Reb Jojchenen Gabaj

Müde und abgespannt von seiner Arbeit in der Gemeinde kam Reb Jojchenen der Gabaj(17) nach Hause. Schon in der Küche empfing ihn der Geruch von Speisen, von Fleisch und gekochten Äpfeln. Er trat schnell ins nächste Zimmer, wo ihm aber seine Frau Ssosche einen wenig freundlichen Empfang bereitete.

»Müßiggänger!« schrie sie ihm mit böser Stimme entgegen, als er sich auf der Schwelle zeigte.

»Warum schimpfst du?« fragte Reb Jojchenen, indem er sich auf eine Bank setzte, um auszuruhen.

»Er fragt noch, warum ich schimpfe! Immer bist du mit deinen Gemeindesachen beschäftigt; wann wirst du aber, du Müßiggänger, auch etwas für dich selbst tun?«

»Für mich?« fragte der Gabaj verwundert. »Was soll ich denn für mich tun? Unsere Kinder sind ja schon, Gott sei Dank, selbständig, und uns beiden fehlt gar nichts … Was soll ich also tun?…« Er sieht sich in der Stube um und fügt hinzu: »Das Bett ist auch ohne mich gebettet, das Geschirr ist auch ohne meine Hilfe gewaschen; ich habe die Wände nicht einmal angerührt, und doch sehe ich an ihnen keine Spur von Spinnweben. Auch der Tisch ist schon gedeckt, das Tischtuch ist schneeweiß, die Bestecke funkeln wie aus Gold. Ich seh auch die Rettichspeise auf dem Tisch, geriebenen Meerrettich, ein Fläschchen Branntwein …«

»Hör schon auf mit deinen Sprüchen und geh dich waschen!«(18)

»Nein, Ssosche, ich werde mich nicht eher waschen, als du selbst zugeben wirst, daß ich recht habe. Hier zu Hause habe ich nichts zu versorgen, dafür aber im Bethause um so mehr; denn wer wird sich um alle die Sachen kümmern, wenn nicht ich? Vielleicht Joßke der Krämer, der nicht einmal zum Essen Zeit hat? Oder Jechijel der Dorfhausierer, der schon am Sabbatabend, gleich nach dem Hawdolo-Gebet das Haus verläßt und erst am Freitag gegen Abend heimkommt? Oder gar Ruben der Geldverleiher, der den ganzen Tag herumrennt, um bei den armen Leuten einige Groschen Zinsen einzusammeln? Oder gar einer von den armen Handwerkern, die schwer arbeiten müssen, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen?«

»Laß gut sein, ich bin nicht mehr böse …«

»Macht nichts. Ich weiß, daß du mir nicht mehr böse bist. Ich will dir aber noch beweisen, daß ich auch für mich selbst sorge. Schau mich an, Ssosche, sieh meinen weißen Bart und meine weißen Schläfenlocken. Ich bin nicht mehr jung … Also muß ich mich auf eine weite Reise vorbereiten …«

»Auf eine Reise? Auf was für eine Reise?« fragt Ssosche verwundert. Sie begreift aber sofort selbst, was er damit meint, und ruft erschrocken aus: »Um Gottes willen, sprich nicht davon! Gott behüte!…«

»Brauchst keine Angst zu haben, Ssosche. Du bist ja auch älter als zwanzig Jahre … Und was werden wir beide antworten, wenn man uns dort oben fragt, was wir auf dieser Welt getan haben? Daß wir hier aßen und tranken? Und was wird der liebe Gott dazu sagen? Du wirst noch wenigstens vorbringen können, daß du dich am Verein für die Ausstattung armer Bräute betätigt hast …«

»Sprich nicht davon!« bittet Ssosche. Sie fürchtet, daß dadurch ihr Lohn im Jenseits beeinträchtigt werden könne.

»Darum will ja auch ich etwas Gutes tun …«

»Sehr gut. Sehr gut. Tu, was du willst. Geh dich aber endlich waschen!«

»Nur noch eines,« fährt der Gabaj fort: »Erinnerst du dich noch an dein seidenes Brautkleid mit den silbernen Streifen?«

»Ob ich mich daran erinnere!«

»Würdest du es nicht dem Bethause stiften, damit man daraus einen Vorhang für den Thoraschrein macht?«

»Sehr gerne! Ich will es sofort heraussuchen …«

»Wart, Ssosche, ich hab es schon selbst genommen, und es hängt bereits vor dem Thoraschrein!«

»Du Dieb!« sagt Ssosche lächelnd.

Nun wäscht sich Reb Jojchenen endlich die Hände und setzt sich an den Tisch. Er ißt mit großem Appetit, spricht das Tischgebet und legt sich schlafen.

Reb Jojchenen der Gabaj schlief bald ein, und seine Seele flog in den Himmel hinauf und verzeichnete dort im Buche seiner Verdienste:

»Ich, Jojchenen, Sohn der Sarah, war heute den ganzen Tag mit heiliger Arbeit beschäftigt. Ich sagte mir: Ich und mein Weib Ssosche wohnen in einem schönen Hause, während das Gotteshaus baufällig ist und ausgebessert werden muß. Darum mietete ich Handwerker und ließ das Bethaus ausbessern. Heute brachte man zwei neue Bänke und einen neuen Tisch ins Gotteshaus. Ich ließ auch den Fußboden reinigen, die Wände und alle Möbel und Geräte putzen. Vor dem Vorbeterpult an der Ostwand habe ich einen neuen Leuchter angebracht. In der Kasse des Bethauses waren im ganzen fünfundvierzig Rubel. Um alles zu bezahlen, mußte ich aus meiner eigenen Tasche sechs Rubel und vierundachtzig Kopeken dazulegen. Für Rechnung meiner Frau Ssosche stiftete ich einen seidenen Vorhang für den Thoraschrein; sie ist außerdem auch im Verein für die Ausstattung armer Bräute tätig. Der liebe Gott möge es ihr für ihr Seelenheil anrechnen! Mit der Ausbesserung des Bethauses ist man heute fertig geworden. Und ich habe dem Schuldiener strengstens verboten, jemanden ins Bethaus zum Übernachten einzulassen. Das Gotteshaus soll nicht mehr die Schlafstube für fremde Bettler sein. Der Schuldiener muß von nun an das Haus jeden Abend absperren …«

Reb Jojchenens Seele schrieb noch weiter, als in den Himmel eine andre Seele geflogen kam und in ihr Buch folgendes eintrug:

»Ich, Berl, Sohn der Judith, bin schon siebzig Jahre alt. Solange ich noch die Kraft dazu hatte, verdiente ich mein Brot durch meiner Hände Arbeit. Jetzt, da ich alt und schwach bin und nicht mehr arbeiten kann, muß ich bei fremden Leuten betteln. Anfangs ging es mir nicht schlecht. Die Leute kannten mich, und ich hatte immer zu essen. Doch mit der Zeit wurden sie meiner überdrüssig und gaben mir immer seltener Almosen. Oft schenkte man mir ein so trockenes Stück Brot, daß ich es mit meinen alten Zähnen gar nicht zerbeißen konnte. Ich sah ein, daß ich, wenn ich in meiner Stadt bleibe, Hungers sterben müsse. Darum verließ ich die Stadt und kam her. Es ist heute sehr kalt, und ich wollte ins Bethaus gehen, um da zu übernachten, wie es in allen jüdischen Städten Sitte ist. Doch der Schuldiener versperrte die Tür und ließ mich nicht hinein. Der Gabaj hätte ihm gesagt, er solle niemanden zur Nacht ins Bethaus einlassen; denn das Gotteshaus sei keine Herberge … Jetzt schlafe ich unter freiem Himmel, und die Kälte frißt das Mark meiner alten Knochen. Ich bin hungrig und friere … Nun frage ich dich, du Herr der Welt: Wer braucht das Bethaus nötiger: du oder ich

Und es erklang eine Stimme vom Himmel: »Beide sollen sofort vor dem höchsten Gerichtshofe erscheinen!«

Und am nächsten Morgen fand man tot: Reb Jojchenen den Gabaj in seinem Bette und einen alten Bettler erfroren auf der Straße neben dem Bethause …

Druck der Piererschen Hofbuchdruckerei, Altenburg.

(1) Kozk: Städtchen in Russisch-Polen; Belz: Städtchen in Galizien. An beiden Orten gab es berühmte Chassidim-Gemeinden, die sich heftig befehdeten.

(2) Haggodo: die Geschichte des Auszuges der Juden aus Ägypten, die an den beiden ersten Pessachabenden bei der Tafel verlesen wird.

(3) Drei Tage vor dem Neujahrsfeste, an denen die Juden vor Morgengrauen geweckt werden, um in den Bethäusern Selichos (Bußpsalmen) zu beten.

(4) Die zehn Tage zwischen Neujahr und Versöhnungstag, an denen das himmlische Gericht seine Beschlüsse für das kommende Jahr fällt.

(5) Ein Jude aus Litauen und Westrußland; er wird von den polnischen Juden als Rationalist und Gegner des chassidischen Wunderglaubens gern verspottet.

(6) Jeschiwo: freie Akademie für Talmudstudium und höheres jüdisches Wissen in osteuropäischen Ländern. – Rosch-Jeschiwo: Oberhaupt einer Jeschiwo.

(7) Schma Ißroel: »Höre, Israel«, das heiligste jüdische Gebet.

(8) Kittel: Totenhemd, das jeder Jude am Versöhnungstage während des Gottesdienstes trägt.

(9) Widderhorn, das am jüdischen Neujahrstage geblasen wird.

(10) Jüdischer Kleinkinderlehrer.

(11) Leviathan (aus dem Buche Hiob) und Schor-ha-Bor (ein Riesenstier der talmudischen Sage) sollen bei Messias' Ankunft von den Gerechten verzehrt werden.

(12) Kap. 1, V. 10.

(13) Misnagdim: Gegner der Chassidim sowie auch überhaupt alle Nicht-Chassidim.

(14) Zuname eines berühmten chassidischen Rebben.

(15) Feier des 13. Geburtstages: mit dreizehn Jahren erlangt der Jude religiöse Mündigkeit.

(16) Neïlo: Schlußgebet, wichtigstes Gebet am Versöhnungstage (Jom-Kippur).

(17) Mitglied des Gemeinde- oder Synagogenvorstandes.

(18) Es ist ein Gebot der Religion, sich vor dem Essen die Hände zu waschen.

Anmerkungen zur Transkription:

Im folgenden werden alle geänderten Textstellen angeführt, wobei jeweils zuerst die Stelle wie im Original, danach die geänderte Stelle steht.

Seite 17:
Aber Rabbi Levi-Jizchock steht, in Kittel(8) und Gebetmantel
Aber Rabbi Levi-Jizchok steht, in Kittel(8) und Gebetmantel
Seite 22:
er mir zuliebe am diesem Jom-Kippur auch die andern Sünden
er mir zuliebe an diesem Jom-Kippur auch die andern Sünden
Seite 28:
die das tun können. Wie kann man in derThora anfangen
die das tun können. Wie kann man in der Thora anfangen
Seite 31:
abläuft! Leider lief es aber nicht nach Wnnsch ab.
abläuft! Leider lief es aber nicht nach Wunsch ab.

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