Dort auf dem Hochpaß, wo der Waldweg vom freien, sonnigen Hügelland hinüber und abwärts in schattige Schluchten des Hochlandes führt, steht unter einer grauen, zerklüfteten Felswand ein hundertjähriger Lärchbaum.
Er steht einzeln auf einer kleinen umwaldeten Rasenweide. Sein knorriges Geäste strebt nach allen Seiten weit hinaus, als sei es in Wettstreit mit den sich unter dem Rasen hinschlängelnden hundertfältigen Wurzeln.
An der rauhen, vielfach zerklüfteten, harzigen Rinde des Stammes ist ein verwittertes Crucifix angebracht; es wächst schon Moos an den Armen und an der Brust des Gekreuzigten.
Auf dieses Crucifix richten sich die Augen eines Mannes, der im Baumschatten auf dem Rücken liegt, die rechte Hand als Kopfkissen gelegt, mit der linken einen Rosmarinstamm zerknitternd. Die Augen des Mannes sind groß und dunkel, auf seinen bleichen Wangen und Lippen liegt es wie ein schweres Leid. Der junge, schwarze Bart ist ungepflegt – über die langen Haare kriecht eine Kreuzspinne.
Der Mann gewahrt es, er hält den Rosmarinstamm gegen die Stirne und das Thier kriecht über denselben auf seine linke Hand. Diese zittert, es entfällt ihr die Pflanze. Das Thier krabbelt gegen den Elbogen und endlich auf die Brust.
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„Ein großes Glück kommt zu mir, denn eine Kreuzspinne sitzt mir am Herzen!“ murmelt der Mann und seine Brust wogt hoch auf.
Aber die Spinne krabbelte darüber hinaus und verkroch sich wieder im Grase.
Der Mann richtete sich etwas empor, strich sich die Locken aus der Stirne und that einen Blick gegen die Himmelsbläue und abwärts gegen das heitere Hügelland, wie es da lag im lichten Spätherbsttag.
Dort über die bewaldeten Anhöhen herauf und über die Felder und die Wiesenau war er gegangen. Hinter jenem bläulichen Waldstrich ragt eine funkelnde Nadel empor – die Thurmspitze des Städtchens.
Dort war der Wurzelgraber Martin heute gewesen, dort hatte er seine Wurzeln und Kräuter verkauft und einen guten Erlös eingezogen. Dort war heute Kirchweih und auf dem Kirchhof waren am Vormittag viele Menschen versammelt, an der Mauer des Pfarrhofes hatte ein junger Priester gepredigt. Er predigte von dem Frieden und von der Liebe – von dem Reiche Gottes auf Erden. Und dort im Städtchen war Lust und Musik an allen Ecken und Enden und beim „goldenen Rößl“ hatte Martin die Nothburga zum Tanze geführt, und dort hatten sie heute den Wegmacher Niklas erschlagen.
Niklas ging gestern mit Martin über das Gebirge, auf daß er heute im lustigen Städtchen seinen zwanzigsten Geburtstag feiere; – jetzt liegt er starr und einsam beim Wirth in der Scheune und hat über der Stirne eine lange Wunde. Vom Tanzboden klingen Pfeifen und Geigen und Jauchzer und Jodler herüber, dort winden und flechten sich die Reigen, Herzen an Herzen – sie leben und sind fröhlich.
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Es möge klingen und schallen und freudig sein – der junge Priester predigte vom Reiche Gottes auf Erden. –
All’ das ist für den Mann unter dem Lärchbaume nun vorbei und versunken, nur die funkelnde Nadel der Thurmspitze ragt noch empor über dem fernen, bläulichen Wald.
Niklas war Martin’s Freund und Nothburga’s Bruder; Nothburga war Martin’s – Freud und Leid.
Die Sonne sank hinter die Felsen, auf der Hochweide war es schattig, nur draußen auf dem Hügellande war es noch goldig und auf den weißen Straßen zogen Wagen und festlich geschmückte Menschen. Ueber einzelnen Gehöften wehten Fahnen des abendlichen Rauches und die Thurmspitze funkelte und funkelte, als wäre sie ein lebendiges Flämmlein, und weit draußen hinter all dem zog sich das bläulichgraue Band der Hochebene hin.
Viel Leben wogte und athmete da unten, aber kein Ton und kein Schall drang herauf zum einsamen Hochpaß. Nur ein gezogenes, gleichmäßiges Ticken zitterte in der Luft, das kam von der hölzernen Uhr der Waldkapelle, welche in der nahen, von jungem Dickicht bedeckten Schlucht stand. Die Uhr hatte vor zehn Jahren Martin’s Vater, der alte Veit, geschnitzt; es war sein letztes Werk.
Das erzähle ich, weil Martin wohl daran gedacht hatte, als er so da lag unter dem Lärchbaum und sein trübes Auge zum Kreuzbild wendete.
Jetzt erhob er sich, griff nach seinem grünen Filzhut und dann machte er einige rasche Bewegungen mit den Händen, daß er die Trägheit abschüttle.
Martin war ein schöner junger Mann in Alpentracht. Aber – wie die Natur schon oft spielt – er war ein Anderer als Andere. Es lag eine besondere Kraft in ihm – in seiner[S. 245] Seele. Er fühlte diese Kraft, aber er wußte nicht, wie sie in ihm entstanden war und was sie wollte. „Aus mir wär’ was geworden, wenn mich mein Vater in die Schul’ geschickt hätt’!“ Das sagte er oft und mit Bitterkeit. So wie er heute dalag unter dem Baum, so lag er oft, und da hatte er schwere tiefe Gedanken, wie sie sonst der Alpensohn nicht hat; er suchte nach der Kraft, die irgendwo in seiner Seele lag, wie nach einem Schatz, und er wollte sie heben. Sie lag drückend auf ihm, er rang mit ihr, aber er konnte sie nicht fassen, nicht lenken und leiten. – Dann hielt er oft seine beiden Hände lange vor die Stirne und rief aus: „Ich werde noch wahnsinnig!“
Oft war er schon ausgelacht und ausgespottet worden, und wenn er von Zeit zu Zeit gar Einen fragte: „Sag’, hast Du denn noch nie darüber nachgedacht, wie das ist, da sind so viele Millionen Menschen in der Welt und keiner ist glücklich? Ein klein wenig glücklich ist Mancher, aber Keiner ganz; bei Manchem fehlt gar nicht viel, aber es fehlt.“ Wenn er so fragte, so erhielt er die Antwort: „Narr, so schlaf’!“ oder: „Narr, so sauf’ Dir einen Rausch!“ – Und die so antworteten, waren noch nicht die Dümmsten.
Indeß, Martin schlief nur wenig und einen Rausch hatte er sich noch gar nie getrunken. Er zog nur im Gebirge umher und grub Wurzeln und Kräuter. Und wenn er sich auf einen Stein setzte, um auszuruhen, so kamen ihm immer wieder die Gedanken und er murmelte: „Es liegt wo – es muß wo liegen!“
Als sein Vater auf dem Todbett schwer danieder lag, stand er an demselben Tag und Nacht und that Alles, um ihn zu trösten und zu erquicken. Er war betrübt, aber er sagte: „Es muß einmal so sein und da kann Niemand dafür.“
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Und als sich Martin einst einen Splitter in den Arm gestoßen hatte und sich in Schmerzen wand Tag und Nacht, und als die Leute sagten: „Ach, der arme Wurzelgraber Martin, ’s ist zum Todterbarmen, wie der leiden muß!“ rief er aus: „Wer kann dafür? Deswegen fällt die Welt ja nicht zusammen und Euch hindert gar nichts, daß Ihr lustig seid!“
Später aber, als von einem blutigen Krieg, der draußen gewüthet hatte, die Krüppel heimhinkten, da stieß Martin einen Fluch aus: „... du Gotteskreuz in der Mörderhöhle! Dafür, daß diese jetzt ein unglückseliges Leben tragen müssen, die Bettler – dafür kann wohl Jemand! Das haben die Menschen angestiftet! – – Wo liegt denn das Mittel, daß sie Alle in Fried’ und Freud’ zusammen leben? Die Erde wäre doch groß und schön genug dazu und Liebe ist auch da, es käme nur darauf an, sie auf das Rechte zu lenken.“
Der Wurzelgraber ging einsame Wege.
Als Martin einmal an einem Sonntagsmorgen der Nothburga begegnete, die, das Gebetbuch und einen Blumenstrauß in der Hand, zur Kirche ging und ihn im Vorübergehen mit ihren blauen Augen heiter anblickte, da blieb er stehen, sah dem Mädchen nach und sagte zu sich: „In der könnte es liegen, in der!“
Seitdem sah er Nothburga oft, bis er einmal zu ihr hintrat und sie fragte: „Nothburga, hast Du mich so lieb wie alle anderen Menschen?“
Darauf sagte das Mädchen: „Du einfältiger Wurzelgraber, ich hätte Dich gar lieber, wenn...“
In diesem Augenblick flog hinter dem Gebüsch ein Wildhuhn auf und die Rede der Nothburga kam nicht zu Ende. –
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Heute zur Kirchweih waren sie unten im Städtchen und zusammen beim Tanz. Als Martin das Mädchen an die Brust drückend sich durch den Tanzboden wand, dachte er bei sich: Ich hätte es, jetzt mögen auch die Anderen schauen, daß sie fertig werden!
Da entstand im Vorhaus ein Streit zwischen mehreren Burschen wegen einer Tänzerin, er wuchs und wuchs, Wein und Eifersucht waren auch im Spiele, – ein schwerer Keil sauste hin und der Wegmacher Niklas, der Bruder Nothburga’s, taumelte und stürzte an der Treppe nieder. Sein Schwesterlein rief er noch, aber als dieses kam und seinen blutströmenden Kopf in die Arme faßte, da starrten es seine Augen wohl noch an, aber diese waren steif und bewegten sich nicht mehr.
Nothburga hatte einen frischen Rosmarinstamm an der Brust, den gab sie nun ihrem Tänzer Martin: „Da, nimm ihn, er ist nicht für mich – sie haben meinen Bruder erschlagen!“
Und Martin nahm ihn, ging fort aus dem Haus und aus dem Städtchen und über Thal und Hügel – immer aufwärts gegen den Hochpaß. Er war verwirrt.
Dort, unter dem Lärchbaum brach er erschöpft zusammen, als ob auch ihn ein Keil getroffen hätte, dann starrte er zum bemoosten, verwitterten Crucifix auf und flehte im Herzen: „Vater unser, zu uns komm’ Dein Reich!“
Dann zerknitterte er den Rosmarinstamm und dann kroch die Kreuzspinne über sein Haupt und zu seinem Herzen.
Es begann bereits zu dunkeln und vom Hügelland herauf zogen verlorene Klänge einer Gebetglocke.
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Martin brach sich vom Lärchgeäste einen Stock, schritt über den Paß und langsam abwärts gegen die Waldschlucht. Plötzlich stand er still und horchte. Ein Uhu krächzte. Der junge Mann schauerte und eilte schnell weiter durch den Hohlweg. Wieder blieb er stehen und that einen gebrochenen Aufschrei. Unten in der Schlucht sah er Lichter flimmern und diese bewegten sich und kamen des Weges entlang ihm entgegen.
Martin verbarg sich unter dem Hang, er zitterte und betete leise.
Und die Lichter kamen näher – ein Gemurmel zitterte durch die Abendstille. Menschen zogen den Hohlweg heran und einer unter ihnen trug auf dem Arm einen kleinen Sarg. Sie sprachen mit gedämpften Stimmen ein Gebet.
Den Letzten, der vorüber kam, fragte Martin, wer die kleine Leiche sei?
Sie war das Kind einer fremden Bettlerin, vor wenigen Stunden erst in einer Waldhütte geboren. Weil der Wurm starb, bevor man ihm Wasser auf das Haupt gegossen, hatte es kein ander’ Begräbniß.
Sie gruben nun in weichem Moosgrund ein Gräblein und legten das Kind der Bettlerin hinein. –
Martin eilte hinaus durch die Schlucht.
Das war heute ein wunderlicher Tag! – Wenn je ein Mensch das Reich Gottes auf Erden entdecken wollte, so müßte er so suchen und sehnen und forschen und verlangen wie der bleiche Bursche, der durch die dunkle Waldschlucht wandelt.
– Ein großes Glück kommt zu ihm – das Glück für alle Menschen, sonst ist es auch kein’s für den Einzigen, der es mit Allen gut meint.
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Nie noch rang Martin so mit seinen Gedanken und Gefühlen, als heute; in seinem Herzen glühte es, in seinem Kopfe glühte es. Heim eilte er in seine Hütte und als er die Thür fest hinter sich verschlossen hatte, zündete er einen Kienspan an.
Unter dem Tische der Hütte lagen ein paar Ballen von getrockneten Wurzeln und Kräutern. Diese hatte Martin gesammelt, untersucht und ausgeforscht, aber das, was er suchte und immer suchte, er fand es nicht unter den Gewächsen. Und doch soll ein Kräutlein wachsen auf Erden, in dem es ruht, tief verwahrt und verschlossen, das Heiligthum – denn es ist ja für Alles, für Alles ein Kräutlein gewachsen, nur nicht für den Tod. Unmittelbar neben dem Tisch war ein verworrenes Strohlager, fast zu breit und weit für einen einzigen Müden; es hat auch schon Nächte gegeben, wo dem Burschen auf demselben einsam war. Ueber diesem Bett hingen Heiligenbilder unter Glas und daneben war eine Bretterstelle, auf welcher große, dickbändige Bücher lagen und lehnten – Bücher mit seltsamen Worten und Zeichen aus alten Zeiten.
Martin war in stillen Sommertagen und in wüsten Winternächten oft stundenlang vor diesen Bänden gesessen und hatte geblättert und nachgesonnen über die Zeichen und Geheimnisse, doch keine Lösung und Erlösung hatte er gefunden.
Martin kannte ja keinen einzigen Buchstaben, das s ausgenommen, welches aussieht wie eine Ringelnatter unter den Tannen- und Fichtennadeln des Waldbodens.
Martin hatte gehört, daß ein Buch geschrieben worden sei auf Erden, in dem es ruhe, was er suchte.
Martin legte den Arm auf ein Buch, sein Kopf sank auf denselben nieder und er begann bitter zu weinen.
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So weint der ringende Menschengeist, dem das Wissen verschlossen und das Forschen verboten ist!
Endlich stieß Martin das vergilbte Buch in die Ecke, sprang auf, raffte nach Hut und Stab und verließ die Hütte.
Es war der Mond aufgegangen und im dunklen Waldesgrund lagen silberne Tafeln und Fäden und Punkte. Martin schritt darüber hinweg – in diesen bleichen Strahlen lag es doch nicht, was er suchte. Er hatte sie schon gefragt in stiller Mitternacht; er hatte die Sterne angerufen; hatte am Tag der Sonnwende aus dem Windröschen und dem Sesamkraut ein Feuer gemacht und durch den aufsteigenden Rauch in die Sonne geblickt – aber verschlossen blieben die Himmel. Und doch träumte ihm einmal, es gäbe ein Lichtlein im Weltenraum, und das Licht führe zum Heiligthum, das er suchte. –
Und siehe, als der Bursche so durch Wald und Hag dahinschritt, da sah er auf der Haide ein Lichtlein.
Er eilte ihm träumend zu. Eine Hütte stand dort; Martin sehnte sich nach Menschen.
Und als er zur Hütte kam, da fand er in derselben ein Weib einsam und verlassen auf einem Strohbund liegen; das schluchzte gar sehr, weil man ihm sein Kind fortgetragen hatte hinaus in ein fremdes Grab.
Martin setzte sich an die Thürschwelle.
Der Kranken that es wohl, daß ein Mensch bei ihr war, zu dem sie reden und klagen konnte.
Sie war ein armes Weib, war an der Seite ihres Mannes herumgezogen fast schon in der halben Welt; das Volk gab Brot und die Lebensluft dazu gab Gott. Vor einundzwanzig Jahre hatte sie ihrem Manne das erste Kind[S. 251] geboren und in zwei Jahren darauf auf geheimnißvolle Weise verloren. Der Knabe spielte am Wiesenraine, als sie vor dem Schloßthore eines reichen Mannes Lieder sang, und als sie ihn rief, kam er nicht, und als sie ihn suchte auf der Wiese, auf dem Felde, im Walde – in der halben Welt suchte, fand sie ihn nicht.
Er blieb verschollen bis auf den heutigen Tag; wer ihn fände, am linken Fuß fehlt ihm eine Zehe, das wäre das Wahrzeichen.
Ihr Mann war auch schon zur Ruhe gegangen. Aber bald nach dem Begräbniß des Gatten merkte sie das neue Leben unter dem Herzen; bangend und hoffend zog sie weiter und bettelte sich durch mancher Herren Länder. Hier in der Waldhütte übernachtend, kam die Stunde, das Weib gebar und verlor wieder, und Holz- und Köhlerleute trugen das Kind in den Wald und legten es in ein Grab.
„Und jetzt geh’ ich,“ schloß das Weib ihr Erzählen, „und singe, wo ich Witwen und Waisen finde, meine Gesänge.“
„Gutes Weib,“ entgegnete Martin, „wenn ich singen könnte, ich ging’ mit Euch, vielleicht läge das, was ich suche, im Singen.“
„Im Singen, lieber Mann, liegt Lust und Noth! – Ihr sucht ein glückliches Leben, ein Weib, eine Kinderschaar, ein friedliches Alter; o, bleibt daheim, das Alles liegt in Euren Bergen, bleibt daheim!“
„Daß Ihr mich versteht, Weib, ich suche nicht mein Glück, ich suche das Glück der ganzen Welt – das Reich Gottes auf Erden!“
„Das Reich Gottes auf Erden!“ rief die Bettlerin auflachend und sich emporrichtend, „ei, da sucht wieder einmal[S. 252] ein Blinder nach der Sonne, die ihn einst geblendet hat. – Glaubt das einer armen Bettlerin: das Weltglück, wir wissen nicht, wie es aussieht, darum ist alles Suchen vergebens.“
„Aber ich hab’ einen Priester predigen gehört, der sagte von einem Reiche Gottes auf Erden.“
„Es ist auf Erden, ja, und ich weiß auch wo: es ist in dem Herzen eines Kindes, das schlummert.“ –
Wer jetzt den Mond betrachtet hätte! Langsam zog er hinter ein Wölklein und statt der lichten, freundlichen Scheibe sah man am Himmel ein dunkles Herz mit silbernen Rändern. Und das Herz wurde ein scharfes Dreieck und zackte sich aus, – es wuchsen Arme und Glieder und diese streckten sich nach allen Seiten und – jetzt kroch über das dunkle Himmelsgewölbe eine riesige Spinne dahin.
Und wer jetzt in Martin’s Herz geblickt hätte!
Dort wurde ein Märchen wach, wie es einst in einer stürmischen Herbstnacht die Großmutter erzählt hatte. – Im Herzen des Kindes! – Ja, hier liegt ein Geheimniß, eine Zaubermacht – im Herzen des Kindes liegt Himmel und Glückseligkeit – Alles. Und darum hat jener Zauberer, von dem die Großmutter erzählte, ein Kindesherz geraubt und verzehrt sammt dem Geheimniß und der Macht, und er ist allmächtig geworden bis auf Eines. – Ei, dieses Eine – seinen eigenen Namen hat er vergessen und nicht mehr gefunden – er war namenlos. – Vielleicht auch das nicht, wenn er das Geheimniß zu Nutz und Frommen der Menschheit angewendet hätte. – –
Endlich, endlich gefunden, du bleicher Bursche – im Herzen des Kindes!
[S. 253]
Ach, Martin, das Märchen der Großmutter war lehrreich; der Zauberer war namenlos geworden, er hatte den Namen Mensch verloren, er hatte ja eine unmenschliche That begangen. Martin, und wie hast Du es so unglücklich falsch verstanden mit Deinem einfältigen Wesen!
Martin bebte, er hielt sich an dem Thürpfosten und wie im Lippenkampf preßte er die Worte hervor: „Auch im Herzen eines Kindes, das todt ist?“
„Auch in dem,“ sagte die Bettlerin.
Der Wurzelgraber erhob sich und ging über die Haide.
Der Mond stand wieder frei und klar am Himmel, als Martin mit einem kleinen Spaten, den er zum Ausgraben von Wurzeln und Kräutern zu verwenden pflegte, von dem Hochpaß, wo der Lärchbaum steht, niederstieg durch den jungen Wald gegen die Schlucht.
Es ist drückend zu erzählen, wie der Mann gekämpft hatte mit seiner Muthlosigkeit, mit seiner Gespensterfurcht, wie er die Stunde beschwor und sich einsegnete mit allen Kreuz- und Wunderzeichen.
Dort stand die Kapelle.
Der Mond war hinter die Felsen gezogen.
Behend und geräuschlos, wie sonst nie, eilte der Wurzelgraber. Plötzlich trat er auf lockeres Moos und sein Fuß stieß an ein Kreuzlein, das im Boden stak. „Hier!“ sagte er und kauerte sich nieder. Fester faßte er den Spaten in die Hand und noch einmal rief er alle guten Geister an. Aber in dem Augenblick, als er das Eisen in den Boden graben will, beginnt es auf dem Thurme der nahen Kapelle zu rasseln und zu klappern, als ob hundert Todtengerippe tanzten.
[S. 254]
Martin sprang auf und floh in das Gebüsch.
Das Geräusch währte eine Zeit fort und wiederhallte seltsam im Walde. Endlich war es wieder still.
Vielleicht ist das Uhrwerk abgelaufen, – kam es dem Wurzelgraber in den Sinn, aber er zitterte an allen Gliedern und die Kniee wollten ihm zusammenbrechen. Er beschloß nun, mit seinem Werk zu warten, bis der Tag anbreche.
So blieb er im Gebüsch versteckt, bis der erste Vogelsang wach wurde, bis es graute und sich lichtete und bis über den Ebenen das Morgenroth aufging.
Jetzt begab sich Martin wieder an die Stelle, wo das Kreuzlein stak. – Hier liegt das Kind der Bettlerin begraben ... Das Herz eines Kindes, das schlummert, – das Geheimniß, die Zaubermacht, das Reich Gottes.
Emsig warf Martin das Moos und die Erde aus, mit dem Spaten und mit allen Fingern grub er und endlich stieß er auf den kleinen Sarg.... Den scharfen Spaten stemmte er zwischen die Fugen – es krachte und der Deckel sprang ab.
Da lag es nun, in Lumpen, winzig und bleich und steif, das Menschenkindlein, zusammengekauert, die Händchen über die Brust gekreuzt, wie im Mutterschoß.
Leise rauschte es in den Blättern und Nadeln, auf allen Wipfeln sang und klang es – das Morgenroth strahlte in das Gräblein.
Martin’s Antlitz war fahl, seine großen Augen rollten unstet, zum erstenmal war es ihm, als sei das, was er nun begehen wolle, eine ungeheuerliche That.
Aber im Herzen des Kindes liegt es, und jener Zauberer nahm es heraus und wurde allmächtig! Und die Großmutter hatte die Geschichte so oft erzählt und im Gebirge wurde viel von derlei gesprochen.
[S. 255]
Im Beinkleid, am rechten Oberschenkel hatte der Wurzelgraber seine Messerscheide stecken. Nach dieser griff er nun und zog ein schmales, langes Messer hervor, wie es die Gebirgsbewohner als Taschenklinge bei sich tragen.
Als Martin die zarten Händchen der Leiche von der Brust wegziehen wollte, fiel es ihm ein, daß auch die Finger eines neugebornen Kindes etwas Wunderbares an sich haben. Diebe brauchen das; wenn sie in irgend einem Hause, wo sie sich zur Nachtzeit zum Raube eingeschlichen, so ein Fingerchen anzünden, so brennt das wie ein Kerzlein, und so lange es brennt wird kein Mensch im ganzen Hause wach.
Aber nein und nein, Martin war kein Dieb, er schauerte vom bloßen Gedanken; er wollte ja nichts sonst von der armseligen Leiche als das Herz, in dem das Reich Gottes liegt.
Zu diesem Zwecke nun schiebt er die steifen Händchen zurück. – –
Zwei Holzhauer, die von ihrer Hütte zum Tagewerk an der Kapelle vorüber kamen, fanden den Mann so.
Zuerst sahen sie ihm von der Ferne zu, wie er in der Grube kauerte und die Erde auswarf. Endlich erkannten sie den Martin und meinten, er grabe Wurzeln; aber so tief gräbt kein Wurzelgraber ein.
„Er hebt wohl gar einen Schatz!“ sagte Einer zum Andern.
„Wäre schon recht, dann müßte er mit uns theilen.“
Jetzt zog er das Messer aus der Scheide; die beiden Männer schlichen näher hinzu und da sahen sie neben dem Erdhaufen das Grabkreuzlein liegen.
„Heiliger Gott!“ lispelte einer der Holzknechte, „der scharrt ja ein Grab auf!“
„Dummes Zeug! Wer läg’ denn da begraben?“
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„Wohl gar das Bettlerkind, das sie gestern bestattet haben. Ich hör’ sie trugen es in den Wald. Doch, was wollt’ er damit? – Dieser Martin ist ein sonderbarer Mensch!“
„He, Martin!“ riefen sie laut, „was machst denn da?“
Dieser fuhr zusammen, lehnte sich dann über das Särglein und stotterte: „Ich? – machen? – Wurzelgraben.“
Aber die Holzhauer hatten es bemerkt, was hier vorging, und sie verständigten sich schnell, was nun zu thun sei.
Der Bursche wollte entfliehen, aber die Männer hielten ihn fest und sagten: „Martin, Du hast da was angestellt und jetzt kommst Du mit uns, wir treiben Dich in die Stadt.“
Da fiel Martin auf die Kniee und beschwor, daß er nichts Böses gewollt und gethan, er werde es schon sagen, warum er das Grab aufgescharrt – es sei vielleicht verboten gewesen, das sei ihm selbst so vorgekommen, aber er meine es nicht schlecht und sie möchten ihn nur machen lassen, es geschehe zu Aller Nutz und Frommen.
Aber die Holzknechte sagten: „Du bist ein schlechter Mensch, Martin, oder ein Narr, und Du mußt mit uns.“
Einer löste einen Strick von der Trage, auf der er den Lebensunterhalt für die Woche gepackt hatte, und wollte damit dem Wurzelgraber die Hände binden, allein dieser bat weinend, daß man ihm das nicht anthue, er gehe schon auch so mit wenn er Strafe verdient habe, so leide er sie auch.
Und nun führten sie den bleichen Burschen abwärts gegen das Städtchen.
Das Grab im Walde blieb einsam; es ging die Sonne auf und erhob sich über die Wipfel, und als die Mittagsstunde kam, schien sie auf das Särglein.
[S. 257]
Es war nach Tagen.
Martin saß traurig in einer Kammer und zählte die kleinen, sechseckigen Scheiben am Fenster. Die Kammer war wohl größer und wohnlicher wie seine Hütte daheim im Walde, aber die Thür war verschlossen.
Eine Kreuzspinne war ihm zum Herzen gekrochen – und nun saß er im Gefängniß!
Er mußte einen großen Fehler begangen haben, das war ihm jetzt klar, aber, wenn er nur beweisen könnte, daß er kein schlechter Mensch sei! Wenn doch nur die Thür nicht versperrt wäre, damit er zeigen könnte, daß er auch freiwillig bliebe und seine Strafe leide.
Ein Mann brachte ihm täglich Suppe, Gemüse und Brot, machte ihm das reinliche Strohbett, und als es einmal draußen regnete und der Wind im Hollunderstrauch vor dem Fenster schwirrte, feuerte er gar in den kleinen Blechofen. Es kamen die ersten Wintertage, wüster und heftiger schlug der Wind an das Fensterchen und pfiff schrill durch die Fugen; endlich wurde es ganz grau vor den Scheiben und Flocken tanzten und der Schneestaub legte sich in die Fensterwinkel. Da kam der Wärter öfter und machte Feuer in dem Ofen. Das kam dem Burschen liebreich vor, so arg mußten es denn die Menschen doch nicht haben auf ihn.
Und dennoch schlug Martin seine rauhen Hände oft heftig vor die Stirne und stampfte in Verzweiflung mit dem Fuß. – Wenn ein Mann im Gebirge arbeitet, tagtäglich von seiner Kindheit an arbeitet – und mit einemmale muß er ruhen und unthätig sein, müßig bei gesunden Gliedern, muß dasitzen zwischen den Mauern, und draußen harret die Arbeit – das ist eine Pein für den an Thätigkeit gewöhnten Mann.
[S. 258]
Martin litt diese Folter.
Sein ganzes Wesen ging dahin, daß er wieder daheim auf seinen Höhen sei, dort wolle er arbeiten und graben und seine Hütte vergrößern, und Nothburga zum Weib nehmen. Alle Welt möge gehen, wie sie geht, sie sei des Glückes nicht werth.
Einmal bat Martin den Wärter, dieser möge ihm Stroh bringen, er wolle Strohschuhe flechten, aber der Wärter brachte ihm keinen Halm. Da weinte der Bursche und klagte: „Das thun sie mir zur Pein an; mir wär’ es tausendmal lieber, sie gäben mir nur Brot und Wasser, aber Arbeit dazu!“
Eines Tages wurde es anders. Ein Gerichtsdiener trat mit dem Gefangenenwärter ein und befahl dem Wurzelgraber, daß er folge. Martin that es freudig, denn nun durfte er wohl wieder heim in seine Wälder. Aber in der Vorhalle nahm der Gerichtsdiener ein Kettenschloß vom Gesimse und legte es dem armen Burschen an die Hände. So führte man ihn in das Freie, wo es so blendend weiß und licht war, und wo doch der düstere Winter lag. Sie führten ihn durch einige Gassen der Stadt und über den Marktplatz. Menschen drängten sich heran, daß schier der Weg versperrt wurde, aus allen Fenstern sahen Leute und Viele zeigten mit Fingern auf den Wurzelgraber und riefen: „Dort geht er, das ist der Leichenräuber!“
Leichenräuber! – In seinem Leben war dem unglücklichen Aepler kein plötzliches Leid so zu Herzen gedrungen, als dieses schreckliche Wort. Jetzt erst ging ihm das Licht auf und sein Todesurtheil hatte er jetzt gehört. Nun war Martin überzeugt, daß dieser Gang in Ketten sonst nirgends hinführe, als hinaus vor die Stadt zum Hochgerichte.
[S. 259]
Er wäre zusammengebrochen mitten auf dem Marktplatz – aber der Gefängnißwärter stützte ihn.
Sie kamen am Hause vorüber, wo Martin vor wenigen Tagen mit Nothburga getanzt hatte, wo sie den Niklas erschlugen. Ach, das war ein unheilvoller Tag und eine unglückselige Nacht!
Ja wohl, unglückselig, wenn Einer das Reich Gottes sucht und er findet das Hochgericht!
Ein Wegweiser ist geschrieben und aufgerichtet, aber gar Mancher hat ihn übersehen und Mancher kann ihn nicht lesen und deuten und geht den Weg des Verderbens! –
Endlich führten sie den Wurzelgraber in ein Haus und über eine breite, steinerne Treppe in einen großen Saal. Der Saal war durch ein Eisengeländer in zwei Räume abgetheilt. In einem dieser Räume standen und drängten viele Menschen, in dem andern saßen an einem langen, grünen Tisch ernste Männer in dunkler Kleidung. Einige Fenster des Saales waren durch Vorhänge verhüllt. Auf dem grünen Tisch stand zwischen zwei brennenden Wachskerzen ein Crucifix. Vor dem Tisch war ein einzeln dastehender Stuhl ohne Lehne. Zu diesem Stuhle wurde Martin geführt und dort nahm ihm der Gerichtsdiener das Schloß von den Händen.
So stand er da, der bleiche Bursche mit den großen, dunklen Augen, den wirren Haaren und dem ungepflegten Bartanflug. Das Zittern seiner Mundwinkel verkündete einen unendlichen Schmerz und das Auge flehte die Männer in dunkler Kleidung an, daß sie diesen Schmerz von ihm nehmen möchten.
Aber die Richter blieben kalt, nur sagten sie zu einander: „Noch so jung, noch so jung!“
[S. 260]
Da lag ein Stoß von Papierblättern und auf diesen stand Alles geschrieben. Der gerichtliche Befund der kleinen Leiche, die Aussage der beiden Holzhauer, wie sie ihn an jenem Morgen an der Waldkapelle neben der Leiche trafen, von dem Wahne des Mannes, das Reich Gottes zu suchen, und von noch Anderem stand auf den Blättern. Da wurde jetzt aus diesen vorgelesen, dann wurde gesprochen, und es sprachen Einzelne und sie sprachen durcheinander, laut und leise, und Martin stand da und verstand von Allem kaum ein Wort.
„Wie alt ist Er jetzt – Er?“ fragte der Vorsitzende plötzlich, „hört Er nicht, ich frag’ wie alt?“
Der Wurzelgraber schrak aus seinem Brüten auf. „Wie alt,“ stotterte er, „das weiß ich gar nicht recht, ich soll in die Welt gekommen sein in dem Jahr, wie der große Sturmwind gewesen ist.“
„Hat Er noch Eltern?“
Martin schüttelte den Kopf.
„Nicht also?“
„Meine Mutter hab’ ich nicht gekannt und meinen Vater hat vor zehn Jahren der Brand umgebracht.“
„Was hat Er denn immer gemacht?“ fragte der Richter.
„Was wird Unsereiner auch machen! Mein Vater hat mir nichts lernen lassen können, nur die Wurzeln und Kräuter hat er mir angesagt, und sobald ich stark genug gewesen, bin ich das Wurzelgraben angegangen.“
„Kann Er davon leben?“
„Das just wohl!“
„Ist Er militärpflichtig? – Ich meine, ob Er sich schon einmal hat stellen müssen?“
„Ja, ich war wohl einmal, aber da haben sie mich wieder heimgehen lassen.“ –
[S. 261]
So ging es fort. Oft war Martin verwirrt und antwortete gar nicht, und als das Verhör zur betreffenden That an der Waldkapelle kam, zitterte er und rief: „Ja, ich hab’s gethan, aber ich hab’s nicht schlecht gemeint.“
Endlich fragte man ihn gar nicht mehr und der Staatsanwalt stellte den Antrag: schweren Kerker auf zehn Jahre!
Da stand ein Mann mit langem, braunem Vollbart auf, der abgesondert an einem Tischchen saß und bisher nur wenig gesprochen hatte. Dieser hielt nun eine lange Rede. Er legte noch einmal den Thatbestand dar, sprach dann von dem unbescholtenen Vorleben, von der nichtigen Erziehung, der Erscheinung und den Verhältnissen des Wurzelgrabers und schloß endlich seine Rede:
„Wir haben, meine Herren, keinen Verbrecher vor uns, sondern ein unglückliches Opfer des Aberglaubens, das wir wohl tief bedauern, aber nicht richten können. Wir Alle, die wir uns heutzutag’ der Humanität und Bildung, des lichteren Geisteslebens erfreuen, ständen ohne Erziehung und Schule auf der Stufe, auf welcher unser Angeklagter steht. Der Unglückliche hier wäre durch eine entsprechende Ausbildung ein herrlicher Mensch geworden, edler und besser vielleicht, als einer. Der Mann hier trägt viel Menschenliebe im Herzen, das zeigt sein Streben, ein Weltbeglücker werden zu wollen. – Wer unter uns hat als begeisterter Junge in den Studentenjahren diesen Wahn nicht getheilt, freilich mit weniger Consequenz, weil wir bald sahen, daß es ein Ideal ist und unter den leidenschaftsvollen Menschen auf Erden nicht verwirklicht werden kann. Diese Aufklärung aber in dem Sinne ist unserem Manne hier nicht geworden, weil er keine Ausbildung und keine Lebensschule genoß, und so hielt er starr und fest an dem Wahne und verfolgte sein ideales Ziel[S. 262] mit Aufopferung seines eigenen Wohles. – Dazu kam der Aberglaube. Auch wir haben als Kinder Fabeln und Märchen geglaubt und würden sie noch glauben, wenn wir nicht durch ein Aeußerliches, durch die Schule und die Erfahrung eines Anderen überzeugt worden wären, denn die eigene Vernunft arbeitet sich aus dergleichen gar schwer heraus. Der Mann aber ist nicht durch ein Aeußeres eines Anderen überzeugt worden, im Gegentheile, seine Umgebung hat den Aberglauben in ihm nur noch mehr bestärkt und bestätigt. – Sie geben mir zu, meine Herren, daß ein Verbrechen, wie Mord, Brandlegung u. s. w., von einem Ungebildeten aus Aberglauben begangen, nicht so schwer in die Wagschale fällt, als wenn dasselbe von einem Gebildeten aus Haß und Rache verübt wird. Nun ist aber der gegenwärtige Fall kein Mord und keine Brandlegung, er ist kein Akt des Hasses und der Rache, nicht einmal der Eigenliebe. An einem Todten hat sich der Angeklagte vergriffen, in dem Wahne, den Lebendigen das Glück zu geben. Wollen Sie das, meine Herren, sühnen, wie ein Verbrechen? Wohl heißt es: Laßt die Todten ruhen! Aber machen Sie einmal dem anatomischen Kabinet einen Besuch, dort wird die sogenannte Ruhe auch gestört und entehrt – die Todten werden zergliedert, zerstückt – zum Vortheile der Lebendigen. – Ich behaupte nicht, daß es kein Verbrechen ist, die Gräber zu öffnen; es ist Leichenschändung und Leichenraub geschehen, diesen die vollste Strenge des Gesetzes! Der gegenwärtige Fall ist ein anderer und in Bezug auf das bereits Gesagte zu entschuldigen. – Erwägen Sie den Fall noch einmal, meine Herren, und erwägen Sie meine Worte, die ich aus der Tiefe meines Herzens für den unglücklichen Mann hier gesprochen habe. Richten Sie über das Vergehen eines Verirrten nicht, wie über ein Verbrechen.[S. 263] Die hier in Verhandlung stehende That ist nichts als ein unwissentliches Vergehen gegen die Sitte; betrachten Sie dieselbe als solches, meine Herren, und lassen Sie den armen Mann nun gewitzigt sein und heimziehen in seine Berge!“
Nach dieser Rede war es still im ganzen Saale. In Martin’s Auge hing eine große Thräne; er stürzte hin vor den Vertheidiger, umschlang seine Füße und rief: „Der ist mein einziger Freund in der Welt!“
Aber dieser wehrte kühl ab und ohne noch ein Wort zu sagen, setzte er sich an seinen Tisch. –
Die Richter erhoben sich von ihren Sitzen und traten in ein Nebenkabinet.
Der Staatsanwalt und der Vertheidiger, die sich anscheinend eben feindlich gegenüber standen, gingen jetzt zusammen und plauderten in einer Fensternische. Das Volk war unruhig und erging sich in Muthmaßungen über das zu erwartende Urtheil. Die Kerzen brannten matt und ruhig neben dem Kreuzbild und Martin saß auf seinem Schemel und starrte zu Boden.
Endlich, nach einer geraumen Zeit öffnete sich die Thür des Kabinets, die Richter traten heraus und der Vorsitzende verkündete das Urtheil.
Da Sturm und heftiges Schneegestöber wütheten, so wurde dem Wurzelgraber gesagt, er könne noch einen Tag in dem Hause bleiben, in welchem er in der Untersuchungshaft war, und man wies ihm eine wohnliche Stube an. Ein Mann brachte auch Stroh und Bindwerk in die Stube, daß er, wenn er wolle, Strohschuhe flechten könne. Aber Martin ließ das stehen, er sah immer nur durch das Fenster in das[S. 264] grau verschwommene Wehen und Wogen des Schneegestöbers hinaus. Das Fenster hatte kein Gitter, die Thür war nicht verschlossen, der Ofen war warm. Er war kein Gefangener, er war Gast und morgen lichtet sich der Himmel und es geht heim zu.
– Aber wenn doch eine Schuld in dir läge, Martin, und wenn sie dich morgen von dieser Stube wieder in den Kerker führten? – Daheim steht deine Hütte, daheim harrt Nothburga; die Hütte ist verlassen, Nothburga denkt deiner in Lieb’ und Schmerzen. Und all die Menschen halten dich für einen Missethäter! Wer soll da noch säumen eine ganze lange Nacht, wer soll da nicht heim und wenn Spieße vom Himmel fielen? –
So sann Martin, als er durch das Fenster sah.
Und als es zu dämmern begann, da hielt es der Bursche nicht mehr aus, fest zu knöpfte er seinen Rock, tief in die Stirne drückte er seinen Hut, dann schlich er fort aus der Stube, aus dem Hause wie ein Dieb.
Die Gassen des Städtchens waren leer, überall lag hoher, lockerer Schnee, ein schneidender Wind wehte dem Dahineilenden Flocken und Eisnadeln in das Gesicht. Aus den Fenstern strahlten Kaminfeuer und Abendlichter, Martin eilte davon, so gut es ging. Außerhalb des Städtchens war bald kein Weg und kein Steg mehr zu erkennen, aber der Wurzelgraber schritt rüstig über den Schneeboden dahin, gleichgiltig, ob auf Weg oder Feld oder Haide, die Richtung wußte er ja und er wußte auch wohin.
Stundenlang irrte er durch die Gegend und er kam nicht weiter; noch die Mitternachtsstunde hörte er von der Thurmuhr des Städtchens schlagen. Aber Martin war muthig, es ging ja heimwärts. Endlich kam er zum Wald und auf[S. 265] demselben lag ein Schneegewölbe und das gab einigen Schutz gegen den Sturm. Freilich war es gar finster unter den Aesten und die Wipfel rauschten unheimlich und hie und da fielen Schneeklumpen zu Boden, aber Martin achtete das nicht, er war ein Sohn des Waldes und hatte so manchen unwirthlichen Winterabend im Freien zugebracht. So ging’s fort zwischen den Stämmen und Sträuchern über Stock und Wall. Plötzlich aber kreischte Martin auf und sank fast in den Boden.
An seinem rechten Arm hatte ihn eine Hand gefaßt.
„Ei, das ist wohl gar der Leichenräuber!“ rief eine Stimme.
Eine männliche Gestalt stand vor ihm – wie aus der Erde aufgetaucht war sie gekommen.
„Beruhige Dich, Bruder,“ lachte die Gestalt, „ich kenne ja Deine Geschichte und ich weiß, daß Du unschuldig bist. Steh’ auf, Narr, wir halten uns zusammen, daß wir aus dieser Mördergrube kommen, ich hab’ Frost und Hunger. Wir wollen einander beistehen, wir haben das gleiche Geschick. Solltest Du mich noch nicht gesehen haben, so sage ich Dir, daß wir die letzten Wochen her in einem Hause gewohnt haben. Ich ließ mir von Dir erzählen und hätte nur gewünscht, mit Dir zusammen zu wohnen. Ich bin ein ehrlicher Kerl und unschuldig haben sie mich hingehalten, alberner Händel wegen, an denen ich mich gar nicht betheiligt habe. Erst in den letzten Tagen kam meine Unschuld an’s Licht und man ließ mich frei. Jetzt freilassen, jetzt zur rauhen Winterszeit! Was soll ich anfangen, ich bin nicht von hier und ich habe keinen Erwerb. Kaum die nöthige Kleidung habe ich, so daß sie mich im Zwilchrock fortgehen ließen. Was soll’s nun werden mit mir, wenn ich nicht gute Menschen finde!“
[S. 266]
Wie diese Worte mit Lachen begonnen hatten, so hörten sie mit Weinen auf.
Martin hatte sich von seinem Schreck erholt – das war ja kein Bösewicht, der ihn überfallen wollte – ein armer Nothleidender war’s, ein Hungernder, ein Frierender. Brot hatte der Wurzelgraber keines, aber einen dichten Lodenrock, und den bot er dem Fremden bereitwillig an.
„’s ist eine Gewissenlosigkeit,“ sagte dieser, „wenn ich von Dir Rock und Hut nehme, aber wenn mir der Frost nicht schon bis an’s Herz ginge und wenn ich nicht wüßte, daß Deine Güte zu mir aus wahrer, christlicher Liebe kommt, so würde ich die Kleider nicht annehmen.“
Der Fremde nahm Martin’s Rock und Hut und warf dem Wurzelgraber die leichte Zwilchjacke und die Wollenhaube dafür hin, wie er sie aus dem Arrest mitgebracht hatte. Martin zog diese Kleider ruhig an, dann lud er den Fremden ein, daß er mit ihm gehen möge, er kenne die Gegend, er führe ihn aus dem Wald und in eine Herberge. So gingen sie weiter, Beide sprachen wenig. Ueber ihren Häuptern krachten die Aeste, einzelne brachen sogar und stürzten rauschend nieder.
Endlich kamen sie auf einen freien Platz, der mitten im Walde lag. Der Sturm hatte ein wenig nachgelassen, es war der Mond aufgegangen und er senkte sein Halblicht durch das graue Gewölke, das über den Baumwipfeln dahinjagte.
Der Fremde zog den Lodenrock eng zusammen und lehnte sich an einen Baum, er war erschöpft. Der Mond schien einen Moment in sein Gesicht, das war noch jung, aber sehr bleich. Martin stand neben seinem Gefährten und hauchte sich in die Hände.
[S. 267]
Plötzlich horchte der Mann am Baume auf. Von der entgegengesetzten Seite des Angers war es zu hören, wie Pferdetraben.
Martin fiel wieder in Angst, aber der Fremde murmelte in sich hinein: „Geköpft wie gehangen, ein Teufel!“
Das Pferd trabte langsam heran, auf demselben saß eine von Schnee halb eingehüllte Gestalt.
– Da reitet ein nächtlicher Wanderer durch den Wald – das geht sehr langsam, das Roß ist müde, der Reiter schläft wohl gar.
Der Mann am Baume lauerte. „Sieh’ einmal,“ sagte er dann leise zu Martin, „ist das ein Leichtsinn von dem Mann, jetzt schläft er auf dem Pferd und erfriert. Man muß ihm beistehen und wecken, doch früher müssen wir sehen, mit wem wir’s zu thun haben. Jetzt, wenn das Pferd ganz nahe gekommen sein wird, so fasse Du es vorsichtig beim Zügel, ich werde den Mann wecken, daß er doch nicht erstarrt.“
Und als das Pferd ganz nahe war, faßte es Martin am Zügel und in demselben Augenblick stürzte sein Gefährte herbei und riß den Reiter nach rückwärts zu Boden.
Ein Hilferuf, ein Pistolenschuß, ein Aufschrei. Zwei Männer lagen im Schnee und rangen, ein Dritter lag in seinem Blute. Das Pferd wieherte, schlug aus und herum in einem weiten Halbkreis lief es, daß der Schnee hoch aufstaubte und der Boden dröhnte.
Endlich gelang es einem der Ringenden sich aufzuraffen, den andern von sich zu schleudern, sich auf das Pferd zu schwingen und im vollsten Galopp davon zu rennen.
Auch der Zweite erhob sich, schüttelte den Schnee von Kleidung und Bart, sah dann dem dahin eilenden Pferde nach und schüttelte den Kopf. „’s ist ein Glück, daß mich der[S. 268] Hallunke nicht erwürgt hat,“ brummte er, „das Knie preßte er mir lang’ genug in den Hals. Die Uhr mag er denn haben und mein Brauner, der wird mir schon wieder kommen. – Ach Gott, da hab’ ich ja Einen erschossen!“ rief er aus, als er unseren Martin auf dem Boden liegen und sich winden sah.
„Gerade durch’s Bein,“ wimmerte Martin, „und jetzt kann ich gar nicht weiter!“
„Du Allmacht, das ist ja der Wurzelgraber Martin!“ sagte der beraubte Mann, „aber wie kommst Du doch um des Himmels Willen unter die Straßenräuber?“
Der Arme jammerte und that den lauten zitternden Ruf: „Jetzt, was ist geschehen?“
Der Andere stand einen Moment sinnend da. „Martin,“ sagte er dann gedämpft, „steht’s so mit Dir? Nein, wenn ich gewußt, daß Du es bist, ich hätte nicht geschossen, aber sei nur ruhig, ich werde Dir das Blei schon wieder herausziehen. Mit dem Verbinden aber müssen wir’s schnell machen, dann nehm’ ich Dich mit hinaus in das Dorf.“
„Nein, in’s Dorf nicht, wenn ich Euch bitten darf, tragt mich hinein in die Stadt zum Gericht, sie werden Euch’s lohnen!“
„Zum Gericht später, jetzt komm’, ich trag’ Dich schon in’s rechte Haus.“
„Aber, ich weiß nicht, wie das ist; seid Ihr angefallen worden? Zuletzt ist wohl gar – ach, ich weiß nicht und ich versteh’s nicht – Jesus, ich bin wahnsinnig geworden!“
„Ruhig, wir müssen eilen, Dein Blut fließt in den Schnee und in Hochdorf liegt Jemand in Sterbensnoth!“
Als dieser Mann dem Unglücklichen das rechte, verwundete Bein verbunden hatte, hüllte er ihn in seinen Mantel, faßte ihn auf den Rücken und trug ihn durch den Wald.
[S. 269]
„Ihr seid gar der Arzt von Dernau?“ fragte Martin unterwegs einmal.
„Ja, Martin.“
„Dann kenn’ ich Euch. Aber das werdet Ihr Euch von dem Martin nicht gedacht haben, das! Doch bei Gottes Kreuz und Leiden, ich hab’s nicht gewußt und nicht gewollt – –“
Er sprach nicht weiter; so heftig war der Schmerz, den er litt, daß er kaum die Kraft hatte, sich an dem Nacken seines Trägers festzuhalten.
Bergauf und thalab ging’s, über Hügel und durch Schluchten; kaum daß der Arzt in Nacht und Schnee den unsichern Fußsteig traf. Auf den Anhöhen hatte der Sturm Bäume geknickt, und man konnte es von nah’ und ferne noch hören, wie sie zusammenbrachen. In den Schluchten lag tiefer Schnee und die Aeste der Bäume drückte er nieder, daß sie den Wandelnden mit seiner Last oft und oft den Weg versperrten. Der Wolfswald ist eine unwirthliche Gegend, die Leute gehen nicht gerne durch denselben in solchen Stunden. Nur der Arzt von Dernau, der fast täglich in’s Hochdorfer Armenhaus jenseits des Waldes muß, hat den nächtlichen Ritt schon unzählige Male gemacht; freilich das, wie heute, ist ihm früher noch nie begegnet.
Der Arzt stand oft still und stellte seine Last auf einen Baumstock, dann trocknete er sich die Stirne. Es war ihm heiß trotz des eisigen Schneewehens.
„Ihr richtet Euch zugrunde!“ sagte Martin einmal leise, „lehnt mich da unter die Tanne und wenn Ihr nach Hochdorf kommt, so schickt mir ein paar Männer herüber, ich werde derweilen nicht erfrieren.“
„Martin, da würdest Du sehr krank werden!“ entgegnete der Arzt und schleppte seine Last weiter und weiter. Er zwang[S. 270] und kämpfte sich über Gestock, Gefälle und zusammengewehten Schnee und erreichte endlich die Lichtung, wo die Felder beginnen.
Und als er über die Felder hinschritt, da wurde es im östlichen Gewölke lichtgrau und auf dem Boden, wo der Wind den Schnee weggefegt hatte, sah man immer deutlicher die Steine und Halme. Und wenn Wind und Schneewehen für Augenblicke ruhig waren, so konnte man vor sich im Thale einzelne Lichter sehen und das Geklapper des Korndreschens vernehmen.
Als der Arzt gegen das Dorf kam, begegneten ihm Männer mit Aexten und Sägen.
„Grüß Gott, Doctor! heut’ zu Fuß?“ sagten Einige und hoben ein wenig ihre hohen Filzhüte.
„Dank Euch Gott!“ entgegnete der Mann, „geht schon in’s Holz?“
„’s wird wohl sein. Du heiliger Josef, was schleppt Ihr denn auf Euerem Rücken daher?“
„’s ist ein Kranker aus dem Walde,“ sagte der Arzt und schritt langsam weiter.
Warum hat er’s den Leuten nicht alles erzählt, daß sie den Räuber verfolgt hätten? – Der Mann kannte sein Pferd.
Im Dorfe selbst begegnete ihm Niemand. In einigen Bauernhäusern hatte man Licht in der Stube, in anderen war es dunkel. Hie und da krähte ein Hahn.
Der Wind hatte nachgelassen, aber Schneeflocken fielen nieder und legten sich dicht und dichter auf die Strohdächer auf alle Pfähle, Brunnentröge und Zaunstangen. Und was sich an den Rücken des mühsam einherschreitenden Mannes schmiegte – kaum war es unter dem Schnee mehr zu erkennen, was es war.
[S. 271]
Endlich, gegen Ende des Dorfes, etwas abseits vom Weg, stand ein altes Gebäude aus Stein mit Erker und Thürmchen. Das Dach stand an einzelnen Stellen weit hervor, die Fenster waren groß, aber vergittert. Ueber dem weiten, doch geschlossenen Thor an der Mauer war ein Gemälde, den barmherzigen Samariter darstellend, wie er den unter Straßenräuber gefallenen Mann auf die Schulter ladet.
Diesem Hause ging der Arzt zu und zog am Eingange die Glockenstange.
Bald öffnete sich das Thor und die Schließerin, ein altes Mütterchen, streckte dem Ankömmling die Hand entgegen: „Gott sei Dank, weil Ihr doch endlich nur da seid!“
„Gibt’s was?“
„Ach sonst nichts, aber –“
„Was macht die Kranke?“
„Mein, die ist rechtschaffen passabel, seit Mitternacht hat sie einen guten Schlaf; aber Ihr, was ist Euch denn geschehen? Nein, dieser Schreck, da kommt das Roß allein...“
„Das Roß? Mein Pferd ist gekommen?“
„Jesus Christus, wer hockt Euch denn auf dem Nacken, Doctor?“
„Laßt mich nur erst in die warme Stube und richtet Eis,“ sagte der Arzt.
Jetzt kamen auch andere Leute herbei, Männer, Frauen, theilweise in Binden und an Krücken. Alle schrieen: „Nu schaut’s, da ist er ja; Gott sei Lob und Preis, weil er nur da ist!“ –
Und als der Mann im Zimmer war, ließ er seine Last auf ein Ledersofa gleiten und sagte: „So, Martin, jetzt sind wir daheim. Schau, für dieses Haus hast Du mir oft die Wurzeln und Kräuter gesammelt. Wie ist Dir, hast Du großen Schmerz?“
[S. 272]
Martin zitterte und der Arzt nahm ihm den schneeigen Mantel und die nasse Zwilchjacke ab, dann rief er in ein Nebenzimmer, daß man frische Decken und ein Glas Wasser bringe.
„Aber,“ murmelte Martin, „das war doch ein höllischer Lump! Meinen Rock hat er auch!“ Dann nahm er einen Schluck Wasser.
Später sagte er zum Arzt: „Da habt Ihr mich jetzt so weit hergetragen und seid doch um zwanzig Jahr’ älter als ich.“
Und der Morgen, der durch die Fenster strahlte, zeigte es, der Arzt hatte viele graue Haare auf dem Haupte und im Vollbart; sein Gesicht war etwas durchfurcht und sehr gebräunt, und wenn er sprach oder lächelte, so lag auf demselben ein Zug – eigen und merkwürdig – eine wunderbare Handschrift der Seele. Die Gestalt des Mannes war groß und trug ein bequemes Winterkleid aus grauem Loden. Der Nacken war etwas gebeugt – wohl noch von der Last, die er in’s Asyl getragen! –
Im hohen, geräumigen, etwas alterthümlich eingerichteten Zimmer stand ein brauner Kasten. Diesen öffnete nun der Arzt und zog eine Lade heraus, in welcher viele Instrumente aus Messing und Stahl und verschiedene andere Gegenstände waren. Dann verlangte er von den zu- und abgehenden Personen noch dies und das und nahm hierauf dem Wurzelgraber die Binde ab, schnitt das Beinkleid auf und untersuchte, wie es mit dem Fuße aussah, welche Verheerungen sein Schrotschuß angerichtet hatte.
„Drei Körner stecken d’rin, Martin, aber wir werden sie schon heraus kriegen; ein wenig schmerzen wird’s wohl, aber ’s ist gleich vorüber.“
[S. 273]
„Schmerzen, meint der Herr? Nein, wenn ich an Anderes denke, schmerzt sonst gar nichts. Ich thu’ Euch’s nur früher erzählen, wie’s gekommen ist, Doctor!“
„Hernach, hernach, lieber Freund, jetzt ist hohe Zeit, daß wir daran gehen.“
„Werdet das wohl selbst am besten verstehen, aber wenn’s nun so gäh mit mir sollt’ gar werden! – Ich will’s doch früher erzählen.“
„Wirst mir noch Alles erzählen, Martin, aber jetzt mußt Du ruhig sein.“
„So glaubt mir doch, daß ich Euch nicht angefallen hab’. Ich weiß gar nicht, wie das gewesen ist.“
Der Arzt reichte dem Wurzelgraber die Hand, dann begann er die Operation.
Sie war lang und mühvoll. Martin klammerte seine linke Hand krampfhaft an die Lehne des Sofas und die rechte hatte sich tief in seine Locken eingegraben. So lag er da, starr und ruhig – er bebte nicht, er klagte nicht; nur einmal, als das Eisen im Beine krachte, zuckten seine Lippen, aber dann drückte er sie fest zusammen, bis Alles vorüber war und der Arzt sagte: „Jetzt, mein Lieber, wird’s gewonnen sein; hast Dich brav dabei gehalten. Jetzt wirst Du eine Suppe essen und dann schau, daß Du einschlafen kannst, bis Mittag komm’ ich wieder zu Dir.“
Nach diesen Worten ging er und schrieb einen Brief an das Kreisgericht, den er sogleich durch einen eigenen Boten absandte.
„Schläft sie immer noch?“ fragte später der Doctor.
„Vor einer halben Stunde hat sie die Augen aufgeschlagen und nach Euch gefragt,“ berichtete die Wärterin,[S. 274] „seitdem schläft sie wieder. Aber jetzt sagt uns doch, das Roß hat Euch wohl abgeworfen? Gerade wie der Tag anbricht, kommt es allein in den Hof, es ist halb wild und der Peter mag’s völlig nicht in den Sattel bringen.“
Sofort erzählte der Doctor, wie er gestern im Laufe des Nachmittags dringende Krankenbesuche gehabt habe, wie er erst am Abend nach Dernau kam, dort ein paar Stunden ruhte, und wie er gegen Mitternacht aufbrach, um nach Hochdorf zu reiten, der Kranken wegen, die in der Krisis liegt. – Wie er nun im Schneesturm, fest in den Mantel gehüllt, durch den Wolfswald so dahin traben läßt, dabei schier einschlummert, bleibt das Pferd plötzlich stehen und er wird nach rückwärts zu Boden gerissen. Noch schießt er sein Pistol gegen eine Gestalt ab, aber schon drückt ihn ein Mann fest in den Schnee, entreißt ihm die Börse und die Uhr und flieht mit dem Pferde davon. Erst jetzt gewahrt der Beraubte den Verwundeten, den Martin, der vor einiger Zeit wegen einer sonderbaren Geschichte in den Arrest kam. Wie das zusammenhängt und wie der arme Bursche in die Hände von Spitzbuben gefallen ist, das müsse sich erst aufklären.
So erzählte der Doctor und dann ließ er mehrere Bauern von Hochdorf entbieten, in den Wolfswald zu gehen und die Gegend zu durchsuchen.
Im ersten Stock des alten Hauses war eine große Stube mit vielen Schränken und Betten und zwei grünen Kachelöfen, in welchen es recht lebendig knisterte.
Die Betten waren einfach, aber sehr reinlich und zu dieser Morgenstunde alle bereits geschichtet. Neben den Betten auf Lederstühlen saßen alte, krüppelhafte Männer und Weiber und sie sprachen leise zusammen und Jedes hatte eine kleine Beschäftigung.
[S. 275]
Ein einziges Bett an einer Ecke war mit einer weißen Blache verhangen, daneben stand ein Tisch mit Tassen und Fläschchen.
In diese Stube ging nun der Doctor, nachdem er unten eine Fleischbrühe zu sich genommen hatte.
Wie er eintrat, humpelten Alle von ihren Plätzen herbei und gaben ihm die Hand. Er drückte jede und sprach freundliche Worte. Dann ging er zum Bett, das mit einer Blache verhangen war.
Langsam zog er diese seitwärts.
Im Bette lag ein Mädchen. Es lag da wie eine Leiche, eine Hand über der Brust, bleich das junge, liebliche Antlitz, mit geschlossenen Augen und losen, reichen Haaren. Das Mädchen, wie es dalag im Dunkeln, war schön wie eine weiße Blume in der Waldschlucht – wie eine Mondnacht.
Lange hielt der Doctor den Vorhang seitwärts und sah hin, und endlich beugte er sich langsam nieder zur Schlummernden, zu ihrem Mund, um zu fühlen, ob sie athme.
Und sie athmete.
Jetzt faßte er sanft ihre Hand und jetzt bewegte sich diese und das Mädchen schlug halb die Augen auf.
„Nothburga, hast Du jetzt geschlafen?“ sagte der Mann leise.
„Ah,“ hauchte die Kranke überrascht, „jetzt seid Ihr doch wieder da. Nein, ich hab’ nur so geträumt, – es kommt mir immer noch vor, ich seh’ ihn liegen mit der großen Wunde.“
„Ich werde Dir eine Schale Mandelmilch reichen, das beruhigt; schau, Du wirst jetzt bald wieder gesund sein.“
Nothburga richtete sich mit Hilfe des Arztes auf und trank einige Tropfen von der Mandelmilch. Dann blickte sie den Mann treuherzig an und sagte: „Und jetzt hätt’ ich Euch wohl wieder gern gebeten, daß Ihr Zither spielt.“
[S. 276]
Der Doctor lächelte. Sogleich lächelte die Kranke auch, denn sein Lächeln war für die Menschen immer das, was ein Sonnenstrahl für die Veilchen ist.
„Ja, wenn ich Dir, liebes Kind, damit eine Freude mach’, so werde ich spielen. Mutter Anna, Ihr holt mir wohl gerne die Zither von meiner Stube, sie hängt neben dem Bücherschrank; der Schlüssel steckt an der Thür.“
Und ein altes Mütterlein, das nur die rechte Hand hatte – die linke nahm ihm vor Jahren der Doctor ab – humpelte jetzt fort und kam bald wieder mit dem Instrument zurück.
Auch alle Anderen waren leise herbeigekommen und stellten sich um das Bett und das Tischchen, an dem nun der Doctor saß und die Saiten stimmte.
Endlich tönten diese zusammen in harmonischem Vielklang, und als ein Liedchen zu Ende war, fragte der Mann etwas schalkhaft: „Gefällt das der Nothburga?“
Die Kranke lächelte und er spielte weiter.
Aber plötzlich brach er das Spiel wieder ab und heiter zu den alten Männern und Frauen gewendet, sagte er: „Was thätet Ihr sagen, wenn die Nothburga Frau Doctorin würde?“
Da lachten sie Alle und meinten: „Der Nothburga wäre das schon zu gönnen.“
„Ei, das wäre wohl kein Glück für die Nothburga. Ich bin ein Vierziger und bin grau und griesgrämig; ich gehöre hin, wo die Krankheit ist, und Nothburga blüht erst auf und gehört zum Leben. ’s wird schon Einer kommen, der das mitbringt, werde nur erst gesund, Nothburga!“
„Ach, so lang’ ich ihn noch liegen seh’ mit der großen Wunde,“ entgegnete das Mädchen leise und langsam, „und so lange sie den Martin nicht wieder zurückgeben und sagen: er ist unschuldig, so lang’ kann ich nicht mehr gesund sein.“
[S. 277]
Der Doctor griff wieder in die Saiten, sang ein heiteres Lied und einen Jodler dazu, so recht derb und lustig, daß die Weiber sagten: „Na, und jetzt ist er wieder wie ein Bauernbursch oben im Gebirg.“
Nur das Ende war nicht so. Das letzte Ausklingen eines Jodlers hat ein so eigenartig, innig Lustiges, daß es nur der geborene Aelpler recht hervorsprudeln und austrillern kann; ein Anderer kann es nicht, das letzte Ausklingen gelingt ihm nicht.
Endlich erhob sich der Doctor und sagte zu Nothburga: „Und jetzt muß ich ein wenig arbeiten; die Josefa bleibt bei Dir. Bevor ich fort nach Dernau geh’, komm ich schon noch einmal. Wenn Du dann endlich etwas stärker bist, werde ich Dir was Lustiges sagen. Die Mutter Anna trägt mir wohl wieder die Zither auf meine Stube?“
Dann ging er, um sich nach Martin umzusehen.
Als er die Treppe hinabstieg, eilte ihm schon die Schließerin entgegen: „Ach, man meint, man findet Euch gar nicht, Herr, kommt doch gleich hinab in den Hof, sie haben einen Todten gebracht!“
Und als der Doctor hinab kam in den Hof, da standen unter einem Vordach Leute, die lebhaft miteinander sprachen und Alle nach einem Fleck hinsahen.
Dort, auf zwei ineinander geflochtenen Baumästen lag der Todte. Es war das Leichentuch noch darauf, das der Wald und der Winter ihm geschenkt hatte; man wollte nichts an der Leiche anrühren, nicht einmal den Schnee herabfegen, so lange nicht der Arzt kam.
Als dieser nun dastand, traten drei Bauernbursche, wie sie ihm am Morgen im Walde begegnet waren, heran und sagten: „Haben heut’ einen traurigen Fund gemacht!“
[S. 278]
„Wir sammeln dürres Gefälle zu Brennholz,“ erzählte einer der Burschen, „und waten so im Schnee herum. Sagt auf einmal der Georg – Du, sagt er, da liegt auch ein nutzes (beträchtliches) Stück, das müssen wir heraus ziehen. Und wie er den Haken in den Schnee haut, sagt er: Das ist ja gar kein Holz! – Nein sag’ ich, was wird’s denn sonst sein? und hau auch in den Schnee. Jesus, schreit d’rauf der Georg, eine Menschenhand! und – ’s war nicht anders. Rechtschaffen g’schreckt hat’s uns und wir haben Keiner wollen angreifen. Sagt noch der Poldl: Ziehen wir ihn nur in Gottesnamen heraus, muß halt erfroren sein; zuletzt ist er gar nicht todt, er ist noch völlig weich. Und so haben wir ihn aus dem Schnee gezogen, haben ihm gleich Schuh’ und Strümpf’ herab gerissen und die Füße gerieben. Und wir haben ihn gerüttelt und noch stärker gerieben – nein, was wir gearbeitet haben! Aber ’s war halt aus und vorbei. ’s ist ein wildfremder Mensch, wohin sollen wir ihn denn tragen als in’s Armenhaus? Wir haben noch gerathen und hin und her geredet; der Doctor ist heut’ dort, haben wir gesagt, und der wird schon wissen, was zu machen ist. Ein rechtschaffen trauriges Geschäft! – Und da haben wir ihn jetzt.“
Sofort besichtigte der Doctor die Leiche. Es war ein junger Mann mit langen blonden Locken. Augen und Mund waren halb offen, von dem linken Mundwinkel über die Wange war eine röthlich braune Eiskruste – der Verunglückte mußte aus dem Mund geblutet haben. Hände und Füße waren blau angelaufen. Das Beinkleid war von grauer Leinwand, der Rock aus Loden. Um den Hals hing der Leiche eine Sackuhr mit zerbrochenem Glase.
[S. 279]
Ohne ein Wort zu sagen, löste der Doctor die Uhr ab und legte sie nebenhin auf ein Brett. Dann untersuchte er Schädel und Hals.
„Erfroren ist der Mann nicht,“ sagte er, „es zeigt auf einen Fall, es ist das Genick gebrochen.“
„Du ewiger Heiland!“ schrie die Beschließerin plötzlich, „Doctor, das ist ja Euere Uhr und der ist gewiß Euer Räuber!“
„Mag wohl sein,“ sagte der Mann ruhig, „tragt jetzt die Leiche in die Todtenkammer, alles Andere werde ich schon besorgen. Den Gotteslohn für das Hertragen aber müßt Ihr Euch wohl beim Gericht holen.“
Und die Bursche hoben die Leiche und trugen sie in die Todtenkammer.
Der Arzt ging in das Zimmer, wo Martin war. Dieser lag in mehrere Decken eingehüllt auf dem Ledersofa und schlief.
Der Doctor stand sehr lange vor dem Schlafenden und sah ihn an. – Beide, die noch vor wenigen Stunden gemeinsam auf Verbrecherpfaden wandelten, schlafen nun. Beide sind gerichtet. Der Eine wird nicht mehr erwachen; sein Staub, der den Menschen einst Uebles gethan, wird Blumen und Rosen bringen. – Der Andere wird wieder erwachen zu seinem alten, elenden Leben, und sein Leben wird noch elender sein, als bisher. Elend am Geist, ist er nun auch elend am Körper – elend zum Erbarmen, unglücklich und immer unglücklich, bis zum Sterben. Und hat er nicht das Recht zu einem hellen, freudigen Leben wie jeder Andere? –
Langsam schritt der Doctor über die Treppe, ging in seine Stube und schloß sich ein. Zitternd klangen die Saiten in das Gemüth des Mannes:
[S. 280]
Ihr führt in’s Leben ihn hinein,
Ihr laßt den Armen schuldig werden.
Dann übergebt ihr ihn der Pein...
Der Mann sah durch das Fenster hinaus in den Wintersturm. Das ist die Erde. – – –
– – – Und Nothburga ist so jung und schön, sie ist eines besseren Schicksals würdig. Und Martin ist ein Narr, er sucht das Reich Gottes unter den Menschen. Noch ist er jung – in seinem ferneren Leben wird er’s immer mehr einsehen, daß er vergebens gesucht, daß sein Jugendstreben eitle That eines Träumenden war, daß sein Leben ein verlorenes ist. Allen Halt einer Erziehung und geregelten Ausbildung entbehrend, wird er mit sich und Allem zerfallen. Das empfindsame, weiche Gemüth, sonst die erste Bedingung eines guten Menschen, wird diesem Manne zum materiellen und moralischen Verderben, denn es hat von seiner Umgebung doppelt tief die Eindrücke fanatischer, vorurtheilsvoller Gebilde aufgenommen, das Gegengewicht aber, eine freie, planmäßige Ausbildung entbehren müssen. – So ist er das geworden, was er ist, ein edles Wollen ohne Plan, eine redliche Seele im Wahn, eine Kraft auf falscher Bahn. – Zu sehr befangen in sich, wird alle äußere Einwirkung auf ihn erfolglos bleiben – er fährt einen seltenen Weg, aber er fährt rasch und rettungslos in’s Verderben. – ’s wär’ ein Glück für ihn, wenn’s aus wär’. – –
An diese Gedanken des Doctors reihten sich noch andere, schwerere, dunklere – endlich fuhr er rasch in die Saiten der Zither. Dann öffnete er einen Fensterflügel und ließ eisige Luft herein strömen. Eine große Schneeflocke fiel auf die Saiten und löste sich langsam und sanft auf dem klingenden Tonbrett...
[S. 281]
Der Doctor schrieb Briefe an das Bezirksamt und das Kreisgericht. Dann ging er in seine Apotheke, die neben der Bücherstube war, und arbeitete eine Zeit.
Als es Mittag wurde, stieg er hinab zur Stube Martin’s. Dieser saß bereits auf seinem Lager und blickte wirr und verloren umher.
„Hab’ schier nicht gewußt, wo ich bin,“ sagte er zum Doctor und lächelte ein wenig. „Es ist mir gewesen, als hätt’ ich es schon gefunden; ich hab’ immer zu hoch geschaut, wo die Blumen sind und wo die Menschen lachen und weinen. Aber es liegt tiefer, Herr, es liegt tiefer, es liegt dort, wo die Blumen ihre Wurzeln haben. – Da schaut nur, ich liege unten, aus meiner Brust schlägt ein Keim hervor und dieser wächst herauf. Da wird er grün und weiß und roth und mitten im Kelche liegt ein Samenkorn. Da kommt ein Vöglein und dieses trägt das Samenkorn hinaus zu den Menschen; diese lachen und werfen es unter das Gestein. Aus dem Gestein wächst nach tausend Jahren ein Kraut, und das ist das Kraut für das Menschenglück. – In meinem Leben hab’ ich nicht so wunderlich geträumt! Wenn’s wahr wär’ und wenn’s halt doch wahr wär’, so möcht’ ich Euch wohl bitten, laßt mich hinab legen!“
Der Arzt faßte die linke Hand Martin’s und forschte nach dem Blutlauf, dann ließ er dem Kranken ein kühlendes Getränk bringen.
Später untersuchte er das wunde Bein, es war in Ordnung. Dann als Martin ganz wach und ruhig geworden war, sagte der Doctor: „Nun, Martin, magst Du mir erzählen, wie Dir’s bei Gericht ergangen ist und wie Du in den Wald und vor meinen Schuß kamst?“
[S. 282]
Das Leben des Wurzelgrabers bis zu jenem Kirchweihfeste war dem Doctor bekannt; Martin erzählte also sein Schicksal von seiner Gefangennahme durch die Holzknechte bis zur Stunde, wo er veranlaßt durch den Fremden im Walde in der Absicht, den Reiter vor dem Erfrieren zu retten, das Pferd anhielt.
Sein Erzählen war ziemlich zusammenhängend und ruhig, und als er damit zu Ende war, sagte er heiter: „So und nicht anders war’s, und jetzt mein’ ich, ist mein Fuß auch gut.“
Der Doctor war nachdenkend. ’s ist auch nicht begreiflich, warum man Dem Bleikörner in das Bein jagen muß, der Einem das Leben retten will?
„Ich werde jetzt nach Dernau gehen, komme aber morgen wieder, um zu sehen, wie es Dir geht,“ sagte der Arzt, „sei schön ruhig und thue so, wie es die Pflegerin verlangt, dann wirst Du bald gesund sein, und wenn Du gesund bist, so werden wir zusammen vielleicht einmal was Fröhliches erleben.“
„Ich hätt’ Euch wohl noch um was bitten mögen, Doctor!“
„So sag’s nur gleich, Martin, sei zu mir ganz offen.“
„– Da hab’ ich auf der Kirchweih mit einem Mädl getanzt – Nothburga heißt es, und ich kenn’ es schon länger, es war die Schwester von Dem, den sie auf der Kirchweih erschlagen haben. Nothburga wird gewiß glauben, ich bin noch im Gefängniß und ich bin wirklich so schlecht, weil sie mich in’s Gefängniß geworfen haben. Wir haben sonst gar nichts miteinander, ich und die Nothburga, aber ich mag nicht, daß sie so schlecht von mir denkt, und da hab’ ich Euch[S. 283] halt bitten wollen, daß Ihr ein paar Zeilen für mich an die Nothburga schreibt; sie wohnt oben im Freiwaldgraben beim Wegmacher Hans, der ihr Vater ist.“
Der Doctor versprach, das zu besorgen, und verließ dann den Kranken.
Noch ging er in den Saal hinauf, wo viele Betten standen, und zu Nothburga. Sie lag ruhig auf ihrem Polster und hatte ein Gebetbuch in der Hand.
„Ich werde jetzt fortgehen und erst morgen am späten Mittag wiederkommen; sei immer hübsch ruhig, Nothburga, und thue, wie es die Pflegerin verlangt.“ Das sagte der Doctor noch zum Mädchen, faßte milde dessen linke Hand und hielt sie lange in der seinen, um den Blutlauf zu beobachten.
Dann gab er der Pflegerin, der Schließerin und Anderen Befehle über das ganze Hauswesen, besonders nachdrückliche über den Wurzelgraber und die Nothburga.
„Sollen diese hier genesen,“ sagte er, „so darf Eines von dem Andern vorläufig nichts wissen!“
So bestieg der Doctor seinen Braunen und ritt durch das Dorf. Das Schneien hatte aufgehört, Nebel lag über der ganzen, winterlichen Landschaft.
Der Doctor ritt nicht mehr durch den Wolfswald – dort waren ja alle Pfade verschneit und verweht – sondern er machte einen Umweg die Fahrstraße entlang. Diese war einsam und öde; nur dann und wann begegnete ihm ein Holzkarren, sonst wollte heute Niemand fahren.
Der Doctor ließ das Pferd langsam hintraben, hüllte sich dicht in seinen weiten Mantel und hing seinen Gedanken nach.
[S. 284]
Seine Gedanken waren im Armenhaus zu Hochdorf, in seiner einsamen Stube zu Dernau und bei seinen Kranken in den zerstreuten Bauerngehöften im Gebirge, dann wieder waren sie draußen in der großen Welt und weit zurück in den längst entflohenen Jahren seiner Jugend.
Das Geschlecht der Grafen Preisheim war alt und berühmt, es hatte viel für das Vaterland geleistet. Als aber die große Zeit der deutschen Befreiungskriege kam, da konnte das Geschlecht seinen Mann nicht stellen; es war Niemand mehr davon da als ein achtzigjähriger Greis und dessen Enkel, ein Knabe mit goldigen Locken. Der Knabe war sehr kräftig und aufgeweckt und eines Tages nahm er das Schwert seiner Väter und wollte fort in den Krieg. Sein Großvater aber sagte: „Bleibe, Ludwig, Du bist noch ein Kind! Bis Du groß geworden sein wirst, werden schon noch andere Zeiten kommen, daß Du dem Vaterlande nützen kannst, bis dahin will ich Dich dazu erziehen.“
Der Knabe hing das Schwert in dem Waffensaale wieder auf, und dort hing es viele Jahre – Ludwig nahm es nicht mehr herab.
Bis in das zwölfte Jahr blieb Ludwig in dem Schlosse seiner Väter und genoß die Erziehung des Großvaters, dann ging er in eine ferne Stadt und lernte die Weltweisheit, die in den Büchern steht.
Neben ihm auf den Schulbänken saßen auch noch viele andere junge Menschen, die dasselbe lernten, aber von geringerer Abstammung waren als er. Nur noch Einer saß in der Schule, der sich Freiherr nennen ließ.
Als Ludwig vierzehn Jahre alt war, erhielt er von seinem Großvater einen Brief, in welchem folgende Worte[S. 285] standen: „Mein geliebter Enkel! Die schweren Kriegszeiten haben unser Vermögen zerrüttet und den größten Theil desselben verschlungen. Lerne mit Fleiß und Ernst, daß Du im Stande bist, durch Dich selbst was zu werden. Dein treuer Großvater.“ –
Ludwig las den Brief, legte ihn dann in sein Schreibfach und studirte.
Ein Jahr später kam wieder ein Brief und dieser enthielt folgende Kunde: „An Seine Edelgeboren, den Grafen Ludwig Preisheim. Mir obliegt die traurige Pflicht, Ihnen den Tod Ihres Großvaters, des Herrn Grafen Roderich Preisheim anzuzeigen. Derselbe entschlief gestern nach einem kurzen Krankenlager selig in dem Herrn. P. Johannes, Pfarrer.“
Ludwig las den Brief, stützte lange den Kopf auf seine Hand, legte das Papier in sein Schreibfach und rüstete sich zur Abreise.
Als er nach Tagen heimkam in seine Vaterburg, ging er in das Zimmer seines Großvaters, sah den Stuhl an, wo er oft gesessen, und das Bett, in welchem er gestorben war. Dann ging er auf den Kirchhof, wo die Ahnengruft war, dort kniete er lange auf dem breiten Stein.
Dann entließ er alle Leute, die im Schlosse waren, verkaufte dasselbe und deckte die auf dem Gute liegenden Verpflichtungen. Weit drin im Gebirge besaßen die Preisheimer noch ein kleines, altes Schloß mit einigen Grundstücken; das verkaufte Ludwig nicht, sondern stellte einen Verwalter in dasselbe.
Als nun Alles so geschlichtet war, reiste Ludwig wieder in die ferne Stadt und studirte. Er wählte sich die Naturwissenschaften und die Medicin.
[S. 286]
Zeit und Zeit ging nun ruhig dahin und wenn die Ferien kamen, lud er immer einen oder den andern seiner Collegen ein, mit ihm in die Gegend zu reisen, wo das Schloß stand.
Als Ludwig in das achtzehnte Jahr ging, da trug sich mit ihm was zu, was sich mit allen Studenten zuträgt, wenn sie in das achtzehnte Jahr gehen.
Er verliebte sich.
Und gerade um dieselbe Zeit verliebte sich auch der Freiherr, der mit Ludwig in einer Classe saß. Beide suchten in den freien Stunden einsame Wege, dachten an ihre Herzenskönigin und besangen sie durch selbst erfundene Verse.
Auf solchen Wegen trafen die beiden Jünglinge einmal zusammen, gestanden einander, daß sie liebten, und schlossen als Schicksalsbrüder engere Freundschaft. Aber diese Freundschaft war von kurzer Dauer, bald klärte es sich auf, daß die Mädchen, welche sie liebten, zusammen nur ein Herz hatten und daß dieses Herz einer Gärtnerstochter gehörte, die sehr schön war.
Als sich dieses aufgeklärt hatte, trat der Freiherr hin vor Ludwig und sagte: „Wir wollen uns duelliren!“
Darauf entgegnete Ludwig: „Wenn das Dein Ernst ist, so bist Du ein Narr, wie Alle, denen derlei Ernst ist. Das Mädchen selbst soll sagen, ob es Einen von uns nehmen mag, und welchen; demgemäß wollen wir dann ruhig handeln.“
Auf diese Worte schrie der Freiherr: „Graf Ludwig, Du bist ein Feigling!“ Da der Graf von sehr schöner Gestalt und allerorts beliebt war, so glaubte der Baron voraussehen zu können, daß das Mädchen denselben ihm vorziehen würde.
[S. 287]
Von dieser Zeit an mußte Ludwig immer allein gehen. Seine Collegen wollten nichts mit ihm zu thun haben, sie grüßten ihn kaum auf der Gasse, in Gelagen stieß Keiner mit ihm an und auf der Bank des Lehrsaales, wo er saß, saß sonst Keiner, als er. „Ein gräflich Blut und solche Feigheit!“ flüsterten sich die Jungen hinter seinem Rücken zu.
Das that dem Jungen weh, weil die Collegen ihn mieden und sein gräflich Blut beschimpften und weil er die Gesellschaft bedauerte, die von derlei falschen Grundsätzen noch so allgemein beherrscht wurde, die aber die gebildete und maßgebende heißen wollte und von der er lernen sollte. – Was der Bauer im Jähzorn thut und nach eingetretener Nüchternheit bereut, thut der Duellirende in kalter Ueberlegung und mehr noch – weil er glaubt, sein gegebenes Ehrenwort rufe ihn, schießt er todt. Ehrenhalber wird Einer wegen nichtsbedeutender Albernheiten der Flegeljahre zum Krüppel gemacht oder zu Tode geschossen.
Dergleichen dachte unser junger Gelehrter oft und oft und dergleichen gab ihm nach und nach eine andere Richtung.
Er sonderte sich immer mehr und mehr von dem Menschenkreis, in dem er lebte, und begann mit demselben zu zerfallen. Er widmete sich ausschließlich seinen Studien und als sich aus denselben ein vorzügliches Resultat ergab, kam er zum Entschluß, seinen Wirkungskreis als Mensch und Staatsbürger auf ein Feld zu stellen, das unbeleckt von der Aftercultur, einen dankbaren Boden für würdige Mannesthaten bietet.
Wohl nahm er nach seinen vollendeten Studien in einem großen Lazareth der Stadt eine Assistentenstelle an, erwarb den Doctortitel, lebte im Allgemeinen aber abgeschlossen ganz seinen wissenschaftlichen Forschungen und den Nothleidenden.
[S. 288]
Da stand aber gegenüber dem Armen- und Siechenhaus ein großes Palais, in welchem tagtäglich glänzende Mahlzeiten, Bälle, Ballete, Concerte u. s. w. wechselten und die reiche, moderne Welt ihre Orgien feierte.
Die Gegenüberstellung dieser beiden Häuser verleitete unseren jungen Doctor zum Nachdenken und zu Reflexionen, die für ihn quälend waren.
So wahr und ernst die Aufopferung des jungen Arztes für die leidende Menschheit war, so dachte er doch endlich auch an sich selbst, wie sich seine Zukunft gestalten müsse, daß sein Leben und Wirken auch zu seinem eigenen Wohle werden könnte.
– Für dich, du Schwärmer – sagte er dann oft in Gedanken zu sich selbst – wäre eine Dorfgemeinde recht, draußen in irgend einem Bergwinkel bei einfachen Landleuten. Da könntest du ruhig leben, der Menschen Freund sein und sie dir zu Freunden machen, und da würdest du in Einheit mit der Natur dein Leben und Können und Wissen vervollständigen. Den Grafen ließest du hübsch hier in der Stadt, nur den Menschen nähmest du mit. Man meint, es müßte ja gehen! –
Und es ging.
Eine Zeitung brachte die Nachricht, daß in Dernau, einem großen Dorfe am Fuße der Alpen, eine Chirurgenstelle zu besetzen sei. Preisheim reiste in die Gegend, in welcher auch das Schloß lag, das ihm von den großen Besitzungen seiner Ahnen geblieben war, bewarb sich um die Stelle in Dernau, erhielt sie und zog nach wenigen Wochen für immer fort von der großen Stadt und gründete sein Haus und Heim unter den Bauern am Fuße der Alpen.
[S. 289]
So lebte er nun in seinem kleinen Hause und in den ersten Jahren hatte er sehr viel Zeit zum Studiren. Es kam selten Jemand, der ihn zu einem Kranken holte; die Leute gingen lieber zu Winkelärzten und Curpfuschern, wie sie in der Gegend lebten, als zum fremden Doctor aus der Stadt, der immer einen schwarzen Rock anhatte.
Als aber die Zeit kam, in welcher der schwarze Rock seine Dienste nicht mehr versehen konnte, ersetzte ihn der Doctor durch einen grauen, wie ihn die Bauern und die Winkelärzte trugen.
Jetzt erst kamen sie – zuerst für einen Kranken, der von anderen Aerzten aufgegeben war, und als dieser genaß, auch für andere; bald wurde er zu Lungenentzündungen und zum Typhus gerufen. Und Preisheim hatte Glück; den Kranken gewann er das Vertrauen ab und den Gesunden die Herzen. Er war sehr gewissenhaft; er gab nicht allein den Kranken die Mittel, zu gesunden, sondern auch den Gesunden, um nicht zu erkranken. Freilich sagte der alte Todtengräber einmal, als ihm der Doctor einen heilsamen Trank gegen das Fieber zu bereiten lehrte: „Ja, da bringt sich ja der Herr selbst um’s Brot!“
Aber der Herr hatte immer ein’s zu essen; für Zwei hätte es auch noch ausgelangt, aber der Mann schien ganz darauf zu vergessen. – Ja, vielleicht wenn jene Gärtnerstochter da gewesen wäre! Unmittelbar vor seiner Abreise aus der Stadt hatte er sie noch einmal gesehen: wie er aus dem Siechenhaus trat, trug man sie hinein. Der Freiherr hatte sie geschickt. –
So klein und niedlich das Häuschen des Doctors war und so viel Arbeit es gab im Garten, in der Studirstube, in der Apotheke, die sich der Doctor selbst eingerichtet hatte,[S. 290] so schlug die Schwarzwälderuhr an der Wand doch Stunden, in denen es ihn schmerzte, daß er allein war. Da ging er wohl oft, die Hände auf dem Rücken, durch das Zimmer und dachte so nach über sich und über den Weltgang, und endlich ging er gar in das Stübchen seiner alten Haushälterin und sagte: „Hat die Barbara denn gar keine Arbeit für mich? Wenn nicht, so spiel’ mir die Barbara ein wenig was auf der Zither!“
Sie waren schon recht steif und ungelenk, die Finger der Alten, sie hatten schon viel gefaßt und gegraben im Leben, darum sagte Barbara auf des Doctors Bitte auch immer: „Mein’, das wird Euch aber gefallen, wenn ich klimpere! Lernt es doch selbst, Euere Finger sind noch gelenkig dazu.“
Und Doctor Preisheim lernte das Zitherspielen. Er spielte wohl die Lieder der Bauern, die Jodler und Almer, aber er spielte sie anders; er spielte schön, aber nicht ganz so lustig und frisch wie Andere im Dorfe, die es konnten. Es ließ sich bei seiner Zither nicht recht tanzen und aufjauchzen, man mußte zuhören, wie man dem Bachrauschen und dem Waldsäuseln zuhört, wenn man auf der Au ruht und träumt. Es war eigen beim Doctor, man sagte später, mit diesem Saitenspiel habe er Todtkranke kerngesund und Kerngesunde todtkrank gemacht. –
Das Schloß des Doctors lag nur wenige Stunden von Dernau im Orte Hochdorf. Der Mann ging öfters den Fahrweg, oder auch den Fußsteig durch den Wolfswald nach Hochdorf und sah das alte Mauerwerk von außen und von innen an. Außer dem Verwalter und einigen Dienstboten, welche die dazu gehörigen Felder bearbeiteten, wohnte Niemand im Schlosse. Düster und öde stand es da.
Der Doctor dachte oft nach, was damit anzufangen sei.
[S. 291]
Ein Bauer wollte einen Theil des Gebäudes zu einer Heuscheune pachten, aber der Doctor war nicht damit einverstanden. Der Bauer sagte noch: „Nu, viel zu gut, mein’ ich, wär’ die Rumpelkammer just nicht dazu; es gehen ohnehin die Geister drin um!“
Und richtig, kaum ein Jahr vorüber war, gingen im alten Schlosse die Geister um – mitsammt den Leibern.
Sie waren dem Doctor auf seinen Wegen und Stegen nur zu oft begegnet mit ihren bleichen Gesichtern und hohlen Augen, zähnegeklappert hatten sie in kalten Wintertagen und an düsteren Abenden huschten sie um die Häuser herum und klopften an Thür und Fenster. Diesen Geistern hatte der Doctor das Schloß einrichten lassen, und das Schloß hieß nicht mehr Schloß, es hieß Armenhaus.
Da war ein Arbeitssaal und ein Schlafsaal und ein Speisesaal und eine Erheiterungsstube, und es waren noch andere Räume, wie sie für ein solches Haus nothwendig sind. Außerdem hatte sich der Doctor in der neuen Anstalt ein Studirzimmer und eine Apotheke eingerichtet.
So kam er nun oft des Wegs von Dernau her und wenn ein Krankes im Hause war, so kam er fast täglich.
Und nun, da der Doctor zwei Häuser hatte, mußte er auch zwei Zithern haben; denn die Bewohner seines Schlosses schenkten ihm’s nicht. Da kamen sie stets Alle um ihn herum und bestürmten ihn, daß er spiele; die Greise und die Mütterlein baten wie die Kinder, bis die Saiten klangen. Selbst der taube Josef, der nicht einen Ton hören konnte, erbaute sich und war heiter, wenn er dem Spielenden und den Hörenden zusah. „’s ist, wie wenn Ihr in der Kirche säßet,“ sagte er einmal, „so fromm schaut Ihr Alle drein. Kann er denn keine Tanzmusik?“ –
[S. 292]
In heiteren Sommertagen, wenn es die Kranken zuließen, ging der Doctor gern in’s Gebirg.
Auf einer solchen Wanderung begegnete er einmal einem Knaben, der Kräuter sammelte und sie in große Bündel zusammenschichtete.
„Was machst denn Du mit diesen Blumen und Wurzeln?“ fragte er den Knaben.
„Die trag’ ich in die Stadt und verkaufe sie.“
„Willst Du sie nicht mir verkaufen? Ich bin der Arzt von Dernau.“
„Wohl, wenn Ihr der Arzt von Dernau seid, kann ich Euch die Kräuter schon verkaufen, aber Ihr müßt mir gleich das Geld geben.“
„Das versteht sich ja, aber was machst Du denn mit dem Geld?“
„Ich muß allerlei kaufen, es liegt mein Vater krank daheim, er hat im Finger den Brand.“
„Wie heißt Du denn?“
„Martin.“
„Nun, Martin, wenn Dein Vater nicht zu weit von hier ist, so will ich mit Dir gehen und ihn heimsuchen.“
„Da thäten wir Euch wohl ein Vergeltsgott sagen,“ entgegnete der Knabe gutmüthig, „aber mehr, als diese Kräuter kann ich Euch nicht dafür geben.“
„Närrchen, für das Mitgehen wirst Du mir nichts geben, die Kräuter zahl’ ich Dir schon.“
„Ja, was seid Ihr denn nachher für ein Arzt?“ rief der Kleine verwundert aus, „der Roßhardl, der Salben und Mirakelpflaster macht, hat für das Mitgehen zu meinem Vater zwei Gulden verlangt; aber wo thät ich zwei Gulden nehmen?“
[S. 293]
Unterwegs zur Hütte des Vaters sagte der Doctor: „Ich wüßte ein Haus, Martin, in welchem Dein Vater bald gesund sein würde, und wenn es Euch recht wäre, so ließ’ ich ihn in dasselbe bringen, es thät Euch keinen Kreuzer kosten.“
„Und dürft’ ich auch mitgehen?“
„Ei freilich, bis er gesund wieder mit Dir in die Berge gehen könnte.“
„Herr Arzt!“ rief der Knabe treuherzig, „wenn Ihr uns das thätet, all mein Leben brächt’ ich Euch die Wurzeln und Kräuter und ich thät keinen Kreuzer von Euch nehmen – he, steigt da nicht auf das Frauenhaar, sonst bekommt Ihr Kopfweh!“
Der Knabe zog den Doctor, der eben im Begriffe war, auf Laubfarn zu treten, bei dem Aermel seitwärts.
Endlich kamen sie zur Hütte. Als aber der Doctor den Mann sah, wie er dalag auf dem kahlen Stroh in Armuth und Schmerzen, wie der kranke Finger dunkelbraun und die ganze Hand mit Blut unterlaufen war und wie es in der Brust des Armen zuckte und tobte, da sagte er nichts von dem Fortbringen nach jenem Hause, da sagte er nur: „Recht viel neugemolkene Milch trinken, guter Mann, recht viel Milch trinken! Und Du Martin, bleib’ heut’ und morgen schön beim Vater und reiche ihm Labniß. Da hast Du das Geld für den Kräuterbund.“
Dann saß er noch eine Zeit auf dem Holzstockel neben dem Lager, reichte endlich dem Kranken und dem Knaben die Hand, nahm den Kräuterbund und ging.
Als hierauf der Doctor unterwegs zu einer Kohlstatt kam, rief er dem Köhler zu: „Köhler, wenn Ihr Zeit habt, so geht hinauf in die Hütte zum kranken Mann, ’s ist nur der Knabe bei ihm und er wird sterben.“ –
[S. 294]
Und siehe, nach wenigen Tagen trug man aus jener Hütte und durch den Wald einen Sarg. Der Knabe, der ihm folgte, weinte nicht, er blickte nur immer auf die Baumwurzeln.
Nach all dem vergingen Jahre. Martin wuchs auf und der Doctor begegnete ihm oft auf seinen Wanderungen im Gebirge.
Martin wohnte allein in der Hütte seines Vaters, er durchzog die Alpengegend und sammelte Wurzeln und Kräuter, welche er theilweise dem Doctor verkaufte, theilweise in das Städtchen trug. Wenn der Bursche dann Abends heim in seine Hütte kam, hatte er nicht selten ein sonderbares Geräthe bei sich, oft gar ein Buch – und er konnte doch nicht lesen. Wenn sich irgendwo im Gebirge ein Unglück zutrug und wenn ein Leid geschah, das sich die Menschen einander selbst angethan hatten, so bekam er immer Kopfschmerz und Brustleiden. Am liebsten ging er einsam durch den Wald, da trat er immer auf Steine und erhöhte Baumwurzeln, daß er keinen Käfer und keine Ameise und kein anderes lebendes Wesen zertrete.
Zum Doctor sagte er einmal: „Herr, Ihr seid studirt in der Arzneikunst, giebt es kein Mittel, das Blut im Menschen so zu machen, daß keine Wildheit und keine Falschheit in demselben liegen könnte?“
Der Doctor schwieg lange nach dieser Frage, endlich aber antwortete er: „In der Arzneikunst giebt es keines, aber es sind noch viele andere Künste auf Erden, vielleicht liegt es doch in einer.“ –
Die Fragen des Burschen waren überhaupt oft derart, daß der Doctor keine Antwort darauf hatte und sagen mußte: „Martin, sinne nicht an derlei Geschichten, das taugt nichts und es sind dadurch schon Leute verrückt geworden.“ –
[S. 295]
Besser erging’s dem Doctor, wenn er auf seinen Spaziergängen zum goldlockigen Geismädchen kam. Das war eines Wegmachers Töchterlein, welches die Ziegen seines Vaters weidete. Als ihm der Doctor auf seinen Bergfahrten das erstemal begegnete, sagte er: „Kleine, wem gehörst Du denn zu?“
Aber die Kleine gab keine Antwort, wendete das Gesicht und lenkte gar mit ihren Ziegen vom Wege ab.
Bei der zweiten Begegnung sagte der Doctor: „Ei sapperlot, jetzt sag’ mir aber gleich, wie Du heißt und wer Dein Vater ist!“
„Nau,“ entgegnete drauf das Mädchen, „Nothburga heiß ich halt und der Wegmacher Hansl ist mein Vater!“
Seit dieser Zeit war die Bekanntschaft zwischen dem Doctor und dem Geismädchen. Und seit dieser Zeit versorgte Nothburga den Doctor mit Himbeeren, Erdbeeren und anderen Früchten, wie sie auf den Bergen wachsen und ein Arzt für seine Apotheke brauchen kann.
Jetzt, wenn sie sich im Walde oder auf der Au begegneten, rief schon immer das Mädchen den Doctor zuerst an: „Nu, wann führt Ihr mich denn wieder einmal zum Tanz? Wann schenkt Ihr mir denn wieder einmal einen Strauß aus Eurem Garten?“ Oder sie sagte: „Bader, Euer Zithernschlagen ist recht langweilig, wenn Ihr einmal heiratet, diese traurigen Lieder wird Euch Euere Frau nicht gelten lassen; aber jetzt müßt Ihr bald heiraten, sonst mag Euch Keine mehr!“
Wenn der Doctor dann nach derlei Begegnungen und Aeußerungen nach Hause kam, übte er sich in lustigen Alpenweisen, aber so frisch und freudig sie auch anfingen, nie gingen sie lustig aus, es war, als ob die Saiten mitten im Jodeln und Jauchzen auf einmal tief herzkrank würden.
[S. 296]
Dann ließ er das Instrument ruhen, stand auf und sah so einmal in den Spiegel.
– Grau? – Ei, damit hat’s schon noch gute Weile. Zwar hier, das Haar säh beinah’ so aus! Je nu, so jung können nicht alle Haare sein wie die ihren. –
– Ja, Doctor, jetzt mußt Du Dich bald entschließen! ’s mag Dir wohl thun und ’s mag weise sein, wenn Du Eine von der Stadt nimmst, die frischt das Glatte, Feine wieder in Dir auf und Du kannst mitten auf dem Lande das Leben der Gebildeten haben, wie es einem Doctor ja doch ansteht. Hast Du aber der städtischen Gesellschaft wirklich entsagt, gut, so nimm Dir ein Weib aus dem Walde, da bekommst Du gleich die Treue und die Güte frisch von der Natur weg. Red’ mit der Nothburga einmal, Doctor?!
Und darauf, als der Doctor einmal mit der Nothburga reden wollte, sprang ihm diese schon freudig entgegen und plauderte: „Meinem Vater darf ich’s nicht sagen, meinem Bruder und meiner Gespannin, der Marie, kann ich’s nicht sagen, weil sie oben im Grubschlag sind und erst Samstag heimkommen, und jetzt, sagen muß ich’s doch wem und so sag’ ich’s Euch, aber plaudern müßt Ihr nicht!“
„Nun?“
Da zupfte sie am Halstuch und ganz leise sagte sie: „Einen Liebsten hab’ ich und einen recht schönen und großen noch dazu. Aber jetzt – schäm’ ich mich.“
Nothburga wurde roth und sah zu Boden.
„Nun?“ sagte der Doctor nochmals, dann schlug er mit seinem Stocke ein Steinchen hin und her, das am Wege lag.
„Ihr kennt ihn gar, er hat ein braunes Haar und gräbt Wurzeln!“
[S. 297]
„Der Martin also?“
„Und das will ich meinen! – Aber er weiß es noch selbst nicht ganz – der klein’ Finger wird ihm’s aber schon sagen!“
Das Mädchen plauderte weiter und eilte endlich seinen Ziegen nach. Es war ein sehr wildes, ein sehr schönes Kind. –
An einem der nächsten Tage kaufte sich der Doctor ein Pferd, denn die Krankenbesuche mehrten sich und er hatte auch nicht mehr so oft Zeit, in das Gebirge zu gehen. –
Drei Tage nach der Kirchweih brachte man Nothburga in’s Armenhaus; sie war sehr krank und der Doctor mußte ihr zur Ader lassen. Sie hatte ein großes Unglück erlebt. Auf der Kirchweih erschlugen sie ihren Bruder und einen Tag später führten sie Martin in’s Gefängniß.
Diese Fälle hatten das arme Mädchen so aufgeregt, daß es in die schwere Krankheit fiel. Der Wegmacher-Hans war rath- und thatlos und so trug man die Kranke in’s Armenhaus zu Hochdorf.
Dort lag sie einige Tage im Typhus hoffnungslos danieder. Aber der Doctor kam täglich und war stundenlang am Lager der Kranken, bis endlich die Krisis vorüber und Nothburga gerettet war. In der letzten Nacht war’s, als Preisheim im Walde angefallen wurde und Martin in’s Armenhaus brachte. – –
An das Alles mochte der Mann gedacht haben, bis sein Brauner plötzlich im Dunklen stehen blieb.
Da schreckte er auf und haschte nach der Pistole, aber er ließ sie wieder zurücksinken in den Sack seines Mantels, er war ja mitten im Dorfe Dernau, gerade vor seinem Hause.
[S. 298]
Leute nahten, die ihn herzlich begrüßten und ihn gar vom Pferde hoben. Sie standen mit Lichtern herum, da es schon finster geworden war, und sie fragten, wie das gewesen sei; sie hatten schon Kunde von dem Anfall im Walde. –
So warm und wohnlich die Stube auch war, so traulich die Lampe leuchtete auf dem gedeckten Tisch und so lustig die alte Haushälterin auch fragte und plauderte – der Doctor blieb wortkarg und verstimmt und ging bald zur Ruhe.
„Glücklich wär’ er da,“ sagte dann in der Küche die Haushälterin zu den Nachbarinnen, die sich noch spät nach dem Doctor erkundigt hatten, „aber ’s ist ihm doch was, ’s ist ihm was! Mein’, der Schrecken muß Einem ja frei die Seel’ aus der Haut jagen!“
Den andern Tag, als der Doctor seine Geschäfte in und seine Besuche um Dernau beendet hatte, ritt er wieder nach Hochdorf. Der Tag war heiter, der Schnee an einzelnen Stellen geschmolzen.
In Hochdorf befanden sich Männer aus dem Städtchen, die auf den Doctor warteten. Sie hatten die Nachricht gebracht, daß aus dem Strafhause ein gefährliches Individuum entsprungen sei, welches man erst vor wenigen Wochen eines Raubmordes wegen eingeliefert hatte. Mit diesen Männern ging nun der Doctor in die Todtenkammer und nach kurzer Untersuchung stellte es sich heraus, daß der im Walde gefundene Todte niemand Anderer sei als der entsprungene Sträfling.
Man wollte auch von Martin den Hergang der Dinge hören und verlangte, daß er zur Leiche gebracht werde, aber der Doctor sagte: „Wenn er noch fiebert, so kann ich es heute nicht gestatten.“
[S. 299]
Er begab sich zu Martin, den er auf dem Sofa sitzend und an einem Kienholzstück schnitzend fand.
– So bei einer leichten Handarbeit kommen Einem allerlei Gedanken, heitere und alberne und vernünftige, aber nie so traurige und finstere wie in unbeschäftigten Stunden.
Martin dachte beim Schnitzen an Nothburga. – Ja, die Nothburga, wenn ich die einmal bekäm’, das wär’ schon recht und das wär’ ein großes Glück für mich. Und die Nothburga thät’s doch wohl begreifen, wenn ich ihr’s gut meinen wollte. Und wenn wir – wenn wir dann einmal kleine Leut’ kriegen sollten, dann ließ ich alles Andere draußen gehen und thät mir selbst so eine Welt einrichten und ’s müßt erlogen sein, daß ich da nicht das Glück hinein brächt’. Schön wär’s wohl und ich mein’ das wär’ für den Martin das Rechte; ja, die Nothburga! – Nein, wenn diese dumme Geschichte jetzt nicht mit mir wär’, ich thät sie zuletzt gar noch kriegen; mit ihrem Vater bin ich gut an. Die Nothburga freilich, die mag mich nicht, weil ich simulir’, das hat sie mir schon gesagt, aber ich mein’, wenn sie mich nähm’, ich thät an gar nichts mehr denken als an sie und ich könnt’ auch sonst an gar nichts mehr denken. Ja, die Nothburga! –
So dachte Martin und schnitzte.
Als er den Doctor eintreten sah, freute er sich und sagte: „Eine Arbeit muß ich doch haben und da schnitz’ ich halt einen Pfeifenkopf.“
„Wie geht’s mit dem Fuß?“
„Rechtschaffen gut, nur schmerzen thut er zu Zeiten und brauchen kann ich ihn nicht.“
„Das sollst Du auch nicht; Du sollst jetzt bei mir da ruhig gesund werden und dann in Deine Hütte heim gehen.“
[S. 300]
„Ja, gesagt ist’s freilich leicht, gethan ist’s schwerer, ich muß in’s Gefängniß.“
„In’s Gefängniß wirst Du nicht müssen, Martin, es sind eben Herren von dem Gericht da, die Alles begleichen und mit Dir reden wollen. Und dann noch was, hast Du Scheu vor Leichen?“
„Sonst just nicht, aber Kindesleichen möcht ich nicht gern sehen.“
So ließ der Doctor den Wurzelgraber in das Speisezimmer tragen, wo die Gerichtspersonen versammelt waren. Martin gab ruhig Antwort auf die Fragen, die man ihm stellte.
„Ein Krüppel werd’ ich wohl bleiben,“ sagte er zuletzt, „aber ich gäb’ gerne meinen ganzen Fuß hin, wenn sie nur diesen Menschen wieder erwischen thäten; meinen Rock und meinen Hut hat er auch.“
„Um das hat er Dich geprellt, um seine Flucht zu begünstigen,“ sagte Preisheim, „denn dieser Mensch, mußt Du wissen, war ein entsprungener Sträfling.“
Der Wurzelgraber schlug die Hände zusammen. Da sucht er das Reich Gottes und geht mit Verbrechern um und entführt sie der Strafe!
Nun führten sie Martin in die Todtenkammer, und als man die Leiche vor ihm aufdeckte, sahen ihm die Männer in das Gesicht. Nach der ersten Ueberraschung war der Bursche ruhig und er sagte leise: „So schaut’s jetzt aus mit ihm?“
„Ist das der Mann, der Dir im Walde begegnete und Dich zum Anhalten des Pferdes verleitete?“ fragte einer der Beamten.
„All mein Lebtag, freilich ist er’s und meinen Rock hat er auch noch an!“ sagte Martin.
[S. 301]
Nun erzählte der Doctor mit wenigen Worten, wie man den Flüchtling todt im Wolfswalde fand und daß er sich wahrscheinlich durch einen Sturz vom Pferd, das unter dem fremden Reiter wild geworden war, das Genick gebrochen habe.
Martin horchte, aber er hatte andere Gedanken; er hatte bemerkt, daß die Leiche an dem linken Fuß nur vier Zehen habe. Dieser Umstand hatte Sinnen und Brüten in ihn gebracht.
„Es ist gut,“ sagte einer der Gerichtsmänner, und der Doctor ließ Martin wieder zurückführen in seine Stube. Dann traf man Anstalten zur Fortschaffung der Leiche.
Der Doctor rechnete gut, wenn er Menschengemüther berechnete. Er glaubte, daß auf eine grübelnde, nach Gerechtigkeit schmachtende Seele, wie die Martin’s war, der vorliegende Fall irdischer Sühne einen günstigen Eindruck machen müsse.
Diesmal aber hatte er sich getäuscht.
Martin arbeitete nicht weiter am Pfeifenkopf, er hielt seine Hände über das eingebundene Knie und sah vor sich hin. „’s giebt denn doch ein Reich Gottes auf Erden!“ murmelte er, „der Uebelthäter entgeht nicht dem Gerichte. – Und wenn es über den Menschen eine Macht giebt, die auf Erden das Böse bestraft, so muß es auch eine Macht geben, die auf Erden das Gute belohnt. Wo ist diese Macht? – Und, Martin, hat dir nicht Jemand gesagt, daß Einem am linken Fuß eine Zehe fehle? Wer hat dir das gesagt und von wem?“
Der Bursche sann und sann. Endlich fiel es ihm ein; jene Bettlerin in der Köhlerhütte hatte vor Jahren ein Kind verloren, welches dieses Merkmal trug. „Vielleicht,“ so[S. 302] murmelte er wieder, „war dieser Mörder der Bruder jenes Wesens, das sie im Walde begraben und in dessen Herzen ich das Reich Gottes gesucht habe. Freilich, freilich lag’s darin, weil es ein Kindesherz war. Und ich Narr hab’ das anders verstanden – – die Kreuzspinne und der Zauberer im Märchen – ach Gott, ja, nun seh’ ich’s wohl, daß ich den Verstand verloren hab’, nun seh’ ich’s wohl!“
Der Arme begann heftig zu weinen und als gegen Abend der Doctor wieder kam, lag er im Fieber. –
Heiterer war es am Lager der Nothburga. Als das Mädchen den Arzt sah, lächelte es und sagte: „Jetzt werd’ ich doch noch einmal gesund, mir hat vom Martin geträumt, daß er ein schneeweißes Kleid anhat und daß er zu uns kommt.“
Der Doctor faßte ihre Hand: „Wie steht’s mit dem Puls, Nothburga? Ei, recht gleichmäßig. – Wenn er aber doch nicht käme, Nothburga?“
„Wer, der Martin? In Gottes Namen, wenn er nur unschuldig ist. Und Euch habe ich auch lieb.“
In derselben Nacht that der Doctor kein Auge zu. Er saß in seiner Stube und ließ die Sterne durch das Fenster scheinen. – Nothburga ist schöner als je.
– Nothburga wird gesund, sie wird leben und blühen, sie wird einen Mann glücklich machen, sie wird die Freude und die Weihe seines Hauses werden, sie wird ihm junge Menschen schenken, die seinen Namen weiter tragen. – Das Alles keimt in ihr, die jetzt durch mich der Gesundheit entgegen geht. Ich habe sie gerettet – wem gebührt nun das?
– Martin! Er ist nichts – nichts als arm, arm bis tief hinein in die Seele. Aber er ist jung und war Nothburga’s Spielgenosse und sie hat ihn lieb. Nothburga ist[S. 303] treu, sie wird ihn lieb haben, so lang’ er ist, aber sie wird mit ihm unglücklich werden, denn seine Seele ist voll Grübeln und Zweifeln und sein Herz hat kein Gefühl außer für seinen Wahn. Und er selbst wird fürchterlich darunter leiden, wird körperlich und moralisch zugrunde gehen und vielleicht ist es endlich gar der Selbstmord, in dem er sein Reich Gottes sucht. – Das Beste wäre, der Arme hätte es überstanden. – Giebt es nicht Fälle für den Arzt, in welchen es seine Pflicht wird...
Es wurde an die Thüre geklopft.
Wer mag das sein um Mitternacht?
„Herr Doctor, wacht auf!“ rief eine Stimme, „kommt zum Kranken!“
Der Doctor machte Licht und ging über die Treppe.
Martin lag in heftigem Fieber und in einer Art Fraisen bebte er am ganzen Körper. Der Arzt ließ ihm Eibischthee bringen, dann befahl er, daß man den Burschen zudecke und bei ihm bleibe.
Hierauf ging er in die Apotheke und bereitete einen Trank.
Später nahm er ein großes Buch und blätterte in demselben und sann. – Haben es die Berufsgenossen denn nirgends aufgeschrieben, wen sie still hinüber führen dürfen? – –
Und wie das heiß war in der Stube!
Der Doctor riß einen Fensterflügel auf. Kalte Winterluft strömte herein und löschte das Licht aus. Er zündete es nicht mehr an, mit gekreuzten Armen schritt er über den Boden.
Leben und Sterben! Wer ist Herr und Richter über die Geschicke der Menschen? –
[S. 304]
Was flattert doch jetzt durch das Fenster herein? Es ist ein kleines, buntes Wesen, wie ein verlorenes Blumenblatt, dem fernen Maien entführt. Still kreist es um das Haupt des Mannes und läßt sich endlich nieder auf dessen Hand, die über der Brust liegt.
Ein Sphinx?!
Der Doctor erhascht das Thier, macht Licht und betrachtet es. –
„Deilephila Euphorbiae!“ rief er überrascht aus – „und du flatterst noch? Ja, weißt du nicht, daß wir morgen in den November gehen? ’s hat dich wohl schon recht gefroren da draußen und du hast doch noch nicht wollen schlafen gehen. Ei, du kleiner Falter, was willst du denn über den Winter auf der Erde? Ja freilich, leben willst du, und da bist du in mein Stübchen gekommen, daß ich dich bewahre. Nun, wollen ja sehen.“
Der Mann schloß das Fenster und ließ den Schmetterling frei.
– Und ist’s noch so kalt und spät, leben und nur leben! –
Der einfältige, geistesarme Martin ist bereit, sich aufzuopfern für das Glück der Mitmenschen. Ich geschulter, erfahrener Mann, den man den Gelehrten und Guten nennt, soll das ja auch können müssen! Preisheim, Du hast dem Geburtsadel Deiner Ahnen entsagt, gründe Dir einen eigenen in Deiner Mannesbrust! – Wohlan, es möge denn sein, ich entsage – ich opfere mich dem Reiche Gottes auf Erden. Martin wird geheilt und frei sein und in Nothburga’s Wesen wird seine Seele zur Ruhe kommen, in ihr wird er sich und sein Ziel finden. Und das wird die Auflösung sein, zu der ich ein umschleiertes, nach Glück und Frieden ringendes Menschenwesen führen will. Es leite mich der große Geist! –
[S. 305]
Der Doctor zog am Glockenzug, eine Wärterin kam und holte den Trank für Martin.
Hierauf schickte sich der Mann an, zu Bette zu gehen. Als er das Licht auslöschen wollte, fand er vor demselben auf dem Tisch den Schmetterling mit verbrannten Flügeln.
– – – – – – – – – – – –
Es war am Morgen des elften November, als der Doctor Preisheim in die Stube trat, wo Martin Holzlöffel und Pfeifenköpfe schnitzte.
Er wünschte dem Wurzelgraber Glück zu seiner Genesung und zum Namenstag.
Diesem wurden die Augen naß und er sagte: „Doctor, das ist mir noch mein Lebtag nicht passirt, daß mir wer zum Namenstag einen Glückwunsch gesagt hätte. Vergelt’s Euch Gott, daß Ihr mir diese Freude gemacht habt.“
„Und da hab’ ich Dir noch ein Angebinde zu übergeben.“ Der Doctor hielt einen zusammengelegten Brief in der Hand, den er dem Burschen hinhielt.
Dieser wollte nicht angreifen: „Wüßte nicht von wem, wer thät denn mir einen Brief schreiben?“
„Das Gericht, Martin, ei, so sei ruhig, das Gericht schreibt Dir, daß Du frei bist von Schuld und Verdacht.“ Er öffnete das Schreiben und las es laut, dabei mußte er seine freie Hand hinter den Rücken halten, denn Martin wollte sie unzähligemale küssen.
Es war eine große Freude in der Stube.
„So wärest Du gesund und frei, Martin, was wirst Du nun machen?“
[S. 306]
„Ja, ich werd’ halt jetzt hinauf in meine Hütte gehen und werde über den Winter schnitzen und Strohschuh’ flechten. Vielleicht thu’ ich dann einmal was Anderes auch noch, ’s mag wohl sein und man kann’s nicht wissen, aber Euch sag’ ich’s schon früher und Ihr müßt für mich reden. Schaut, ich möcht’ halt mit der Nothburga was anfangen. Da thät’ ich Euch wohl bitten, daß Ihr mein Brautwerber wäret und sonst auch – bin Euch viel schuldig geworden! Doctor, sagt’s jetzt, was Ihr verlangt, nach und nach werd’ ich Euch das Geld schon schicken!“
„Ich verlange nichts,“ sagte der Arzt; „mit dem Weltglück aber, lieber Martin,“ der Doctor faßte die Rechte des Wurzelgrabers, „mit dem Weltglück laß es gut sein. Es mag Jeder für sich sehen, daß er’s findet. Und wenn Du denn einmal durchaus beglücken willst, so thue es an einem Einzigen, besser ist es, einem Verschmachtenden den Trunk Wasser zu reichen, als Allen das Himmelreich schenken zu wollen. Und selbst, wenn Du dieses auch hättest, die Menschen würden es von Dir nicht nehmen, sie thäten Dich nur steinigen. Merke Dir das und arbeite für Dich und Deine Hütte; baue Dir ein festes, friedliches Daheim und mache es, unbekümmert um alle Stürme draußen, zu einem Reiche Gottes. – Sollte Dir aber doch wieder einmal ein schwerer Gedanke kommen, so geb’ ich Dir dagegen ein Mittel mit, das Dein Gemüth erleichtern und erfreuen und Dir helfen wird. Komm’ mit mir in meine Stube!“
Und als sie in seine Stube kamen, da saßen in derselben auf der Ofenbank – die Nothburga und ihr alter Vater.
[S. 307]
Am Abend, als in dem großen Zimmer des Armenhauses die Lichter brannten, als Alle, die Lahmen, die Tauben und die Blinden um den Tisch herum saßen, und als die Verlobung vorüber war und Martin, hübsch herausgeputzt, seinen Arm um Nothburga schlang, sagte der Bursche:
„Jetzt erst weiß ich, warum mir damals auf dem Hochpaß die Kreuzspinne zum Herzen gekrochen ist!“
– – – – – – – – – – – –
Am andern Morgen ging Martin mit seiner Braut und mit seinem Schwiegervater in’s Gebirge; er hinkte wohl noch ein wenig, aber er stützte sich, wo es über Wurzeln und Gestein ging, ein bischen auf Nothburga.
„Magst Dich schon recht anhalten,“ sagte diese, „ich bin wieder kernfrisch und halt’ schon was aus!“
Der Doctor sah den Dreien lange nach, hernach gab er noch einige Anordnungen im Armenhaus und ritt dann einsam die Straße entlang gegen Dernau.
Diese Geschichte hatte eines Tages ein alter Mann erzählt. Ein junger Mensch schrieb sie auf, bevor er sie vielleicht noch recht verstand. Der gehörte zu denen, die – um in seinem Pathos zu reden – mit verbundenen Augen und auf Umwegen dem Reiche Gottes zustreben – den Idealen des Guten und Schönen.
[S. 308]