Du hast es durchgesetzt, Berl! Nun schnell nach Haus, hole Kittel und Gebetmantel!«

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