Eine dänische Geschichte

Adele Schopenhauer

Roman

von

Adele Schopenhauer.

Braunschweig,
Druck und Verlag von George Westermann.

1848.

Auf der süd-östlichen Küste der Insel Laaland erhebt sich das alte Städtchen Nysted, welches sich zu den frühesten Dänemarks zählt, da es schon im Jahr 1409 durch Erich von Pommern Stadtrechte erhielt. Wie aus einem dicken Laubkranze schaut es von seinem grünenden Hügel aus weit hinein in das Land – über Laaland und Falster hin, ja dem Meer entlang bis nach Femern und Rostock, und seine berühmten Lindengänge erzählen sich im Abendwind ganz wundersame Geschichten: der träumerische Nachthauch streicht über heidnische Grabhügel, über verfallene Gerichts- und Opferstätten hin, und hilft dem kundigen Greis die in seinem Kopf zerstreuten, halbverlorenen Klänge der alten Saga zusammensuchen, die ihm vom Ur-Ahn auf Großvater und Vater vererbt sind. Denn der Nordländer, besonders aber der Landbewohner hört gar gern erzählen von lang vergangenen Tagen, wenn der strenge Winter ihm Thor und Fensterladen schließt und ihn zurückdrängt in die engen Kammern.

Auf dem höchsten Steine der ehemaligen Schanze, an der Mündung des Hafens, saß ein junger Mann, nachdenklich beide Arme auf ein Mauerstück gelehnt und schauete bald zum bewölkten Himmel auf, bald in die frische Landschaft hinein, sah aber dabei aus, als gedenke er gar anderer Ruinen, gar anderer Hügel und Meere; ihm war das Herz sichtlich schwer. Auch er war ein beliebter Erzähler des Städtchens; er hatte oft und gern seinen staunenden Zuhörern den bunten Schleier seiner südlichen Anschauungen über dies stille Grau der Nebel hingebreitet, in denen der Frühling, wie ein Kind in seinen Windeln, tief in's Jahr hinein schläft, und dann mit einem Male aufspringt, da ist in voller Schöne und Kraft und wie ein junger Herkules die alte Winterschlange zerdrückt. Das hat der höhere Norden mit dem Süden gemein, daß dort wie hier der ganze Lenz, wie seine einzelne Blüthe, in der geschwellten Knospe steckt; und ihn der heiße Sonnenstrahl plötzlich erweckt zum üppigsten Leben, während man in Mittel-Deutschland ihn lange kommen sieht, und heute die Primel, morgen die Kirschenblüthe findet, eine Woche lang das Maienglöckchen erwartet, und so allmälig Blume um Blume willkommen heißt und begrüßt.

Drei Monate schon war der Reisende in Nysted; seit drei Wochen liebte er; seit drei Wochen war ihm, außer dem kleinen Fleck Erde Laaland, die übrige Welt dunkler geworden als der bewölkte Himmel, den er anstarrte. – Darum also war er in Italien gewesen, hatte Rom gesehen, dort und in Florenz Jahre lang studirt, um hier hoffnungslos einem bleichen Mädchenantlitz gegenüber festzuwurzeln? – Wo waren dann seine Wünsche und Träume geblieben, und all die weitausgreifenden Pläne der Seinen? – Wie welke Blätter im Sturm kreisten und wirbelten Erinnerungen und Vorstellungen durch seine Seele: – er gedachte seiner Mutter in Plön, wohin sie von Copenhagen gezogen, um wohlfeil zu leben, einsam mit einer alten Magd, jeden Pfennig zu sparen und mitten in den Unruhen des Kriegs ihn zum Künstler zu bilden; er gedachte seines Ohms, des Rathsverwandten Hagemeister, der als solcher eine kleine Anstellung in Roeskilde erhalten, und mit unsäglicher Mühe durch des Bischofs Gnade den Auftrag ihm verschafft hatte, der zuerst ihn nach Nysted geführt. – Eben durchbrach die Sonne, mit hellem blassen Strahl sie durchschneidend, die schwere Wolkenhülle; aufblitzte der goldne Thurmknopf der das ganze Städtchen hoch überragenden Kirche; die Arbeitsstunde war gekommen, und die Möglichkeit im alterthümlichen Bau des Gotteshauses die Farben zu sehen und scharf zu unterscheiden; – der Maler warf alle Gedanken zur Seite und eilte der Bucht entlang den Weg zurück in die Stadt, die steile Gasse hinauf zur Kirche; sie war geschlossen am Werkestag; das Frühgebet war längst vorüber. Thorald mußte herumgehen bis an des Küsters Haus; er klopfte leise an die runden Scheiben des kleinen Fensters, es öffnete sich sogleich und ein feiner Mädchenkopf beugte sich hervor.

»Ei guten Morgen, Herr Eynerssen! Der Vater ist nicht mehr daheim, er ist auf Schloß Aalholm zum Grafen, und ich soll Euch führen; die Schlüssel hat er mir gelassen, ich komme gleich hinab!«

Im Augenblicke stand sie, in ein bescheiden Mäntelchen gehüllt, neben ihm, – »aber laßt Ihr mich nun auch das Gemälde sehen, lieber Herr? ich habe mich so lange darauf gefreut, allein der Vater ist so streng; der hält am gegebenen Wort wie eine Eisenklammer. Ihn kümmert es gar nicht, daß mich die Christine und Elisabeth und Sophie verspotten, weil ich, gleichsam ein Kirchenkind, das Bild noch nicht gesehen, da Ihr es doch schon vor drei Tagen hingebracht.« –

»Wenn es fertig ist, Gianina, sollst Du es zuerst sehen, früher als alle Anderen; heute aber kann ich Dir den Gefallen nicht thun, ich muß den Eindruck, den es macht, an Ort und Stelle selbst betrachten, ihn wohl berechnen, manches ändern und hineinmalen.« –

»Da verwälscht Ihr mir wieder meinen ehrlichen Christennamen und thut mir dennoch nicht das kleinste zu Liebe! Johanna heiß ich, hundertmal habe ich's Euch schon gesagt! Würde das klingen ›Gianina Kaalund‹? hört doch selbst, wie das acht und kracht! Es paßt zusammen wie die Faust auf's Auge.«

Während dem Sprechen hatte das Mädchen die schweren Schlösser geöffnet; sie traten durch die Sacristei, welche der Kirche anhing wie ein unförmliches Schwalbennest, in die dämmernde Stille des Seitenschiffs. Die weißgetünchten Räume gehörten dem normannisch-romanischen Styl an, der edle Bau war frei und nicht durch schwerfällige Mittelchöre verunstaltet; ein frommes, freudiges Dankgefühl schlug an des Malers Herz – rasch schritt er vor nach der Mitte des Altars und überflog mit flammendem Auge die seiner Tafel bestimmte Stelle; hinter derselben stand das wohl verhangene Bild. Daneben lehnten eine Leiter und eine staffeleiartige Vorrichtung, um das Gemälde in die ihm bestimmte Höhe zu bringen und ihm das passende Licht zu geben. Der Maler hatte die Absicht, an Ort und Stelle das Gemälde zu vollenden, und dann erst dem Magistrat, welcher es für die Stadtgemeine bestellt, zu überantworten.

Unterdessen war Carlson, ein langer blonder Knabe, welcher dem Maler aufwartete, mit dem Malergeräth angelangt. Thorald und er gaben sich sogleich daran die Tafel aufzustellen. Das Mädchen hatte der Künstler längst vergessen.

Die Kleine war scheinbar hinausgegangen, dann umgekehrt und hinter einen der großen Pfeiler geschlüpft; sie schaute von dort sachte hervor auf Beider Treiben, in der Hoffnung, wenigstens von weitem ihre Neugier befriedigen zu können.

Jetzt war das Bild mit dem leeren Altarraum in gleiche Höhe gebracht, es stand demselben zur Seite; Carlson ward entlassen. Zögernd blieb der Meister mit verschränkten Armen vor seinem Werke stehen, als scheue er die Enthüllung desselben. – Carlson strich dem Pfeiler vorüber, welcher Johannen barg; sie glitt geschickt um denselben herum und war nun dem Gemälde um so näher. Endlich flog der Vorhang zurück. »Mein Jesus, das Schloßfräulein!« schrie Johanna sich selbst vergessend auf. Wie von einem elektrischen Schlage getroffen taumelte der Maler zurück. »Du hier, Johanna? und Sie – Helene? das Fräulein von Gejern wollte ich sagen – aber wo, um Gotteswillen, wo ist sie? sprich doch Mädchen!«

»Was fällt Euch ein! Ihr träumt, lieber Herr. Das Fräulein außer aller Kirchenzeit hier in dem verschlossenen Gotteshause? ich meine da die heilige Martha neben unserer Herrgottsmutter auf dem Gemälde, sie ist ihr ja wie aus den Augen geschnitten! Wird sich die wundern, und der Herr Graf! – aber der Johannes sieht ihr wahrhaftig auch etwas ähnlich! – und davon sagt mir der Vater kein Sterbenswort!«

Heiß erröthete der junge Mann, ob aus Liebesentzücken oder Scham ist schwer zu sagen, denn die in's Auge fallende Aehnlichkeit war ihm unbewußt aus der Seele in die Farbe seiner Pinsel gedrungen; dann versuchte er des Mädchens Ausspruch zu widerlegen, ja, er schalt ihn sogar eine thörichte Einbildung, der des Fräuleins Ohr ja nicht berühren dürfe; er bewies ihr den Irrthum in tausend Abweichungen des Originals vom Bilde. –

»Meinetwegen, lieber Herr Eynerssen, ich gebe Euch gern zu, daß unser Fräulein weder so betrübt aussieht – Gott sei Dank! noch so fromm; aber das sind ihre schönen lichtbraunen Haare, ihre klaren Augen – das ist die schmale Unterlippe, mit der sie so drollig trotzen kann, das ist ihre freie gerade Nase; es ist ja zum Sprechen! Und so narret mich doch nicht, indem Ihr mir weiß machen wollt, es sei das Alles ganz von selbst gekommen, habt Ihr doch eben das Conterfei der drei Fräulein im Schlosse vollendet, da hattet Ihr ja die allerbeste Gelegenheit, dasselbe Gesicht hier zu wiederholen. Die Lisbeth hat die Bilder gesehen und kann gar nicht aufhören, die Aehnlichkeit derselben zu rühmen!«

»Ich bitte, Kind, jetzt laß mich arbeiten,« bat der Maler. »Geh' jetzt – thu' mir den Gefallen! Drei Stunden lang habe ich auf den hellen Tag und auf das Sonnenlicht gewartet.« – –

»Ja wohl, ich gehe schon, aber ich hätte Euch doch gern noch viel gefragt; mir ist, als müsse ich Euch danken für Labung und Gottesgabe! Die heilige Mutter am Kreuz ist gar so schön, und Christus sieht auf uns mit solcher Barmherzigkeit hernieder, daß man so recht im Gemüthe fühlt, wie er für uns gestorben ist!«

Als sie draußen war, schob Thorald die Riegel vor und kehrte dann zu seinem Bild zurück; er wollte die Aehnlichkeit wegbringen durch ein paar kühne Pinselstriche, wär's auch auf Kosten seines Bildes, aber den geliebten reinen Zügen gegenüber sanken ihm Hand und Muth. – »Haben es doch Rafael und Andrea auch gethan!« flüsterte er vor sich hin – »vielleicht gewahrt sie es nicht einmal; mir ist's wie eine Todsünde, die wunderbare Harmonie dieses Antlitzes zu zerstören! Was auch für Herzeleid und Verdruß mir daraus erwachse, ich vermag es nicht.«

In einem nicht eben uneleganten, nur etwas schwerfälligen Pavillon in chinesischem Geschmack, der sich neben dem alten gothischen Schloßbau drollig genug ausnahm, und recht wie zum Spott unserer schwächlichen Modernität mit dessen vier, fünf Ellen dicken Mauern contrastirte, saßen am Abend desselben Tages drei junge Mädchen, zwei von ihnen mit Nähen und Spitzen-Klöppeln emsig beschäftigt; – Laaland bewahrt noch seine primitive Fabriken- und Lädenscheu, und Nysteds 800 Einwohner gehen alle, von der Mode unberührt und unbelästigt, im großväterlichen und großmütterlichen Schnitt einher. Die Damen mußten also nothgedrungen zu ihrer eigenen Modernisirung Hand anlegen. Den beiden fleißigen Schwestern gegenüber saß Helene, mit dem Rücken nach dem Fenster gekehrt, und schaute verstohlen über die Schultern hinweg, der Lindenallee entlang, welche Schloß und Städtchen verbindet. Sie beachtete keines der Copenhager Gesellschaftsbilder, welche jene Beiden mit unerschöpflicher Phantasie ihr entwarfen; wie aus einer weitentlegenen Welt schaute sie sichtlich, ohne alles Verständniß des ihr Vorgetragenen, über den kleinen schmalen Theetisch zu den lustigen Schwätzerinnen hin, die, glücklicherweise viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, ihre Zerstreutheit nicht bemerkten. –

»Bruder Joachim und Elisabeth kommen auch zum Pferderennen nach Copenhagen,« sagte Amalie, »Christian will nur ein halb Dutzend Ackerpferde zum Verkauf hinüberschicken – wird sie nicht Staat machen, die Gnädige. Nun, da bekommen wir wenigstens neue Muster.«

»Nach Wallöe? o ja! aber schwerlich bis hieher nach Laaland! Und alles können wir doch nicht selbst machen, oder gedenkst Du in Nysted eine Putzmacherin zu suchen? Danke Gott, wenn Du einen Schuster findest!«

»Wie Du nun wieder übertreibst, Annette, Dir ist der Aufenthalt hier zuwider, und doch ist er so friedlich, so recht gleichförmig und ruhig, wie ich immer leben möchte; ich habe diese grünen fetten Weiden gern.«

»Gern? ist's etwa angenehm zwischen Ochsen und Kühen, durch Dick und Dünn in schweren Holzschuhen dem Sonnenuntergange entgegen zu waten, im Moor stecken zu bleiben und dann allenfalls vom alten Niels gerettet, wie ein nasser Sack in irgend einem Bauernhofe als »Gräfliches Eigenthum« abgeliefert zu werden?«

»Uebt man doch kein Morast-Strandrecht an uns aus! Ich bin lieber hier als in Wallöe; das Stift wird mir nicht zum Vaterhause. Hätte Christian mein Herz für Aalholm, es sollte bald hier anders werden. Es war auch anders zu der Mutter Zeit, sogar noch in des Vaters Witwen-Jahren, ehe all die Modernisirungsversuche den Bauernstand uns fern stellten; es war etwas patriarchalisches in der Abhängigkeit.«

»Ich meine, der Bauernstand sei unserer Gegenwart etwas näher getreten, als für unser Aller Glück nothwendig,« erwiederte Annette; das hübsche Milch- und Rosen-Gesichtchen überflog ein Zug seltsam spöttischer Bitterkeit.

Am gegenüberliegenden Ende des Gartens erschien jetzt eine bleiche noch jugendliche Frau; sie trat aus dem Schlosse und schritt mühsam die hohe Steintreppe hinab in den Gang, der zum Pavillon führte; ihr etwas trüber Blick überflog die Kieswege und die steifgeschnittenen Taxuswände, als suche er etwas; ein leises, fast unmerkliches Kopfschütteln sprach aus, daß sie es nicht gefunden; – so näherte sie sich langsam den Schwestern. Helene, ihren wogenden Träumen hingegeben, bemerkte es nicht; die andern Beiden blieben in plötzlich veränderter Haltung sitzen, etwas Gliederpuppenartiges und angestrengt Eckiges legte sich über dieselben und es breitete sich eine feine, doch keineswegs grelle Affectation über den ganzen Ausdruck ihres eben noch so ganz natürlichen Wesens aus.

Eva, so hieß die Neuhinzugetretene, grüßte freundlich ihre Schwägerinnen und setzte sich zu ihnen; sie athmete beklommen. In Laaland geboren, hatten ihr dennoch der feuchte Moorboden und dessen ungesunde Ausdünstungen geschadet; ihre Gesundheit war zerstört. Sie hatte mit ihrem Gemahl, dem Grafen Christian, fünfzehn Jahre in Jütland zugebracht, bis das ihm nach seines Vaters Tode zufallende Majorat sie veranlaßte, nach Aalholm zu ziehen. Jütland aber ist der romantische Theil Dänemarks; es hat weder Fühnens überreiche Vegetation, noch Seelands städtischen Reiz, aber es vereinigt den Wechsel wilder, rauher und fruchtbarer Gegenden; es hat die höchsten Berge, Waldungen und Seen, anmuthige Buchten und Flüsse – und sein kaltes Klima ist nicht schädlich wie das des kaum sich über den Meeresspiegel erhebenden Laaland.

Eva legte leise ihre schmale abgemagerte Hand auf Helenens Schulter, um sie aus ihren wachen Träumen zu erwecken; »es ist schön heute Abend,« sagte sie, »seit dem Mittag hat sich der Horizont entwölkt, wolltest Du nicht ausgehen oder ausfahren?« »Meinst Du, daß es schön bleiben wird, bis Sonntag und wir Alle nach Nysted in die Kirche gehen können?« fragte, gleich in ihre Gedanken ganz zurücksinkend, das Mädchen. Sie schüttelte die lichtbraunen Locken aus dem Gesicht und hob das von Johannen beschriebene Antlitz zu der vor ihr Stehenden empor; man fühlte die Wärme und Innigkeit des strahlenden Blickes, die vertrauende Liebe, die sie der Schwägerin verband. »Ich glaube,« fuhr sie leicht erröthend fort, »das Altarblatt wird fertig sein, es könnte wohl zur Feier des Johannistages aufgestellt werden.« –

»Freilich haben wir lange genug darauf gehofft, aber Du vergißt, liebes Kind, daß unsere Herren nach Copenhagen wollten.« –

»Bewahre! Christian schickt nur seine Pferde hin und Joachim und Friedrich gehen von ihren Gütern aus direct, ohne mit uns zusammen zu treffen; sie gedenken zum Erntefest hier auf Aalholm uns zu besuchen,« sagte Annette. Die arme Gräfin wurde noch ein wenig bleicher als sie gewesen, Christian hatte ihr von all diesen Veränderungen seiner Pläne nichts gesagt!

Helene sah sie sorglich an, »Christian,« sagte sie, »hat erst gestern Abend die Briefe erhalten, er ist mit dem Inspector nach Engholm; Du weißt, heute Morgen hat er eine Kiste Bücher bekommen, und vermuthlich über die Geistesverwandten die Brüder vergessen!« – Schmeichelnd streichelte sie die zitternde Hand, welche von der Schulter herabgeglitten jetzt in der ihren lag. »Oder mich!« – seufzte Eva, unhörbar leise.

Ein Männertritt erklang über den Kies der Gartenwege; während des kurzen Gesprächs war nun, doch von Helene nicht unbemerkt, Thorald am Pavillon vorbei und durch die kleine Gartenpforte hereingekommen; er trat, sich entschuldigend, daß er nicht angemeldet, zu den Damen. –

Er mochte Helenen früher auf diese Weise allein angetroffen haben, denn Beide waren sichtlich verlegen, und die andern Schwestern flüsterten sich etwas zu: Annette zuckte lächelnd die Achseln. Die Gräfin blieb verstimmt und wurde mit jedem Augenblicke trauriger. Das Gespräch drehte sich um die Politik des Auslandes und die damals noch wie elektrisch auf die Gemüther rückwirkenden Nachrichten aus Frankreich. Thoralds Aufenthalt als Künstler in Italien, auf dem so vielfach erschütterten Boden, in der von tausend Freiheitsträumen und Kriegsereignissen bewegten Zeit, hatte für die Frauen etwas Fabelhaftes, das ihn wie mit einer Aureola umwob.

Endlich kam auch Graf Christian; eine edle Erscheinung. Er ging ein wenig vorn übergebogen aus übler Angewöhnung; richtete er in irgend einer Geistes- oder Gemüthsanregung sich auf, so gewann seine Gestalt etwas Ritterliches, das an Majestät grenzte. Seine Züge hatten eine formelle Strenge angenommen, die nicht mit physischer Kraft gepaart, fast unnatürlich erschien; die schmale kleine Hand und die dünnen Knöchel derselben verriethen sogar eine körperliche Schwäche, die jedoch nicht ohne Anmuth hervortrat. Ohne unbeholfen sich zu zeigen, war der Graf leicht, selbst im engsten Familienkreise verlegen, seine etwas ungelenke Vornehmigkeit und der seinen Tagen anhangende Mangel einer vollendeten Erziehung, welche überall Sicherheit gewährt, trugen Schuld daran. Unendlich schön waren seine dunkelgrauen Augen; sie hatten einen wunderbaren Reiz, den man sich nicht zu erklären vermochte, denn sie belebten sich selten; eine Art schwermüthiger Düsterheit war in ihm allmälig zu der stillen Beschaulichkeit geworden, die ihn fast zum Gelehrten stempelte. Fünfzehn Jahre hindurch hatte er in einem jütländischen Dorfe gelebt, und war auch dort ein Träumer geblieben, den nur momentane Noth zum Handeln zwang, den selbst die Beschränkung der Armuth nicht zum praktischen Menschen auszubilden vermochte. Er war zeitgemäß elegant gekleidet, hatte feine Wäsche und ungepudertes Haar, überhaupt aber eine gewisse Zierlichkeit, welche gegen die Derbheit seiner Gutsnachbarn abstach.

Im Eintreten fiel sein Blick auf den Maler, seine Stirn umwölkte sich.

Thorald unterhielt die Damen voller Laune und Gewandtheit, kaum unterbrach des Hausherrn Ankunft das Gespräch, denn die Mädchen dürsteten in ihrer Abgeschiedenheit nach überseeischen Neuigkeiten; Besuche waren bei der Unfahrbarkeit der Wege selten.

Als Thorald endlich neben Helenen einen unbemerkten Augenblick gewann, flüsterte er ihr die Bitte zu, wo möglich sein nun aufgestelltes morgen zu vollendendes Bild vor dem Sonntagsgottesdienste in der Kirche zu sehen. Glühend vor innerer Lust und in gegenseitig sie überwältigender Leidenschaft ganz versunken standen Beide vor einander, ihn steigerte ein stolzes Selbstgefühl, sie berauschte der Gedanke an seinen künftigen Ruhm; denn selten nur kamen Künstler auf die stille Insel. Der nur von Ackerbau lebende Laaländer vermag sie nicht herzulocken! Seit Menschengedenken hatte man keinen Maler in Nysted gesehen, und die beiden schönen Gemälde der alten Kirche dankten ihr Entstehen katholischen Donatoren, und gehörten weit früheren Jahrhunderten an.

»Graf Brahe Trollenburg« meldete ein vierschrötiger Diener, welcher trotz seiner Livrée einem deutschen Großknecht nicht unähnlich sah – Fräulein Annette erröthete zur Rose! – Der reiche Gutsbesitzer aus Seeland war ihr nicht fremd! Während ihres Winteraufenthaltes in der Residenz, so kurz er gewesen, hatte sich in dem jungen Manne eine dauerndere Empfänglichkeit für des Laaländer Fräuleins Reize erzeugt, als den Copenhager Damen billig schien. Der Graf war reich und eine vortreffliche Partie. Er war nach Aalholm gekommen, um das Herzensterrain seiner Schönen zu sondiren und im Ehestandshafen zu ankern.

An der Art, mit welcher Graf Christian ihn bewillkommnete, erst seiner Gemahlin vorstellte und ihn dann seinen Schwestern zuführte, errieth Thorald sogleich den künftigen Schwager, – eine unaussprechliche Beklommenheit bemächtigte sich seiner, die eben noch so fließenden Erzählungen aus Italien stockten, des Hofmanns Gegenwart drückte ihn zurück in den Schatten. Es war bei dem sehr abgeglätteten Tone des Trollenburg nicht leicht zu durchschauen, welcher der drei Damen die Bewerbung des vor kurzem Majoratsherr Gewordnen gelte – es drückte dem Maler fast das Herz ab; in verzweifelnder Stimmung verließ er die Gesellschaft, man machte keinen Versuch ihn zurück zu halten; trostlos kehrte er zu dem Städtchen zurück.

Unweit des Thores begegnete ihm Johanna, sie hatte den Leuten auf dem Felde ihr Vesperbrot gebracht, und trug eine Menge Geräthschaften und einen großen schweren Wasserkrug heim. Sie näherte sich Thorald, um ihn zu fragen, ob er in die Kirche verlange, der Vater sei auf der Feldarbeit mit dem Knecht; sie hätten's eilig, denn morgen sei an ihnen die Frohnfuhre, der Acker aber erst halb bestellt.

»Frohndienst? Ihr als Bürger? unmöglich!«

»Doch, lieber Herr, wir haben von Alters her Land in Pacht vom Herrn Grafen; obschon wir eines Theils losgekaufte Bauern sind, stehen wir ihm noch in Frohn und Zehnten. Der Herr aber ist glimpflich, allein der Vogt! Erbarme sich Gott! Ehmals, da wir Leibeigne waren, mag es noch schlimmer hergegangen sein; Großvater hat uns oft geklagt, wie die Verwalter zu seiner Zeit den Bauern geschunden! Wie er in der Kornschatzung nicht nur gehäuftes Maß, sondern noch eine Zugabe für's Schwinden oder Senken habe liefern müssen – wie nicht nur bloß die armen Gäule ihm zur Ackerfrohne eingespannt wurden, o nein, wie sie zum eignen Dienste jedes Knechtes, jeder Magd des Herrnhofes bereit sein mußten; konnte doch damals nicht einmal der Hundejunge zu Fuße durch das Moor, stand gleich der Bauer bis zum Knöchel d'rin, und watete selbst schwerbelastet neben seinem Vieh, um das Getreide zur Mühle zu fahren, den Sand vom Strande zu holen für den Vogt – o lieber Herr! es war eine harte, schwere Zeit! Selbst unsre liebe Gräfin weiß ein Lied von ihr zu singen; helf' ihr Gott! und sie ist doch uns Allen eine so gnädige Herrschaft!«

So unbequem Thorald die Anrede der Dirne empfunden, so ganz verloren ihr frischer Reiz dem Jüngling gegenüber blieb, so blitzstrahlartig traf ihn dieses Wort. »Was meinst Du, Mädchen?« fragte er harsch ihren Arm ergreifend, »was soll das heißen?«

»O nichts für ungut, lieber Herr, verzeiht! Ihr wißt ja selber wohl, daß unsre Gräfin die Tochter des Peter Owens ist, der den großen Hof zu Engbolle in Pacht hat; es ist freilich nicht gut davon reden, die gnädige Herrschaft hört's nicht gern; aber Ihr, was geht es Euch an! da droben zu Aalholm, ja, das ist etwas anders, ein Jeder sagt, es sei ein Nagel zum Sarg des Hochseeligen gewesen und geblieben!« Sie hob den Krug, den sie neben sich auf einen Stein gestellt, mühsam auf, um weiter zu gehen, Thorald stand ihr freundlich bei – »was hast Du denn da?« fragte er zerstreut, all seine Gedanken waren noch bei ihrer Erzählung. –

»Wasser vom Bärenborn für Fräulein Helene.«

»Seit wann thust denn Du Schloßdienste?«

»Ei im Schloß bin ich wohl selten genug! Aber das Fräulein wäscht sich nur mit dem Bärenborn, und wir Töchter der Frohn- und Festebauern müssen ihr Reihe herum das Wasser holen. Es ist freilich ein wenig weit,« setzte sie hinzu, indem sie mit dem Schürzenzipfel die Stirne trocknete, »es sind wohl anderthalb Stunden Wegs von uns aus dorthin, darum hat mir's warm gemacht!« –

»Aber wer hat Euch denn befohlen das Wasser zu holen?«

»Wer anders als der Vogt? die Herrschaft weiß wohl kaum davon! Er ist es noch von Alters her gewohnt, die Bauern zu Paaren zu treiben! Die Alten sind alle so; macht es doch unserer Gräfin Vater nicht besser! Der nimmt das Joch aus Gewohnheit selbst über den Nacken! Nun, kommt's nicht arg, fügt man sich schon.«

Lustig schritt sie mit ihrem Kruge weiter.

Die Gräfin eines Pachters – Peter Owens Kind? Das also ist die unsichtbare dunkle Last, an welcher das arme Weib so schwer trägt? ihr Großvater Leibeigener, der Vater Frohnpflichtiger, wenn auch wohl längst abgekaufter Bauer – und sie die Gutsherrschaft – die Gräfin! Also da sind wir noch? seufzte der junge Mann. O wahr, trotz den Bestrebungen der Edelsten unseres Volks, trotz Moltke, Reventlov und Colbiornsen noch nicht weiter? Wie unsäglich langsam reift die Saat des Guten – bedarf sie denn wirklich des blutgetränkten Bodens? –

In Italien und Frankreich, die er durchreis't, standen damals Bildung und Volksgesinnung auf einem so andern Höhepunkte. Napoleon hatte eben Italien unterjocht, indem er es republikanisirte; es war ein Lichtblick seines gewaltigen Lebens, – die vorangegangenen Uebertreibungen der Schreckenszeit hoben die Gegenwart glänzender hervor; Jeder wollte dort wenigstens einen Theil der ihr entströmenden Freiheit für seine oder seiner Kinder Existenz, während im Norden die Meisten vor dem Gedanken an die ihr gefallenen Opfer zurückbebten, und deren Vollgewinn in seiner damaligen Form kaum angenommen haben würden, hätte er sich ihnen geboten.

Anders freilich dachte und fühlte die Jugend, ihr war der Blutsaum des Gewandes der Freiheit Morgenröthe geblieben. Der gestörte Zustand der aus ihren Angeln gerissenen Maschine, die wir Bürgerlichkeit nennen, erschien ihr minder grell und qualvoll, als den Alten, welche der verarmten Familienväter, der kinderlos gewordnen Mütter, der Gattinnen, die ihr Theuerstes auf der Guillotine verloren, gedachten. – Frankreichs glänzende Redner hatten auch in Dänemark den heißen Durst nach einer nie empfundenen Gleichheit der Stände erweckt, versprach er doch dem edlern Individuum den unermeßlichen Reichthum einer vollständigen Entfaltung, den der innerlich Hochbegabte am schmerzlichsten entbehrt, und heißer ersehnt, als der Bettler das materielle Gut des Vornehmen.

Dem rohen Rausch vernichtender, zerstörender Bestialität des französischen Pöbels lag eigentlich das nämliche Gefühl zu Grunde, das hier und da den Schwärmer verleitete: eine Ueberschätzung seiner selbst. Umsonst haben tausendjährige Erfahrungen uns die Lehre wiederholt, daß dem wirklich bedeutenden Menschen, dem Genie, der vollständigen Geisteskraft weder äußere Verhältnisse, noch irgend eine andre Zeitgewalt hemmende Fesseln anzulegen vermögen; für die Meisten sind der obscure Mönch Luther, der Schiffsjunge Peter von Rußland, und der uns viel näher stehende Napoleon Bonaparte keine Beispiele.

Ist nun dem Menschenherzen so natürlich, im angeborenen Streben nach Glück den größten Maßstab für die eigenen Forderungen zu wählen, ohne sie mit den eigenen Leistungen irgend in ein Gleichgewicht zu bringen, um wie viel edler erscheinen jene seltenen Naturen, die ohne persönliches Bedürfen, unter günstigen Verhältnissen, nur für die Menge fordern und, ihre Nation vertretend, sich selbst aufopfern für ein allgemeines Wohl! Fast alle wahren Wohlthäter der Menschheit haben jedoch nicht bloß gewaltig, sondern eben so mild als besonnen gehandelt. Sie sind Sterne gewesen, welche nicht nur das Dunkel des Augenblicks durchleuchteten, sondern in jeder Nacht von neuem auftauchten und hinter den sie bergenden Wolken fortschimmerten, bis ihr Strahl sie zu durchbrechen vermochte.

Die Namen der hochherzigen Männer, welche unter Friedrich V. und Christian VII. es unternahmen, Dänemarks Bauern allmälig Freiheit und Wohlstand zu bereiten, werden nie in seiner Geschichte verklingen, so langsam auch ihr oft unterbrochenes Werk vorwärts schritt, ihre Beharrlichkeit brachte sie an das Ziel. –

Wie aber die Natur den festen Eichenwald gern mit Vögeln und Schmetterlingen durchjauchzt und belebt, so stehen immer zwischen solchen ernsten, tiefen Charakteren, aus deren Reichthum Tausende ihren kurzen Lebensfaden spinnen, leichte harmlose Wesen, welche gern überall das Schönste und Beste fördern möchten, es auch manchmal zu erfassen, in der Regel aber nie es festzuhalten vermögen.

Dieser höchst nothwendigen Mehrzahl der Menschen, welche das eigentliche Element gesellschaftlicher Verbindungen ausmachen, werden allerdings nur die ihnen durch Geburt, Reichthum oder Zufall gegebenen Verhältnisse zum äußern Halt, daher die vielen Klagen über verfehlte Existenz und gehemmtes Talent. Ich glaube aber, daß wir kein einziges Beispiel haben, daß die ganze Gesellschaftswelt, in Bausch und Bogen genommen, je im Stande gewesen ist, den Außerordentlichen zu hemmen, das gesunde Genie zu zerstören! –

Thorald fand den Gang der Umstände zu langsam; ihn drängte eine innere Unruhe zum Handeln; in Napoleon sah er den Retter der Welt. »Der Schneckenlauf der Bildung meines Vaterlandes,« sagte er, »beut mir nur Kränkung und Lähmung meines Talents. Die Schwere veralteter Vorurtheile legt sich auf jede Hoffnung! Auch in Copenhagen schreitet die Kunst nur unter dem Schutz des Fabrikwesens vorwärts. In Frankreich, in Italien entfaltet eine kräftigere Hand das Panier der Freiheit! Die ihr gefallenen Opfer schlummern unter der grünen Rasenhülle, lebt noch irgend etwas von ihnen weiter in jener unendlichen Himmelsbläue voll unbekannter Welten, so ist dort das hienieden Unvermeidliche längst verziehen. Uns bleibt die Sorge, es nicht unnütz erscheinen zu lassen, den mit Feuer und Schwert bearbeiteten Acker zu besäen! Der Verlust, den Tausende beweinen, muß zum Glücke Tausender erblühen. Auch ich kann nur dort mir ein Loos erschaffen, das Helenen anzubieten würdig.«

Wenn sie aber mit Dir entflöhe! so dachte er in andern Momenten; allein wie sie erhalten, durch welche Mittel, – ob sie reich ist? – Ihm war die Frage nie eingefallen, er war zu sorglos dazu. Auch galten in Dänemark damals noch die Majorate und fast alle Töchter hochadliger Familien standen in dieser Hinsicht einander gleich. So schob er gern den Gedanken zurück, von Helenens Gelde zu leben, alles Andere wollte er ihr danken. Wenn er aber an Heirath dachte, – und seit drei Wochen that er es stündlich, – so schwebte ihm allemal ein Verhältniß vor, als Hofmaler, als bevorzugter Künstler in einer königlichen Residenz. – Dann durfte sein Ruhm neben der Geliebten Adel sich stellen; auf die aller natürlichste Weise vergaß Thorald seine republikanischen Gesinnungen und daß er eben in der Nysteder Kirche sein erstes historisches Gemälde aufstellte!

Seine Arbeit vergaß er indessen doch nicht; kaum war der erste Sonnenstrahl erwacht, so saß er auf seinem Gerüste vor dem Altarblatte; was ihm überhaupt zu thun möglich, war bald gethan. Er saß noch oben, als die angelehnte Thür leise in ihren Angeln sich drehte, und Helene von ihrer Kammerjungfer begleitet in die Kirche trat; sie hatte Commissionen im Städtchen gemacht, die offene Thür bemerkt, und so war ihr plötzlich eingefallen, einen Augenblick einzutreten. – Der überglückliche Künstler sprang zu ihr hinab, das Gerüst ward mit zitternden Händen zur Seite geschoben, – großer Gott! auf dem Altar stand ihr Bild! Daß er sie als eine der Frauen dargestellt, welche die zusammensinkende Mutter unseres Herrn unterstützen, hatte an sich nichts den ernsten protestantischen Sinn Verletzendes – und wie ein Strom stürzte der Jubel ihr in's Herz!

Thorald dagegen stand mit gesenktem Blicke bebend ihr zur Seite, eine tödtliche Blässe hatte seine Züge überdeckt – er wagte nicht sie anzusehen. Endlich war der Zustand nicht mehr zu ertragen: er schlug die Augen auf – Gott sei Dank, daß es eine Zeit im Menschenleben giebt, in welcher man keiner Worte bedarf, sich alles Nöthige zu sagen! »Aber,« fuhr sie fort, nachdem er in ihrem Antlitz gelesen, was er zur Beseligung des Augenblickes bedurfte, »was wird mein Bruder, was werden Bürger und Bauern sagen? ich bin es freilich nicht, denn die Maria Jacoba ist ja viel tausendmal schöner als ich, dennoch –«

»Helene! kann ich für die unbewußte Schuld? Des alten Küsters Tochter Johanna war die erste, welche mir es aussprach; ich wollte sogar diese mir aus dem Tiefsten meines Innern entquollene Aehnlichkeit zerstören, aber mir bebte die Hand, wie bei einer verruchten That, ich vermochte es nicht.« Heißer erröthete das Mädchen, heftiger schlugen des Künstlers Pulse: vor dem Altar sprachen sich Beider Herzen aus. Dem voltairisirenden Jüngling, der eben noch mit den Jacobinern zur »Göttin der Vernunft« geschworen hätte, trat die Liebe sanft, voll religiöser Empfindungen, wie ein ihn heiligender Glaube in die unruhige Seele, und schuf sie um zum Tempel des innigsten, frömmsten Gefühls.

Noch schwelgten die Liebenden im Anschauen ihres gegenseitigen Glücks, ohne im mindesten der Erde und ihrer conventionellen Bedingungen zu gedenken, als wiederum die Kirchenthür in ihren schweren Angeln dröhnte, diesmal aber heftig aufgerissen ward. »Der Herr Graf,« sagte das im Hintergrund vergessene Kammermädchen, »der Herr Graf.« Zum Glück war sie eine Copenhagerin!

Graf Christian prallte zurück, als er das erglühte, bebende Paar in traulichem Beisammensein vor dem Altar erblickte; aber sein Gesicht nahm den Ausdruck des wüthensten Zornes an, als er die Aehnlichkeit mit seiner Schwester gewahrte, die momentan noch auffallender erschien, weil Helene zufällig mit aufwärts gewandtem Haupte zu Thorald in die Höhe sah, wie auf dem Bilde die Maria Jacoba zur Mutter Gottes.

»Herr! was soll das?« polterte der kaum seiner selbst Mächtige und dennoch innerlich Verlegene. Mit jedem Wort steigerte er sich mehr und mehr, um seiner Stimme Herr zu werden, »Sie haben sich erlaubt, die Ihnen von mir und meiner Familie aufgetragene Arbeit zu mißbrauchen, die Züge eines Fräulein von Gejern, wie die eines Modells zu einer Figur Ihres Gemäldes zu benutzen! Sind Sie von Sinnen, auf diese Weise einen im ganzen Reich geachteten Namen zu prostituiren? Das Gemälde muß fort von hier, oder die Züge dieser Martha – oder wie sie heißt, müssen verändert werden.«

»Herr Graf, diese Aehnlichkeit ist weder einem der mir aufgetragenen Familienportraits gestohlen, – mein Altarblatt ist weit früher gemalt als jene, – noch habe ich die Comtesse wie ein Modell zu behandeln gewagt. Wenngleich eine zufällige Aehnlichkeit die Züge meiner Jacoba verschönt, so liegt darin nichts Entwürdigendes. Meine Kunst ist heiligend, nicht befleckend! Rafael, Domenichino, del Sarto haben alle Großen ihrer Zeit, den Papst, die Fürsten, die edlen Frauen aus königlichen Geschlechtern auf ihren Gemälden verewigt. Wenn aus ihren Worten eine gewisse Unkenntniß dieser Umstände hervortritt, so muß ich dennoch anerkennen, daß Sie in andern gelehrten Fächern so Bedeutendes leisten, daß Ihnen für die Kunstgeschichte keine Zeit blieb – gewiß würden Sie in Frankreich oder Italien –«

»Unsinn! Unsinn! Wir sind Protestanten, Herr Eynerssen, verstehen Sie das? ganze Protestanten, keine Halbkatholiken, keine Deïsten, sondern Lutheraner! – schon das ändert unsere Verhältnisse! Wir sind Dänen! das ändert unsere Ansichten des Schicklichen; was in diesem Augenblicke in Frankreich und Italien, als die mit dem Blute des Adels gedüngte Frucht höherer Bildung gilt, vergeben Sie – kann ich als dänischer Graf weder ehren noch anerkennen! Da ich mir aber erlaube, über meine vaterländischen Zustände und die bei uns längst festgestellten gesellschaftlichen Formen selbständig zu urtheilen, so bitte ich Dich,« – fuhr er gegen das Fräulein gewandt fort – »um Deinen Arm, um Dich zur Kutsche zu geleiten. Läßt Du mir da die neuen Mecklenburger Rappen zwei Stunden an der Sonnengluth stehen, daß sie die Hufe sich zerschlagen! Ich werde mir das Weitere in Bezug auf Sie, Herr Eynerssen, und auf die Maria Jacoba vorbehalten. Für jetzt ersuche ich Sie nur auf das Bestimmteste und Höflichste, es zu machen, wie Ihre Kunstvorfahren mehr als einmal gethan: durch einige wohlberechnete Pinselstriche, die, wie sie mich versichern, Comtesse Gejer ganz wider Ihren Willen zur Jacoba stempelnde Aehnlichkeit zu vernichten, und werde ich ferner stehenden Fußes mir erlauben, den Herrn Magistrat zu benachrichtigen, daß einige nöthige Retouchen die Enthüllung Ihres Altarblattes am Johannisfeste unmöglich machen und selbige um ein paar Tage hinausschieben; es sei denn, daß Sie mit diesen Aenderungen sogleich –«

»Ich könnte mir vor Allem erlauben Ihnen zu bemerken, Herr Graf, daß ich vollkommen mündig und erfahren genug bin, dem Magistrat selbst vorzutragen, was ich für nöthig erachte« – –

In Todesangst blickte Helene, hinter dem Grafen halb verborgen, zum Geliebten hinüber, noch ein Wort und der Bruch war unvermeidlich, unheilbar! –

»Ich erlaube mir aber nur als Künstler zu antworten, daß es zu dieser Aenderung zu spät ist,« fuhr Thorald fort, »mein Bild ist seit mehreren Tagen vollendet, ich habe sogar eben einen ersten leichten Firniß darüber gezogen; Ew. Gnaden Kunstsinn und Geschmack werden Ihnen die Ueberzeugung davon geben, wenn Sie es einer nähern Betrachtung würdigen.«

Aber Geschmack und Kunstsinn des Grafen reichten keineswegs an die strenge Ansicht desselben in Betreff der Frauen-Ehre, deren Zartheit in seinen Augen jeder Hauch zu trüben vermochte; sie reichten eben so wenig an das beleidigte Gefühl seines Adelstolzes. Auf's schmerzlichste erregt, war jetzt Graf Christian jeder Verlegenheit, aber auch jeder Schonung bloß, – Wort um Wort flogen in immer verletzenderer Schnelle hin und wider, Christian vergaß sich endlich so weit, den Maler daran zu erinnern, daß er, außer der Verwendung des Bischofs zu Roeskilde, seiner eigenen Vermittlung die Bestellung des Altarblattes zu danken habe.

An dieser unseligen Mahnung brachen des Jünglings Fassung und alle Vorsätze seiner Liebe. Seine Künstlereitelkeit war zu peinlich verletzt. Mit mehr Hochmuth als Stolz erklärte er die ganze Arbeit in Nysted für eine bloße Probe, die er mit seinem eigenen Talent gemacht, welche aber von dem kleinen Städtchen einer unbedeutenden dänischen Insel aus, keineswegs ihm als Kunstwerk großen Ruf zu erwerben geeignet sei. Von Copenhagen her könne es allein ihm gelingen, sich in der Welt Bahn zu brechen; nur vom Königshofe stehe zu erwarten, daß etwas wirklich Förderndes für seine Kunst geschähe. Unglücklicher Weise setzte er dabei den ganzen langsamen Bildungsgang Dänemarks in ein höchst ungünstiges Licht, und vergaß der ungeheuren Opfer, welche gerade jene Zeit dem höhern Adel auferlegte; denn der junge Maler kannte die blutige Geschichte Frankreichs in ihrer grellen Buntheit besser, als die des eigenen Vaterlandes.

Graf Christian dagegen war mit dem tiefaufgewühlten Boden vertraut, dem er Schätze der Erkenntniß entrungen, in welchem er zahllose Leichen seiner Jugendhoffnungen und manch' schmerzliches Verleugnen seines Familienstolzes geborgen. Die Wahrheiten, die er auf demselben angebaut, hatten längst Frucht getragen. Unpraktisch im kleinen Thun des täglichen Lebens, ungeschickt wie ein Kind in Handhabung des Zufalls und seiner flüchtigen Gunst, wenn es seine eigne Persönlichkeit galt, war er in Bezug auf Staatsverhältnisse fest und klar. Als Theoretiker schloß er sich den bedeutendsten Reformatoren der Bauernsache an, als Individuum hatte er in Ausübung des einmal Angenommenen nie das Billige verweigert. Ordnung und Freiheit waren ihm gleichbedeutend, er selbst hatte auf Laaland die ersten Schritte zu Lösung des Leibzwangs und des Gemeinbesitzes gethan, ja, zuerst Erbpacht auf seiner Herrschaft gewährt, aber daß er es gethan, verlangte er anerkannt zu sehen. Nie war ihm eingefallen, seinem Range dabei etwas vergeben zu können, oder die gewährten Menschenrechte als Aufhebung der seines Adels anzusehen. So empfand er auch Thoralds Nichtbeachten des für ihn Geschehenen als schwarzen Undank, ja als Gemeinheit und Frechheit.

Sehr trocken fragte er den Maler, ob er von seiner Stelle aus, ohne Unterstützung des Adels, am Hofe Zutritt zu erlangen erwarte? Ob ihm das verwandtschaftliche Verhältniß zwischen seiner und des Bischofs Familie unbekannt sei, daß er auf die ihm in Bezug auf Comtesse Gejer eben mitgetheilten Bemerkungen so gar nicht achte, als müßten dieselben nicht in jenem Hause ihr Echo finden?

Es legte sich eine Art Geringschätzung in Ton und Haltung des Grafen, die für Thorald unerträglich war. Als Christian seine durchaus verletzende Rede mit dem übermüthigen Rathe schloß, lieber bei dem macht- und geldlosen Adel der französischen Emigranten, oder bei den Jacobinern die rasche Erfüllung seiner hochfahrenden Pläne zu suchen, brach Helene in Thränen aus; alle Rücksicht gegen den Bruder vergessend stürzte sie auf den Künstler zu, und beschwor ihn auf's zärtlichste, sogleich die Kirche zu verlassen, diese Unwürdigkeiten nicht länger anzuhören, das Unstatthafte in Christians Betragen um ihretwillen zu verzeihen.

Erschreckt starrte der Graf die Schwester an, das Unpassende des ganzen Auftritts fiel mit Zentnerschwere auf ihn und lähmte ihm die Gedanken; in peinlicher Verlegenheit riß er den Arm des Mädchens an sich und führte sie fast gewaltsam zum Wagen. Er war zu tief verletzt, um sich weiter auszusprechen, – als das Zöfchen aber Miene machte, zu Fuß zu gehen, winkte er ihr peremptorisch zu, auf dem Rücksitz Platz zu nehmen.

Zu Haus angelangt, geleitete er Helenen bis in ihr Zimmer, an der Thür desselben ergriff er heftig des Kammermädchens Arm. »Ein anständiger Dienstbote mischt sich nicht in seiner Herrschaft Angelegenheiten, und wo ihm der Zufall etwas offenbart, daß ihn nichts angeht, hält er das Maul! Verstanden Jungfer?«

Marie küßte schweigend dem Grafen die Hand, verbeugte sich demuthsvoll und folgte ihrem Fräulein, und so groß war des Gebietenden Gewalt, daß sie auch draußen bloß durch Seufzer dem sie drückenden Geheimniß Luft gab. Graf Christian aber zog sich stumm in seine eigenen Gemächer zurück und erschien erst Mittags, um dem Brahe Trollenburg bei Tische die Honneurs zu machen.

Aufschreiend in wildem Schmerz, warf sich der allein in der Kirche zurückgebliebene Thorald auf die Stufen des Altars nieder. Was er selbst zuerst als nothwendig und schicklich empfunden, erschien ihm nun maßlose Tyrannei. War ihm früher Helene theuer gewesen, so hatte jetzt ihr Selbstvergessen um seines, des armen Künstlers willen, dem hochmüthigen Bruder gegenüber, seine Neigung zur heftigsten Leidenschaft erhöht. – Mit anbetender Inbrunst blickte er auf das Bild, das ihr Antlitz ihm vergegenwärtigte – etwas an demselben zu ändern war zum Sacrilegium geworden, aber nun wollte er es gar nicht mehr der Kirche lassen, er wollte es mit sich fortnehmen, nach Deutschland oder Frankreich. – In wüsten, undeutlichen Träumen verging ihm der Tag. –

Es war gegen Abend; die Sonnenstrahlen durchbohrten mit langen gelben Streiflichtern die schmalen Bogenfenster, und streiften die mit grauem Sandstein umränderten Gewölbbogen; an den hohen Pfeilerbündeln, an den Seitenchören hin, am Metall des Altarkreuzes, an den messingenen Leuchtern spielten hell aufblitzende Lichtpunkte – draußen wurde es allmälig still; die Leute kehrten von der Landarbeit heim. Langsam verstummend sank die gelbrothe Sonnenscheibe zurück in ihr von Nebeln umflortes Meeresbett.

Noch immer lag Thorald regungslos, mit sich selber uneins an derselben Stelle. Eine kleine weiche Hand faßte, ihn aufrüttelnd, seine Schulter. »Lieber Herr! Ihr seid gewiß erkrankt! Hättet ihr nur laut gerufen, ich habe vor der Hausthüre mein Garn geweift, ich hätte Euch sicher vernommen. Es hat sich keiner hieher in die dunkle Kirche getraut. Als aber der Vater heimkam zum Abendbrot und die offne Thüre gewahrte, Herr Je! hat er mich gescholten! Ich glaubte Euch nun fort und des Zuschließens vergessen. – Kommt, steht auf, ich stütze Euch, kommt mit nach Hause! dann koche ich Euch Lindenblüthenthee, das wärmt; die alte Halle ist so eisig kalt! Könnt Ihr Euch aufrichten? O mein Gott! bald hätt' ich's vergessen: auch einen Brief habe ich an Euch, von Schloß Aalholm; der Gänsebub' hat ihn gebracht – aber was ist Euch? Wo wollt Ihr denn hin? Herr Eynerssen! Herr Thorald! Wartet doch!« – Johanna hatte gut rufen und schelten: Thorald, der Helenens Handschrift erkannt, stürzte plötzlich wie von Feuersgluth durchströmt fort, ohne auf sie zu hören, um in abgeschlossener Stille, fern von jedem störenden Menschenblick, das verhängnißvolle Blatt zu lesen.

Erst nachdem die Gesellschaft auseinandergegangen und Jeder auf sein Zimmer sich zurückgezogen, trat Graf Christian bei Helenen ein. – Finster, mit umwölkter Stirn und zusammengezogenen Brauen, näherte er sich dem Mädchen und setzte sich in der Mauervertiefung des Fensters ihr gegenüber, in einen altvätrisch geschnitzten Sessel, den er vorzüglich gern bei allen Familienmittheilungen einzunehmen pflegte.

Helene war innerlich entschlossen, all sein Thun lächerlich zu finden, sie hatte sich mit Uebermuth und Unverletzbarkeit gerüstet, und bot ihm ruhig die heitre Stirn.

Ehe aber noch der etwas Verlegene den Anfang seiner beabsichtigten Rede gefunden, begann sie selbst: »Erlaube mir, lieber Christian, uns beiden ein Wort Verschwendung zu sparen. Deine Absicht ist, mir mein Betragen in der Kirche, Herrn Eynerssen gegenüber vorzuhalten und mich zu fragen: ob ich um die Dich so scharf verletzende Aehnlichkeit meiner Züge mit denen einer seiner heiligen Frauen gewußt – oder gar sie gebilligt. Beides kann ich verneinen; ich hatte keine Ahnung davon, ehe ich die Kirche betrat. Das Uebrige aber läßt sich mit einem einzigen Worte abthun: ich liebe Thorald Eynerssen!«

Christian ward bleich; auch er hatte in seiner Jugend empfunden, wie jetzt Helene! er fühlte, daß sie festen Willens auf den Ereignissen seines früheren Lebens fuße; ein schneidendes Weh trat ihm an's Herz, und riß gespenstisch all die Leichen längst abgestorbener Schmerzen an's Licht. Seine frühe Heirath mit der Tochter eines Feste-Bauers, dem sein Vater, Graf Thugge, die Freiheit geschenkt, hatte ihn elend gemacht; sie hatte ihn fünfzehn Jahre lang dem väterlichen Hause entfremdet! Der alte Graf hatte den Feste-Bauer zum Pachter eines seiner Höfe angenommen – so hatte die unglückselige Neigung der jungen Leute sich entsponnen. Fünfzehn lange Jahre hatte Christian in Jütland in tiefster Abgeschlossenheit und drückender Armuth verlebt, unerbittlich vom Vater verstoßen – verflucht! – Und dieser Vaterfluch war seiner liebebedürfenden Seele zu einer sein ganzes Dasein überschattenden Wolke geworden, und blieb es, selbst als er endlich des Vaters Vergebung gewann! –

In der öden Einsamkeit der rauhen Haide, in Mariager, einem elenden, kleinen Städtchen, das dem tief einschneidenden Fiörd durch einen kleinen Seehafen seinen Unterhalt abgewinnt, ohne alle gewohnten Bequemlichkeiten, ohne irgend eine Lebensgier, sah der Arme seine ganze Jugend verstreichen![1] Mit täglichen Geldverlegenheiten um's tägliche Brot kämpfend, saß er freund- und freudelos der Gattin allein gegenüber: unter Standesgenossen ein Bauer, – unter Bauern ein Bettelgraf! Von Menschen umgeben, deren ganze Industrie sich auf den Hausfleiß grober Webereien und Fertigung schwerer Holzschuhe erstreckt, blieb er allem Umgang fern. Stolz und verschüchtert zugleich, fand seine ohnedies scheue Natur überall Widersprüche, die ihn schmerzten. Seine Leidenschaft hatte der Besitz abgekühlt, was an ihr durch äußern Widerstand zu phantastisch-schöner Uebertreibung aufgeschossen, wie eine Wunderblüthe – war fruchtlos abgewelkt: seine Ehe war kinderlos geblieben. Er liebte seine sanfte treue Gattin, allein in der immergleichen unpoetischen Stille ihres Zusammenlebens, traten oft Pausen des Verstehens, schmerzliche Lücken ein; der Tag ward lang, riesig gedehnt überwuchs ihn der frühbeginnende nordische Abend, das Bedürfniß die Zeit auszufüllen machte sich geltend.

Der junge Mann fing an zu lesen, aus Holstein, Schleswig und Copenhagen Bücher sich zu verschreiben, eifrig zu studiren, über mühsam errungener Kenntniß zu brüten.

Nun vergaß er die Kränkungen der Welt, verschmerzte die Trennung von den Seinen – allein er vergaß auch seine Frau; er versank in tiefsinniges Forschen, vergrub sich in Geschichte und Philosophie. – Eva erschrak als sie plötzlich entdeckte, daß sie eifersüchtig sei. Eifersüchtig! und nicht mehr wie ehemals auf eine schöne Dirne, deren Augen Christian gelobt, deren schlanken Leib er im »Fangtanz« fester umschlossen – sondern auf seine von ihr abgewandte Seele, auf seine Bücher und Plancharten, um seiner nun ganz von der ihren abgelös'ten Existenz willen. O wie lange Tage weinte die arme Eva – er merkte es nicht einmal! wie weinte sie, daß sie nicht klug, nicht unterrichtet genug sei für ihren Christian!

Endlich begann sie Unterricht zu suchen, sich eifrig mit Stundennehmen abzuquälen, um ihm nachzustreben, ihn wieder verstehen zu lernen. Es vergingen viele Monate ehe sie nothdürftig Schreiben und Lesen sich angeeignet, – er aber hatte schon wieder andere Interessen gewonnen, trieb jetzt Physik und Astronomie, machte Experimente – und Schulden, um sich vermittelst der Schiffsgelegenheit des kleinen Hafens ausländische Schriften und astronomische Instrumente kommen zu lassen. Wieder war er ihr in endloser Weite voran! Sie litt sehr! Endlich bemerkte er es.

– Das Alles und weit mehr noch glitt mit grausenhafter Geschwindigkeit Christians innerem Auge vorüber; als er das leibliche aufschlug, saß seine Schwester, den einen Fuß hochgestellt und auf das Knie den Arm gestützt, in dessen Hand das rothgeweinte Antlitz ruhte, mit dem eigenwillig kecken Ausdruck in den Zügen, den er an sich selber kannte! An dem nämlichen Fenster hatte er tausend Mal so gesessen und in der nämlichen Stellung starr auf das mondlichte, hochaufwogende Meer geschaut, – wie eben jetzt Helene! –

Denn die kaum minutenlange Pause zwischen ihrer kecken Anrede und des Bruders zögernder Antwort, hatte auch ihr das Herz wach gerüttelt; die angenommene Heiterkeit war ausgelöscht, der nackte, bittere Trotz an deren Stelle getreten. Fest entschlossen für ihr Glück zu kämpfen, fühlte sie darum nicht minder den Druck lastender Erinnerung. Auch des ihr drohenden harten Widerstandes war sie mit tiefstem Grauen sich bewußt – sah sie doch täglich dem stillen Vergehen ihrer Schwägerin, der immer zunehmenden Kälte zwischen den Eheleuten zu, sie mußte es sich eingestehen, daß aus Christians eigenen Erfahrungen der furchtbarste Feind ihr erwachse.

Auch war der schon bei ihrer Geburt halb Verwais'ten ein entsetzliches Bild von des Vaters Zorn gegen Christian geblieben, das mit dem seltsamen Lebenswandel des seit ihrer Mutter Tode ganz Vereinsamten in Verbindung stand, – das Urtheil der ganzen Familie betrachtete damals den verbannten Sohn wie etwa einen Pestkranken; niemand von den Geschwistern, den Vettern und Basen hatte ihn wiedergesehen, niemand nannte ohne besondere Nöthigung Christians Namen! die andern Brüder, jetzt beide an reiche, wenngleich bürgerliche Frauen vermählt, waren damals noch zu jung zum heirathen. Der bloße Gedanke an eine Verbindung mit einer kaum dem Leibzwang entrissenen Bauerndirne, war ihnen empörend und lächerlich zugleich; mit ausgelassenem Hohn erzählten sie einander von einem Vetter des Mädchens, den der Vogt mit Peitschenhieben zum zwölfjährigen Soldatendienste gezwungen, eines leichten Vergehens halber ihn vom Hof gejagt und unter die Miliz gesteckt – dem Kinde war die Geschichte immer peinlich gewesen. Die bösen Buben hatten es dann erst recht geneckt, »wärst Du es, Püppchen, und nicht unser Aeltester, wir drehten Dir lieber den Hals um, eh' wir die Schande noch einmal erlebten!« »Ja«, sagte lachend der Andere, »das wäre auch noch schlimmer, unser Blut adelt das Weib an unserer Seite und läßt unsern Söhnen den Namen des Vaters, aber so ein Bürgerlümmel machte sie zu seines Gleichen.« Helenchen hatte nicht verstanden was sie meinten, aber die Angst hatte ihr Thränen erpreßt.

So saß auch sie sinnend jetzt dem Bruder gegenüber, die dunkle Gedankenspindel drehend und abwindend, ohn' Ende – –

»Helene!« sagte sehr trübe, aber auf edle Weise der Graf, »Du hast Elend genug, zu aufgehäuften Massen an einander gedrängt, unter uns erlebt; hast Dich groß gesogen daran und stark. Seit ich denken kann, geschah das Ungehörige in unserm Hause, zerrieben sich die besten Kräfte unseres Stamms umsonst an ihren eigenen Auswüchsen. Ich frage Dich also nicht, willst Du den alten, kaum entschlummerten Unfrieden in seiner dämonischen, Dir wohlbekannten Gestalt von neuem erwecken – ich warne Dich auch nicht, das Alles wäre umsonst! Denn Du bist eine Gejer! Aber sieh in mir Deinen Widersacher. Was ich gegen diesen Zuwachs unseres Familienelends zu thun vermag, das erwarte von mir. Kannst Du Dich selbst überwinden, so traue mir Liebe, Ausdauer und jedes Opfer für Dein Wohl zu. – Kannst Du es nicht, mußt Du Deinem wilden Sinn genügen, nun – vergieb! so beachte wenigstens Deine Frauenehre, wenn die Ehre Deines Namens Dir nichts gilt; wirf Dich nicht weg, auch nicht an den Besten! Laufe diesem Abenteurer nicht nach, hänge Dich der sich frisch entwickelnden Kraft des Jünglings nicht an, wie eine ihn hemmende, sein Talent zerdrückende Last – hüte Dich, daß der zu seiner Qual Vergötterte, Dich nicht mit Füßen trete! Oh! man hat Beispiele davon.« – Mit einem tiefen Seufzer, ohne Helenen weiter anzusehen, stand Graf Christian auf und schritt schweigend zur Thür hinaus.

»Er mich nicht lieben? o nein, nein, dann wäre ja gar nichts mehr wahr auf der Welt!« Helene barg aufjammernd vor Schmerz das Gesicht in beide Hände und schluchzte convulsivisch. – Endlich sprang sie auf, ihr ganzes Wesen trug wieder den Stempel der kühnen Entschlossenheit, mit welcher sie vorhin den Bruder empfangen. Sie trat an den Tisch und schrieb, obwohl mit zitterndem Herzen, dennoch mit fester Hand an Thorald Eynerssen.

»Sie haben Unwürdiges für mich ertragen, Thorald, aber gerade dies Ertragen gilt in meinen Augen mehr als eine Heldenthat, denn Sie haben Kraft sich zu vertheidigen, und nur um meinetwillen haben Sie geduldig die Last auf sich genommen, die Sie hinwerfen konnten; allein sie hätte sich zur unübersteiglichen Mauer zwischen uns erhoben, hätten Sie meinen Bruder behandelt, wie er es verdiente! Ich danke Ihnen, Thorald, mit jedem Hauch meines Daseins. – Und doch weil ich nun in der That, nicht mehr im bloßen Wort den Rückstrahl Ihrer Liebe gesehen, muß ich eben um dieser mich beglückenden Liebe willen, ein neues, noch schwereres Opfer von Ihnen verlangen. Vielleicht sollte ich in mädchenhafter Scheu Sie Schritt vor Schritt errathen lassen, was ich so offen Ihnen gestehe, allein wir leben in einer so bewegten Zeit, daß auch eines Mädchens Herz von dem sie durchglühenden Muth erfaßt und fortgerissen wird aus seinem eigenen heimathlichen Rückhalt! Die aufgegangene Freiheitssonne ruft alle Lebenskeime an's Licht – sogar in unsern kalten Norden dringt ihr Strahl. Drückt im Allgemeinen unser Volk noch die Kette in der Welt längst als lächerlich abgeschaffter Vorurtheile, so ist es gewiß um so mehr an jedem einzelnen Freigesinnten, das Band zu brechen, das ihn hemmt, denn Millionen einzelner Ringe bilden ja die Fessel, in welcher Dänemark bis zu diesem Augenblicke schmachtet. –

In diesem Sinne, Thorald, betrachten Sie mein Thun, ich will und werde frei sein, die Banden abstreifen, die mich an diese Scholle binden so gut wie den Leibeigenen, dem wir die Freiheit geben, mir aber wird Ihre Liebe sie gewähren! Aber um dieses Augenblickes willen, welcher unwiderruflich kommen muß, ist jetzt ruhige Besonnenheit nöthig, bringen Sie ihr das Opfer des gegenwärtigen Moments: Niemand darf ahnen, was wir einander sind, ehe wir beide Laaland hinter uns haben, und in Copenhagen (Kjöbenhavn) uns wieder finden! Vernichten Sie die mich beseligende Aehnlichkeit auf Ihrem Gemälde, sie verräth uns. Wie mein Bruder, denken all meine Verwandte, denken alle Männer im Städtchen, ja auf unserer ganzen Insel. Was in Frankreich Ihnen und mir zur höchsten Ehre gereichte, erscheint hier als Beleidigung einer achtbaren Familie, ja als Beleidigung meiner selbst. Vernichten Sie die allzu sehr in's Auge fallende Aehnlichkeit und ist dies geschehen, dann bleiben Sie ruhig hier, vollenden Sie die begonnenen Arbeiten, welche in der Residenz Ihnen leicht die Bahn brechen werden, die Ihr Talent sucht – und überlassen Sie Ihrer Helene das Uebrige. Christian soll nicht in Zweifel bleiben, um wessentwillen Sie das Bild geändert, und zu seinem Schrecken nur zu bald einsehen, wie wenig Sie seiner elenden Hülfe bedürfen!«

Helene.

»Für den Augenblick ist es genug,« sagte sie, das Blatt faltend, »Christians mich erniedrigende Ansicht soll keinen Einfluß ausüben auf mich. Du hast ganz Recht, Bruder, ich bin eine Gejer, und wir haben harte Köpfe, mögen sie grau sein oder blond!«

Allein trotz dieser heldenmäßigen Aeußerung wußte Helene doch nicht, wie das Billet in des Geliebten Hände bringen; ihrer Kammerjungfer traute sie nicht mehr, des Grafen Worte hatten das Mädchen verschüchtert. Den Brief verbergend, eilte sie selbst die große Treppe hinab, um einen Boten sich zu suchen; auf dem Corridor hörte sie Stimmen, die Thüre des gemeinschaftlichen Wohnzimmers der Schwestern, an welchem sie vorüberschritt, war nur angelehnt; drinnen unterhielten sich Beide mit Mademoiselle Nordermule, einer bucklichen, kleinen Gouvernante, welche alle Drei von der Wiege an auferzogen.

Mademoiselle Nordermule erhob in diesem Augenblick die Stimme, so hoch es die Schwäche ihrer kleinen, sehr untersetzten Gestalt irgend gestattete, und fuhr in ernstem Pathos fort: »wenn wir lieben! aber Kinder, wie selten geräth eine Ehe ohne wahre Zuneigung! wie selten werden die dissonirenden Lebensmelodien auch nur leidlich tacktfest zusammen durchgespielt bis zu Ende, ohne zerrissene Herzen und zerrissene Saiten der armen Weiberseele, die zuletzt ganz dumpf und klanglos, gar keinen Lebenston mehr wiederhallt! O, Ihr Lieben, wie viele Frauen verdummen gänzlich in einer sogenannten »guten« häuslichen Ehe, in der sie eigentlich eben – bloß keine Prügel bekommen! Darum kann ich Helenen, deren Charakter nun einmal durchaus in keine solche sich finden würde, nur bemitleiden, daß sie auf diesen Abweg gerieth, keineswegs sie verdammen; sie wird, wie es auch sich füge, Thränen genug zu vergießen haben!« – »Aha, mein Regenvögelchen!« sagte gerührt und heimlich lächelnd Helene; »es prophezeit wie immer schlecht Wetter!« Leise schlich sie hinab in die Küche.

In dem hochgewölbten, weiten Raume, den ein ungeheuer großer, aber niedriger Herd mit spitz in Dachform sich erhebendem Kamin erwärmte, saßen alle Knechte und Mägde des Herrnhofes auf Holz-Schemeln und Stühlen um das Feuer her; eine rothbäckige Dirne stand neben dem an einer Zackenstange hängenden eisernen Kessel und rührte mit langgestieltem Holzlöffel »Manna« in die saure, kochende Milch zum Brei, welcher eine Hauptschüssel der laaländer Kost ausmacht. Von der Küche führten beiden Hauptwänden entlang eine Menge Thüren zu den Schlafstätten des Dienstvolks; in den Zwischenräumen, welche sie freiließen, dem Herd gegenüber, standen an der Mauer hochrückige Bänke, vor diesen der mit einem weißen Tuch überdeckte lange Tisch, der broddelnden Abendmahlzeit harrend; Brot, Käse, Butter und gedörrte Fische waren schon auf demselben bereit gestellt. Blankes Kupfer- und Zinngeräth schmückte den vorspringenden Rand des Schornsteines, auch in den schön gemalten Eckschränken glänzten durch die Glasscheiben eine Menge blinkender Dinge, Glasgeschirr und Porzellan flimmerten im letzten Abendroth der immer noch am weiten Horizont zögernden Sonne. Man gewahrte sie durch eine nach dem innern Hof weit offenstehende Thüre. Die kleinen Bogenfenster der Küche hätten durch ihre bleigefaßten runden Scheiben, ohne diese Hülfe die Dämmerung längst zur Nacht werden lassen; vorsorglich waren auch die Messinglampen am Herd bereits angezündet.

Die Männer, welche er um sich versammelte, strickten Netze oder schnitzten Quirl und Löffel, andre machten Holzschuh und die langen, nur im Norden bekannten Schlittschuhschiffchen, auf welchen der Bote über das Eis hinfliegt; sogar die Livréebedienten halfen; die Weiber spannen und strickten wollene Strümpfe, ein paar webten auf kleinen tragbaren Webstühlen grobes Linnenzeug. In der geöffneten Pforte stand halb drinnen halb draußen der Gänsebub, um Theil an der schönen Geschichte zu nehmen, die ein alter Jütländer abwechselnd sprechend und singend vortrug; – auf den Gänsebuben aber hatte es Helene abgesehen, er sollte ihr Liebesbote sein, denn er konnte weder lesen noch schreiben.

Der alte Jütländer, der als Torfbauer im Lande umherzog, trug etwas aus dem Bauernaufruhr (1441) in Nord-Jütland vor, wie in der Hangarde auf dem St. Jürgens-Berge, nicht weit von Aagaard, zwischen ihnen und dem Grundherrn eine blutige Schlacht geliefert, in welcher Eske Brock von ihnen erschlagen und in Stücken gehauen worden. Da rüstete sich der erzürnte König selber, und die Sache nahm eine andre Wendung: die Bauern hatten auf dem hohen Berge eine Wagenburg um sich geschlagen, so daß die Reiterei ihnen nichts anhaben konnte, – die Grundherren aber gewannen etliche unter ihnen mit goldnem Versprechen, und klein und immer kleiner ward der tapfere Haufe. Der Alte sang:

»Erstlich gingen die Morsinger fort,
Sodann die Verräther von Thy;
Jetzt standen nur die Wendelbo'r noch
Und diese wollten nicht fliehn!

Jetzt standen nur die Wendelbo'r noch,
Und diese wollten nicht fliehn;
Bauten eine Wagenburg sich,
Ließen Alle ihr Leben dort!«

Mit glühenden Köpfen lauschte der ganze Kreis dem Erzähler – als aber Helene eintrat, flogen alle auf von ihren Sitzen, und der Freiheitssang stockte. Sie winkte freundlich und schritt sogleich auf den Gänsepeter zu.

»Du trägst mir das Papier sogleich zur Mamsell Johanna, des Kirchners Tochter,« sagte sie laut, »und sie soll Alles recht gut versorgen und bestellen!«

Seufzend ließ der lange gelbhaarige Junge die Wendelbo'r in ihrer Wagenburg, lüpfte die Pelzkappe und trollte sich von dannen. Helenen war leicht und froh um's Herz; eine Weile sah sie dem Burschen nach, ob er nicht umkehre, aber der laaländer Bauer war Dienst gewohnt und bange dazu!

Als Helene wieder auf der Treppe war, begann der Freiheitssang von neuem; ach, in diesem Augenblick hätte sie gern der ganzen Welt Freiheit gegönnt und gegeben! sie war durchaus auf der Seite der Revolutionairen. – Das Gespräch der drei Damen war noch nicht beendet – »daß eine solche Leidenschaft für ein Fräulein ihres Standes unstatthaft sei;« schloß die Nordermule. »Solche Heftigkeit verdirbt den Teint, man kann sogar leicht eine rothe Nase davon tragen, oder kupfrig werden. Giebt es denn zwischen dieser Excentricität und gänzlicher Apathie kein drittes? Wie unendlich glücklicher sind Sie, theure Amalie, daß Sie so ruhigen Gemüths die Abwesenheit des Barons als eine Ihnen von Gott gesandte Prüfung hinzunehmen vermögen. Zu Lichtmeß werden es fünf Jahr, daß Sie ihm das Jawort gegeben, und Sie blühen trotz ihrer herzlichen Liebe zu ihm in ungekränkter Anmuth und Frische.«

»Wir wollen dennoch hoffen,« erwiederte lachend Amalie, »daß der etwas farblose Roman meines Lebens sich in Bälde zu einer Feyenschen Idylle wandeln wird; Baron Arnsöndal hat die Freiherrschaft seines alten Oheims endlich übernehmen können, und ich darf hoffen, mit Annetten zugleich meine Hochzeit zu feiern.«

Gerührt schloß die Nordermule ihren ältesten Zögling in die Arme, und benetzte dessen Locken mit Thränen; Amalie war um fast acht Jahre älter als Helene, und allerdings war es die höchste Zeit zur Ausführung der längst skizzirten Idylle zu schreiten! –

Helene war unbemerkt eingetreten, sie stand auf der Schwelle und lehnte unsäglich gelangweilt das Haupt an den Thürpfosten.

»Nun wird es zwei Ausstattungen zugleich zu bereiten geben,« sagte, sorgsam Aug' und Wange trocknend, die kleine Alte. »Ach, wenn man dabei an alle die gegenüber aufgehäuften Schätze denkt.« –

»Um Himmels willen, ma bonne,« rief, hocherfreut diesen Gegenstand einmal erwähnt zu hören, Annette, »sagen Sie mir endlich, was man in diesen ewig vor Luft, Sonne und Menschen verschlossenen Zimmern bewahrt! Hundertmal schon habe ich Sie fragen wollen, welchen Schatz eigentlich diese Zauberhöhle umschließt?«

»Was denn anders als unserer verstorbenen Tante Ausstattung,« fuhr Amalie fast zürnend auf, »Du mußt es ja längst wissen! plage doch unsere arme gute Emerenzia nicht! Die Erinnerung an jene alte vergessene Geschichte macht sie jedesmal nervös und krank!«

»Ja ja!« sagte starr vor sich hinschauend, aber die hochliegenden, wasserblauen Augen bewußtlos in's Leere gerichtet, die kleine Bucklige. »So ist es! es war die glänzende Ausstattung der unvergleichlichen Ulrike, des Sterns meiner Kindheit und Jugend! ach, ich habe ihn nie in seiner ganzen Lichteskraft leuchten gesehen! Nur wenige Wochen vor ihrem Tode kehrte ihr das volle Bewußtsein zurück; sie flammte noch einmal auf, wie eine verlöschende Kerze. Liebe Kinder, ich bin recht viele Jahre über die Erde hingewandert, manchen Sommer und Winter entlang, doch ihres Gleichen an Sanftmuth und eingeborner Sitte ist mir nimmer zum zweitenmal begegnet! Wer Ulriken sah, hätte auch ohne unsre heilige Offenbarung an den Himmel und seine ewige Vergeltung geglaubt!«

»Aber liebe Nordermule,« rief plötzlich vortretend Helene, »Du mußt ja noch ein Kind gewesen sein, als die Tante verschied, ich habe sie niemals gesehen, bei meiner Geburt war sie vermuthlich schon lange todt.« Seitdem das Gespräch um diesen Gegenstand sich drehte, war sie dem Gange desselben aufmerksam gefolgt.

Die Alte schüttelte verneinend das Haupt. »Es sind kaum dreißig Jahre, daß unser theures Fröken[2] geendet,« erwiederte sie, »ich aber zähle sechs und funfzig Jahre!«

»So haben Sie Ulriken noch jung gekannt?« fragten wie aus einem Munde die drei Schwestern.

»Ja und nein. Körperlich hatte der Herr sie lange noch frisch erhalten, allein die Blüthe der Seele war geknickt. Meine Mutter, welche als Kammerfrau im Dienst ihrer Hochwürden der Frau Fürstin Abatissin zu Wallöe im Stift lebte, hat mir das Meiste von ihr erzählt, da jene das Fröken eigentlich auferzogen und mit zärtlichster Liebe ihm anhing. Tausendmal hat sie mir von Ulrikens außerordentlicher Schönheit gesprochen, auch konnte ich selbst deren Spuren noch lange, lange ihr ansehen. – Damals, als sie sechzehn Jahre alt war, und meine Mutter eben ihren Dienst angetreten, sagte man: auch die müdeste Seele des aller ärmsten Fäestebönders[3] sei fröhlich geworden und frei, wenn ihn das Fröken begrüßt! Wenn sie leichten Ganges über die Haide hineilte am frühesten Morgen, wenn der Nachthauch noch scheidend über die Haide streicht und sie aufwogen macht wie das Wasser im Belt, so blieben, trotz dem drohenden, scheltenden Vogt, Alle die zur Arbeit gehen sollten auf der Thürschwelle stehen, und schauten ihr nach wie dem guten Omen! Aber freilich kannte sie auch jedes Einzelnen Weib und Kind, scheute vor keiner mit Stroh und Schilf überdeckten Hütte zurück, saß ungeachtet des dicken Rauchs der schornsteinlosen Küchen mitten unter ihnen und hörte mitleidig all der Bauern Klagen; oder sie erzählte den Kindern wunderschöne Mähren von unseren tapfern Seehelden und ihren gewonnenen Schlachten, von Juels und Tordenskiods Waffenthaten; sogar die alte Saga wußte das Fröken zu singen! Waren dann die Männer alle fortgezogen auf den Delphinen- oder Seehundsfang, und der Vogt trieb deren Weiber an zur Feldarbeit, oder sandte sie gar hinaus auf Botengängen tief hinein in's Land, dann saß sie Stundenlang bei den Allerkleinsten, wartete und fütterte sie und lehrte die Größeren. Ach, ich selbst werde nie vergessen, mit welchem Glockentone sie die alte schöne Geschichte sang, vom guten König Sueno und seinem strengen Freunde, dem Bischof Wilhelm in Roeskilde; da blieb kein Auge trocken im weiten Kreis.« –

»Aber,« unterbrach abermals Annette die Erzählerin, »war denn die Tante eine Gelehrte? woher wußte sie denn das Alles? In ihrer Jugend hatten doch die Frauen viel weniger Gelegenheit sich auszubilden als wir jetzt, sie lernten ja kaum nothdürftig lesen und schreiben! Wie war denn gerade Ulriken eine so viel bessere Erziehung geworden?«

Die kleine Nordermule schrak zusammen, als habe sie eine Schlange gestochen, und wurde blaß, blaß wie der Tod; ihre Züge nahmen einen Ausdruck tiefster Zerknirschung an, der ihnen sonst gar nicht eigen, sie war sichtlich mit ihrem Gewissen in Streit gerathen, und warf sich innerlich ein Unrecht vor. »Ich weiß das Nähere nicht,« erwiederte sie ganz beklommen, »aber es ist spät; über dem Schwatzen haben wir das Wegräumen des Theezeugs, und ich glaube gar der Schlafenszeit vergessen.«

Es ward den Mädchen unmöglich, das Gespräch von neuem anzuknüpfen.

Helene hatte ihren Zweck erreicht; mit schwerem Seufzen und schwererem Herzen hatte Thorald, den Bitten der Geliebten zufolge, den Haaren seiner Maria Jacoba eine dunklere Färbung gegeben, das Blau ihrer Augen in Schwarz verwandelt und so das Frappant-Individuelle der Aehnlichkeit seines Bildes mit den Zügen des Schloßfräuleins gemildert, – was davon noch geblieben, konnte dem unbefangenen Blick für bloßen Zufall gelten, ja vielleicht ganz ihm entgehen. Am Johannis-Sonntage hatte die feierliche Enthüllung des Gemäldes stattgefunden; der Magistrat und ganz Nysted waren auf's höchste befriedigt, die Anerkennung und Dankbarkeit der Bürger sprach sich allgemein und beinahe rührend aus, denn der Alt-Lutheraner hängt fast dem Katholiken gleich an würdiger Ausschmückung seiner Gotteshäuser. Vielleicht waren es eben die sinnlichen Zeichen, mit denen er gern seine Verehrung des Höchsten umkleidet, welche jenen Tagen unsre religiösen Spaltungen ersparten. Das Gemüth bedarf einer Gefühlsumfriedung, wird ihm diese, so hält es oft den zweifelnden Geist mit in den Schranken einer liebgewordenen Gewöhnung.

Graf Christian hatte öffentlich in der Kirche dem Künstler seinen Dank ausgesprochen, im Schloß war derselbe nicht wieder gesehen worden, und keine Einladung irgend eines Mitgliedes der gräflichen Familie berief ihn dahin zurück.

Schloß Aalholm hatte indessen festliche Tage erlebt; alle Mitglieder der Familie waren anwesend, um die feierliche Doppel-Verlobung zu begehen. Die in Seeland und Fühnen ansässigen Brüder waren mit ihren Gemahlinnen herübergekommen, die künftigen Schwäger zu begrüßen und Schnepfen zu schießen; das Alles war prächtig! –

Helene hatte viel von dieser Zusammenkunft erwartet; sie hoffte die jüngern Brüder zu gewinnen, denn beider Frauen waren bürgerlich geboren, allein ihre Pläne scheiterten an Christians strengbesonnener Festigkeit; er vereitelte ihr jede Privatunterredung mit ihnen. Auch waren allerdings die Verhältnisse in sich selbst sehr verschieden von denen des Malers. Janfru Abilgaard, welche erst vor kurzem dem jüngsten Grafen ihre Hand gereicht, war einem in Dänemark hochberühmten Geschlecht entsprossen. Die ältere Schwägerin, Gräfin Friedrich-Gejer, die wir aus Amaliens und Annettens Unterredung als Gegenstand ihres heimlichen Neides kennen gelernt, war eine geadelte, unermeßlich reiche Banquierstochter aus Hamburg. Sie hatte ihrem Gemahl ein bedeutendes Vermögen und Güter auf Seeland zugebracht, auf denen sie, wie in ihrem Winter-Hôtel zu Copenhagen, die glänzenste Existenz ihm bereitete.

Friedrich war der Crösus in der Familie und lebte danach, in grellem Gegensatz zum Aalholmer Stammhause, dessen Bewohner seit Jahrhunderten Abgeschiedenheit und Stille vorzogen, ihre Besitzungen unter ihren Augen bewirthschaften ließen, selten in Staatsangelegenheiten sich mischten, keine Art Hofdienst bekleideten, und alljährlich auf wenige Wochen in der Residenz am Hofe zu erscheinen pflegten.

Von dem Allen machte der jetzige Majoratsherr eine Art Ausnahme. Seit Christian VII. Regierungsantritt hatte er, wie schon erwähnt, so lebhaft es seiner Eigenthümlichkeit nach möglich, des Königs Bestrebungen in der Bauernsache sich angeschlossen. Dieser hatte schon im ersten Jahre seiner Thronbesteigung, im Amte Copenhagen alle seine einzeln liegenden Höfe parcellirt als Eigenthum den Bauern überlassen. Der Graf hatte später, als ihm das Majorat zufiel, diesem edlen Beispiel zufolge höchst wohlthätig in Laaland gewirkt für die gute Sache; sein Jütländer Aufenthalt hatte ihn mit den Mißständen und Bedürfnissen des unglückseligen entwürdigten Landmanns vertraut gemacht, und seine Handlungsweise und die Opfer, welche er seiner bessern Erkenntniß gebracht, hatten ihm auch die Gunst Friedrichs VI. erworben. Er machte keinen Gebrauch dieses Vorzugs. Wie seinem Vater, dem seligen Grafen Thugge, blieb das persönliche Erscheinen am Hofe in Copenhagens eleganten Kreisen ihm eine peinigende Pflicht, ja eine unerträgliche Last, der er auf jede Weise sich zu entziehen suchte. Die ihm gewordene Auszeichnung, die ausgesprochene Gnade und Theilnahme der beiden Monarchen verwirrte, ja verscheuchte ihn. Selten sah man ihn länger als eine Woche hindurch in der Residenz, wohin er um die Zeit des königlichen Geburtsfestes seine Schwestern geleitete, dann aber so bald als möglich dem Schutze ihrer anderen Brüder sie überließ.

Zu der drei Mädchen Qual gehörte dagegen ein fast unbeachtetes Auftreten an der Seite der sie in Allem überflügelnden Hamburger Tante, deren Luxus sie zerdrückte, deren Manieren ihnen mißfielen, deren Geld-Aristokratie sie verdroß, und besonders in den beiden Aeltern fast Abneigung und noch viel größere Oppositionen im täglichen Verkehr erzeugten, als die, mit welchen sie der kranken und resignirten Eva sich entgegenstellten, der sie die geringe Herkunft und leibeigene Geburt nicht zu verzeihen vermochten. – All diese kleinen Lebensstörungen und stündlichen Hemmnisse hatten in beiden rückwirkend einen wirklich verblendeten Adelstolz geweckt, der sich überall aussprach, und jetzt auch Helenens Wünschen, ihrer Neigung zu Thorald, jede begütigende Vermittlung versagte.

Noch in den Kinderschuhen hatte Helenens Wesen eine von dem Bildungsgange der Schwestern ganz abweichende Richtung erhalten. Das in der Wiege verwais'te Kind, – die Mutter war in Wochen gestorben – fiel abwechselnd bald in diese bald in jene Hand. Ihr lebhafter, prägnanter Geist, der besonders ältern Männern ungemein anziehend erschien, gewann ihr frühe schon Freunde aus allen Ständen; besonders aber in Copenhagen, wohin sie den ältern Schwestern folgen mußte, waren einige ehemalige Gefährten ihres Vaters, deren Umgang Einfluß auf ihre Denkart und innere eigene Seelenerziehung hatte, ohne daß jene es beabsichtigten. Die kleine Nordermule sah voller Schrecken der plötzlichen Entfaltung der ihren Zögling aufwärts tragenden Flügel zu, ohne den ihr unerreichbaren Flug derselben verfolgen zu können; im zehnten Jahre schon war Helene ihrer eigentlichen Leitung entwachsen. – Der liebreizenden äußern Erscheinung des Mädchens that keine Willkür, noch auferlegte Regel Eintrag, sie blieb durchaus natürlich und einfach; an ihren Putz dachte sie wenig, gerade weil ihr Alles gut stand, an ihr Benehmen noch weniger, es umwogte sie beständig eine unbewußte Grazie, ein Sichgehenlassen, das dem Bewegen eines jungen Rehes gleich. Träumerisch und doch voll stets regsamer Gedanken, saß sie mitten unter Verwandten und Gespielen allein, immer in sich mit etwas außer ihrem Kreise und Bereich beschäftigt. So machte sie der Anfang der französischen Revolution, die wohl unter allen Ländern in Skandinavien am einflußlosesten blieb, zur Jacobinerin; die Kargheit der in ihrem Vaterlande und insbesondere in ihrem Vaterhause seltenen Detailnachrichten entflammten sie immer mehr, und ließen sie einen heiligenden Nimbus um Alles das breiten, was ihrem eigentlichen Charakter fern, ihr halbes Verstehen in endlose Widersprüche gestürzt haben müßte. Bald schwärmte sie für Mirabeau und Charlotte Corday, bald vertheidigte sie Robespierre und schauderte mit frommen Entsetzen vor der Schwestern Theilnahmlosigkeit zurück, die in Mußestunden in die Revolution blickten, wie in einen Guckkasten, und der amerikanischen Kriegsscenen nur beim Einkauf englischer Waaren gedachten.

So entwickelte sich Helene zur blühenden Jungfrau. Während die älteren Fräulein, unter tausend kleinen Qualen und Freuden des geselligen Verkehrs, eine Menge Verhältnisse alljährlich knüpften und lös'ten, nur von Liebhabern, Courmachen, Pferderennen, Schlittenfahrten und Bällen träumten, und am Ende doch Jahr aus Jahr ein unvermählt blieben, hatte das kaum erwachsene Mädchen in seiner anmuthreichen Absonderlichkeit eine Anzahl ernstlicher Verehrer und sogar einige sich nähernde Bewerber gefunden. Sie aber wies lachend Alle ab, glaubte ihren Betheurungen selten oder gar nicht, sprach mitten in deren pathetischen Erklärungen von etwas Anderem, und versicherte ihrem sie tadelnden Bruder: »all diese Geschichten wären ihr ganz unsäglich langweilig, der Langenweile aber meine sie zur Genüge in Aalholm finden zu können.« Mademoiselle Nordermule war in Verzweiflung. – Helene war sogar einmal, während einer etwas langgedehnten Liebes- und Heirathsbewerbung zum Salon hinausgegangen, aus Zerstreuung. Helenens Schwestern gaben ihr Recht, »weil sie noch ein Kind sei.« Eine Heirath der viel jüngeren Schwester hätte ihnen den Anstrich höheren Alters gegeben.

Die kleine Gouvernante ließ sich nicht irre machen! Helene zählte damals zwanzig Jahr, obschon sie aussah wie ein Mädchen von sechzehn; sie suchte auf jede Art ihres Lieblings Glück zu fördern, warnte sie vor späterer Vereinsamung und ermahnte sie, der Tage zu gedenken, von denen geschrieben steht, »daß sie uns nicht gefallen werden.«

Helene aber lachte. »Ich will weder einen Kohl- und Krautjunker, der seine Ochsen, Kühe, Hunde und Pferde lieber hat als mich, noch einen voltairisirenden Salons-Cavalier, der jeder Schürze nachläuft, und nicht einmal die heilige Jungfrau Maria in Ruhe lassen kann, ohne üble Nachrede; begegne ich nicht endlich einem wirklichen menschlichen Menschen, der kein bloßer Repräsentant seiner gesellschaftlichen Stellung ist, so will ich auf meinem Stift bleiben und dort wie meine sieben Cousinen Gejer-Mogenstrupp als Chanoinesse alt und grau werden. Ich bedarf einen Freund, der mich den Reichthum der von mir kaum geahneten Welt kennen lehre, der mir die Seele mit edlen, heitern Bildern füllt – ich kann nicht bloß von Arbeit und Pflichten leben, ich bedarf auch Genuß! Was hilft mir die Hesperiden-Ferne, in welche mich Dichter und Künstler schauen lassen, wenn sie mir unerreichbar bleibt, wenn ich in meiner engen Gegenwart geistigen Hungers sterbe? Es kann nicht Jeder, wie mein Bruder, ein Gelehrter sein, der sich über einen Schmerz oder Verdruß wegexperimentirt; es kann auch nicht Jeder immer nur der Bauern Rechte und seine eigenen während des Unrechts vergessen, das ihm am allernächsten steht! Ich würde meinen Mann ganz miserabel behandeln, oder mich von ihm mißhandeln lassen, das ist eine entsetzliche Sclaverei! – Wenn so ein armer Schelm von Bauernbengel unser Leibeigener wird, weil er auf unserm Hofe mit dem andern lieben Hausvieh geboren, und wir ihn verkaufen dürfen an die Miliz, wie einen jungen Jagdhund, so thut mir das von ganzem Herzen weh! ich gönne es ihm, wenn er loskommen und uns entwischen kann, aber es langweilt mich schon daran zu denken, wenn ich ihm nicht helfen kann; ist es dann also nicht thöricht, mich selbst der Leibeigenschaft, der ich so tief in's Auge gesehen, bei einem Manne Preis zu geben, dessen Fesseln ich nun und nimmer zu entrinnen hoffen darf? es gilt da kein Loskauf, Emerenzia! oder soll ich, wie meine schöne Schwägerin, seine Gebieterin sein, ihn zu meinem Sclaven machen, und mich innerlich den ganzen Tag seiner schämen?« Die kleine Nordermule seufzte und – schwieg.

Jahr um Jahre schlichen auf diese Weise vorüber. Comtesse Amalie war verlobt, Annette hatte alle Aussicht es zu werden. Helene kehrte unveränderten Sinnes aus der Hauptstadt zurück, nur begann ihr die innere Einsamkeit schwerer zu werden; es giebt Mädchen, bei denen das Herz weit später erblüht, als der Körper. Zum ersten Male schlich sich ihr die Sehnsucht in den Frühling.

Die Nordermule seufzte noch schwerer – Helene wies ihre Bewerber bloß auf etwas höflichere Weise ab. »Ich mache künftig in meinem Stift meinen alten Verehrern und deren Kindern Confitüren und backe ihnen Pfefferkuchen, wie meine sieben Cousinen Mogenstrupp,« versicherte sie komisch-ernst.

»Auf dem Stift ergrauen, wie jene Sieben?« sie waren der Nordermule entsetzlicher als die Sieben vor Theben.

»Aber Emerenzia! kannst Du Dich nicht erinnern, daß sie uns in Copenhagen besuchten, wie meine Schwestern auf die ersten Bälle gingen, und ich noch ein kleines Kind war? Schon damals haben sie mir einen imposanten, ganz majestätischen Eindruck hinterlassen; sie gingen alle überein gekleidet und trugen gewaltige Kreuze um den Hals gehängt an schweren Ketten, und in der Linken ein Schnupftuch und einen Stockschirm mit Gold- und Perlemutterknöpfen. Ihre Mutter war bildschön gewesen, hatte sich früh vermählt und war in guter Zeit Witwe geworden, eine strahlende, reizende Witwe. Wuchsen ihr da mitten in ihren Successen sieben lange Töchter zur Seite auf, die auch gar nicht übel waren, blonde, braune und schwarze! Was konnte die arme Frau Besseres thun, sich der Nebenbuhlerinnen zu erwehren, an deren Seite sie in den königlichen Soireen erscheinen mußte, als – die Töchter zu Caricaturen aufzuputzen, bis die armen, in unglaublicher Abenteuerlichkeit mit Juwelen, Blumen, Bändern überladenen Mädchen, durch die Barrière der Lächerlichkeit von aller Jugend abgesondert, wie eine Gesellschafts-Chimäre dastanden, die nur dazu diente, der alternden Armida Reize zu erhöhen. Die immer noch hebeartig blühende Mutter bejammerte »das unglaubliche Ungeschick« ihrer Töchter, und eines schönen Tags dämmerte diesen eine Ahnung auf, daß sie lächerliche Figuren geworden! So saßen sie wie Tarock-Karten lang und bunt an die Salonwände gelehnt, blieben sitzen, wenn die Andern zu Menuet, Quadrille und Anglaise flogen, blieben sitzen, bis sie endlich fortzogen in ihre Stifts-Curien, und sitzen dort noch, einsam, hehr und adelstolz, wie früher in den jungfräulichen Zellen ihres Familienschlosses.«

»Und die Mutter?« – die Nordermule sah bei der Erzählung wie ein Frühlingsungewitter aus: sie lachte und weinte, wie Sonnenschein und Regenguß, zu gleicher Zeit.

»Ach, ma bonne, das ist eine hochtragische Geschichte! Die Mutter starb, au beau milieu de ses succès, als es ganz unmöglich war zu verhehlen: daß die vierzigjährigen Mädchen – erwachsen wären!«

»Aber Helene! welch ein Gedanke Dich diesen Schwestern zu vergleichen, sie fanden nie einen Mann und –«

»Sie fanden vielleicht bloß einen, wie ich ihn auch finden werde, einen Mann – im Mond? Den man nicht heirathen kann, weil er bürgerlich ist, und sein Kohlkopf und Dornbusch auch, oder weil er uns nicht mag, oder weil er nichts taugt, einen Mann, der nicht reich, nicht vornehm, nicht klug, nicht schön genug für die ganze ihn natürlich mitheirathende Familie ist! Vielleicht dachte Eine oder die Andre wie ich, und wollte für sich selbst heirathen, vielleicht waren sie aber auch den Männern gar zu herrlich und majestätisch –«

»Helene!«

»Warte nur, Emerenzia, Du sollst sie selbst sehen! Drei von ihnen leben jetzt in Wallöe und im Herbst besuchen sie die Andern um Marzipan zu backen. Und doch! weißt Du, Nordermule, die armen alten Mädchen sind wahrscheinlich unter sich glücklicher als hier Christians Frau! o die milde, geduldige Eva –«

Die Gouvernante schwieg; sie fand es nicht anständig, des Grafen, ihres Brotherrn, Verhältnisse zu besprechen. Lachend drückte ihr Helene die Hand, die Beiden verstanden sich vollkommen.

Und wenig Wochen nach dieser Unterredung sollte ein junger Maler die Portraits der drei Fräulein machen – und die Liebenden sahen einander zum ersten Mal.

Ich weiß nicht, ob schon von einer Frau ausgesprochen worden, wie ein Mädchen das nahende Geschick ihres künftigen Daseins vorausempfindet beim ersten Anblick eines Mannes, den es ernst und leidenschaftlich zu lieben bestimmt ist. Ich glaube jeder tiefen, das ganze Wesen durchglühenden Empfindung geht ein Durchzittern des Herzens voran, das keiner andern Lebensahnung gleicht, ein plötzliches bebendes Verstummen der Gedanken, die nicht wagen, den Gegenstand zu berühren, der wie das Geheimniß des nahenden Tages die plötzlich aufwogenden Stimmen der Natur aufruft aus dem Schlummer – alle anderen Empfindungen der Seele schlagen an wie erwachende Vögel in der sich lichtenden, der Sonne vorangehenden Dämmerung; alle Blüthen der Seele stehen in Thränen und öffnen dem nahenden Tage ihren Kelch; es legt sich ein tiefes, heiliges Mysterium über die innere, wie über die Außenwelt: der nächste Augenblick muß es durchzuckend lösen – o, wer ewig an dieser Zauberschwelle weilen könnte, durchbräche nie die Sonne der Wirklichkeit, so schön sie ist, den Goldsaum der Wolkenbilder, die den fernen Himmel mit ihrem rosigen, wogenden Leben umhüllen und ihn der Erde verbinden! –

Und Thorald? Nun Thorald empfand nicht eben die erste Liebe, aber dennoch die erste festhaltende, ernste Neigung seines Lebens. Sein einfacheres, alltäglicheres Gefühl glich weniger einem zur Priesterschaft des Lebens heiligenden Mysterium, allein mit jedem Tage wurde es tiefer und wahrer. Anfangs sah er in Helenen noch die vornehme Dame, empfand den Unterschied der Stände als drückende Last; mit Gewalt hätte er seiner wachsenden Leidenschaft entfliehen mögen, er gedachte seiner Kunst, seiner Mutter und einer Menge vorübergezogener Empfindungen, die ihn abwechselnd beherrscht hatten und dann in sich selbst verflüchtigt worden waren in Rauch und Dunst; er schalt sich, daß ihm eine ähnliche Behandlung seiner Liebe zu Helenen mißlang; nach und nach siegten das Herz in ihm und die Natur, die sich nicht gebieten läßt! er liebte das Mädchen täglich inniger und menschlicher. Thorald war keineswegs, was die Geliebte in ihm sah, was die Zeit, die er durchlebt, ihn erscheinen machte, aber er war ein redlicher, aufrichtiger Mann, mit einem Fond unendlicher Gutmüthigkeit; die gewaltsamen Ereignisse, die er miterfahren, hatten ihn eine Strecke mit sich fortgerissen; nun war ihm eigentlich unsäglich wohl, in die ihm natürliche Beschränkung und Harmonie des Empfindens zurückzukehren. Von der Mutter und einer alten Magd bis in's siebzehnte Jahr erzogen, lagen eine Menge weiblich ausgebildeter zarter Gefühle in seiner noch nicht ganz ausgearbeiteten Seele; er schämte sich ihrer in Männerkreisen, in Italien waren sie von ihm selbst vergessen und zurückgedrängt worden, nun erblühten sie alle in zauberischer Frische, – trotz seines Kummers war Thorald unbeschreiblich glücklich!

Graf Christian hatte sich gegen seine beiden Brüder ausgesprochen. Man war darin übereinstimmend, Helenens Neigung wie eine romantische Grille zu behandeln, der nichts wirkliche Folgen zu geben vermöge, da sie in keins der bestehenden Verhältnisse passe. Nur im äußersten Nothfall sollte offenbarer Widerstand ihr entgegentreten. Christian war der einzige unter den Brüdern, der wider Willen an eine wahre Gefühlstiefe ihrer Liebe glaubte und den möglichen Ernst derselben scheute; Friedrich und Johannes lachten ihn aus, beide waren Welt- und Hofleute. »Helene ist volle vierundzwanzig Jahr, und folglich über Nußschalen- und Hüttenalter hinaus,« versicherten sie.

Vielleicht wäre man zu kräftigeren Maßregeln geschritten, hätte man nicht jede öffentlich wiedertönende Erinnerung an des Erbgrafen arge Mißheirath zu meiden gesucht. Die beiden Brüder boten dem Maler Arbeit auf ihren Gütern zu Fühnen und Seeland, verschafften ihm auch bei den arglosen Schwägern und anderen Nachbarn und Freunden Bestellungen. Thorald ward mit Arbeitsvorschlägen überhäuft, – die alle ihn von Laaland zu entfernen bezweckten. Wirklich ging er nach Fühnen, aber nach vierzehn Tagen war er wieder in Nysted. Dann kehrte er wieder zu den begonnenen Bildern zurück. Auf diese Weise wechselte er fortdauernd den Aufenthalt, ohne je sein Mädchen aus den Augen zu verlieren; beim Küster behielt er ein Absteigequartier, er malte den Alten und eine Anzahl Bauern als Studium, Johannen aus Dankbarkeit; – man konnte ihm nichts anhaben, es blieb unmöglich, ihn ganz von der Insel zu vertreiben.

Eine fortgesetzte Correspondenz mit der fast mündig gewordenen Schwester zu hindern, gelang noch weniger; Christian bemerkte Helenens schadenfrohes Lächeln und beschloß ernstere Mittel zu ergreifen.

Unterdessen schritten die Vorbereitungen zu den im Herbst bestimmten beiden Hochzeiten täglich weiter. Vieles wurde in Copenhagen bestellt, anderes zur See aus Schleswig und Hamburg verschrieben; eine Tüchtigkeit der Pracht waltete überall vor. Zuletzt kamen die Truhen in den verschlossenen ehemaligen Wohnzimmern der Tante zur Sprache. Sie hatte diese als achtzehnjähriges Mädchen verlassen, und nur wenige Monate vor ihrem Tode von neuem auf kurze Zeit bezogen; seit dreißig Jahren standen sie verödet. Graf Christian erklärte seinen drei Schwestern ehe man sie öffnete, der Augenblick eines nur sie allein betreffenden Erbschaftsantritts sei gekommen, er bäte sie, sich untereinander über die Theilung der von ihrer seligen Tante zurückgelassenen Ausstattung zu vereinen, deren Inhalt ihm selbst fremd sei, da kein Anspruch irgend einer Art ihn berechtigt habe, bis zu diesem Tage die Schlösser dieser Truhen zu öffnen. »Du,« sagte er scharf betonend zu Helenen, »wirst die Güte haben, den dir zufallenden Antheil dieser Gegenstände meinen oder meiner Gemahlin Händen anzuvertrauen, da es meine Pflicht ist, ihn erst bei Deinem einstigen Einzug in eines würdigen Gatten Haus Dir zu freier Benutzung zu überliefern, über die Theilung jedoch schon jetzt mit den Schwestern Dich zu besprechen, wirst Du mir hoffentlich nicht abschlagen.«

Eva war als bloße Zuschauerin bei diesen Verhandlungen gegenwärtig und sehr bewegt; deutlich blickte aus all ihrem Thun der Kummer über Helenens und Christians Spannung; Thorald erschien ihr als Störer eines Hausfriedens, den die Arme mit unerschöpflicher Geduld zu erschaffen stets von neuem träumte. – Die kleine Nordermule schwamm in Thränen, welche selbst der Respect für den Grafen nicht zu stillen vermochte.

Auf ein sehr kleines Vorgemach mit nur einem einzigen Fenster folgte eine Art Wohnzimmer, das der Einrichtung nach mitunter zum Empfang seltener Besuche gedient haben mochte. In dessen Mitte stand ein großer Tisch, auf demselben Tintefaß und Feder, auch einige Lehrbücher lagen dabei, das Ganze machte den Eindruck, als habe hier ein Kind Unterricht empfangen, – etwas weiter zurück, dem Fenster näher, stand ein niedriger Stuhl, und vor demselben einer jener schon erwähnten kleinen Webstühle, – »ach,« rief die Nordermule in heißere Thränen ausbrechend, »hier saß die Schließerin mit der Arbeit, während der Stunden, in welcher –«

Ein drohender Blick aus des Grafen aufflammendem Auge schloß ihr den Mund. – Das Gemach war durchweg mit weiß überstrichenem Holzgetäfel bekleidet, die grün- und goldumrandeten Medaillons seiner Wandfelder zeigten verblaßte Spuren schäferlicher Darstellungen im damaligen Geschmack; es waren ziemlich plumpe Nachahmungen der französischen Vorbilder jener Zeit; die ausgeschweiften, geschmacklosen Möbel, auch weiß mit Gold und Rohrgeflechten statt der Sitzpolster, gehörten ebenfalls dorthin.

Das hintere anstoßende Schlafzimmer hatte seinen aus einer weit frühern Periode stammenden ernsten Charakter bewahrt, sogar sein gothisches Bogenfenster mit den in Blei gefaßten runden Scheiben, in dessen Mauertiefen ein hochrückiger Nußbaumsessel stand. Etwas weiterhin gewahrte man einen schön geschnitzten Betschemel, und auf dessen Pult ein Kruzifix und eine schwere mit Klammern geschlossene Bibel. Die weiß getünchte, nur mit Eichenholz umrahmte Wand, deren Hälfte das große geblümte Gardinenbett einnahm, den Fenstern gegenüber der riesige blaue Porcellan-Kachelofen, – das Alles paßte weit eher zum Aeußern des Schloßbaues. Ein Stickrahmen bewahrte die in Seide noch unvollendete Großmuth Alexanders, – ein Eckschrank die kleine Hausapotheke, und über derselben zwei Reihen französischer und dänischer Bücher, poetischen und geschichtlichen Inhalts; an sie schlossen sich eine isländische Bibel, eine Sprachlehre und einige zum Studium dieses nördlichen Idioms nöthige Hülfsschriften. An der dem Bett gegenüber frei gebliebenen Wand standen vier herrlich in Nußbaum geschnitzte, mit künstlichen Messingbeschlägen gezierte Truhen, – sie nehmen allgemein noch in den ältern dänischen Familien die Stelle unserer Wasch- und Kleiderschränke ein, und stehen meist in den von einem zum andern Gemach führenden Gängen. – Wie es schien, hatte man sie aus dem Vorzimmer der Sicherheit wegen in diesen Theil der Wohnung der Verstorbenen gebracht. Alle zeigten die schön in Metall ciselirten Wappen des Hauses, nur eine trug den Namen der ehemaligen Besitzerin. –

Sei es die drückende Luft des allzulange verschlossenen Zimmers, oder lag wirklich in dem Allen der Nachklang einer jungfräulichen Abgeschiedenheit, einer so recht heimlich ertragenen Herbheit des vernichtenden Geschicks, alle Anwesenden waren ernst, ja fast wehmüthig gestimmt, als endlich die fast verrosteten Schlüssel in ihren Höhlen sich drehten, und die Truhen ihre geheimen Schätze zu Tage förderten. Der Inhalt bot ein individuell-seltsames Gemisch von Kostbarkeiten! Ueber den reichen, schwer seidenen Damaststücken und den gestickten Brocaten zu Kleidern, neben den Chagrinétuis mit Bonbonièren, Zitternadeln, Ketten, Ringen, Armspangen und all dem übrigen prächtigen Putz einer vornehmen Dame der damaligen Zeit, lagen abgewelkte Sträuße kleiner Wiesenblumen, – Schreibbücher eines Kindes, Repetitionen und Aufsätze, – Ausarbeitungen für einen gründlichern Unterricht als er damals gebräuchlich, geschriebene Bruchstücke der nordischen Saga, endlich ein in Silber gefaßtes kleines Medaillon, fast ärmlich abstechend gegen all die Herrlichkeiten, mit dem Miniaturbilde eines jungen Mannes. – Diese Truhe schien die Einzige zu sein, welche die Besitzerin geöffnet, die folgenden enthielten Schätze an feiner Wäsche, eine silberne Toilette, alles was zum persönlichen Gebrauch einer Fürstin geeignet; die letzte Kiste barg, was der Haushalt einer jungen Frau in glänzenden Verhältnissen fordern kann. – Alles war mit sorgsamster Auswahl bereitet, und zeugte von der mütterlichen Liebe der fürstlichen Erzieherin Ulrikens.

Während die älteren Schwestern gierig den Inhalt der Kasten musterten, und über dessen Eintheilung in drei gleiche Loose den Druck der beklommenen Luft im Gemach vergaßen, athmete Helene schwer und schwerer! Sie hatte sich des kleinen Medaillons bemächtigt und betrachtete mit immer traurigerer Miene die bleichen sanften Züge, die es ihr bot. Die schwarze Kleidung des Jünglings verrieth den Candidaten, – »ihr Lehrer oder ihr Liebster?« dachte das Mädchen. –

»Auch hier das nämliche Geschick! den alten Fluch des Hauses,« hauchte kaum vernehmbar Eva, die ihr über die Schulter blickte. Helene sah sie an, sie war blaß und zitterte merklich; sie bat die immer noch auspackenden Schwestern das Medaillon ihr zuzutheilen, und erhielt es leicht, denn es war altmodisch gefaßt und unschön als Schmuck.

Endlich waren die Loose fertig, die Schwestern theilten nach Zufall, – am Boden blieben die welken Frühlingsblüthen und die Papiere; die arme Nordermule sammelte Alles auf; Eva hatte bereits die sie beengenden Räume verlassen, – der Anblick war ihr unerträglich.

Sobald der Eifer der besitznehmenden Schwestern es ihr gestatteten, entzog auch Helene sich dem ihr durchaus peinlichen Eindruck. Die ganze Scene machte ihr das Herz schwer; es kam ihr Alles, sogar ihre eigne Theilnahme daran, wie eine Entweihung, wie das gewaltsame Eindrängen in ein zartes, jungfräulich verhülltes Leben vor, das selbst der Tod nicht abzuschließen und dem frevelnden Blick des fremden Auges zu bergen vermöge, während lange qualvolle Jahre daran gesetzt worden, diesen einzigen armseligen Zweck zu erreichen.

Als sie die Schwelle ihres Zimmers eben überschritt, streifte sie Christians Arm, und seine Hand ergriff unvermuthet die ihre. »Helene,« sagte er ernst und strenge, »Du trägst den Schlüssel dieses bejammernswerthen Geschickes mit Dir fort,« er deutete mit dem Blick auf das Medaillon, »es hat trübe unser aller Dasein umleuchtet, wie ein Nordlicht, ohne unsre Wege zu erhellen, ohne unserm Auge die Bahn deutlicher zu machen, die wir zu durchwandern gezwungen! Gebe Dir Gott mehr Glück und mehr Besonnenheit als ihr, und ein klareres Verständniß des Unabwendbaren! Du kennst bisher nur die Lösung dieses traurigen Räthsels!«

»Ja,« erwiederte Helene gepreßt, »ja, mir ahnet, daß sie für gleichen Lebenseinsatz einen entsetzlichern Verlust, für gleiche Schuld – wenn es eine ist! eine schwerere Buße zu ertragen gehabt, als wir Alle!«

Christian lächelte bitter. »Es kennt keiner das Gewicht der Bürde des Nächsten!« Er war mit eingetreten und ging in fast leidenschaftlicher Erregung eine Weile auf und nieder. Endlich blieb er vor ihr stehen; »es kann nicht schaden,« setzte er mit unbeschreiblich traurigem Tone hinzu, »daß Du einmal die Dir noch unbekannten Schicksale Deiner nächsten Verwandten, ja Deines älterlichen Hauses in's Auge fassest – komm setze Dich zu mir.«

Helenens weiche Stimmung ließ sie dem Bruder schweigend willfahren; sie hoffte die Erzählung werde die Tante betreffen, hier in ihren eigenen Räumen scheute sie nicht, mit dem Einzigen, der um das Geheimniß zu wissen schien, davon zu reden; – so hängt auch das edelste, zarteste Gefühl vom Eindruck äußerer Umgebung ab! –

»So weit meine eigne Erfahrung reicht,« begann Christian, »habe ich stets bemerkt, daß in all den Einzelgruppen der menschlichen Gesellschaft, die wir »Familien« nennen, ein nämliches Grundprinzip des Glückes wie des Elends in fast all ihren Mitgliedern in unzähligen Umgestaltungen sich wiederholt. Es geht damit, wie mit der Aehnlichkeit der Gesichtszüge, die selbst, wo sie in Einzelfällen in gerader Linie verschwindet, in verwandtschaftlichen Kreuzungen, im Großneffen, im Enkelkind, in Tanten und Basen wieder auftaucht und sich unverändert geltend macht. Davon hat man tausende von Beispielen überall. Psychologisch erklärt sich aber das erste Phänomen, wenn man auf diesen Erscheinungen körperlicher Gleichheiten weiter zu fußen versucht und beachtet, wie sie Jahrhunderte zurück sich erstrecken, und eben so fortdauern um uns her, bis gewaltsam ihm aufgedrungene fremde Schößlinge den alten Familienstamm in seiner Wurzeltiefe und Wipfelhöhe überwuchert haben! – Es läßt sich gar wohl begreifen, daß auch die dem Leibe inwohnende Seele ihre eben so bis in den späten Ur-Enkel, durch Mischung sich analoger Körper- und Geisteskräfte, erzeugten ähnlichen Gebrechen und Tugenden bewahrt, und daß auf diese Weise der einzelne, sehr reich begabte Mensch zum Schöpfer einer Scala von herbeigezogenen Geschicken wird, die zusammenklingen, weil sie auf einem ihnen allen eigenthümlichen Grundton beruhen! Nennt doch selbst ein Volkswort Jeden seines eigenen Unglücks Schmied! Und so wird denn Fluch und Segen des längst schlummernden Ahnherrn immer von neuem erweckt, bis der letzte seines Namens und Stammes zu Grabe getragen ist.« – Erstaunt sah Helene den Bruder an; wie kam der sich nur mit abstrackter Gelehrsamkeit beschäftigende Mann, der Philosoph, zu diesen Ansichten eines Schwärmers?

»Seit unseres Großvaters Jugend, welche in die erste Hälfte des vorigen Jahrhunderts zurückreicht, hat jedes unsre Familie befallende Mißgeschick, das bald auf entwürdigende Weise deren zarteste Hoffnungen brach, bald den eigenen Herd, das Herz des Hauses zum Schauplatz des Ungehörigen machte, sein Entstehen einer durch Liebesraserei erzeugten Verblendung zu verdanken. Jede Neigung ist bei uns durch Widerspruch zur Leidenschaft ausgeartet, jedes das Dasein erhellende Licht zum wilden Feuer, das den Aufbau unseres Lebens zerstört, das Dach über unseren Häuptern verzehrt, uns arm und bloß, als Bettler in der leergewordenen Existenz zurückläßt!«

»Unser Großvater lebte in äußerlich günstigeren Verhältnissen als wir. Seine Jünglingszeit fällt in die Glanzperiode Niel Juuls und seiner Siege über die Schweden. Owen focht unter dem großen Feldherrn und zeichnete sich aus; das Vaterland nannte mit dem des Helden zugleich seinen Namen! Die der Krone geleisteten Dienste verschafften ihm die Hand einer dem königlichen Hause verwandten jungen Dame, der Fürstin Harald-Friedrichsborg. Bei anscheinend blühender Gesundheit bemächtigte sich ihrer bald nach der Vermählung ein heimlich schleichendes Uebel, das in fortgesetztes Kränkeln überging, und die Geburten einer Tochter (der Tante Ulrike) und zweier Söhne schwächten den zarten Körper der jungen Frau noch mehr. Auch das in ihren Verhältnissen unvermeidliche, geräuschvolle Hofleben schadete ihr, es raubte ihr die Möglichkeit einer allmäligen Erholung; sie starb, nachdem sie einem dritten Sohn, unserm Vater, das Leben gegeben, gleich nach dessen Geburt.

Grenzenlos war des Gatten Schmerz! In wahnsinniger Verzweiflung starrte er anfangs den Ueberbringer der Todesbotschaft regungslos an; dann aber sprang er einem wüthenden Tiger gleich, der seine Beute erfaßt, auf den Unschuldigen los, warf ihn zu Boden und trat ihn mit Füßen! Noch in der nämlichen Nacht starb der schwer Verletzte an den Folgen der erlittenen Mißhandlung. Des Königs Liebling aber, Graf Owen, entging jeder Anklage und Strafe, sogar der seines eigenen Gewissens; war es ja doch sein Leibeigener, den er zertreten wie einen Wurm! wer kümmerte in damaliger Zeit sich um den Gebrauch den Er, der Herr, von seinem Erb- und Eigenthum gemacht! – Aber die Verblendung des unsinnigen Zornes gegen das ihn betreffende Geschick riß ihn weiter fort auf der entsetzlichen Bahn, auch – dem eigenen Kinde, das diesem Unglück die Geburt dankte, dessen Eintritt in die Welt das Dasein der Mutter gekostet – dem Neugebornen fluchte er. – Der unnatürliche Fluch trug bittre, giftige Frucht! Der Verlust seiner Liebe hat an uns Allen in der Liebe sich erneut und gerächt, mochte sie gewähren oder versagen, als gebühre uns die Buße seiner Schuld.

Drei Söhne hatte die Gräfin geboren. Die zwei Aeltesten starben in den ersten Jahren auf fast unerklärliche Weise, ohne vorhergegangene Krankheit, vielleicht an von der Mutter ererbter Schwäche, sie welkten dahin, wie eine Blüthe abfällt vom Zweige. Unser Vater dagegen war kräftig. Mit furchtbarer Strenge erzogen, auf jede Weise abgehärtet, wuchs er unter fremder Leitung auf; oft mischten sich Willkür und Grausamkeit in die Erziehung, die ihm ward. Der Großvater liebte ihn nicht, nannte ihn fortgesetzt den Mörder seiner Mutter, und sandte ihn endlich nach Skovkloster in die von Herluff Trolle eingerichtete adlige Hochschule, um ihn nur Jahre lang fern von sich halten und seinen Anblick vermeiden zu können. –

Eine scheue Niedergeschlagenheit bemächtigte sich dort des Knaben – selbst Güte und Wohlwollen Einzelner, denen er Mitleid einflößte, vermochten nicht mehr ihn aufzurichten. Auch der Schwester durfte er nur in seltenen Zwischenräumen sich nahen; als sie erwuchs, sah er sie gar nicht mehr: so ward der einzige Sohn und Erbe ein Fremder im eigenen Vaterhause. –

Eine immer mehr überhand nehmende Melancholie breitete ihren düstern, ihm die ganze Welt umhüllenden Flor über des Armen schönste Jugendzeit. Jedes eigene freie Streben ward ihm untersagt, man zwang ihn in den Militairdienst, während ihn eine mächtige Neigung zum damals noch brach liegenden Felde des Naturstudiums, besonders zur Botanik hinzog; man drängte den Verschüchterten in eine Hofcarrière, wo er seines verlegenen Betragens, seiner nicht brillanten äußeren Erscheinung wegen, kein Glück machen konnte – ja es nicht einmal zu wollen vermochte, da die tiefste Sehnsucht seines Innern nur Stille und Abgeschiedenheit erstrebte. – Als er mündig und durch seines Vaters Tod Erbe dieser Besitzungen geworden, bewarb er sich um die Hand unserer Mutter. Er hatte sie in den Hofzirkeln der Königin kennen gelernt und empfand die heftigste Leidenschaft für sie – hiermit beginnt ein neuer Abschnitt unserer unseligen Familiengeschichte.«

»Aber,« sagte Helene, »ihm ward das Jawort der Geliebten, sein Gefühl ward erwiedert.«

Ohne ihre Bemerkung zu beachten, fuhr Christian fort: »unsere schöne geistreiche Mutter reichte dem Liebenden liebelos, gezwungen von ihrer Familie, die Hand! Eine unerwiederte Leidenschaft ist immer ein das Seelenleben spaltendes Weh; Besitz und stete Gegenwart steigern es zum unerträglichen! Sie war sein! Willenlos und widerstandlos ward sie ihm verbunden, aber eiskalt blieben die Lippen, auf welche er die seinen preßte, theilnahmlos blieb die Seele, der er unablässig die seine zu erschließen strebte. Ein entsetzlicher Kampf um Ruhe und Glück begann unter Beiden; je mehr er forderte, je weniger fühlte sie sich im Stande, das Verlangte zu gewähren. Seine Eifersucht ward erregt; ob sie gerecht oder nicht, wagt der Sohn nicht zu entscheiden! Auch auf unseren Kinderhäuptern lastete das Unglück; mich den Erstgeborenen unter Euch empfing, wenn auch kein Fluch, doch das Gefühl innerer Verzweiflung, statt des Kusses der Freude! –«

Er schwieg. »Aber die Tante?« fragte schüchtern Helene; in dem trüben Wahn des Bruders lag etwas seltsam Ansteckendes – »aber die Tante, wie traf denn eben sie, die Schuldloseste unter Allen, das aller Entsetzlichste! war sie denn –«

Christian rang sichtlich mit dem Entschluß in seiner Erzählung fortzufahren – in dem Augenblick ertönte der langgezogene Schrei einer Seemöve oder des Wettervogels; es war nicht die Stunde, in welcher das Thier zu schreien pflegt, aufmerksam horchte Christian hin. Er war aufgestanden und an's Fenster getreten, und kehrte so Helene den Rücken zu. Nach wenigen Secunden erklang der Schrei zum zweitenmal – zufällig wandte sich der Graf in demselben Augenblick der Schwester zu – sie war feuerroth geworden und näherte sich in sichtlicher Verlegenheit der Thüre eines anstoßenden kleinen Jagdsalons, welcher die erste Etage eines der Eckthürmchen des Schlosses einnahm – wie der Blitz stand Christian neben ihr; ehe er selbst sich seiner Absicht bewußt, hatte er gewaltsam die Thüre desselben aufgerissen und befand sich bereits in dem runden, durch mehrere große Fenster erhellten Saal. Aus dem einen derselben sah man über den Garten weg auf einen lieblichen kleinen Landsee, welcher die Besitzung Aalholm von dieser Seite begrenzt. – Drüben stand Thorald! Nach einer längeren Abwesenheit in Fühnen, von wo ihn die Sehnsucht, Helene zu sehen, zurückgetrieben, hatte der Unbesonnene nicht unterlassen können, ihr ein Zeichen seiner Rückkehr zu geben. –

»Tod und Teufel!« schrie der Graf, »wagt der Bube einem Fräulein von Gejern zu rufen, wie einer Bauerndirne.« – Besinnungslos vor aufwogendem, entsetzlichen Zorn riß er hastig eine von den Jagdflinten herab, welche an den Wänden hingen, und legte an. Heftig, aber keineswegs fassungslos ergriff Helene seinen Arm und schleuderte die Mündung des Gewehrs seitwärts. – »Unsinniger!« rief sie mit strafender fester Stimme, »meinst Du einen Leibeigenen vor Dir zu haben, der willig sich mit Füßen treten läßt?«

Der sich entladende Schuß war durch das Nebenfenster gegangen, das zufällig offen stand, die Schrotkörner streiften die Zweige der Allee, ohne irgend Schaden zu verursachen. Helene und Christian standen wortlos, zornig sich in's Auge blickend, einander gegenüber, als Eva von dem Knall erschreckt in's Zimmer stürzte, »was ist vorgefallen, was um Gotteswillen giebt es hier?« – rief sie in namenloser Angst, auf Beide zueilend. »Gar nichts,« sagte trocken mit ruhigem Ton Helene, »Christian hat nach einer Möve am Weiher geschossen und sie verfehlt.«

Des Bruders Auge dankte ihr; er hing die Flinte wieder zu den übrigen an ihren frühern Platz und reichte Eva die Hand; »es thut mir leid, Kind, daß meine Unbesonnenheit Dich erschreckt hat.« Ohne weitere Worte verließ er die Frauen – Helene rang nach Fassung, ihre Augen durchbohrten das Wäldchen, in welchem der Liebste entschwunden. Eva kannte sie viel zu genau, um nicht bei näherer Betrachtung, mit einer von der Welt abgeschiedenen Kranken oft eigenen Beobachtungsgabe, zu errathen, was eigentlich vorgefallen. – »Unvorsichtige!« flüsterte sie, Helenens Hand zwischen der ihren pressend, »willst Du denn durchaus ihn und Dich selbst elend machen? Ach, Du kennst nicht die volle ganze Kraft der Gefahr, welcher Du trotzig entgegen treten zu können wähnst! – War Thorald hier im Schloß?«

»Nein, dort am Weiher.«

Eva seufzte tief auf, dann fuhr sie mit sichtlicher Selbstüberwindung fort, weil sie es für Recht hielt zu reden. »Ich kenne Christian besser wie Du! glaube mir, er ist unbeugsam, hoffe nie den auf einen Punkt eigensinnig Verhärteten zu erweichen, nie wird er seine Einwilligung gewähren.« »Er ist nicht mein Vater, nur mein Bruder,« sagte das Mädchen ernst und fest, »seine Gewalt über mich muß Grenzen haben, obschon er mein Vormund ist, jedenfalls ist sie weder unabwendbar noch lebenslang dauernd. Ich bin in seinem Hause, Eva, und werde nichts thun, was ihn ernstlich kränken könnte, aber ich bin frei wie er« – sie erschrack als die letzten Worte über ihre Lippen kamen.

Eva aber schüttelte traurig den Kopf, »das Land, seine Sitten, der Stamm, dem Du angehörst, bilden eine dreifache Mauer um Dich und Deine erträumte Freiheit. Es ist nicht bloß Dein Bruder, nicht nur sein Adelstolz – warum wirst Du blaß bei dem Worte, das ich millionenfach durchdacht habe? es ist mehr als Alles der Charakter des ganzen Landes, das Zusammenfallen der allerverschiedensten Vorurtheile und dabei das Zusammenwirken der so von einander abweichenden Ansichten auf denselben Punkt, dies hast Du zu scheuen, das ist die Kette mit den vielen kleinen Ringen, die sie um Dich schlingen –« Helene legte das müde Haupt auf die Fensterbank und schauete trostlos über den See, »mein Gott, mein Gott, wo er nur sein mag?«

»Und errängest Du es dennoch, des Künstlers Gattin zu werden, glaubst Du man würde Deine frühere Stellung vergessen, oder wirklich Dich aufnehmen unter den andern Bürger-Frauen und unter ihren Familien! – Ach, sie sind – und vielleicht mit vielem Recht – stolzer als Ihr! Eben weil sie ihre Vortheile, Aemter, ihre Privilegien, ihr Brot erkämpfen, und das mit sauerem Schweiß Errungene zu wahren nöthig haben, deshalb stoßen sie Eure Gemeinschaft zurück, Euch gleich gestellt sein wollen sie nicht, herabsteigen sollt Ihr zu ihnen, dann erst wollen sie mit Euch sich wiederum erheben, auf Euren ungeschmälerten Platz, erst dann ihn mit Euch theilen. Das, meine Helene, ist hier die Stimmung des Bürgers – und in so fern sein Kopf klar genug, auch des Bauern!«

»Wenn sie einander begegnen im Wäldchen!« seufzte Helene – das Nächstliegende verschlang in ihr stets Vergangenheit und Gegenwart.

Träumerisch die schmalen Händchen über die Brust faltend, wehmüthig die blauen Augen zu Helenen aufgeschlagen, mit dem rührensten Ausdruck der Innigkeit und Treue in den Zügen, saß indessen die Sprecherin da, immer noch bemüht der Freundin aufgeregte Geister zu beschwichtigen, vor allem aber sie abzuhalten, in den Garten zu gehen! – Eva sprach fast niemals über sich – Helene empfand den ganzen Werth des ihr gebrachten Opfers, auch dessen sanft verschleierte Absicht – sie war selbst von der Nothwendigkeit überzeugt, eine persönliche Einmischung in diesem Augenblick meiden zu müssen, aber all ihre Gedanken flatterten dennoch, wie Vögel dem Frühling, so dem nun wieder Angekommenen, dem Geliebten zu! Jeder Widerspruch strenger oder liebreicher Art brach an dem mächtigen Gefühl des Mädchens. –

»Nie werde ich's vergessen,« fuhr Eva in immer weicheren Tönen fort, »wie nach Graf Owens Tod –« sie vermochte noch nicht »mein Schwiegervater« zu sagen – »nachdem ich schon fast ein Jahr hier auf dem Schlosse wohnte, Christian meinem alten Vater mich als seine Frau vorzustellen beschloß; es war ihm schwer geworden, ich wußte es wohl! Du Helene warst ein Kind, und bliebst bei Emerenzia! Amalie und Annette begleiteten uns; ich glaube,« setzte sie mit leicht bebender Stimme hinzu, »Christian hatte es den Schwestern befohlen – es war darauf abgesehen, mir durch diesen Schritt mit einem Male eine feste Stellung zwischen den Bauern und seiner Familie, besonders den Brüdern gegenüber zu geben, denn ich selbst war schüchtern wie ein Rothkehlchen, das sich im Zimmer verflogen und keinen Ausweg kennt; ich fürchtete mich in dem großen Schlosse, verlief, verirrte mich in dessen Gängen, ich hatte nie ein solches Gebäude bewohnt – so lange ich auch schon damals Christians Gattin war, denn ich habe im fünfzehnten Jahre geheirathet, so wußte ich doch hier in der neuen, von der Jütländischen so ganz verschiedenen Umgebung, mich nicht in meine Lage zu schicken! Und doch,« fuhr sie fort, – ihre Absicht Helenen vom Gegentheil zu überzeugen momentan ganz aus den Augen verlierend, – »doch war das eben eine wunderschöne Zeit! Christian war so himmlisch gütig, die angetretene Majorats-Erbschaft zwang ihn zu immer regerer Thätigkeit, wie ein Schutzengel stand er mir zur Seite und lieh mir den Schild seiner männlichen Klugheit und Festigkeit; – nun, wir fuhren also nach Engbolle. Wie klopfte mir das Herz, als ich nach sechzehn Jahren den Hof von weitem sah! aber alles war stattlich verändert; mein Vater bewohnte nicht mehr eine Kathe, die man Winters über mit Laub und Schilf überdecken muß, um sich darin vor der Kälte zu schützen, ein ganz neuer Bau erhob vier stattliche Mauern an deren Stelle; das ehemalige Wirthschaftshaus, in welchem wir nur ein paar kleine Zimmer hatten, war nun zu Stallungen und zu einer großen Milcherei umgewandelt; – als wir in den viereckigen Hof traten, blinkten mir die hellen Fenster entgegen, hinter denen mein so schwer gekränkter lieber Vater wohnte; seitwärts aus den Nebengebäuden klang das Brüllen des reichlichen Viehstandes – an einer andern Stelle sah ich die Scheune, vor deren Thor das bunte Gefieder der Hühner im Sonnenschein glänzte, o Gott, mir ging das Herz im Jubel auf – jetzt öffnete sich die Thüre, mein Vater – er war ein Greis geworden – erschien auf der Schwelle! ich ließ Christians Arm los und stürzte über den Hof ihm entgegen; mir schossen die Thränen in die Augen, kaum vermochte ich »Vater, lieber Vater« ihm zuzurufen, »ich bin's, kennt Ihr mich noch?« – mit abgezogener Kappe kam mein Vater die steinerne Haustreppe herab; ohne mit einem Blicke meine Anrede zu erwiedern ging er demüthig seinem Gebieter und den Gräfinnen entgegen, deren Hand er bewillkommnend küßte – mir brachen die Kniee, ich fühlte mich dem Umsinken nahe, aber ich wollte mich fassen, den andern Leuten, den versammelten Knechten und Mägden kein Aergerniß geben; ich näherte mich ihm abermals, bezwang mein Herz und redete ihn noch einmal an; jetzt kamen meine drei Brüder auch hinzu, als ich sie verließ, waren sie kleine Kinder; wie er, traten sie festen Schrittes zwischen mich und meines Vaters ehrwürdige Gestalt, dankten dem Grafen, den Schwestern für die Ehre ihres Besuchs und luden sie ein in's Haus zu treten; Keiner hatte einen Blick, ein Wort für die Verstoßene! – Mir schwanden die Sinne! Amalie und Christian faßten mich unter den Arm und führten mich die Stufen hinan zu meines Vaters Hause! ich ließ Alles geschehen, setzte mich nur mechanisch auf den mir bereit gestellten Sessel – Beide überhäuften mich mit der zartesten Güte und Sorgfalt. Mein Vater und meine Brüder standen scheu und ehrfurchtsvoll, Alle in eine Ecke des Gemachs zusammengedrängt und warteten ohne ein Zeichen des Mitgefühls, bis Christian zu ihnen trat und den Erstern zu sich rief; – beide gingen hinaus in eine anstoßende Kammer. Was sie dort mit einander verhandelt, habe ich nie genau erfahren; ich weiß nur, daß Bitte und Befehl als gleich unwirksam sich erwiesen! Mein Vater und seine Söhne erklärten alle vier respectsvoll und sehr fest: sie wüßten was sich schicke und gebühre; in ihren Augen bliebe ich eine Pflichtvergessene, die ihre eigne Familie bitterlich gekränkt, ihre gnädige Herrschaft aber auf's freventlichste beleidigt, er wünsche, setzte mein Vater mit schwankender Stimme hinzu, daß mir der selige Graf Thugge nicht in der letzten Erdenstunde geflucht! – Christian versicherte dem mühsam sich aufrecht haltenden Alten, daß jener mir und ihm verziehen, und mit uns Beiden ausgesöhnt in seinen Armen gestorben sei. »Das war sehr gnädig und sehr edel, unser Herrgott lohne es ihm im Paradiese,« sagte mein armer Vater; dann bat er »den gestrengen Herrn Grafen« ihn zu entlassen, »er fühle sich ein wenig schwach heute.« – Als ich mich etwas erholt und äußerlich gefaßt, geleitete mich Christian zum Wagen, ach! ich glaubte mich aufzulösen in Thränen, als ich in den Hof zurücktrat, wo noch wie vor einer Stunde Alles im Sonnenschein so lachend und glänzend vor mir lag! Nochmals nahten Vater und Brüder dem Wagen – o mein Gott! ich sah die lieben theuren Züge so nahe, so ganz nahe vor mir, ich hätte sie mit meinen Händen an mich ziehen, mit meinen bebenden Lippen sie berühren können! Ebenso demüthig wie sie dieselben empfangen, empfahlen sich alle Vier der Gnade der beiden »Fröken und des Herrn Grafen;« ich sah das Zucken in den Gesichtsmuskeln des armen, alten Mannes, der so unsäglich litt durch und um mich! ich sah zwei glänzende Thränen in meines jüngsten Bruders großen, blauen Augen, aber dennoch blieb Aller Haltung so fest und entschieden, daß mein Muth an ihr brach; ich wagte keinen Laut mehr. Mein Vater hielt sich bis zu diesem letzten Augenblicke – ach Gott! dem letzten, in dem ich jemals ihn sehen sollte, stramm; Christian zitterte wie ein Espenlaub an meiner Seite – die Pferde zogen an, wir rollten fort; – als ich nach einem mehrwöchentlichen Krankenlager erwachte, hatten sie meinen Vater schon begraben; die Bauern sagten, es habe ihm ein schwerer Kummer das Herz abgedrückt.« –

Schluchzend warf Helene ihre beiden Arme um Eva's Hals; jetzt sah und empfand sie nur deren Schmerz, sogar Thoralds Bild ward dadurch für einen Moment in den Hintergrund gedrängt.

Draußen war unterdessen, wie vorauszusehen, Thorald und der Graf zusammengetroffen. Allein der Gang zum Weiher, und vor Allem das tiefe Schamgefühl des Bewußtseins, auf Thorald geschossen zu haben, hatten den Grafen abgekühlt, und er zügelte diesmal seine Worte. Das Gespräch zwischen den Männern war sehr ernst, aber keiner von ihnen hatte bei der Erinnerung an dasselbe zu erröthen, es blieb gegenseitige Achtung als Schutzgeist ihm zur Seite. Christian verfehlte nicht, seine allen Männern seines Standes gemeine Ansicht, daß man gar übel ein Verhältniß zu dem Mädchen das man heirathen will, mit einer Heimlichkeit des Verkehrs beginne; sein Urtheil darüber machte Thorald warm, ohne von Grund aus ihn zu überzeugen, ja es regte seinen innern Stolz auf so schmerzlich verletzende Weise an, daß er endlich erklärte: zwar werde er nun und nimmer seinen Anspruch auf Herz und Hand Helenens aufgeben, die willig beide ihm zugesagt, allein obgleich er sich zu keiner Art von Entsagung veranlaßt fühle, da er sich und die Geliebte als völlig frei und unabhängig betrachte, so sei er doch von seiner und ihrer Treue so fest überzeugt, daß er es darauf wagen könne, und er wolle sogleich, ehe ihn irgend Jemand gesehen, nach Fühnen zurückkehren, wenn der Graf durch seine häufige Anwesenheit ihren Ruf für wirklich gefährdet halte. Nur möchten, bat er, der Herr Graf sich nicht irren über den Grad des von ihm gewährten Zugeständnisses, er werde Mittel und Wege finden, Helenen die Erklärung seines jetzigen Schrittes zukommen zu lassen, denn je mehr er ihrer gewiß sei, je unmöglicher sei ihm es zu ertragen, auch nur einen Augenblick von ihr mißverstanden zu sein durch eigene Schuld.

Es lag etwas so ächt Menschlich-Natürliches, ja eine solche Würde der Wahrheit in Thoralds Benehmen, daß der Graf davon erschüttert sich fühlte; zum ersten Mal seit seinen Jugendjahren fiel ihm die Möglichkeit einer wirklich dauernden Empfindung der Liebe ein. Nach wenigen Secunden jedoch war er, trotz seines angeborenen Hanges zur Träumerei, schon wieder zum klaren Ueberblick der Verhältnisse gekommen, er fühlte durch Thoralds augenblickliche Abreise nicht nur den Ruf der Schwester gesichert, sondern im schlimmsten Falle, wenn es ihm nicht gelingen sollte, zu einer andern Verbindung sie zu vermögen, wenigstens in dieser Prüfung des Jünglings eine Art Bürgschaft, ein bonheur allemand, daß das hereinbrechende Unglück einer Verbindung mit ihm und einer Trennung von den Ihren sich tröstlich gestalte. So nahm er wirklich Thoralds Erbieten an; aber er verlangte das Opfer, wenn es gebracht werde, vollständig, und augenblickliche Rückreise Thoralds.

»Das macht die Sache schlimmer, man kann mich auf Laaland bereits gesehen haben,« sagte der Künstler, – ihn verletzte der Stachel geheimen Mißtrauens, – »aber ich bin erbötig, sogleich überzusetzen nach Falstern, wo ich ein paar Skizzen aufzunehmen habe.«

Dieser Beschluß ward festgehalten. Allein der Graf war, wenn er einmal seiner gewohnten schweigsamen Contemplation entrissen und zur Thätigkeit gelangt war, nicht der Mann, auf halbem Wege stehen zu bleiben. »Wie gedenken Sie denn der Comtesse Gejern diese Nachricht von Ihrer augenblicklichen Entfernung zukommen zu lassen?« fragte er scharf. – Thorald war gefangen; er konnte und wollte den Weg, den seine Correspondenz mit der Geliebten zu nehmen pflegte, nicht verrathen, weniger aber noch konnte er von Falstern aus ihn einschlagen – er zögerte einige Secunden – –

»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort,« sagte Christian, »daß ich der Comtesse die Nachricht in der jetzigen Stunde noch zukommen lassen werde, schreiben Sie ein paar Zeilen.« Erstaunt blickte Thorald auf – es war dem Grafen Ernst. »Aus Ihrer Hand soll die Gräfin die Nachricht – mein Herr? Nein, ich muß einen Boten –«

Christians Zorn flammte auf; allein wie bei der Schwester überwog bei ihm der momentane Impuls eines eben jetzt zu Erstrebenden, und in diesem Augenblick lag ihm vor Allem daran, jede Zusammenkunft der Liebenden und jeden längern Aufenthalt Thoralds auf der Insel zu verhindern – »ich werde ihr das Billet senden,« sagte er kurz. Thorald verbeugte sich stumm, riß ein Blatt aus seinem Taschenbuche und schrieb.

Es war eine wunderliche, fast komische Situation. Der Eine als Vertrauter und Bote einer von ihm so hart gefährdeten Liebe des Andern; im Künstler überwog das Ironische derselben; auch lag im ganzen seiner Jugend diese etwas barocke, ritterliche Handlungsweise nicht fern; eine fröhliche Sorglosigkeit gestaltete sich fast in Leichtsinn indem er schrieb, nur die Anrede hatte ihn ein wenig verlegen gemacht, denn das Blatt ging ohne Siegel; – Christian hatte sich in anständiger Entfernung unter eine Buche gesetzt, aber während der Maler schrieb, waren seine Gedanken längst abwärts geflogen, ihn beschäftigte eben die Solution eines naturhistorischen Problems – fast hatte er die ganze Sache vergessen, als ihm Thorald das Blatt überreichte. Er faltete es nochmals und steckte es ein; es waren wenige Worte. Der Liebende verließ sich darauf, daß Helene zwischen den Zeilen durch zu lesen verstehen werde, was nur sein Herz, nicht seine Hand dem Blättchen anvertraut.

Die Männer trennten sich ohne weitere Erklärung. Als Thorald festen Schritts den Richtpfad nach dem Strande einschlug, um zur Fähre zu gelangen, sagte Christian ihm nachblickend: »Schade, daß er kein Edelmann ist, er hat einen edlen Anstand und präsentirt sich gut.« Dann wandte er sich dem Schlosse zu.

Das Gespräch der beiden Frauen war eben beendet, als ein Diener Helenen das Billet überbrachte – sie las es, sagte keine Silbe, drückte Eva die Hand und zog stumm sich in ihr Zimmer zurück.

Dort brach sie in heftiges Weinen aus. »Dieser Sieg, Christian,« sagte sie stolz das Haupt zurückwerfend, »soll Dir theuer zu stehen kommen – daß Du ihn auf diese Art zum Nichthandeln, zum Rücktreten, zur Entfernung treibst, lös't mich von jeder Verpflichtung, drängt mir Entschluß und Handlung auf! – Was können sie mir denn thun, diese hochmüthigen Brüder, wie mich zwingen? Etwa wie die Tante – nein, nein, die Zeiten sind vorbei!«

Es war schon längst dunkle Nacht. Helene konnte den Gedankenflug ihrer Seele nicht beherrschen, Schlaf und Ruhe waren nicht zu hoffen. Sie trat an das noch offene Fenster – der Wind erhob sich eben, es war gegen Mitternacht, er strich von der fernen See herüber an den Ufern hin, schüttelte tiefer in's Land eindringend die alten Buchen aus dem Schlummer und pfiff und heulte in den Vorsprüngen und Erkern des Schloßbaues – es graus'te Helenen. Ob er noch auf dem Meere? Es ist weit hin bis zur Fähre, dachte sie. Es war eine der wunderlichen Nächte, in welchen die Windsbräute flaggen, und gleichsam aus dem tiefen Nebelgrunde der Dünen aufsteigend, ihre langen weißgrauen Schleier schräg herabhängen lassen bis dicht auf den Erdboden, dann urplötzlich aufjubelnd wie losgebundene Mänaden, wildaufschreiend mit dem langen pfeifenden Ton, den nur der Nordländer kennt, über die See sich stürzen, das fliehende Boot gierig zu erhaschen, das ihnen zu entgehen gemeint; – Hui! nun muß es tanzen, Kiel auf und ein, drüber hin ras't eine Welle, – wieder eine – so fort Woge um Woge! Dem Ruderer schwinden Sterne, Himmel, Kahn und Strand; aber die wilde tolle Nixe, die ihren Liebsten sucht, zwischen Meer und Erde, ruht nicht, bis sie Alles, Mann und Maus durchnäßt hat im Boot; – wie ein Pfeil schießt das Schifflein über die schaumbedeckte Fluth – und mit einem Male, wie auf Zauberspruch, ist Alles vorüber! Da ist der klare Himmel, die Sterne flimmern wie erschrocken von dem sündhaften Spiel, es ist aber Alles glatt, still, sogar hell am Ufer und zur See: die erzürnte Wasser-Liebste hat ausgetobt. Ein langer keuchender Windzug trocknet rasch Segel und Leute; bis es einer andern ähnlichen Erscheinung begegnet, hat das Boot Ruhe, oft sogar eine schnelle, glückliche Fahrt.

Helene wickelte sich fester in ihren Mantel und beugte sich aus dem Fenster vor, in die Nacht hinaus, um den Stimmen derselben zu lauschen. Es war ruhiger geworden. Nun hatte Thorald gewiß Falstern erreicht. Aber nun hatte auch die neue Trennung erst recht eigentlich begonnen; der Unbesonnene hatte ja Christian sein Wort gegeben, vorläufig sein Kommen ganz einzustellen. – Sie trat zurück in's Zimmer. Ihr schauderte vor der Möglichkeit des Traums, der nach so verworrenem Tage ihrer harren könne. Die Nacht blieb ihr unheimlich, im Spiegel erschreckte sie das eigene wachsbleiche Gesicht – im Hause schien Alles zu schlafen. Sogar ihre eigene Dienerin hatte sie hinweg und zu Bette geschickt.

Sie hätte viel gegeben für irgend einen befreundeten Laut – endlich öffnete sie ihre Stubenthür und lauschte gespannt, sie wußte selbst nicht auf was, in die Dunkelheit hinaus; – plötzlich erblickte sie einen hellen Lichtschein unter der Thüre des einen ihr gegenüberliegenden Zimmers hervordringen, er kam aus dem Cabinet der Nordermule; sie huschte eilig hin, öffnete leise und trat ein.

Obschon die Mittage noch heiß waren, begannen schon kühlere Nächte an den fliehenden Sommer zu mahnen, ältliche oder schwächliche Leute, wie Emerenzia, froren mitunter. Vielleicht hatte sie deshalb Feuer angemacht, denn aus der weit aufstehenden Ofenthüre leuchtete eine prasselnde Flamme Helenen entgegen. Die Nordermule saß auf einem niedrigen Schemel vor derselben, auf ihren Knieen hatte sie die welken Blumen und Kränze der Tante liegen und die Schreibereien, die sich in den Truhen vorgefunden; sie war beschäftigt, das Alles mit einem seidenen Bande aneinander zu binden, und schien die Absicht zu haben, ein Todtenopfer auf dem vor ihr brennenden Holzstoß zu halten.

Als sie Jemand hinter sich vernahm, sah sie sich nicht um, sondern kreuzte schnell die Hände über beide Augen und beugte das Haupt tief herunter, daß es fast die Knie berührte.

»Sie hält mich für eine Erscheinung, vielleicht gar für der armen Tante Ulrike Seele!« – hörbaren Schritts trat sie näher und legte die Hand auf der Geängsteten Schulter. »Ich bin es,« sagte sie mit recht ruhiger Stimme, »ich kam, weil ich vom Vorplatz aus noch Licht in Deinem Zimmer gewahrte.«

Es lag immer in allem Thun Helenens, Emerenzia gegenüber, eine liebenswürdige, schonende Zartheit; auch jetzt schien sie deren Schreck gar nicht zu gewahren, denn sie kannte ihrer Freundin krankhafte Scheu, lächerlich zu erscheinen; – alle von der Natur stiefmütterlich behandelten Menschen haben sie. – Die Alte hob die Hände vom Gesicht und ließ sie auf die welken Blumen in ihren Schooß sinken. – »Bist Du unwohl?« fragte sie besorgt.

»Nein, aber bewegt, wie Du selbst, im Geist und Gemüth; ich kann nicht schlafen. Laß uns Dein begonnenes Todtenopfer zusammen vollenden, aber während die Flammen seine Heimlichkeiten schützend verzehren, erzähle mir von dem edlen Wesen, an welchem Dein Herz, wie ich sehe, so schmerzlich hängt – sprich mir von dem Leben, dessen letzte Glücksspur wir vielleicht eben vertilgen!«

In fast andächtiger Stille schichtete Emerenzia die Blüthen und Blätter auf den kleinen Holzstoß und blickte schweigend darauf hin, bis sie zu Asche gebrannt in sich zusammensanken: »Gewiß,« sagte sie endlich, »ich durfte sie in keine andre Hand kommen lassen, obgleich das Alles eigentlich der Familie –«

»Der Familie gehörte, die sich so wenig daraus machte, daß sie diese Erinnerungen den Fußtritten der Domestiken überließ, wenn Deine treue Hand sich nicht derselben angenommen! Ach Emerenzia, die Spuren eines ewigen Gefühls vergehen wie Spreu vor dem Winde in der Erdenwelt!«

»Ein Engel sammelt sie droben!« sagte fromm die Nordermule.

»So hat er diese wunderbar klagende Nacht und Dich zu Vollstreckern des Liebestestamentes der Tante gemacht,« erwiederte Helene, und zog einen zweiten Schemel zum Feuer, auf dem sie Platz nahm. »Erzähle! bitte, bitte.«

Die Alte nickte und begann; anfangs starrte sie fortgesetzt in die Flammen, bis sie, wie ein Sänger der Saga, mehr und mehr in sich selbst versank und der sie umgebenden Welt nicht mehr gewahrte, endlich aber mit höchster Begeisterung erzählte.

»Ich habe vergessen, in welchem Jahre es geschah, allein unser Graf Thugge war noch ein kleiner Knabe, als er, um zu der Schule auf Skovkloster sich vorzubereiten, einen Hofmeister erhalten sollte, bei welchem er bessern Unterricht und weniger harte Worte und Schläge bekäme, denn das Kind war tödtlich verschüchtert und des eigenen Geistes oft nicht mächtig vor Angst. Eine plötzliche Krankheit hatte seinen Peiniger fortgerafft. Bei dieser Gelegenheit, meinte der alte Graf, könne auch das um acht oder neun Jahr ältere Fräulein die nöthigen Repetitionsstunden erhalten, um seine Erziehung ganz zu vollenden. Es war um das Ende Novembers in einer unruhigen Sturmesnacht, wo der wilde Jäger Holske Darske durch die Waldung jagt, wo Alles ächzt und knarrt in Haus und Hof, die Thiere in den Stallungen vor Unbehagen aufbrüllen und die ganze Natur in hundert Stimmen aufseufzt und wehklagt, als ob sie auch einsam sich fühlen könnte, wie der Mensch. Das junge Mädchen saß im Saal dem Vater gegenüber, der über Landcharten und Briefen brütete und kaum sie bemerkte, der Bruder aber war in der Küche dem alten Hannes auf den Knieen eingeschlafen – er durfte den Saal nicht betreten, wenn der Vater zugegen.

Ulriken war unbeschreiblich betrübt zu Muthe, sie war erst seit wenig Monaten in des strengen, kalten Vaters Schloß; die liebende Hand der Fürstin Sophie, die sie erzogen, fehlte ihr überall; ohne besondern Grund hatte der alte Graf sie berufen; er wollte sie um sich haben, sie kennen lernen und ihre Geisteskräfte prüfen, ehe er sie einführe in die große Welt Copenhagens und des Hofs. Ihn selbst aber hielten seit Monden Podagra und Geschäftsverhältnisse auf dieser Besitzung fest. Die Morgenröthe der Freiheit des Bauern begann kaum erst zu dämmern, und ihr Herannahen war dem stolzen Grafen, dessen Hochmuth keine Art Beschränkung, auch nicht die einer selbst gewährten Gnade ertrug, qualvoll und fast lächerlich, denn er glaubte an keine Gleichheit der Menschenrechte, und alle für die große Nationalbefreiung Wirkenden, kamen ihm wie Kinder vor, die mit dem Feuer spielen. Indessen bereitete er sich vor, an den Hof zu gehen, denn er empfand den Druck einer nahenden Explosion, welcher er scharfen Blicks dort entgegenzutreten entschlossen. Ueber die Parzellirungen und Landesverhältnisse studirend, saß er dann Abends dem Kinde gegenüber, das kaum eine gefallene Rolle Seide aufzuheben, kaum zu athmen wagte, um ihn nicht zu erzürnen.

Jetzt schlugen alle Hunde an, ein Fremder hatte den Hof überschritten; eine seltene Erscheinung in dieser Jahrszeit; man hörte die Tritte desselben auf dem knisternden Schnee, gleich darauf ward die Glocke an der Thüre angezogen und der neue Hofmeister ward dem Grafen angemeldet. Ulrike wollte, schüchtern wie sie war, sogleich den Saal verlassen, der Graf befahl ihr zu bleiben, »damit er sie mit ihrem neuen Informator bekannt machen könne« – das war das erste Mal, daß er über eine solche Absicht sich gegen sie aussprach. Du hast das Bild dessen, der nun eintrat, gesehen; das schmale Gesicht mit den dunkelblauen Augen und dem festgeschlossenen Munde, von lichtbraunen natürlichen Locken umwoben, die bis tief in den Nacken sich kräuselten, und nicht gepudert, nicht gebunden waren, die schwarze Kleidung, welche gegen den farbigen Hofputz der damaligen Cavaliere so sehr abstach, Alles das zusammengenommen machte den Jüngling zu einer auffallenden Erscheinung – man konnte ihn wahrhaft schön nennen den Bewohnern des Schlosses gegenüber, die sämmtlich trotzig und verzagt, der unseligen Heftigkeit des Grafen wegen einen Ausdruck verbissenen Ingrimms oder knechtischer Unterwerfung zeigten, der, in vielen der alten runzlichen Gesichter Caricatur geworden, etwas Abschreckendes hatte.

Ulrike ließ die Hände auf den Rahmen sinken, der ihre Tapisserie umschloß, sah mit weitgeöffneten Augen wie geblendet einige Secunden ihn an, als aber der Vater mit herablassendem Hochmuth ihr den neuen Lehrer vorstellte, neigte sie den schönen Oberkörper demüthig, wie die Madonna sich vor dem Engel der Verkündigung beugt, sie fühlte sich nicht fest auf den Füßen und hätte um die Welt keine der üblichen, ihr eingelernten Verneigungen machen können; erst nachdem der Graf den Angekommenen zum Ausruhen entlassen, vermochte sie die Erlaubniß sich zu erbitten, sich in ihr Zimmer zurückzuziehen.

Draußen brach sie in helle Thränen aus – ihr war unsäglich glücklich zu Muthe, als sei einer der Engel ihrer Träume wachend ihr begegnet. – Sie sahen sich von da an täglich, Johannes gab ihr anfangs mit dem Knaben zugleich Unterricht, dann aber ihr allein, in Gegenwart der alten Schließerin, oder der alten Kammerfrau Ulrikens, welche ihr die Fürstin, bei welcher sie ihre Kindheit verbracht, mitgegeben in des Vaters Haushalt. Sehr bald wußte Ulrike um alle Verhältnisse ihres Lehrers; den Vater hatte er frühe verloren, die Mutter zog mit ihm und den andern Geschwistern nach Roeskilde; in der alten Gräberstadt, in welcher fast alle Könige des Oldenburger Hauses ihre Ruhestätte gefunden und in dem noch poetischern Leïre, das Skiold, der Sohn Odins, zum Wohnsitz sich erwählt, im Herthedal, wo überall noch das Blutgeheimniß jenes wunderbaren Dienstes der nordischen Diana seine Zauber ausbreitet, sog sich der Knabe groß an poetischen Eindrücken, und die damals entkeimte Vorliebe zu älteren Sagen ward im Jüngling zum besonnenen Studium. Später hatte er, mit Hülfe eines Gönners, der Theologie sich gewidmet und den Doctorhut erworben, doch »könnten noch Jahre vergehen, – meinte er selbst, – ehe ihm eine Pfarre zugetheilt würde;« der arme Candidat fand das sehr begreiflich, gab es doch gewiß noch Gelehrtere, Würdigere als er – und allerdings regte sich damals noch ein sehr ernstes, edles Streben in der Theologie.

Wie gläubig beseligt lauschte Ulrike seinen den Menschen als Gottes Ebenbildern so fest vertrauenden Worten! Er ward ihr lieb, wie etwas, das sie vorher nie weder gedacht noch gewünscht, noch empfunden; es war der plötzlich von oben herabgesenkte Himmel, der sich auf die Erde gelagert und sie zum Paradiese umgeschaffen!

Daß seine Neigungen gar bald auch die ihren wurden war nur natürlich, sie begann mit ihm die Geschichte ihres Vaterlandes zu studiren; der lange stets mit der Hierarchie sich erneuende Reformationskampf, an welchem die Herrscher Dänemarks so ernsten Antheil genommen, der Bürgerkrieg, der sich um Christian II. willen bis auf diese schon damals von ihren Vorfahren bewohnten Inseln, ja sogar in seinen Einzelheiten bis in das Schloß Aalholm gezogen, in welchem sie jetzt lebte, alles dies wurde dem lebhaften Sinn des schönen Mädchens zum Element einer stillen, innern Welt, in der sie arglos weiter lebte – ohne Vorblick in die Zukunft. Zuweilen fand sie Johannes' Bild in irgend einem edlen geschichtlichen Charakter, in einer schönen Selbstaufopferung, weit seltner sich selbst! Als sie einmal mit ihm die schöne Mähr von Gioès, Tochter Brigitta, las, die einem Bischof verlobt gewesen, ehe er selbst sich ausschließlich der Kirche weihte, wurde sie wehmüthig, ohne zu errathen, was an deren Geschick sie rühre.

Von Allen ungeahnt wuchs ihre Seele, entfaltete sich ihr Geist – dennoch fand sie Niemand verändert; theils weil alles in ihr harmonisch und sanft geblieben, theils weil unter diesen stillen, meist niedergeschlagenen Blicken, die nur zu erwachen schienen wenn der Geliebte sie weckte, dann aber eine Welt der Poesie und Intelligenz ausströmten, Keiner eine Bedeutung suchte. Die Tage spannen sich in äußerlich ziemlich farbloser Einförmigkeit ab, die Liebenden wußten es nicht einmal. Aber Johannes wollte nach seiner einfachen Weise bald diese bald jene Erleichterung den Armen, den Geknechteten gewähren, welche er, der sich selbst mit einem Male so glücklich fühlte, um sich sah – ich habe Dir angedeutet, wie er auch hier auf Ulriken einwirkte! Der alte Graf ahnete von dem Allen nichts, wohl hätten die ergrimmten Vögte oft das Fröken verklagt, daß es ihnen die Bauern zu Faullenzern mache, aber die entsetzliche Angst vor der mit dem höhern Alter unzähmbar gewordnen Wuth des Alten, dessen Zorn oft unerwartete Richtungen annahm, fesselte die Gemeinheit und Bestialität, daß sie still lagen zu den Füßen der Jungfrau, wie die alten Legenden von Raubthieren und Schlangen uns erzählen.

Als nun um die Weihnachtszeit der Graf nach Copenhagen gegangen, blieb Ulrike, fast sich selbst überlassen, daheim allein mit ihrem Lehrer zurück; eine ergraute und halb blinde Anverwandte, welche zum Stift Wallöe gehörte, dessen Abatissin die Fürstin Sophie geworden, war kaum zurechnungsfähig, und befand sich gern in Johannes' Gesellschaft, der sie mit gütiger Aufmerksamkeit behandelte, weil sie alt und gebrechlich. –

Nach einiger Zeit sandte Graf Owen einen Tanzmeister aus Copenhagen; Ulrike sollte auf dem Gute tanzen lernen, um bei einem spätern Feste am Hofe auftreten zu können. Der alte Franzose wurde leicht im Schloß untergebracht, der neue Unterricht begann. – Um die üblichen Tänze einüben zu können, mußten mehrere Theilnehmer an demselben gefunden werden; man zog ein paar Fräulein aus der Nachbarschaft hinzu, auch deren Brüder und Johannes mußten figuriren. Die Liebenden tanzten zusammen, die Jugend schlug rosig aus beider Herzen und Wangen; sie waren unsäglich glücklich. Dennoch blieben Beide unbefangen, sie gaben ihrem Glück keinen Namen.

So ging der Winter vorüber, der Graf kehrte zurück. Der Vater ließ das Töchterchen ihm vortanzen und war zufrieden; er hielt ein kleines Examen mit der an allen Gliedern Zitternden; auch hier schien er mit überraschter Freude ihre wissenschaftlichen Fortschritte zu gewahren. Abends war die letzte große Tanzstunde, er sah den Hofmeister Ulriken gegenüber die Touren einer Anglaise tanzen – er runzelte die Stirn und schwieg.

Die Unterrichtsstunden mit Johannes nahmen ungehindert ihren Fortgang, – zuweilen erschien der alte Herr unvermuthet während derselben im Zimmer seiner Tochter; er sagte kein Wort. – Einmal begegnete er Ulriken in der Allee, sie war von einem Diener begleitet, der ihr einen großen Korb mit Lebensmitteln und Arzeneien zu einer Kranken trug – Graf Owen fragte nach keinen Details, er schwieg, allein er ward noch finsterer und redete stets streng und in fast barschem Ton, sowohl mit dem Candidaten als mit seiner Tochter. Die Schloßbewohner überkam ein geheimes Grauen.

Eines Morgens ließ er Ulrike zu sich rufen. Es waren eine Menge Kisten und Schachteln aus der Residenz angekommen, mit Kleiderstoffen, Stickereien, feiner Wäsche und Mustern dazu; er befahl ihr für ihre Ausstattung nach Copenhagen zu sorgen, wohin sie ihn zum Johannisfeste auf eine Woche begleiten solle, um der königlichen Familie vorgestellt zu werden; er hoffe, setzte er hinzu, sie als Braut wieder heimzuführen.

Ulrike stand regungslos vor ihm wie ein Marmorbild, alle Farbe war von dem schneeweißen Gesicht gewichen, sie verstand nicht mehr, was er diesen letzten Worten noch hinzufügte, mechanisch verneigte sie sich, nach damaliger streng respectvoller Sitte, als er geendet, und ging in ihr Zimmer. Erst dort besann sie sich, erst dort wurde ihr der ungeheure Schmerz einer möglichen Trennung deutlich.

Ulrike fiel nicht in Ohnmacht, streckte sich nicht tödlich ermattet auf ein Canapee oder in eine Chaise longue, – sie saß ganz still und ehrbar auf ihrem gewöhnlichen Platz und strickte Filet, als Johannes eintrat um ihr eine Unterrichtsstunde zu geben. Er kam noch heiter herein, wie ein sonnenheller Morgen, allein ein einziger Blick auf sie gab ihm das Gefühl eines unermeßlichen Unglücks, das ihn und sie betroffen. Neben ihr, etwas mehr zurück, saß die alte Cousine halb im Schlummer; er vermochte nicht es zu beachten, sein Herz kannte keine Nebenwege zum ihren, er fragte kurz und gerade heraus – sie antwortete eben so und sagte in dieser Antwort Alles. – Die Cousine war fest eingeschlafen.

Die nächste Viertelstunde fand zwei selige Menschen, die mitten in dem sie dicht umwachsenden Elend desselben vergaßen, über dem unbegrenzbaren Glück ihrer gegenseitigen Liebe. Zum ersten Mal hatten sie sich ausgesprochen über ihr Gefühl; die Alte hatte schlafend dabei gesessen; es ist wunderschön, daß man der Jugend das Glück nie ganz verkümmern kann!

Der folgende und noch gar mancher Tag nach ihm vergingen, und es hatte sich nichts geändert im Lauf derselben; nur flogen der Liebenden Pulse in heftigeren Schlägen, nur wechselten die Stunden der hoffnungslosen Verzweiflung und der seligsten Zuversicht in Beiden – und seltsam, und doch nur menschlich-natürlich: die letztern überwogten, ja vernichteten allmälig die Verzweiflung, mit welcher sie anfangs der Zukunft gedacht; es konnte ja noch lange, lange so bleiben wie jetzt! Ulrike war fest entschlossen, keinem Andern ihre Hand zu reichen, den ihr vorzuschlagenden Bräutigam nicht anzunehmen, was auch daraus entstehe. Immer wollte sie so fort leben, nie sich vermählen, Johannes aber sollte einst eine Pfarre auf einem der benachbarten Güter oder in Nysted, oder auf Falstern erhalten; so schwatzte sie in liebenswerther Kindlichkeit ihm leise flüsternd den Kummer fort aus der Seele, – wenn er ihr zuhörte, beseligte ihn der Klang ihrer Stimme; konnte er ihren Glauben an die günstige Gestaltung ihres Geschicks nicht unbedingt theilen, so endete doch momentan alles Leiden in ihm, denn er dachte nicht weiter. –

In der Nacht, wenn er allein auf seinem Zimmer war, fiel ihm die große Sünde auf's Herz, die er an ihr begehe! – trostlos warf er sich auf die Knie und flehte Gott um Erbarmen an, – etwas Bestimmtes zu erbitten vermochte er nicht, denn er konnte nicht anders, als sie lieben! Manchmal dachte er, in Copenhagen werde sie ihn vergessen, er rief sich all die schönen reichen und edlen Männer in's Gedächtniß, die er dem Namen nach kannte, denen sie aber wirklich begegnen werde; er zwang wohl auch seine Lippen zum Gebet: daß ihr der Allmächtige dort Vergessenheit gewähre und höchstes Glück in den Armen eines Würdigern als er selbst – und – in heiße Thränen brach er aus, denn klar wie die Wahrheit des heiligen Evangeliums stand es ihm fest und licht in der Seele: Ulrike werde doch nie einen Andern lieben als ihn, und nie einem Andern angehören! –

Der Mai neigte dem Ende sich zu. Als Johannes eines Tages von Ulriken ging, der er ihre gewöhnliche Unterrichtsstunde gegeben, berief ihn der Leibdiener des Grafen in dessen Cabinet. Owen hatte einen, wie es schien, eben erhaltenen Brief in der Hand, welchen er ihm überreichte. »Herr Candidat,« redete er ihn ganz freundlich an, »Sie sind wie Sie aus beikommendem Schreiben ersehen, zum Pfarrer ordinirt; hier ist Ihre Bestallung und ein Handschreiben des Probstes. Sie gehen nach Island; Ihr Kirchspiel liegt in Rangewallsyssel. Ich wünsche Ihnen Glück! Sie werden aber in vierundzwanzig Stunden Laaland verlassen müssen, um erst in Copenhagen einige nöthige Instructionen sich zu holen, vielleicht werden Sie auch wünschen, die Ihrigen noch in Roeskilde zu sehen und Abschied von Ihrer Mutter zu nehmen. Das Schiff, mit welchem Sie reisen, lichtet den zweiten Juni die Anker, geniren Sie sich ja nicht wegen uns!« Graf Owen stand auf, verbeugte sich und verließ das Zimmer. –

Island! vielleicht hat die Natur keinem Lande der Welt ein abschreckenderes Aeußeres gegeben, als dieser vulkanischen Felseninsel, deren Inneres ein Geheimniß des Schöpfers geblieben ist bis zum heutigen Tage; in phantastisch-wilder Erscheinung hat er sie als Räthsel dem hohen Norden hingestellt; Niemand hat es zu lösen gewagt! – Unermessen, unbetreten dehnen sich Islands innere Eisklüfte, heben sich seine Hochgebirge, kein Wandrer wagt sie zu durchdringen, keine Gewinnsucht lockt je den Jägersmann in ihre gänzlich unbewohnte Bergesöde, nicht einmal ein Vogel durchschneidet sie im vorübereilenden Flug! Eismassen, Rauch- und Feuersäulen drängen sich dort aus dem geologisch reichen Grunde, treiben von Innen heraus unaufhörlich Lava, Asche und rollende Steine herab auf die karge Vegetation des bewohnten Strandes, der, ein schmaler Landstrich, die Felsmassen umgürtet, welche hinter ihm sich erheben. Acht lange Monate ist auch dies Ufergestade mit seiner spitz ausgezackten Granitkrone, welche von zahllos eindringenden Fiörden durchschnitten wird, von Eisschollen überdeckt, – den kurzen Sommer hindurch umbraus't es ein immer wild aufschäumendes Meer, das nur des Winters Strenge mit den starken Eisesbanden zur Ruhe zwingt. Wildströme reißen sich aufgischtend vom Hochgebirge los und stürmen jauchzend diesem Meere zu, dessen heftige Brandung ihren tollen Schaumgruß erwiedernd ihnen entgegen sich drängt; im Osten sprudelt der Torfa in bacchantischem Uebermuth seine glühenden Quellen mitten aus dem Eismeer hervor, während im Gaukakal-Thale die Geiser aus weitem, tiefen Becken ihre geisterartigen Strahlen fast unabsehbar hoch miteinander wetteifernd in die Lüfte senden, – vielleicht ist ihre wunderbare Schönheit eine Botschaft aus der Tiefe in die Himmelsferne, die das Farbenspiel ihrer Regenbogen weiter trägt! –

Ganz oben aber, hinter allen diesen beschneieten Gipfeln, im weiten Kreise der vulkanischen Riesen, die sechs bis sieben Tausend Fuß hoch hinausragen über die Meeresfläche, liegen ganz oben, wie ein schauerliches Gnomenmährchen, die unermeßlichen weiß und blauen Eisfelder in ewigem Verstummen; sie bilden den Zauberring, der, in strengem Gegensatz zu ihrer unstörbaren Todtenstille, einen in ihrer innersten Tiefe kochenden Feuerheerd umfaßt, in dessen Abgründen und Kratern die Elemente unaufhörlich gegeneinander kämpfen.

Und dennoch waren es alle diese Schrecknisse nicht, welche den wie von plötzlicher Todesbotschaft Betroffenen im Cabinet des Grafen gefesselt auf den schwankenden Füßen an dieselbe Stelle bannten, an welcher er die ihn vernichtende Nachricht empfangen; der eine Gedanke, den seine Seele anstarrte, wie die verglas'ten Augen das Blatt in seiner Hand, war nur der einer unabsehbar trennenden Weite, in welcher er von der Geliebten leben sollte, – abgeschieden, losgerissen von ihr, ohne Gruß, ohne erreichbare Nachricht, ohne einen einzigen Ton ihrer Lippen, ihres Gemüths! Eine lange Reihe von Jahren, vielleicht das ganze Dasein lang – immer, immer so fort, bis in's Grab! –

Was kümmerte ihn, ob Islands rauhes Clima keine Frucht am Baum, keinen Halm auf dem Felde reifen läßt, kein grüner Laubast dem müden Wandrer sein Dach beut, und kaum die Birke mit ihrem Schattentraum ihn umspielt, was kümmerte ihn die Kargheit aller Existenz auf der Insel, die künftig ihn umfangen sollte; ach ihre Moose, ihre Beeren, ihre Zwerggewächse hätten ja zum Paradiese sich umgestaltet, wäre er nur einmal am Ende der langen Winternacht dem Frühlingsbilde Ulrikens dort begegnet! hätte nur eine Hoffnung ihm folgen dürfen in die Verbannung!

Und doch kam dem frommen Manne, der Gott immer willig zu gehorsamen gewohnt war, auch jetzt in die so tief zerrissene Seele keinen Moment der Gedanke, sich diesem ihm aufgebürdeten Geschick zu widersetzen, dem, was in seinem Berufe lag, gewaltsam sich zu entziehen; er bot die todeswunde Brust zuckend, mit thränendem Blick, aber entschlossen dem Schmerz und der Erfüllung seiner Pflicht! Wie der Missionair aus dem Kreise seiner Lieben, wie der Märtyrer zum Tode, schritt auch er gläubig-ergeben in Unabwendbares, für sein und Ihr Herz um Kraft flehend, dem Ziele zu; ihm fiel nicht ein, an seinem Schicksale zu mäkeln!« – »Aber sie, aber Ulrike?« rief mit Thränen überströmtem Blick Helene, »wie überlebte die Unglückselige den Schlag?«

»Ich kann Dir nichts vom Scheiden der Liebenden sagen, – denn kein Auge hat es gesehen, keine Lippe je ein Laut übertreten, der jenen heiligen Schmerz berührt hätte! – Als er fort war, erschien Ulrike wie gewöhnlich am Mittagstisch ihres Herrn Vaters; sie war sehr blaß und fast bewegungslos; mit erloschenen Augen saß sie da, legte ihm die Speisen vor, vermochte aber selbst nicht zu essen, – er hielt sie für krank und nannte das Uebel eine Erkältung.

Wie dem Jüngling, den er hinweggesandt in das Schneegrab seiner Erdenhoffnungen, war auch dem Alten an Island bloß die möglichst weite Entfernung von Ulriken wichtig gewesen; an eine Steigerung der Jenem auferlegten Qual durch kleinere oder größere Entsagungen hatte er dabei so wenig als Johannes selbst gedacht; gänzliche, unabsehbare Trennung war das Ziel seiner Bestrebungen, als er seinen ganzen Einfluß in Copenhagen aufbot, dem jungen Candidaten eine Predigerstelle zu verschaffen, die ihn von Seeland in eine Pönitenzpfarre trieb.

Als Ulrikens Zustand den nächsten und mehrere ihm folgende Tage unverändert der nämliche blieb, fiel dennoch dem Grafen kein einziges Mal bei, daß sie, die hochgeborne Comtesse, um einen elenden kleinen Landpfarrer sich ernstlich gräme; er glaubte die ganze Sache durch dessen Entfernung im Keime erstickt, und betrachtete die von ihm gemachten Bemerkungen als Beweise der thörichten Zudringlichkeit und Anmaßung des jungen Mannes. –

Am zweiten Juni lichtete in Copenhagen das Schiff, welches den Prediger in seine neue Heimath führte, die Anker, – am zweiten Juni legte sich Ulrike an einer bedeutenden hitzigen Fieberkrankheit, von welcher sie erst nach vielen Monden genas. – Genas? ja, sie stand auf, sie ging im Zimmer umher, antwortete freundlich auf jede Frage, allein sie blieb wie ein schlaftrunkenes todtmüdes Kind, meist unbeschäftigt, mit niedergeschlagenem Blick, still auf den Boden starrend, in ihren Zimmern sitzen, – von einer Präsentation am Hofe, von gesellschaftlichem Auftreten konnte gar keine Rede sein.

Die Fürstin Abatissin zu Wallöe erbat von der Königin den nie in ihrer Stellung geforderten Urlaub, scheute die Winterreise nicht, kam mit Lebensgefahr über den Belt und nach Laaland auf unsere Insel.

Die Kranke schauete sie mit verwundertem glasigen Blicke an – und erkannte sie nicht! Jetzt stieg der Schatten seiner unbedachten That wie ein drohendes Gespenst vor dem erschreckten Vater auf, – ihn durchzuckte eine entsetzliche Ahnung, aber er schwieg! Niemand wußte um den Zusammenhang des Geschehenen, Niemand verstand den Zustand des unglückseligen Herzens, das die Sehnsucht geistzerstörend, langsam überwuchs!«

»Um Gottes willen,« schrie Helene auf, mit gewaltiger Kraft den Arm der begeisterten Erzählerin erfassend, »sie war, – sie wurde –«

»Wahnsinnig!« erwiederte Emerenzia. »Tiefsinnig nannten die Aerzte ihren Zustand, er ward allmälig zu einem stillen, tiefen Wahn, der ihr bald die Wirklichkeit überdeckte! Nach einigen auf dem Schloß verlebten Wochen nahm die Fürstin das arme himmelschöne Kind, mit dem stets gesenkten Haupt, mit sich in das Stift. Nachdem sie abgereis't, trafen die früher zu ihrer Ausstattung mit großer Freigebigkeit von der Abatissin in Paris, Stockholm, Hamburg und Copenhagen bestellten Gaben hier ein; Stoffe, Edelsteine, Putz und Spitzen; – ihr nicht mit in das Stift angenommenes kleines Privatvermögen hatte Ulrikens Pflegerin großentheils zu diesen Ankäufen verwandt.

Die mütterliche Freundin errieth den stummen Schmerz ihres Lieblings; in Wallöe versuchte sie die geistige Zerrüttung ihrer theuren Pflegetochter, wenn auch nicht zu heilen, doch deren Fortschritt zu hemmen und ihren Zustand zu lindern. Sie schuf Ulriken einen künstlichen Zusammenhang mit dem Leben des Geliebten, sie brachte ihr Bücher über das Land, das ihn umfing, andere, welche die Sprache desselben behandelten, sie umgab sie mit Bildern und Nachrichten von dort, erzählte ihr von den Natur-Wundern desselben, von den Landseen, Gletschern, Nordlichtern und Leuchtkugeln; unermüdlich suchte sie nur einen Wechsel der Gedanken hervorzulocken in ihr – ach, nur selten gelang es. Es war die Vergangenheit, welche das kranke Hirn, das wunde Herz in ihren Banden hielt. Seit sie den Vater nicht mehr um sich sah, war allerdings Ulrike ruhiger; wenn sie allein zu sein glaubte, sang sie die Lieder, die sie von Johannes gelernt, spielte auf dem Spinett die Tänze, die sie mit ihm getanzt – oder bewegte sich im Rhythmus derselben anmuthig hin und her, wie vor dem Tanzmeister – andere Male hielt sie allein Stunde mit sich selber – es lag eine so seelenvolle Milde in Allem was sie that, daß man sie nicht für wahnsinnig halten konnte, wenn man sie länger sah, sondern ihren Zustand der stillen Versunkenheit in einen sie stets absorbirenden Gedanken zuschreiben mußte. – Qualvoll waren ihr die »langen Tage;« an solchen mußten die Fenster verhangen werden, sie weinte dann unablässig. Meine Mutter war bei ihr, auch ich trat mit in ihren Dienst, wenn ich schon keinen bestimmten Posten im Hause bekleidete. – Ach, nur zu bald gestattete ihr die Hoffnungslosigkeit ihres Uebels den längeren Aufenthalt im Stifte nicht mehr. Nach dem plötzlichen Tode ihrer Pflegemutter brachte man sie in das nahe gelegene Wohnhaus des Gutes Steinburg; dort sah sie plötzlich von allen äußern Erinnerungszeichen ihrer früheren Jahre sich abgeschnitten, sie ward stummer, scheuer denn je und sprach gar nicht mehr.«

»Und der Großvater?« fragte Helene.

»Das mit den Jahren zunehmende Gefühl seines Elendes machte ihn nicht weicher. Aetzender nur grub sich ihm das Gift der Vergangenheit in die Gedanken; es ward sehr schwer mit ihm auszukommen, besonders nachdem die Comtesse von den Aerzten als unheilbar erklärt. Er ging zurück nach Copenhagen; man sagt, er habe am Spieltisch Zerstreuung und Vergessenheit gesucht. Seine Tochter nannte er nie, man glaubte dort, sie sei frühe gestorben. Er widersprach nicht. Graf Thugge war nun erwachsen, hatte eine Carrière gemacht, und verlobte sich mit unserer seligen Gräfin; Graf Owen übergab ihm das Majorats-Gut und kehrte nie dahin zurück. Ein paar Jahre später stand sein Catafalk hier im Schloß-Saal. Niemand wagte Ulriken herzubringen, sie blieb von uns umgeben in ihrer Abgeschiedenheit, trug immer die nämliche Kleidung, wie sie in Aalholm in ihrer Jugendzeit sie getragen, sang immer noch mit leiser Stimme die alten Lieder, blätterte in den Büchern und Schreibheften, dachte immer, immer nur an Ihn! Wenn sie vor den großen Schloßspiegeln mit ihm zu tanzen wähnte, hat mich oft gegraus't, – daß sie älter ward, schien sie nicht zu bemerken, auch blieb sie lange Jahre hindurch schön –«

»Ich bitte Dich um Gotteswillen höre auf, Emerenzia, mich schaudert vor diesem endlosen Elend, das Du einer Parze gleich vor mir abwindest, ohne zum Abschluß zu kommen,« unterbrach sie Helene. Die kleine Nordermule schien ihr im Feuerflackerschein ganz groß geworden und anders, ihre Züge hatten einen ungewohnten Ernst, ihr Auge brannte und ihre Rede floß in vorher ihr nie eigenem Wohlklang und Rhythmus. – Die Begeisterte flößte dem Mädchen eine fast unbezwingliche Furcht ein. Es schlug drei Uhr an der Thurmglocke und der erste Hahnschrei tönte über die Haide. »Gehen wir zu Bett, Emerenzia,« sagte leise mit abgewandtem Haupt Helene, »die Geister meiner Familie umdrängen mir die Brust, ich kann nicht mehr – – Gott helfe uns Allen zur Ruhe!« – Die Nordermule hatte den Kopf wieder in die Hand gestützt, mit welcher sie die Augen sich verhüllte; sie blieb bei ihren Erinnerungen am Feuer sitzen, bis der graue Herbsttag sie mit fahlem Lichte umfloß und ihre müden Augen schmerzlich berührte!

Nicht wenig überrascht war Graf Christian, als am nächsten Morgen sein bestimmt ausgesprochener Wunsch, in wenig Tagen schon mit der ganzen Familie nach Seeland zu übersiedeln, um dort möglichst bald die projectirten Vermählungen zu vollziehen, von keiner Seite Widerspruch fand. Die Bräute brannten darauf, die in den Truhen der Tante enthaltenen Schätze würdigen Kleiderkünstlern, Modistinnen, Nähterinnen und Juwelieren zu gehöriger Verwendung zu übergeben, und durch sie ihren Ausstattungen einen ganz ungewöhnlichen Glanz zu verleihen; Eva wünschte durch Entfernung von Aalholm Wiederholungen einer Scene wie die gestrige zu meiden; und Helene? Sie hatte den nächtlichen Graus zwar verschlafen, allein seine Nachwirkung blieb immer noch unbesiegt in ihrer Seele zurück. Sie fühlte sich wie aus anderm Geschlechte entsprossen mitten unter den Ihrigen, ihr schauderte vor der heimtückischen dunklen Gewalt, welche Owen Ulriken gegenüber angewandt; denn sie war sich's sehr wohl bewußt, daß auf die eine oder andere Art Christian etwas Aehnliches an ihr versuchen könne, oder wenn auch nicht direct an ihr, doch um so leichter an Thorald, den er schon auf so unbegreifliche Weise von ihr getrennt und auf die uninteressante Insel Falstern zu gehen gezwungen! Sein Einfluß kam ihr wahrhaft dämonisch vor; »es läßt sich nicht absehen,« sagte sie sich selbst, »auf welchen Abweg der Imagination er ihn drängen, welche bösen Geister er in Thoralds einfachem, reinen Sinne zu erwecken vermag, auf welche Weise er durch die Macht der Idee ihn zu leiten verstehen wird, um vielleicht mit teuflischer Spitzfindigkeit meinen armen arglosen Freund nach Frankreich zurückzudrängen und ihn von mir zu entfernen!«

Scheu wich sie Christians sie durchbohrendem Blicke aus, als sie statt aller Antwort auf seine Anfrage: ob ihr die beschleunigte Reise genehm? ihrer Kammerfrau befahl, sogleich zum Einpacken die nöthigen Anstalten zu beginnen.

Sie machte ihn nicht irre! In der Leichtigkeit ihres Nachgebens hörte er das Zusammenklingen der Waffen, mit welchen sie wahrscheinlich in Copenhagen ihm entgegen zu treten beschlossen. Die Geschwister maßen einander mit heimlich drohenden Blicken, aber kein Wort, kein Hauch verrieth den Schmerz der inneren Wunden, die sie sich schlugen.

Die Liebe ist erfinderisch; Thorald und Helene fanden, allen Bestrebungen des Grafen zum Trotz, Mittel, sich gegenseitig von der Abreise und der Möglichkeit, einander in Copenhagen zu treffen, zu benachrichtigen. Christian sah bloß an des Mädchens ruhigerer Fassung, daß sie dieselbe erhalten.

Copenhagens oder, wie eigentlich der Däne sagt, Kjöbenhavns großstädtischem Reiz ist trotz aller ihm aufgedrungenen Sittenverderbniß der eleganten Welt, eine Art nordischer Häuslichkeit, fast sagte ich »eine nordische Sentimentalität und Bürgerlichkeit« eigen, welche andern Residenzen gleichen Ranges fehlt. Diesen vorherrschenden Charakterzug, welchen ihm die Sinnesart eines sehr großen Theils seiner Einwohner giebt, theilt es weder mit London, Paris oder Neapel, noch mit Berlin und Wien! Sei es wirkliche, ursprüngliche Sittenreinheit, sei es angenommene Form, ein stiller Geist spricht noch aus allen Schilderungen, welche uns Skandinaviens neuere Literatur bietet; alle Beschreibungen der dortigen Zustände zeugen von einem hohen Grade eigentlichen bequemen Familienlebens, wie von einer neben dem blasirten Sinn des hochadligen Cavaliers erhaltenen Sitten-Einfachheit der höhern Stände.

Vielleicht sind die Dänen trotz der bei ihnen vorherrschenden literarischen Bildung ein wenig altmodisch, allein sie wagen ein freieres Wort, sie zeigen in der Gesellschaft mehr Herz, sogar mehr Gemüths-Eigenthümlichkeit als wir, und während oft Modenübertreibung und carikirte Annahme ausländischer Manier beim Einzelnen nicht abzuleugnen, tritt dagegen auch eben so häufig bei andern eine rein bewahrte, edle Individualität zu Tage; besonders bei den Frauen.

In den neunziger Jahren, in denen die Begebenheiten sich zutrugen, welche diese Blätter uns bewahrt haben, waren nun diese Sitten noch bei weitem einfacher als heut zu Tage; die Strenge religiöser Moralität war vorherrschender, und das bürgerliche Behaben bei den vornehmen Familien allgemein. Grell stach die mit den Emigrirten aus Frankreich überkommene voltairisirende Bildung gegen die streng lutherische Orthodoxie ab, welche großentheils vom Königshause ausgehend auch auf das Hofleben einwirkte.

Der Luxus, welchen der Reichthum des Adels in der Hauptstadt hervorrief, war ebenfalls tüchtiger und reeller als in unserer Zeit, und die Ausstattung der beiden Bräute ein ganz bedeutendes Stück Arbeit, bei welcher Amalie und Annette die Hülfe ihrer Freunde ernstlich in Anspruch zu nehmen gedachten. Hierbei kam ihnen nun ein besonderer Umstand zu statten.

Die Familie des Grafen Gejer besaß seit Jahrhunderten schon gemeinschaftlich ein Haus, welches bald dieser bald jener Bruder bei seiner zufälligen Anwesenheit in Copenhagen bezog; nur Graf Friedrich machte seit seiner Vermählung eine Ausnahme; da er mit seiner Gemahlin die Winterzeit regelmäßig in der Residenz zubrachte, hatten sie sich in der Breitengasse angekauft. Bedeutende Familien wohnten weder in den Hanse-Städten noch in Dänemark zur Miethe. – Während der häufig drei Viertel des Jahres dauernden Abwesenheit der Grafen Gejern blieb die Wohnung derselben bis auf einen Theil des Erdgeschosses leer stehen; diesen hatte einer der älteren Freunde Helenens, den sie, wie schon erwähnt, vom Vater ererbt, seit mehr denn dreißig Jahren inne und bewohnte ihn mit Frau und Kindern. Die ganze gräfliche Familie war dem Obergerichts-Advokaten Alslev eng befreundet; alle ihre Angelegenheiten waren demselben bekannt und gingen, wenn sie mit dem Gericht in Beziehung standen, durch seine Hände; die gütige Frau Obergerichts-Advokatin aber pflegte die Aufsicht und die Schlüssel des Hauses zu übernehmen, wenn die Damen in das Stift Wallöe oder in Christians Schloß zurückkehrten, und war das Factotum des weiblichen Personals.

Der Obergerichts-Advokat war ein etwas untersetzter, immer noch sehr kräftiger Siebenziger, dessen breite Stirn einen hohen Grad Intelligenz zeigte. Die mit seiner Stellung stets Hand in Hand gehende Menschenkenntniß hatte der Güte seines Herzens keinen Eintrag gethan, und mit den Jahren war nur eine gewisse breite Redseligkeit in ihm entwickelt worden, welche den Zweck zu haben schien, den Nächsten von seinem Durchblick aller ihn umgebenden Verhältnisse zu überzeugen. Griffen diese in das Staatsleben ein, so ward freilich eine Art Resignation des Zuhörers nothwendig, welchen er freundlich durch ein »Geben Sie wohl Acht!« in gleich regem Interesse zu erhalten suchte.

Es wagte auch nicht leicht Einer sich seinen stets sachkundigen und sehr genauen Erörterungen zu entziehen, denn der wackere Herr verstand durchaus keinen Spaß, wenn es Gemeinwohl galt! Er pflegte sogar, wenn man nicht achtsam blieb, seine Rede durch ein plötzliches »na! sehen Sie, Männchen, daß Sie keine wahre Theilnahme für die Sache haben!« abzubrechen und dem jungen Bewerber um Amt und Anstellung selten die Zerstreutheit und Fahrlässigkeit zu vergessen! Ueberhaupt war ein unermüdlich edler Ernst in all seinem Thun vorherrschend, der sehr wohl in den Drang der Gegenwart Dänemarks paßte und ihm einen bedeutenden Einfluß in den Gestaltungen des öffentlichen Lebens erworben hatte. Dasselbe warme Herz aber, das für's Allgemeine so theilnehmend sich aussprach, schlug auch dem Wohl und Wehe des Einzelnen eben so unveränderlich treu entgegen, und die seltne Geduld, mit welcher er des Kleinbürgers und Bauern Klage anhörte, hatte ihm eine ungewöhnliche Popularität in Seeland erworben.

Die Aussicht, dem eben beschriebenen Ehrenmanne und seiner trefflichen, in ihrem Fach gleich tüchtigen Gattin sich zu nähern und auf langgewohnte Weise die Interessen, Leiden und Freuden des Augenblicks mit ihnen zu besprechen, belebte die Brust jedes Mitgliedes der Gejerschen Familie, als die schweren Wagen derselben durch das Osterthor der Stadt fuhren. Christian und Helene hofften jedes am Obergerichts-Advokaten einen Verbündeten gegen des Andern Starrsinn zu gewinnen, die zwei Bräute aber waren im Voraus der thätigsten Hülfe der Frau Alslev gewiß, die seit den Kinderjahren wie eine Mutter ihnen zur Seite gestanden.

Beim Aussteigen sprang Helene dem sie am Wagenschlage bewillkommnenden Freund in den Arm, und flüsterte ihm zu, sie bedürfe seiner Hülfe und einer baldigen Unterredung; leider nahm Christian denselben sogleich mit lauten einfachen Worten in Beschlag, indem er ihn um ein Detail der Staatsschuld fragte, das den guten arglosen Mann in eine ziemlich breite Auseinandersetzung und durch diese bis in des Grafen Arbeitszimmer zog; – auch Graf Friedrich war unterdessen angelangt, also an eine Privatunterredung mit Helenen für den Augenblick nicht zu denken!

Helene sah ihren Bruder scharf an, blieb aber heiter – »sie muß einen wunderlichen Rückhalt haben,« dachte er.

Als die drei Männer allein waren, (der jüngere Graf war noch nicht in Copenhagen angelangt,) legte Christian dem alten Freunde die ganze Sachlage vor, indem er ihm zugleich die Scene mittheilte, welche ihrer Aller Ankunft beschleunigt hatte.

»Sie würde als des Malers Gattin unglücklich sein und sich elend machen,« setzte Graf Friedrich hinzu, »ihre Apanage reicht nicht zur Hälfte für die Ausgaben eines Haushalts, der junge Mann aber hat nichts als einen sehr neu und wohlerhaltenen Pinsel.«

»Herr Graf,« sagte Alslev, nachdem er Beiden aufmerksam zugehört; »die Frage ist, hat er Talent und Fleiß? Arbeit möchte der noch so lang zu hoffende Friede in unseren Kirchen und Schlössern zur Genüge bringen! Allein die Comtesse ist verwöhnt, und Er hat allerdings keinen Rang ihr zu bieten.«

»Lieber Freund,« erwiederte etwas ungeduldig Graf Friedrich, »sie kann doch nicht mit dem Burschen von Stadt zu Stadt auf's Handwerk ziehen?«

»Der Herr Graf haben in Hinsicht auf Rang und Verwöhnung vollkommen Recht,« versicherte der Alte; »doch ist die zweite eigentliche Frage, hat der Mensch eine Gesinnung, einen Charakter, ein gewisses Bleibendes in sich? denn nur im Gegenfall dürfen wir hoffen, Comtesse Helene anderes Sinnes zu machen!«

Beide Brüder sahen den Advokaten verwundert an. »Ich kenne Herz und Kopf der Comtesse,« fuhr der Alte fort, »sind beide übereinstimmend dem Jüngling günstig, ohne innern Widerspruch, so bleibt den Herren Grafen nur die Wahl zwischen dem Veralten im Stift, oder der mißfälligen Vermählung für sie.« – Alslev war traurig geworden, im Herzen dauerte ihn Helene, er theilte die Vorurtheile seiner Tage und betrachtete, abgesehen von möglicher pecuniärer Sorge, jede nicht standesgleiche Heirath als ein Unglück. Die Ehen aller drei Brüder, welche so heftig gegen einen ähnlichen Schritt der Schwester sich aussprachen, fesselten ihm die Zunge; hatten doch Alle bürgerliche Frauen, und hatten, was dem alten Rechtsgelehrten nicht unwichtig war, keine Familienstatuten sich ihrem Entschlusse zu seiner Zeit entgegen gestellt!

Seinen ernsten Worten zum Trotz baten ihn beide Brüder dringend um Vermittlung und Beistand, und er versprach Helenen abzurathen; natürlich führten alle Gründe des an die reiche deutsche Frau vermählten Friedrich auf die Unmöglichkeit des Auskommens zurück, während Christians edlere Sinnesart ihn auf Verschiedenheit aller äußeren Verhältnisse der Familien aufmerksam zu machen versuchte. Der unbestechliche Alte sah Beide mit durchdringendem Blicke an, und ein fast unmerkliches Lächeln zog über seine Lippen. »Geben Sie recht Acht!« sagte er endlich, »Comtesse Helene ist ihrer Mutter Kind; an Reichthum ist ihr ganz und gar nichts gelegen, obschon sie dessen bedarf, und auch ihres Großvaters Geist spukt ihr im Köpfchen; sie versteht zu wollen! Wenn Er nur kein Revolutionsnarr ist,« brummte der Alte im Herausgehen, »und die ganze Welt mit dem Schwerte pflügen und mit Blut düngen will, anstatt dem Felde anzusehen, welcher Saat es angemessen!«

Als der Obergerichts-Advokat in sein Schreibzimmer trat, saß Helene schon darin; rasch sprang sie auf, lief auf ihn zu und bot ihm beide Hände zugleich; »erst jetzt lieb Väterchen begrüße ich Sie recht aus Herzensgrund, ich habe sehr viel zu fragen und zu sagen, aber vor allem dies: daß ich unverändert und unveränderlich Ihre alte Helene bin!«

»Seh' es schon, lieb Fröken,« sagte lächelnd der Advokat, indem er der »Alten« Hände an sein Herz drückte, »sehe es an der kleinen Fingerspitze da in meiner Hand!«

»Nun denn, lieb Väterchen, quälen Sie mich nicht mit dem, was meine Brüder Ihnen gesagt und – folgen Sie den »bösen Buben« nicht!«

»Die Brüder haben recht, Helene!«

»Weil die Männer immer »recht haben« uns gegenüber! Als mein Bruder Christian wie toll und blind in des Fäestebönders Tochter verliebt war, hatte er recht, und heirathete sie frischweg; als mein zweiter Bruder Friedrich ohne alle Liebe Geld und Gut über unsern alten Adel erhob, billigte ganz Copenhagen die »Partie,« (im Goldkäfig sitzen ist indessen Geschmackssache) – als nun vor kurzem mein dritter Bruder eine schöne und edle Frau nahm, die 25 Jahre jünger ist als er – o da fandet Ihr Alle, daß er recht hatte; denn eine junge Frau ist liebenswerther als eine alte! Nun aber Väterchen, soll ich denn nicht beispielsweise von dem außerordentlich vielen Recht meiner Brüder profitiren und das »Rechte« ihnen nachthun? – Ich habe doch wahrhaftig den Fall einer nicht ebenbürtigen Vermählung in unserer Familie nicht erfunden! Daß die Männer immer Recht haben, ist übrigens eine sehr alte Geschichte, schon Adam hat bei Gott Vater der Eva Unrecht gegeben, weil sie ihm den Apfel – –«

»Helene! damit kommen wir nicht weiter! Sie können Thorald nicht heirathen –«

»Und warum?«

»Weil er unter vier bis fünf Jahren nicht im Stande sein wird eine Frau zu ernähren! Und bis dahin –«

Stumm kehrte Helene zu ihrem bei des Advokaten Eintritt verlassenen Platz zurück und nahm einen großen Folioband in die Hand, den sie vorhin durchblättert. »Sie vergessen, lieber Alslev,« sagte sie fest und ernst, »daß ich die jüngste von meinen Schwestern und von unserem Hause bin. Lesen Sie einmal hier –«

»Helene!«

Sie warf sich schluchzend in seine Arme. »Helfe mir Gott, Vater, ich kann und darf nicht anders! Haben Sie denn wirklich den Muth mir zu befehlen, gar nicht – auch nicht vier, fünf Jahre glücklich zu sein?«

Sie herzte und küßte den guten alten Herrn, bis ihm die Perrücke ganz schief stand; verlegen rückte er sie zurecht und rief halb ärgerlich und halb gerührt, indem er schnell seinen bestaubten Pergamentband in die Registratur einrangirte, »meine Bücher zu nehmen, meine Notizen! Helene! Helene!«

Als er aber umsah, war sie längst verschwunden.

Wenn es Abend wurde und die Damen nicht ausgebeten waren, pflegten sie ungemein gern im netten spiegelblank-reinlichen Wohnzimmer der alten Frau Alslev ihren Thee zu nehmen.

Sieben Kinder, darunter fünf Söhne, hatte die würdige Alte aufgezogen und erzogen, mit sorglichem Blick die ersten Schritte auf den erwählten Lebensbahnen eines jeden von ihnen geleitet, mit kräftiger Hand und noch kräftigerem Geist die Schwachen unterstützt, Glück und Gelingen, Krankheit und Noth all der ihr vom Gatten ganz überlassenen Kinder redlich getheilt. »Es schlägt in ihr Departement,« sagte der Gerichts-Advokat, »das Haus und was darin ziemt der Weiberhand zu regieren, meine Kinder laufen draußen barfuß umher, der Staat ist mein Haushalt und Gott sei's geklagt, er ist voller Stiefkinder, die ich nur ungern anerkennen mag, so fremd stehen sie zum Ganzen.«

Mit unsäglicher Liebe hingen Töchter und Söhne der Mutter Alslev an, von letzteren waren mehrere außerhalb verheirathet und wiederum zog die Matrone nun die Enkel groß; zwei Knaben waren von ihren Eltern der Schule wegen nach Copenhagen gethan in's großväterliche Haus. Fast jeden Abend kamen auch die in der Stadt ebenfalls längst vermählten Töchter mit ihren Kindern, und ein großer Familienkreis ordnete sich um den wohlbereiteten Theetisch. Ein Fest wie das der Ankunft der gräflichen Geschwister, mit denen Alle von Jugend auf in Verbindung standen, mußte natürlich den ersten Abend besonders anziehend machen. Jedes Mitglied der Familie suchte seine Freude an den Tag zu legen, und die Stunden eilten mit geflügelten Schritten der Nacht entgegen, als ein lautes Klopfen an der Hausthüre Allen vernehmlich, noch einen verspäteten Gast verkündete.

Erstaunt durchflog der Hausfrau klares Auge den weiten Ring, den die Liebe um sie zog, es fehlte Niemand an der gewohnten Stelle.

Jetzt kam ein alter, mit der Herrschaft ergrauter Diener ein wenig verlegen lächelnd auf die Hausmutter zu, und flüsterte eine, wie es schien, ihr gar befremdliche Meldung! »Ich komme selbst, Peter, bittet nur den Fremden, wenige Augenblicke unten zu verziehen.«

»– Draußen steht ein sonderbarer Mann, halb wie ein Bauer, halb wie ein Geistlicher gekleidet,« erzählte mittlerweile der junge Heinrich, Alslevs Enkelkind, den aufhorchenden Mädchen, »hat einen langen weißen Bart und ein ganz runzliches, liebes Gesicht; er muß lange nicht bei uns gewesen sein, denn obschon er nach Großmama fragte, sah er mich für meinen Vater an! seine kleinen Hände zittern vor Altersfrost und er hat ein kleines Büchlein mit, das sollte Peter herauftragen, und uns Alle darin lesen lassen, so würden wir ihn schon kennen und ihm erlauben einzutreten. Ich wollte ihn gleich mit mir nehmen und ihn heraufführen, ihn aber schien die schöne Einrichtung, welche der Herr Graf beim Einzug der Fröken machen ließ, fast zu erschrecken, er fragte immer wieder: ob er auch gewiß nicht irre? Den neuen Teppich auf der Treppe getraute er sich kaum zu betreten und war höchst besorgt, etwas zu beschmutzen oder zu verderben; es war drollig anzusehen.«

»Und doch kannte er unser Haus?« fragte Amalie. »Ja wohl!« – In diesem Augenblicke trat mit freudeverklärtem Angesichte die Hausmutter ein, den wunderlichen Fremden an der Hand. »Ich bringe Euch einen alten Freund,« rief sie fröhlich den Kindern entgegen, »Kund Jürgenssen, der vor fünf und zwanzig Jahren viel hundertmal auf seinen Knien Euch gehalten und Euch wunderschöne Elfenmährchen und Saga's aus unserer Vorzeit erzählt, dem guten Pfarrherrn von Saurbar am Hualfiorden in Island. Ich denke Ihr kennt ihn Alle noch! Damals waren Vater und ich ein gut Theil jünger, gingen mitunter wohl zu Mummereien, Theatern und Concert; dann saß der gute Jürgenssen bei Euch und vertrat, wie's eigentlich wohl der Geistliche überall sollte, Vater und Mutter Euch zugleich! Ja, ja, das thatet Ihr, und wenn wir heimkehrten zu Nacht, lagen die Kleinen in ihren Bettchen mit gefaltenen Händchen und waren über den Abendsegen sanft eingeschlafen, den Ihr sie sprechen gelehrt!«

»O liebes, gütiges Väterchen!« riefen nun zugleich die Söhne und Töchter des Hauses, stürzten auf den Alten los, ergriffen und drückten seine Hände, er aber bebte vor Freude und Rührung. »Und seid Ihr es denn wirklich, wirklich wieder herübergekommen zu uns, aus Eurem Schnee- und Eiseilande? Und Ihr bringt nun den Winter bei uns zu, in Kjöbenhavn, nicht wahr? Tausend und aber tausend Mal willkommen! Da seht,« rief ein herrlich blühendes junges Weib, Alslevs jüngstes Töchterchen, »da sind schon meine Kinder, die auf Eure schönen Sagageschichten warten, nun könnt Ihr denen so herrliches Spielwerk schnitzen, wie Ihr uns es gethan, es wird sie ergötzen, wie vor fünf und zwanzig Jahren uns!«

»Ja! ich besinne mich,« sagte einer der jüngeren Söhne, »Ihr kommt aus Island, eines schweren Prozesses wegen; eine herbe Klage war's, die Ihr dem Vater übergabt!« –

»Käme er nur selbst, der liebe theure Herr!« meinte der Pfarrer, den die Freude jung und lebendig machte, »daß ich ihm danken könnte und ihn begrüßen aus Herzensgrund.«

Die Mutter führte nun Kinder und Enkel auf, eins nach dem andern; immer entzückter wurde der Alte, verwechselte aber doch noch oft die Enkel mit jenen, weil sie »so gar prächtig herangewachsen!« Die älteren Fröken waren auch hinzugetreten, der gute Mann kannte sie gleich; außer sich war die kleine Nordermule, die er fast vergessen, nur besann er sich noch, zum höchsten Glück! »Ich war ja damals mit dem Fröken Amalie hier, wie konntet Ihr nicht gleich meiner Euch erinnern,« klagte sie; »doch erzählt uns nur, woher Ihr nach so langen Jahren endlich kommt, fast seht Ihr aus wie damals, als wir von Euch Abschied nahmen – –«

»Es war am Abend vor dem Johannisfeste,« sagte der Pfarrer, »o ich weiß Alles noch!« er nahm sein altes Büchlein wieder aus der Brusttasche; ein Stammbuch war es, wohl an fünfzig Jahr alt! »Da, da steht Ihr Alle!« jubelte er auf, »Frau Alslev und Janfru Sophie, Janfru Fredrika.«

»Bitte zu sagen: Frau Amtmännin Solwig,« lachte die kleine Frau –

»Schön, schön,« erwiederte der Alte, »damals aber durfte ich mir die Janfru nur unter diesem Namen mit fortnehmen, in meinen Erinnerungen; sie war eben zwei Jahre alt, und ich führte ihr die Hand, ja, ja, bis auf das kleinste Kind hat jedes hier mir sein Kreuzlein hingemalt, wenn es noch nicht zu schreiben verstand, in das Gedenkblatt der Familie des edelsten Menschen, den ich je gekannt!« – »Ach, auch ich weiß jetzt wieder Alles,« versicherte Sophie, »es war Frühling, den Abend hattet Ihr uns von den Pilgerwallfahrten zu den Quellen und ihren guten Geistern erzählt, wie sie in der Johannisnacht unternommen werden müssen, und von den kleinen Engeln, welche sie bewachen; dann schrieben wir uns ein, Ihr hattet das Büchlein noch aus Euren Studentenjahren; das sind schon fünf und zwanzig Jahr?«

Und Kopf an Köpfchen drängte sich zum vollen Kranz um die hohe Lehne des Sessels, zu welchem die Mutter den vor Freude an allen Gliedern Zitternden geführt, »ja, ja!« rief er aus, »das ist das Büchlein,« und Schwarz- und Blauäugelein schaute ihm über die Schulter auf die beschriebenen Blätter, »das ist Großvaters Hand,« – »dies Mutters Schrift!« »Hier bin ich!« rief ein Drittes, »hier Fröken Amalie, Annette!« »Nur ich bin nirgends,« sagte fast traurig Helene! –

»Kind,« erwiederte lachend die Nordermule, »Du warst noch nicht einmal geboren!« »Die Gräfin Gejern wie sie leibte und lebte!« schaltete der Pfarrherr ein, und schaute wohlgefällig das schöne Mädchen an, – dann fuhr er fort, »es gab mir selbigen Abends, ehe ich von dannen zog, der hochverehrte Herr Alslev noch ein gar schönes, werthvolles Geschenk.« –

»Ja, ich entsinne mich,« sagte die Mutter, »wir brachten Euch als Mitgabe in Euer kaltes Land einen warmen Festrock, den wir Euch baten uns zu lieb zu tragen.« –

»Und ob ich's thue!« rief der Pfarrer, »da, da ist das gute, gar wohl erhaltne Kleid, kennt Ihr es noch?« Und im freudigen Eifer erhob er die Taschenklappen und die Schöße des schwarzen Rockes, zeigte sie jubelnd und jauchzend den Kindern – dichter und dichter umdrängten ihn diese. –

»Ach,« sagte leise die Nordermule zu Helenen, »das gute treue und dankbare Herz! So ein armer Pfarrer in Island hat kaum einige dreißig Thaler Einnahme von seinem Kirchspiel, das weit ausgebreitet viele, viele Meilen umfaßt!«

Der Pfarrer hatte das leise Wort gehört. »Schon wahr,« sagte er, »allein, was braucht man auch des Geldes viel? Immer trägt man doch nicht so gute Kleider wie dieses ist, und habe ich doch mein sauber Stückchen Kirchenland! Freilich reift mir kein Korn darauf, aber ich ziehe doch Kartoffeln, Kohl und herrliches Futter für meine zwei Kühe! Ja, ja Janfru Nordermule, der Kund hat die schönsten Thiere weit und breit, – wäre mir nicht die Hausfrau gestorben, wie gar leicht wäre mir das Leben! – Bücher fehlen mir sehr! die sind theuer, denn zu Lairar druckt man nur Katechismen und Andachtsschriften – und das ist die einzige Druckerei, die wir in Island haben!«

»Aber wovon lebt Ihr denn?« fragten die Kinder. – »Ei nun, seit dem die Stadt Reikiawik erbaut, fehlt es nicht einmal mehr an Brot und Fleisch; wir haben ja aber immer Vögel und Fische! Den Sandhafer, den herrlichen Melia giebt uns Gott, wie einst den Israeliten das Manna, ohne Säen und Pflanzen!«

Mit tiefer Bewegung lauschte Helene dem zufriedenen Manne, der den Kindern vom Tauschhandel auf der Insel selbst und von den »Gnaden Gottes,« wie er den Robbenfang und die Eidergans nannte, immer eifriger und glückseliger erzählte, da schloß er plötzlich, »ach, was die Natur an Island thut, ist schön und ein gar werthvolles Geschenk des Herrn, allein die Menschen gönnen es einander nicht und verderben sich gegenseitig das Leben. Als ich im Jahre siebzig zuerst meine Klage vor der geheimen Conferenz-Commission des Ministers Struensee eingereicht hatte, glaubte ich freilich mich gesichert für immer!«

»Der Vater! der Vater!« riefen die Kinder; jedes eilte auf den Advokaten zu, ihm zuerst die erfreuliche Kunde zu bringen; obschon er vor all den zugleich auf ihn eindringenden Stimmen kein Wort verstand, hatte sein scharfes Auge alsbald den isländer Pfarrer erkannt. Alslev vergaß nicht leicht, wen er einmal gesehen. »Herzlich willkommen, Ehrwürden!« rief er und bot ihm gastfreundlich die Hand. »Ihr habt lange uns nicht besucht und findet in und außer dem Hause eine neue Welt, aber immer das nämliche herzliche Willkommen!«

Die Männer saßen nun nieder und das Gespräch nahm eine ernstere Wendung und ging bald über auf's Allgemeine. –

Trotz der anerkannten Hinneigung der Isländer zu jedem wissenschaftlichen und literarischen Streben, liegt die Insel doch zu sehr außer allem eigentlichen europäischen Lebensinteresse, als daß Nachrichten entfernter Länder leicht sie erreichen sollten. Die Nachrichten der Gegenwart, eben war in Frankreich das Directorium an die Stelle des Convents getreten, Napoleons phänomenartiges Auftauchen aus dem Chaos der sich wieder gebärenden Zeit, Alles dies war dem erstaunten Hörer, wie eine zweite Weltschöpfung, unfaßlich überwältigend. Er stand noch mit trauernder Seele am Grabe der jungen schönen Königin seines Heimathlandes, die er gesehen, verehrt, und die während seiner Abwesenheit von Kjöbenhavn so schmachvoll in Zelle geendet.

Und grell erhob sich neben diesem ungeheuren Wechsel der riesigen Begebenheiten einer Gegenwart, welche selbst Gott in seinen Himmeln und den blutenden Heiland an seinem Erdenkreuz zu bezweifeln und anzugreifen gewagt, sein eignes sich immer gleichbleibendes individuelles Dasein. Was er am Gerichtshofe Christian VII. durch Struensee's Hülfe erlangt, und als Beute in seine ferne Heimath mit sich fort genommen, kam er jetzt zum zweiten Male zu fordern nach Kjöbenhavn; Struensee, der jungen Königin Partei, alle Minister damaliger Tage, waren längst untergegangen im Kampf eigener und fremder Gewalt, er fand zwar wieder einen Grafen Bernstorff am Staatsruder, statt des damals eben seiner Stelle entsetzten trefflichen Mannes, allein es war ein Andrer, den er daheim nicht einmal nennen gehört! Es übernahm das Alles fast den gealterten Mann, der zuletzt, beide Hände vor das Gesicht geschlagen, zusammenzubrechen schien unter der ungeheuren sich ihm entgegenwälzenden Last der Eindrücke des Augenblicks.

Leise nahte sich Helene und legte ihre weiße kleine Hand auf seine zitternden, in den ergrauten Haaren wühlenden Finger, »die Zeit schreitet schnell, Ehrwürden,« sagte sie, »ist es nun nicht wunderschön, daß die Natur und des Einzelnen Herz sich dennoch in ihr gleich zu bleiben vermögen, trotz ihres Riesengangs? Höchstens reißt er das irdische Leben mit sich fort, wenn wir uns nur in uns selbst recht fest auf den Füßen zu stellen vermögen. Seht, Alles um Euch ist ganz anders geworden; wenn Ihr morgen am Tage ausgeht, und durch die verödeten Straßen Kjöbenhavns, werdet Ihr noch weit mehr erschrecken! Ihr werdet Christianborgs ungeheuren Schutthaufen finden und die Brandstätte des Gammel-Holms, – seit drei Monaten liegt ein Viertel unsrer Vaterstadt in Asche, – nun Ehrwürden, ist's nicht wunderschön, daß Menschenwerk und Menschenleben so zusammenfallen zu einer grauenhaft erhabenen Ruine, und der winzig kleine Punkt im Universum, der feste Charakter eines Menschen durchwächst sie dennoch mit seiner unbesiegbaren Liebeskraft? Ihr steht mit dem alten Rock, den Ihr vor fünf und zwanzig Jahren hier im Hause empfingt, über dem alten unverändert sich gleichschlagenden Herzen, voller Treue wieder hier unter uns, und Eure kleine schwache Brust zeugt von der Ewigkeit, während Alles was Euch und uns umgiebt nur von der Vergänglichkeit zu uns redet!«

Dankbar blickte der Pfarrer sie an, keines Wortes mächtig, zog er ihre Hände an seine Lippen. –

Bleich wie ein Todter starrte der unlängst in's Zimmer getretene Christian auf sie, – er fühlte den durch ihre Neigung zu Thorald plötzlich erwachsenden mächtigen Charakter des Mädchens. Der alte Alslev blickte zärtlich zu ihr hinüber, ihn freute das Aufkeimen und Erblühen der von ihm gepflegten Saat. »Sie wird Festigkeit haben wie ihre Mutter, und wie sich auch ihre Verhältnisse gestalten mögen, sie wird glücklicher sein!« – Die kleine Nordermule aber warf sich innerlich alles vor, was sie ihr erzählt, von der Tante Lieben und Leiden, – »eine Unbesonnenheit wird sie begehen!« sagte sie leise, vorsichtig die gutmüthigen blauen Augen niederschlagend, daß ja keiner in ihnen lese! der kleinen Bucklichen Seele war stets in siebenfache Schleier gehüllt!

Einer wunderbaren Klage halber war der alte Kund Jürgenssen von Island im späten, schon gefahrdrohenden Herbst nach Copenhagen gekommen. Sein im Borgefiords-Syssel, am Huatfiorden gelegenes Kirchspiel erstreckte sich an beiden Meerbusen nach Leirar hin, und dann tief landeinwärts über viele einzeln liegende Pachthöfe und Häuerlingshäuser weiter. Nun aber gab es bis zum Jahre 1782 auf ganz Island weder Städte, noch Marktflecken, noch Dörfer; die Einwohner lebten zerstreut in den vor Stürmen am meisten geschützten Orten und lehnten gern ihre Gehöfte, die alle aus Lava und Treibholz erbaut, einander glichen wie ein Tropfen Meerwasser dem andern, bald da, bald dort an einen sie deckenden, vielleicht gar überhangenden Felsrücken, um gegen arge Wetterunbill möglichst sicher zu sein.

Fromm und ohne Klage zogen sie Sonntags oft meilenweit zum entlegenen Gotteshause, ihren Seelsorger predigen zu hören; er war meistens zugleich dabei ihr Arzt, jedenfalls ihr vertrauter, väterlicher Freund, der in aller Noth und Freude, beim Ein- und Austritt in ihr mühevolles Sein ihnen treu zur Seite blieb und des Lebens Drangsal ihnen tragen half, wenn ihre eigene Kraft ermattete. Denn wie sein schwer herniederhängender Himmel, ist der Isländer trübe, schwermüthig, ihn drückt das Leben, seine Freude besteht meist in ernsten Dingen, er singt auf vaterländische Weisen seine Sagen, hört gern Snorro Sturlesons Dichtungen und die Edda, und spielt das ernste Königsspiel: Schach! –

Die später allmälig angelegten sechs Handelsstädte, welche noch die einzigen der Eisinsel, bestehen außer Reikiawik, das wohl über sechzig Häuser zählt, auch nur aus wenigen größern Kaufmannswohnungen und um diese herliegende Packhäuser und Magazine; alle sind einstöckig, niedrig, roth angestrichen, der Wärme wegen oft mit grünem Rasen belegt. Die Pachthöfe entbehren meist den Luxus eines Schornsteins, eines Ofens oder gar gläserner Fensterscheiben, denn die wilden Orcane gestatten ihn nicht. Unsäglich beschwerlich und dennoch durch seine tief eingreifende Wirksamkeit heilig-schön, ist hier der Beruf des Pfarrers! Der von ihm viele, viele Stunden weit durch die menschenöden und dennoch stets bewohnten Districte getragene Kelch des Herrn wirkt dort noch beseligend auf den Todeskranken; und Taufe und Trauung werden, wenn sie Wochen hindurch bis zum Erstlings-Sonnenstrahl des Frühlings verschoben worden, in vielen Herzen um so frommer ersehnt, so daß dem Priester der schwere Gang gelohnt wird und sein eigener Beruf verklärt vor seinem geistigen Auge sich erhebt.

Wie zart wiederhallte dieses Gefühl in des bescheidenen, orthodoxen Kunds Seele! und dennoch war er angeklagt, hart angeschuldet von dem Probst seines Districts, und wie einst vor 25 Jahren jetzt abermals vor das Consistorialgericht des Bisthums Reikiawik gestellt, weil er »aus Trägheit« die Leichen der in seinem Sprengel Verstorbenen unbeerdigt lasse, ja, auf Monatelang bloß in den Schnee sie einsenke, ehe er dem müden Leibe einer den Trauerort vielleicht rastlos umkreisenden Seele, die letzte Gott geweihte Ruhestätte auf dem Kirchhof gönne und durch das Wort des Herrn dieselbe ihr bereite! – O wie lange, bittre Nächte hatte der Arme verweint, bei der rauhen Grausamkeit dieser Anklage! – Das Bewahren der Körper im Schnee war eine harte Nothwendigkeit, welche indessen nur die entferntesten Mitglieder seines Kirchspiels traf, denen das Erreichen des sehr entlegenen Gottesackers mit der Leiche fast unmöglich war. Oft war das Leben der Träger beim Transport des Sarges in Gefahr gerathen, sie versanken in Schnee und Eisspalten; der ihn selbst treffenden Beschwerde hätte der fromme Mann nicht geachtet, kaum sie erwähnt, obschon er mehrmals durch dieselbe erkrankt; allein eine größere Anzahl seiner stündlich Bedürfender litt darunter!

Der Probst war ihm nicht gewogen, seine Rechtfertigung ward verworfen, schwere Klage gegen ihn im Consistorio erhoben! – Im Gefühl seines guten Rechts war Jürgenssen vor fünf und zwanzig Jahren nach Copenhagen gesegelt. Seiner einfachen Seele war die damalige Aufhebung aller Ministerien und die Gewalt, mit welcher Struensee eine Menge wirklicher Verbesserungen einführte, nur eine Vereinfachung des Geschäftsgangs gewesen, er hatte für den Günstling des Königs geschwärmt und an die wirkliche Thätigkeit des Letztern lange nach Ausbruch seiner Geistesschwäche geglaubt. Mit der leicht erworbenen Rechtfertigung und günstigen Entscheidung seines Prozesses war er damals heimgekehrt; die gänzliche Umgestaltung der dänischen, und mithin der provinziellen Verhältnisse hatte auch diese längst entschlafene Anklage erweckt, von neuem war ihm aus Reikiawik der Befehl augenblicklicher und wirklicher Bestattung der in seinem Kirchspiel Verstorbenen zugekommen. – Allein zu dem Schnee seiner Gebirge hatte sich nun dem armen Pfarrer der Schnee des Alters gesellt, der sich auf seinem müden Haupte gesammelt, und man altert schnell, bei so schwerem Beruf, in solchem Clima! Dem Prediger blieb nur die Wahl zwischen freiwilligem Aufgeben seines bisherigen Berufs, oder des Versuchs, eine erneute Vergünstigung von Copenhagen aus zu erhalten, seine Leichen in das weiße Schleiertuch der Erde zu hüllen, bis der Frühling das Herz der alten Mutter erwärme, und sie das entschlafene Kind in ihre treuen Arme aufzunehmen im Stande.

Von seiner Kirche den Kund bannen, hieß ihn tödten! sie war seine Liebste, seine Welt! Von Katharina, seiner verstorbenen Ehefrau, hatte er ein holdseliges Töchterchen; Mathilde (so hieß sie nach der unglücklichen Königin) – war die einzige, welche außer der dem öffentlichen Gottesdienst geweihten Stunde den geheiligten Raum mit ihm betreten und Küsters-Dienst, in Reinigung und Ausschmückung der Kirche, mit ihm theilen durfte. Was sie Kostbares besaßen, ward zur Zier des Altars, der Kanzel, ja des kleinen Chors verwandt. An einem Pfeiler hing ein Kupferstich, das Bildniß des Vaters Alslev, des »edelsten Menschen, den er je gekannt!« Dieser Ehre hielt er nur ihn für würdig; während seines ersten, dreimonatlichen Aufenthalts hatte er in der Residenz all seine ihm für das ganze Leben ausreichende Menschenkenntniß gesammelt; Alslevs klares, festes Wollen und bestimmtes Handeln hatte ihn zur verehrenden Begeisterung fortgerissen, sein treuer Sinn bewahrte sie in immer gleichbleibender Erinnerung.

Alle diese kleinen und doch ihrem bisherigen Erfahren fremden Züge aus einem beschränkten, fast von jeder Bequemlichkeit entblößten, rein-menschlichen Dasein rührten Helenen unsäglich, allein sie baueten sich auf zur trennenden Mauer zwischen ihr und den einzig mit den Vermählungsfeierlichkeiten und den Ausstattungen beschäftigten und erfüllten Geschwistern.

Außer Christian waren Alle, selbst die Brüder durch ihre Frauen in den Taumel der Hoffeste und Zerstreuungen hineingerissen, mit welchen man Christian VII. fortwährend umgab. Die Grafen Schimmelmann und Bernstorff waren nur theilweis im Volk geliebt, im Innern des Staats gab es viel Unzufriedene. Die dänische Politik ging darauf aus, mit allen auf Dänemark einwirkenden Mächten Frieden zu halten, aber trotz der dabei zu Tage gelegten Würde und äußerlichen Größe, ließ sich eine gewisse Unsicherheit der Ansichten wie der Verhältnisse kaum bergen. Alle Geschäfte, welche die verschiedenen, nach Struensee's Sturz wieder eingeführten Canzeleien dem Staatsrath vorlegten, mußten in doppelten Sitzungen vorgetragen werden; in der Versammlung beim Erbprinzen Friedrich wurden die Resolutionen gefaßt, alsdann in einer zweiten dem Könige zum Schein vorgelegt, der sie halb bewußtlos unterschrieb. Das war eine unsäglich betrübte Comödie, und ihre Rückwirkung auf das Volk war es nicht minder! Der arme Prediger litt unbeschreiblich, sein beschränkter Geist sah überall böse Dämonen sich drohend gegen sein ihm so theures Vaterland erheben; so lange seine Sache bei Gericht anhängig blieb, war Helene sein einziger Trost, und die ganz einfachen und zugleich so tief poetischen Lebens-Anschauungen desselben, ließen dagegen dem aufgeregten Sinn des Mädchens alles Treiben der Vornehmen und des Adels im widerwärtigsten Lichte erscheinen, ja sie steigerten ihren Entschluß, mit Thorald ein von diesen hemmenden Einschränkungen freies Leben zu führen zur entsetzlichsten Pein.

Thoralds leichteres Blut ließ ihn einfacher seine Bahn weiter ziehen; er war in Copenhagen, arbeitete in der noch neuen und unvollständigen Academie, gefiel durch heitere wohlwollende Theilnahme, umarmte den alten Kund, der ihn auf Helenens Bitte besuchte, machte das Portrait des kleinen, leider kränklichen Kronprinzen, und war bei jeder einzelnen Nachricht von Frankreich aus überzeugt: auch im Norden müsse jede kleine Meuterei, jede Unzufriedenheit des durch Monopole gedrückten Handelstandes nächstens große Umwälzungen herbeiführen, welche dem Charakter und einer der Nation inwohnenden Gleichmüthigkeit und sehr ernsten Besonnenheit widersprachen. Er selbst war kaum noch ein Däne; der lange Aufenthalt in Italien und Frankreich hatte alle vorspringenden National-Eigenschaften in ihm verwischt.

Graf Christian vermied Erörterungen, welche zu nichts Glücklichem führen konnten, Alslev und er waren verstimmt, weil sie sich nicht zu gleicher Ansicht zu vereinen vermochten; in sich selbst streng und scharf concentrirt beobachtete der Advocat den Maler genau; er hätte so gern etwas Bedeutendes aus ihm gemacht, ihn durch einen glücklichen Wurf Geld und ein den Rang übertragendes Wirken verschafft – Thorald aber war und blieb eine hoffende, dem Leben vertrauende, sorglose Künstlerseele; er war überzeugt, einmal ein unsäglich schönes Bild zu malen, das ihm Ruf, Ruhm, Brot, und den Besitz der Geliebten zusichere. Unterdessen aber malte er eine Menge gleichgültiger Portraits, wurde Mode beim höchsten Adel und bei den Prinzessinnen, und begriff Helenens leise Klage nicht; sie sah weiter hinaus als er!

Die Hochzeittage mit ihren prächtigen Toiletten, alle den Gnadenbezeugungen der alten Königin, welche sich der »endlich wieder standesmäßigen Heirathen in der Familie Gejer« erfreute, das große Festmahl, und die lästigen, das Zartgefühl der Neuvermählten nicht sonderlich schonenden Gratulations-Visiten am Morgen nach dem Beilager – Alles das war vorüber! Nach den erwiederten Besuchen bei der über halb Copenhagen reichenden Vettern- und Cousinenschaar, wollten die neuen Ehepaare auf ihre Güter. Am Morgen vor dem Abschiedstage fuhren zwei schwere Caleschen in den Hof – die Neuvermählten waren schon auf ihren Berufswegen, und die Meldung des Besuchs erging an die »Gräfin Gejer!« Es waren die sieben Gejer-Mogenstrupp, Hochwürden! Sie wurden zu Eva geführt; welch ein Elend einen Bedienten vom Lande zu haben! der redliche Nysteder kannte die Weltverhältnisse nicht! Da standen sie, grau und Ehrfurcht erregend, in stummer Erhabenheit, wie sieben Wartthürme des Mittelalters die anmuthige Eva umgebend, und vermochten kaum das schwere Haupt ein klein wenig zu neigen, zum Gruß! Tödtlicher Schreck lähmte ihre riesigen Glieder: sie, die Hochadeligsten aller Chanoinessen, hatten der »wegen Kränklichkeit« nicht an den Hof gehenden Fästebönders Tochter, der nie zum Gesellschaftskreis mitzählenden Pseudo-Gräfin, die erste Visite gemacht –

Mit eben so viel Anmuth als Würde empfing sie die liebenswürdige, sanfte Eva; sie errieth leicht, daß der hohe Besuch ihrer Schwägerin Helene gälte, deren Rückkehr in das Stift Wallöe bereits festgesetzt war, und ließ diese sogleich zu sich bitten. Wie ein Frühlingsvöglein schwebte die kleine Comtesse herein und auf die sieben Wartthürme zu, welche sie sogleich im Flug der zierlichsten Worte umkreis'te, und ihnen zu dem Zufall Glück wünschte, ihre leider fast nonnenhaft zurückgezogene Schwägerin auf diese Weise kennen gelernt zu haben! So leichten Kampfes waren jedoch die empörten Stifts-Damen nicht zu beschwichtigen! Es entspann sich eine jener gesellschaftlichen Fehden, welche nur Frauen führen und kennen; mit hinreißender Anmuth verstand es Helene, jedem Worte, das Eva sprach, volle Geltung zu verschaffen, und deren Charakter, Stellung, Güte und Glück fortwährend hervorzuheben, indem sie selbst sich ihr gänzlich unterordnete und sogar den Rang der regierenden Gräfin und verheiratheten Frau in volles Licht setzte. Die sieben Mogenstrupps rissen unermeßliche Augen auf – sie fühlten sich angegriffen bis in's eigentliche Mark ihres Lebens – und schritten zur Rache! Alle Sieben begannen mit unendlicher Volubilität von lauter kleinen Hofgeschichten und Familienangelegenheiten der höchsten Kreise, als von bekannten Dingen zu sprechen, indem sie sorgsam alle darin vorkommenden Personen nur bei Vornamen oder den Spitz-Namen nannten, die man ihnen in jenem Cirkel gab; Eva konnte um alle diese Einzelnheiten nicht wissen, und die siegreichen Sieben stellten sich auf solche Weise zu Helenen in intimen Rapport, während sie die Gräfin aus dem Interesse des Gesprächs gewaltsam herausdrängten, um sie fühlen zu machen, daß sie jenem Cirkel der königlichen Familie und des sie eng umgebenden Adels nicht angehöre, obschon sie Christians Titel führe.

Helene gab nicht nach! Geschickt deckte sie sogleich ihre Schwägerin mit dem Schilde des Ausländisch-Modischen, warf nebenbei mit der persönlichen Gunst der verwitweten Königin um sich, als habe sie dieselbe in der Tasche, und überwältigte endlich in fortgesetztem Gespräch den Feind durch eine Menge Anekdoten vom englischen, russischen und schwedischen Hofe, mit denen sie die der ganzen civilisirten Außenwelt entfremdeten Mogenstrupps dermaßen betäubte, daß ihnen nichts übrig blieb, als die herkömmlichen Stiftsgeschenke an Elixiren, Rosenwasser und Confitüren zur Reise der »theuren Cousinen« in ihre Hände niederzulegen und den formellen Rückzug anzutreten.

Als sie fort waren, warf sich die ermüdete Siegerin auf das Sopha, ein Paar großer Thränen perlten in ihren Augen. Es ist sehr schwer zu sagen, warum sie weinte, ob aus Nichtachtung oder Ueberschätzung der so eben hart von ihr angegriffenen Vorurtheile!

Eva blieb still und gelassen, wie immer; ihr fehlte nie etwas anderes, als ihres Christians volle Liebe, wie sie einst sie gekannt und besessen.

Allein am nämlichen Vormittage schrieb Helene zwei Briefe; den ersten an Thorald. Sie bot ihm an, mit ihm zu fliehen nach Frankreich oder Italien. »All diese Einwirkungen und Rückspiegelungen angenommener, langjähriger Vorurtheile werden aus Pygmäen zu uns überwältigenden Riesen, wenn wir den hiesigen gewohnten Familien- und Gesellschaftsformen ausgesetzt bleiben! An jedem andern Orte, um wie mehr in einem anderen Lande, verlieren sie alle Geltung.

So wenig als unsere monopolisirende, auf Fabrikwesen und Gewerbefleiß angelegte Academie Ihrem Kunststreben wirklich fördernd genügen kann, eben so wenig würde Ihnen ein Lebenskreis genügen, in welchem wir stets defensiv aufzutreten hätten! – Den ganzen Morgen hindurch habe ich für meine Schwägerin mit den scharfen Waffen der Ironie gegen die Thorheit meiner sogenannten Standesgenossen gekämpft, gegen die armen Mogenstrupps, die am Ende glücklicher sind als Jene, denn sie haben sich mit dem Leben außer ihrem Stift und mit den persönlichen Wünschen abgefunden; dennoch habe ich sie und mich mit den spielend geführten Waffen verletzt – verletzen müssen!

O Thorald, lassen Sie uns den Muth fassen, unser Vaterland auf vielleicht zehn, zwölf Jahre zu verlassen, in Frankreich, England, Deutschland – wo Sie wollen, zu leben, menschlich frei zu sein! uns bleibt keine Wahl, wenn nicht unsere edelsten Seelenkräfte einer fortgesetzten, sie verkrüppelnden Entwürdigung ausgesetzt bleiben sollen!«

Den Rest des Briefes nahm der Ausdruck der tiefsten, weiblichsten Zärtlichkeit ein, und die Bitte, sie bei einer gemeinschaftlichen Bekannten zu erwarten, bei welcher sie zuweilen sich getroffen.

Das zweite Schreiben war an den Grafen Christian; es ward abgesandt, als Helene zu jener Freundin gefahren, bei welcher sie Thorald zu finden hoffte. Sie schrieb:

»Du hast Wort gehalten, Christian, Du sagtest mir, als meinen Widersacher Dich anzusehen, und hast offenbar und insgeheim als solchen Dich mir bewährt. Kämpfe mit gleichen Waffen ehren die muthig Streitenden, die unsern sind nicht einmal gleich, sondern die Deinen stärker – dennoch hast Du mir alle mögliche Ehre durch Deine hartnäckigen, unablässigen Angriffe erzeigt. – Vergieb den trüben Scherz, ich gehe wahrlich nicht darauf aus, Dir wehe zu thun; ehemals kanntest Du mich; Du bist aber in den letzten Jahren immer unglücklicher geworden, und Thränen, sagt man, machen blind; darum wähnst Du auch durch Gewalt mich zu besiegen und vermöchtest doch höchstens mich zu tödten aus Scherz, nicht aber mich bis zur Regungslosigkeit zu zerdrücken, wie jene Unglückselige, die wir nicht nennen wollen!

Mir scheint, Du hast in unserer Familienstellung eine unbedeutende Kleinigkeit übersehen, nämlich: daß ich das jüngste Fräulein unseres Hauses bin, und mir bei einer keineswegs durch Adelsforderung verklausulirten Verheirathung als solchem die zehntausend Thaler Mitgift zufallen, welche die Schwester des Grafen Owen, unsere Großtante, uns ausgesetzt hat. Ich wußte seit Jahren um diese Sache, und der Instinct der Schwachen ließ mich in Alslevs Studirzimmer unser Familienbuch, und in diesem die Notiz darüber finden, während Du bei unserer Ankunft Dich seiner sogleich bemächtigtest, ihn in Dein Zimmer, und mir und meinem Vertrauen zu entführen für gut fandest. – Ich werde auf diese Summe Anspruch machen, Du hast kein Recht, mir sie zu verweigern, mich aber wird dies Geld vor jedem Mangel schützen, bis es meinem theuren Thorald gelungen sein wird, uns Beiden eine nur auf sein Talent und seine eigene Kraft begründete Existenz zu sichern.«

Trostlos kehrte Helene heim vom Besuch der arglosen Freundin, bei welcher sie Thorald gesehen! Sie hatte Gelegenheit gefunden ihn zu sprechen, sogar allein eine lange Unterredung mit ihm gehabt – aber ach! – Thorald hatte mit dem vollen Ausdruck der zärtlichsten Liebe in Blick und Wort dennoch auf das Allerbestimmteste sich geweigert mit ihr zu fliehen! – Sein dem Grafen Christian im Wäldchen auf Laaland gegebenes Wort, »nichts zu thun, was Helenens Ruf der Welt oder dem bösen Leumund des Kreises, welchem sie angehöre, preisgäbe,« – war er entschlossen zu halten.

»Laß mich als fester Mann ihm gegenüberstehen bleiben, wie ich dort am See mich vor ihm als solcher empfand,« bat er sie, »damit er einst Deinem Gemahl seine Achtung nicht zu versagen im Stande! Sobald mir möglich sein wird Dir meine Hand zu bieten, wird das Vermögen, welches Du mir zuzubringen gedenkst, mir den Trost gewähren, Dich wenigstens nicht harter Entbehrungen durch unsere Liebe ausgesetzt zu sehen, allein nur in unserm Vaterlande, nur öffentlich, vor Deiner Familie und Aller Augen, darf ich als mein eigen Dich an mein Herz schließen, als meine Frau Dich heimführen, wäre es auch gegen den Willen der Deinen!«

Was sie ihm auch einwandte, glitt an der einmal empfangenen Gedanken- und Gefühlsrichtung seines einfachen Charakters ab; sobald Thorald nicht durch äußere Uebermacht gesteigert aus sich selbst herausgetrieben zu enthusiastischer Heftigkeit hingerissen handelte, war er gerade und redlich in allem Thun; er vermochte sein Glück nicht um den verlangten Preis zu erkaufen.

»Kein Flecken darf durch meine Liebe zu Dir auf den Schnee Deiner Seele fallen! Nicht Deiner stolzen Familie, nicht Christians Versagen schreckt mich, auch ohne alle Einwilligung der Dich mir Mißgönnenden werde ich Dich einst mein nennen, aber öffentlich, nicht insgeheim. – Sind wir aber einmal verbunden, dann Liebste, dann laß uns fortziehen, daß sich der allerschönste Erdenhimmel, das blaue Zelt Italiens über unser Glück hinwölbe, seine klare Sonne freudig uns in's Herz scheine, und wir all den grauen Jammer ihrer Pergamente und Diplome vergessen.«

Ach, Helene wußte nur zu genau, daß kein Priester sie trauen werde in Dänemark, ohne Einwilligung des Bruders, welcher nach Landessitte und Brauch Vaterstelle an ihr vertreten, fast seit ihrer Geburt.

Im höchsten Grade verstimmt schritten Graf Christian und Alslev in dessen Studirzimmer auf und nieder; das sorgsam geführte Register aller im Archiv der Familie Gejer enthaltenen Documente lag im uns wohl bekannten Pergamentbande auf dem Pulte des Advokaten. »Und so,« schloß dieser seinen Bericht, »fand sie schon am ersten Tage ihrer Ankunft Gelegenheit, eine Schrift zu sehen, deren Inhalt ich ihr absichtlich verborgen.«

»Und schwieg darüber bis heute!« setzte der Graf hinzu, »auch dahinter muß eine Absicht versteckt sein –«

»Nein,« erwiederte Alslev, »die Comtesse läßt sich ungern vom Augenblick zu Gewaltschritten drängen, und concentrirt auf diese Weise für den Nothfall all ihre Kraft. Ich glaubte behaupten zu dürfen, daß wenn der Herr Graf Dero Abreise, und mithin Gräfin Helenens Rückkehr in's Stift etwas weniger hastig betrieben, dieselbe ruhig hier verweilt haben würde; hätte die Academie dem wirklich talentvollen jungen Manne die Professur gewährt – sie wäre sogar ruhig nach Wallöe gezogen; ihre Pläne sind noch nicht reif!«

»Am Ende hätten wir doch nur einen Aufschub erlangt! Ich kenne Helene besser! Hier hilft nur die stärkere Gewalt. Zum Glück kann ich auf das Bestimmteste ihr meine Einwilligung versagen; sie mag meinen Tod abwarten und –«

Des Advokaten Züge überflog ein leiser Spott, – »und in zwei Monaten ist sie mündig,« fügte er der abgebrochenen Phrase an. »Ich bekenne, daß ich nicht ganz begreife, weshalb gerade der jüngsten Comtesse Heirath dem gräflichen Hause so ganz besonders wichtig. –«

»Haben Sie nie bedacht, daß von den Töchtern unseres Hauses, deren eine unseren Namen dem ihres Gemahls beifügen kann, die Erhaltung des Geschlechts der Gejer oder wenigstens der Hauptlinie der Familie abhängt, oder abhängen wird, denn –«

»Allerdings scheint wenig Aussicht zu einer Descendenz des Grafen Friedrich geblieben; aber Graf Joachim –«

»Ist schwächlich wie ich! Ich kann und werde diese Verbindung mit dem jungen Roturier von einer zu ganz unbekannten Größen gehörenden Abstammung nie zugeben! Ich bin uns Allen schuldig, unter keiner Bedingung es zu thun. – Morgen soll mir Helene auf ihr Stift nach Wallöe!«

»Darf ich Ihnen rathen, so überreizen Sie das heftige Mädchen nicht! Treiben Sie sie nicht auf's Aeußerste –«

»Was kann sie in solcher Geschwindigkeit, binnen vierundzwanzig Stunden unternehmen, Alslev? Auch Sie übertreiben!«

»Sie könnte zum Beispiel den Geliebten dahin vermögen, mit ihr nach Frankreich oder England zu fliehen.«

»Tod und Teufel! Alslev! eine Gräfin Gejern!«

»Ist vor Allem ein Weib, und hier ein leidenschaftlich liebendes –«

»Sie haben Recht. Man muß ihr jede Möglichkeit zur Flucht abschneiden, sie bewachen, ihr Gesellschaft leisten, wollte ich sagen –«

Und unterdessen schwamm Helene in Thränen, weil Thorald unerbittlich blieb!

Es giebt eine Menge weiblicher Wesen, welche von der Natur zu Vertrauten-Rollen im großen Lebens-Drama bezeichnet scheinen, sie kommen niemals dahin, eigene reelle Verhältnisse, reinpersönliche Erfahrungen zu haben, ihr Leben wird von Andern gelebt, sie verfließen ganz in Anderer Individualität, in Anderer Leid und Lust. Zu diesen Naturen gehörte die Nordermule, sie ging auf in der drei Gräfinnen Persönlichkeit. Seitdem die zwei Aelteren vermählt und von Copenhagen fortgezogen, hatte eine unbeschreiblich tiefe Melancholie das gute alte Mädchen erfaßt, alle ihre Stunden waren ihr übrig geblieben! – Daß Helene ihrer nicht bedürfe, war ihr längst deutlich geworden, nun fürchtete sie, daß ein rascher Schritt derselben sie sogar um den Anblick des letzten ihr gebliebenen Zöglings bringen und dann ihr armes Leben zu einer ganz zwecklosen Leere sich ausdehnen werde. Schon die alljährig sich erneuende Rückkehr in's Stift war ihr qualvoll, sie gehörte auf keine Weise zu demselben; von Alters her war ihr das ehemalige Stübchen ihrer Mutter geblieben, welche, wie schon erwähnt, in der verstorbenen Fürstin Abatissin Diensten gestanden. Wie ein Stück Möbel oder sonstiges Geräth, hatte man sie dem Haushalt der wahnsinnigen Ulrike zugestellt, bei welcher sie lange Jahre geblieben – später hatte Graf Thugge sie zur Pflege und Erziehung seiner drei Töchter nach Aalholm berufen.

Starr vor sich hinblickend, überdachte die kleine Buckliche ihre lange ereignißlose Existenz; ein Lichtpunkt derselben blieb Ulrikens erster Anblick; Emerenzia hatte sie zum ersten Mal in einer künstlichen Dämmerung, bei zugezogenen rothen Vorhängen gesehen und zwar jener unbewußt; denn nur nach und nach hatte man die Leidende an die Nähe der Fremden gewöhnen können. Wie heiß und jugendfrisch hatte sie von jenem Moment an für die schöne Trauergestalt gefühlt und geschwärmt, die kaum halberschaut ein Ideal aller Schönheit und weiblichen Vollkommenheit ihr geblieben. Ach, die stets nur mit dem Bilde des ihr entrissenen Liebsten sich beschäftigte, in dem einzigen Gedanken absorbirte Ulrike, hatte die leidenschaftliche Hingebung des armen Mädchens nicht einmal bemerkt. Dennoch hatte diese den schönsten Theil ihrer Jugendjahre ihrer Pflege geopfert, und aus den Erinnerungen an jene Zeit den Nimbus all ihrer Träume gewoben – für noch blüthenlosere Tage, voll noch herberer Realität. Der verschwiegenen Treue der allmälig mit dem Hause Gejer so eng Verwachsenden, deren Gegenwart man bedurfte ohne sie zu beachten, deren Lebenskraft man verbrauchte ohne je darüber nachzudenken, war die ganze Qual des Mitgefühls der unseligen Ehe des Grafen Thugge aufgebürdet worden.

Alle Phasen des überhand nehmenden riesigen Elends, das verschmähte Liebe, Haß, Argwohn und Flatterhaftigkeit einem Ehebande zu bereiten vermögen, hatte sie mit durchlebt; die ganze dem kleinsten Samenkorn des Unrechts entwachsende Wucht gegenseitiger Versündigung mitgetragen, all den Seelenverrath sich täglich erneuender Verzweiflung an allem Guten, an Gott, Menschen und dem eigenen unbarmherzigen Selbst hatte die arme Nordermule mit durchfühlt in endloser Gewissenspein. Es hatte Niemand je daran gedacht es ihr anzurechnen, oder gar es ihr zu danken.

Später hatte Emerenzia dem Leben der Kinder eben so rücksichtslos Körper und Seele geweiht. Jene schwersten Ereignisse waren vorübergezogen, Graf und Gräfin ruhten endlich im Grabe. Nun nahmen Glück und Leid der Uebriggebliebenen ihre von dem Dasein Emerenzia's weit abführende Richtung. Neue Fäden knüpften sich zum Gewebe besserer Tage – die Nordermule blieb verlassen allein zurück; die sie mit ihrem Herzblut genährt, zogen fort; weder Licht noch Schatten der ihr nun entfremdeten Existenzen der Geliebten fiel mehr auf sie zurück. – Sie hatte die Erlaubniß nach Belieben im Schlosse oder auf dem Stifte zu weilen. –

Große schwere Thränen rollten über die bleichen gefurchten Wangen der Alten; es sah es ja Niemand, sie durfte schon weinen. Da öffnete sich leise die Thüre ihres Stübchens – es war Graf Christian, der eintrat.

»Liebe Emerenzia,« sagte er kurz aufathmend, eilig, in gepreßtem Tone, »Sie wissen, wie ich voraussetzen muß, Alles was hier im Hause, was in Helenens Seele sich zuträgt – ich brauche mich nicht deutlicher zu erklären. Es soll eine große Unbesonnenheit, ein Unrecht begangen werden – Sie müssen das hindern, oder vielmehr mir helfen es zu hintertreiben. Meines seligen Vaters Zimmer grenzt an das meiner Schwester; – ich bitte Sie dort insgeheim diese Nacht zuzubringen – die Fenster gehen nach dem Garten wie Sie wissen – auch diesen Abend ersuche ich Sie, sich dort oder bei der Comtesse aufzuhalten. Sie verstehen mich doch genau? Helene darf nicht sich selbst überlassen bleiben, nicht unbeachtet – und man kann sie doch nicht bewachen lassen.«

Der Graf trocknete sich heftig mit dem Schnupftuch die Stirn, sie war mit Schweiß überdeckt, trotz der Kälte im Zimmer.

»O weh! also hatte mein banges Herz richtig geahnt, was uns bedroht!« sagte die Nordermule zu sich selbst. Sie war schon aufgestanden, um dem erhaltenen Befehl augenblicklich Folge zu leisten; »aber,« bemerkte sie zaghaft zögernd, »wird der Comtesse mein ungewohnter Aufenthalt in den Gemächern des seligen Herrn Grafen nicht sehr auffallend sein? oder wird sie vielleicht auf meine Gegenwart gar keine Rücksicht nehmen? ich wäre ja nicht einmal im Stande sie zurückzuhalten.« – Glühendroth wurde Christian, er biß sich in die Lippen, »im Nothfall rufen – schreien Sie! ich – begreifen Sie denn nicht? – ich werde angezogen in meinem Zimmer wachen. Muß man,« setzte er ungeduldig mit dem Fuß stampfend hinzu, »einer Person, welche ein Viertel Säculum im Hause, mit schlagender Derbheit auch das Zarteste breit treten, damit sie es erfasse und ihr wie einem Neuling, wie einem unserer ausländischen Diener befehlen? – Sie werden das sich im Augenblick als passend und nothwendig Herausstellende thun, Jungfrau Nordermule,« setzte er stolz den Kopf zurückwerfend, mit dunkel aufblitzendem Auge sie durchbohrend hinzu, »oder – hätte ich mich geirrt? wüßte Die, welcher wir, mein Vater und ich, ehemals die Ehre unseres Hauses unbedingt anvertrauen durften, jetzt keinen Rath mehr zu finden, das Rechte zu thun? Hat Helenens Wahnsinn auch Sie so verblendet, daß Sie wie ein kleines Pensionsmädchen ihr beizustehen wähnen, indem Sie die bereits Taumelnde dem Abgrunde zustoßen, an dessen Rande sie steht? – Ist es möglich!« rief er plötzlich, auf's Leidenschaftlichste erregt zum Himmel aufblickend und die gefaltenen Hände schmerzhaft gegen die auffliegende Brust gedrückt, »auch hier habe ich geirrt!«

»O nein, nein, niemals!« rief in die Knie sinkend und seinen Rock ergreifend die Nordermule, »um Gotteswillen kein Mißtrauen! es würde mir das Leben kosten! Alles, Alles, was Sie wünschen, soll geschehen, wüßte ich nur genau, wie das Rechte erreichen; ach, Graf Christian, ich bin nicht mehr stark und jung wie in jenen Tagen, der Körper altert, bleibt auch das Herz jung!«

Lebhaft riß Christian die Bebende auf, alle Muskeln seines edlen Gesichtes vibrirten, tief beschämt führte er sie sorgsam zu einem Sessel; er sprach kein Wort. Sie sah zu ihm auf, wie ein sterbender Katholik zu seinem Schutzpatron, der sie vertreten soll vor dem ewigen Richter. Endlich, als sie nicht mehr so convulsivisch schluchzte, nahm er, in den gewohnten etwas unsichern Ton zurückfallend, ihre Hand, »vergeben Sie,« sagte er, »ich habe Sie durch meine Heftigkeit sehr erschreckt! Ich war nicht darauf vorbereitet einer unserer Familie so ergebene Person« – das Wort Freundin brachte er nicht über die Lippen – »Erörterungen so schmerzhafter Art geben zu müssen.« Leise drückte er die ergriffene Hand, und Emerenzia blieb allein. Eine wunderbare Verklärung überzog die unschönen Züge des armen alten Mädchens; also hatte er doch wirklich einmal gewußt, was sie mit seiner Mutter ertragen, um seinetwillen! Seine Jugendgestalt schwebte ihrem innern Blicke vorüber. Dann sah sie die Stelle noch einmal an, wo er vor ihr gestanden, und die Stuhllehne, auf welcher seine Hand geruht, während sie da saß und weinte – und begab sich, fest entschlossen, Alles zu Erhaltung der Ehre und Wohlfahrt der Familie zu thun, in das Zimmer des verstorbenen Grafen Thugge.

Vor Helenen stand in der nämlichen Stunde der gute isländische Pfarrherr, hielt begütigend, wie ein mildrichtender Vater, ihre kleine Hand in seinen beiden großen und endete eine lange tröstende Rede mit diesen Worten:

»Glauben Sie mir, theure Comtesse, jede willkürliche Abweichung von den uns vorgezeichneten Lebenswegen, obschon sie in der Zulassung des Höchsten liegt, denn sonst könnte sie ja nicht geschehen, bringt neues Leid, statt des gehofften Erdenglücks. Der gewaltsam Handelnde erzeugt neue Gewaltsamkeit. Ist es Ihnen möglich, so greifen Sie nicht jetzt, nicht in einem Augenblicke in Ihr Geschick, in welchem alle Tiefen Ihrer Seele vom Schmerz aufgewühlt sind!«

»Ach, würdiger Herr,« erwiederte Helene, »Sie sind über all diesen täglich sich erneuenden Quälereien hinaus, Sie leben Ihr einfaches, gottergebenes Dasein so still für sich hin, wie können Sie die Pein all der civilisirten Nadelstiche mir nachempfinden, wie ich unter den Meinen, wie in der Gesellschaft ich sie erdulde.«

»Und doch lehrt mich nicht nur die Religion, welche für alles Menschenweh dem aufrichtig das Gute Wollenden die Gefühlsfäden verleiht, das fremde Leid zu erkennen; auch die Geschichte meiner Väter mahnt mich zum Verständniß des meiner Stütze Bedürfenden. – Zwar haben wir Geistlichen auf Island keine blutige Fehden mehr, wie im 16. Jahrhundert, aber wie um die Mitte desselben Bischof Arensen mit seinen beiden Söhnen den Tod auf dem Schaffot dem Versprechen vorzog, das man ihm abverlangte: sich nicht an seinen Feinden zu rächen, wie er in starrer Unbeugsamkeit, ohne ein Wort der Selbstvertheidigung lieber als Majestäts-Verbrecher das Todesurtheil über sich aussprechen ließ, um nur das stolze Herz nicht demüthigen zu müssen, im Zugeständniß seiner Unbill, so denkt noch jeder einzelne Bewohner unserer Insel. Je rauher das Clima, je schneidend schärfer der Wille, je karger die Gaben des erkaltenden Bodens, je eigensinniger der Mensch in jedem ihn und die Seinen betreffenden Entschluß! Wäre ich sonst wohl hier? – Ach der Isländer härtet seine Seele im Frost, wie das Eisen im Feuer. So kenne ich denn gar wohl die Tiefen der übermüthigen Menschenbrust, die weder in Haß noch in Liebe das richtige Maß zu halten im Stande. Mein Heiland und Herr! Seit mehr denn zweihundert Jahren schon liest der isländische Bauer die Bibel in seiner eigenen Muttersprache, und immer noch erweicht ihm Gottes mildes Wort nicht das verstockte Herz, – sehen Sie, lieb Fröken, so weiß ich denn auch um die Gewalt der Leidenschaft, hab' auch ich selber sie nie empfunden – sie spiegelt sich auf gleiche Art in der Nation, wie im Individuum: von Leidenschaft seid Ihr Alle bewegt! –«

»So soll ich den Mann, der mir unbedingt vertraut, einer Grille meiner Brüder wegen verlassen? – Ihn aufgeben in einem Augenblick, wo der Adel überall wie ein veraltetes, menschliches Institut in sich zusammenbricht, und zurücksinkt in die eigene Unbedeutenheit – wo er allmälig nur zum Hofgewand sich gestaltet, das man ab- und anlegt nach Belieben, eben da soll ich Thorald aufgeben? Ihn den Liebenden? Ihn der mich beglückt? Habe ich denn zur Aufrechthaltung des alten adeligen Stammes, wenn sie denn wirklich als etwas Wünschenswerthes gelten soll, nicht Brüder und Schwestern –«

»Aufgeben? nein! aber warten! die Gestaltung dieser gährenden Volksmassen in ihren immer schnelleren Bewegungen abwarten, die Zeit arbeitet an einer Krisis, –«

»Abwarten! – Jürgenssen! Sie haben wohl niemals von dem Geschick gehört, das die Liebe den Unglückseligen unseres Hauses zu bereiten pflegt. O es ist grauenhaft, mit welcher vornehmlächelnden Heiterkeit wir ganz unmerklich Herzen zu brechen, keimende Hoffnungen zu knicken verstehen! Sie haben wohl niemals von meiner verstorbenen Tante Ulrike gehört?«

»O wohl und oft!«

»Und – auch von meinem Vater?«

»Fast mehr als Sie, liebe Comtesse, von ihm wissen mögen!«

»Und Sie muthen dennoch mir zu, einem Ausspruch mich zu unterwerfen, der solche Opfer seinem lächerlichen Götzen bringt, oder eine äußere Hülfe zu hoffen?« –

»O, liebes Fröken,« sagte der schon bei den ersten Worten, welche das Leben ihrer Vorgänger im Leide berührten, in sich und seine Erinnerungen versunkene Kind, »welch ein edles Herz hatte Ihr Vater! Als er auf unsere Insel kam, war ich eben erst von Norwegen herüber gekommen, wo ich zu Drontheim auf der Schule gewesen. Ich war fast noch ein Knabe. Aber immer wieder und wieder erzählten sich die Männer auf der Insel von dem traurigen und liebreichen Manne, der einer Rose wegen nach Island gereis't und –«

»Mein Vater auf Island? Sie träumen lieber Kund!« – Der gute Pfarrer schüttelte sanft das Haupt: »sollte man Sie, theures Fröken, um das Erkennen der Trefflichkeit Ihres Herrn Vaters gebracht haben? Das ist ja kaum möglich! es ist ja so herrlich dieses Bild seines dortigen Aufenthaltes, es ist ja so recht wie ein von der Gnade des Herrn uns hingestelltes leuchtendes Sternbild, das den Erdenweg uns erleichtert, indem es an den Himmel uns erinnert!«

Helene sah ihn mit bittenden Blicken an.

Der gute Alte setzte sich, wie immer etwas ängstlich ungeschickt »in den prächtigen Zimmern« mit dem Rücken gegen die Thür, welche Helenens Stube mit der des verstorbenen Grafen verband.

»Es war im Frühling des Jahrs 1763« – ein leiser Seufzer drang aus dem Nebenzimmer an Helenens Ohr – ein Schauer überflog ihre Glieder, sie wickelte sich fester in ihrem Shawl, »als ein ältlicher Herr,« fuhr der Pfarrer fort, »der sich insbesondere mit Naturwissenschaften befaßte, zu uns herüber kam – hier im Lande mag es wohl schon Sommer gewesen sein, denn er war kurze Zeit vor dem Johannisfeste; – über die Eilande Engey und Vidöe, wo sonst das große Mönchskloster lag – das jetzt ein königlicher Hof geworden, des Eiderdaunenverkaufs wegen – war der fremde Herr nach Reikiawik gekommen, das damals nur ein elendes Dorf von wenig Häusern war. Nach dem Kloster auf Vidöe war er gegangen, um eine Blume zu suchen, eine Rankenrose, sagte man, welche in anderen Ländern eine große Seltenheit sein soll, bei uns aber dem Hochgebirge wild entsprießt, wie den Gletschern in der Schweiz die Alpenrose. Ehemals hatte die Rose im Mönchskloster fast das ganze dem Brüderhause anhangende Kirchlein umwoben, nun seitdem ihre Pfleger vertrieben und ausgestorben, war sie verkommen, wie das ganze Gärtlein; keine Spur war dort mehr von ihr zu finden. An der so eifrig gesuchten Rose aber hing des Wandrers ganzes Herz, ihretwegen, sagte er, habe er die Heimath verlassen, er bedürfe sie, um sie in ein großes Buch zu legen, und die Beschreibung derselben einem botanischen Werke einzuverleiben, an welchem er arbeitete. Es müßten, meinten die isländer Häuerlinge, dem guten blassen Herrn, der immer so ernst und trübe vor sich hinsähe, daheim viel traurige Prüfungen auferlegt worden sein, die ihn so recht gerade zu in das Herz getroffen, daß er an so kleinen Dingen Trost zu suchen in die Fremde ziehe! Er wollte von uns aus nach Rangavallesyssel, wo er im Hochlande die Rose zu finden sicher war« – der Seufzer in der Nebenstube wiederholte sich, ein beklommenes, schweres Athmen ward in der Stille, welche nur Kunds milde Stimme belebte, deutlich hörbar. Rasch sprang Helene auf und öffnete die Thüre hinter dem durchaus arglosen Kund: die Nordermule saß in des Grafen Zimmer an der Wand in der nächsten Nähe desselben, jedes seiner Worte mußte dort ihr vernehmlich gewesen sein.

Einen Augenblick maß des Mädchens glühender Blick Beide – »ich bin wohl hier in meinen Zimmern bewacht?« fragte sie sehr ernst, dann setzte sie scherzend hinzu: »Du kannst ruhig zu Bette gehen Emerenzia, wenn Du es nicht vorziehst unseres lieben Pfarrers Erzählung mit anzuhören, ich entfliehe Euch nicht! denn – Thorald hat nicht gewollt! das kannst Du denen sagen, welche Dich hierher postirt,« setzte sie mit leicht bebender Lippe hinzu, indem sie fortgesetzt schärfer und richtender der armen Nordermule in das erbleichende Antlitz schaute; »aber nun, lieb Väterchen, fahrt fort in Eurer seltsamen Geschichte der Wunderrose, die nur auf Schnee und Eis erblüht!«

»Ach,« sagte die Nordermule, »Alles, was der hochwürdige Herr erzählt hat, so fabel- oder mährchenhaft es klingt, ist buchstäblich wahr! Ja, Graf Thugge's Herz war zum Brechen voll und schwer, als er fortzog in die nordischen Lande. Lange Jahre schon hatte er in der Botanik und im Besitz irgend einer seltnen Pflanze, von welcher in ganz Dänemark kein zweites Exemplar sich fand, die einzige Erheiterung seiner trüben Tage gesucht. Die Frau Gräfin brachte immer längere Zeit, ja drei Viertel des Jahrs bei ihren Freunden in Copenhagen zu, der arme Herr blieb ganz allein mit uns auf dem Schlosse; Graf Christian war in Bauerntracht entflohen und lebte in Jütland, die beiden anderen Junker in entfernten Schulen; ich war abwechselnd hier bei den Kindern, oder bei der Comtesse Ulrike. Wenn er nun die übergroße Einsamkeit seines Lebens, (denn allen Umgang mit den Gutsnachbarn mied er), nicht länger zu tragen vermochte, machte der Graf Reisen, nach Versailles, nach England, und öfterer noch nach Holland, um seltne Gewächse zu sehen und für sein Herbarium zu kaufen. In der Pflanzenwelt, sagte er, ist Stille und Frieden, sie verblühen und verwelken sanft! So schritt er leisen Schrittes zwischen den Wiesen-Blumen und unter den Riesenbäumen des Parks hin, er liebte sie und betrachtete sie wie Verwandte; keinen Stamm durfte man fällen, keinen Zweig knicken, keine Blüthe stören durch Berührung! Mit den Sträuchern und Bäumen sprach er auch immer, weit seltner mit uns! Im Winter trug er sich die Scherben voll Blüthen in's Zimmer, war auch viel im Gewächshaus und spielte oft halbe Nächte hindurch auf der Geige; dann mochten ihn wohl frohe Erinnerungen umschweben, man sah ihn zuweilen mit der Violine in der Hand vor den großen Saalspiegeln sich rhythmisch bewegen, fast wie auf Schloß Steinburg die Comtesse, aber nur mit fest geschlossenen Augen. –

Weil das Alles Jahre lang immer sich erneuete, waren wir an sein stilles Walten gewöhnt und suchten in solchen Augenblicken nur die kleinen Kinder ihm fern zu halten, daß keines ihn störe. – Immer größer aber wurden seine Reisen, und führten ihn immer weiter hinweg. Nun war es um die Zeit, daß wir zuerst an einen Versuch dachten, die Comtesse hierher zu bringen, um dem Arzt näher zu sein, als der Graf gerade einen Theil seiner Fels-Flora ordnete, deren Herbarium in Steinburg lag. Da fehlte denn in der Reihe der wildwachsenden Rosen eine hochnordische Alpenpflanze, welche alle Kälte überdauert und auf das Gletschermeer ihre Blüthen wirft; Tag und Nacht dachte unser Graf nur an sie, und beschloß endlich mit einem der Frühlingsschiffe nach Island zu gehen, um sie zu holen.

Ich weiß nicht wie es zuging, daß wir gerade über diese Reise so ungewöhnlich viel redeten, die weite Entfernung, das rauhe Clima machten uns besorgt – es hat wohl so kommen sollen, nach des Allmächtigen Willen! – Kurz, wir vergaßen uns so weit, sogar in der stets tief in ihren eigenen Gedanken versunkenen Ulrike Gegenwart von des Grafen Absicht zu sprechen – plötzlich horcht sie auf! ihr Auge wird blau und strahlend, die Sehkraft desselben concentrirt sich in der Pupille, jeder Bewegung mächtig, wendet sich ihr Antlitz uns zu. »Nach Island?« fragt sie, »wer will nach Island?« – Wir erzählen ihr, glauben aber, daß sie nicht auf unsere Rede achten wird – aufmerksam, ohne einen Laut zu verlieren, lauscht sie unserer Antwort, dann richtet sie plötzlich sich auf und steht vor uns. »Meinen Bruder! ich will meinen Bruder sprechen,« sagt sie, fest und vollkommen ihrer selbst bewußt. Welch ein Anblick! Diese tief verhüllte Herzensjugend, die so plötzlich ihre Decke durchbrach, und vergeistigend die längst verschrumpften Züge der Greisin durchleuchtete! Ihre gekrümmte, vom Alter schon klein gewordene Gestalt streckte sich, uns Alle ergriff eine unsägliche Ehrfurcht, denn es war, als ob Gott zu uns spräche aus dieser mit einem Mal sich erfrischenden Vergänglichkeit – sie wurde beinahe schön wie in ihrer Jugend, durch das Erwachen eines himmlischen Ausdruckes ihres Gesichts – »Ich will meinen Bruder sprechen, meinen Bruder!« wiederholte sie immer von neuem.

Ein Reitknecht warf sich auf's Pferd und eilte zum Herrn Grafen, dem er unterwegs schon begegnete, (des Herbariums halber hatte dieser nach Steinburg gewollt), und Hans gab ihm die Nachricht, daß die Comtesse ganz zusammenhängend gesprochen, und dringend nach ihm verlangt habe.

»Das ist der nahende Tod!« rief der Erschrockene, »sie stirbt!« Rasch sprang er aus dem Wagen, warf sich auf des Reitknechts Pferd, und sprengte in rasendem Galopp zu uns herüber.

Allein es war nicht die Hand des Todes, nur die der Liebe, welche das Herz der Kranken berührt! – Sie erkannte ihn sogleich; »Bruder,« sagte sie, »die Frauen sagen mir, daß Du nach Island reisen willst« – »ja,« erwiederte der Staunende, sie wie ein Wunder anstarrend – »ja Ulrike, ich habe dort ein Geschäft, und will morgen schon hin.«

»In der Sundlendinga Fiordung,« fuhr sie mit immer gleicher Besonnenheit fort, »mußt Du nach dem Rangavallesyssel fragen, zwischen den Apa- und Huitaae-Seen geht der Weg – da liegt Skalholt, und etwas höher hinauf das Pfarrhaus; drinnen wohnt ein sehr alter Mann, der Prediger einer weit an den Bergen hin zerstreuten Gemeine, sie zieht sich bis zu dem Markarfiorden hin, da mußt Du nach Johannes Thorson fragen, und in seine Wohnung gehen. Frage nur recht genau, sie werden Dich gern berichten; da findest Du einen alten Mann, alt und grau wie ich, mit hellen blauen Augen, ach, du wirst ihn gleich erkennen, wenn du ihn von Ulrike Gejer gegrüßt! Sage ihm, sie habe nie seiner Liebe vergessen, und nie einem Andern die Hand gereicht, nie sei sie wieder fröhlich geworden, nie habe sie wieder gelacht; Tag und Nacht, Wochen, Monate, Jahre um Jahre, das ganze lange Leben hindurch habe sie nur seiner gedacht – immer – nie weiter gedacht – immer nur sein, sein bis zum Tode!«

Als sie diese Worte gesagt, vermochte sie nichts mehr hinzuzufügen, ihre Kraft war gebrochen; sie sank zusammen und wir trugen sie hinaus auf ihr Lager. Sie blieb still wie schlafend liegen, noch viele folgende Tage hindurch; dann stand sie auf, fiel aber bald wieder in ihre alte träumerische Geistesabwesenheit zurück, und sprach nicht mehr. – Der Graf reis'te am nächsten Morgen ab nach Island.«

Mit sanfter Aufmerksamkeit hatte Kund der Nordermule unerwarteten Eingriff in seine Erzählung hingenommen, mit wachsender Theilnahme, und immer gespannter war er ihren Worten gefolgt.

»Ja! so war es!« sagte er endlich, »gerade so erfuhren wir nach und nach aus des Grafen Munde alle Einzelnheiten, die wir gar nicht ahneten. Kaum hatte er unter unserer Leitung dem Rangavallesyssel sich genähert, so fiel ihm auf, wie alle Pfade und Stege auf dem Gebirge rein gehalten, und mit Wahrzeichen versehen, daß der Bergsteigende die Richtung nicht verliere und nicht versinke in um das Frühjahr von der Felswand sich lösenden weichen Schnee, oder begraben werde in den leicht überdeckten Eisspalten. Die Bewohner des Syssels wären reinlicher und besser gekleidet, meinte er, und ihn freute, wie die Kinder, denen wir begegneten, alle gern Bericht gaben von der Bergesrose, und sich erboten, sie zu suchen, falls sie schon erblüht, sonst aber den Strauch mit den Wurzeln dem fremden Herrn zu bringen.

Unter uns dachte Keiner an diesen großen Unterschied, welchen die Gemeine der seltnen Sanftmuth und Geisteskraft ihres Predigers zu danken hatte, welcher seit fast einem Menschenalter, ohne Weib und eignes Kind, nur seinem Kirchspiel und dem Wohl seiner Pfarrkinder lebte. Nun es der dänische Herr bemerkte, fiel es plötzlich uns Allen auf.

Des guten Johannes Wohnung war ganz aus grau und rother Lava erbaut; um dieselbe her lagen, da sie sehr klein war, noch mehrere ebenfalls einstöckige Wirthschaftsgebäude zur Stallung des Viehs, zu Schlafkammern des Gesindes und zu Aufbewahrung der Wintervorräthe bestimmt; alle waren, wie das Sitte bei uns, roth angestrichen und mit grünendem Rasen belegt. Dem Grafen schauderte vor der anscheinenden Aermlichkeit und Oede dieses Aufenthalts, doch war alles, was er sah, auffallend gut gehalten und glänzend rein: kein Fensterladen gebrochen, kein Mist oder Unrath in Winkeln aufgehäuft, kein vernachlässigtes, umherliegendes Ackergeräth zu sehen, Alles war sauber und geordnet.

Als wir nun einsprachen, herrschte drinnen in der kleinen Stube die nämliche stille Reinlichkeit; es war, als sei es immer Sonntag drinnen: das Zimmerchen war weiß getüncht, auf saubern Regalen standen lange Reihen dänischer Bücher, unter Glas und Rahmen hingen an der Wand sorgfältig getrocknete Blumensträuße aus Dänemark, wie hier die Wiese sie beut. Neben dem wohleingerichteten Schreibtisch, dem Feuer zunächst, stand ein Körbchen, drinnen lag ein krankes Lamm, das der Alte pflegte. Der Pfarrherr war nicht im Augenblicke daheim, die Magd brachte uns einen Morgenimbiß, trockne Fische, gekochte Eier, Käse und Blanda – und die Burschen, die aus Reikiawik uns hergeleitet, erzählten, wie der Pfarrer sie alle gelehrt, die Kartoffeln besser zu bauen, wie er eigenhändig ihre Gärtchen angelegt habe, ihre Arbeiter geleitet, ihre Häuser gerichtet unter dem Felsendach; immer war es der Pfarrer, von welchem alles Gute kam, was sie thaten oder hatten, – mit thränendem Blick gedachten die alte Magd und der Knecht seines hohen Alters, und der wenigen Ruhe, die er sich gönne! Was sollte wohl aus ihnen werden, wenn sie ihn nun verlören? Und er war beinahe an die Achtzig! Auch dem Grafen wurden die Augen feucht; da hörte man Schritte und Jubelgrüße der Kinder draußen; es war der gute Prediger Johannes, der heimkam aus dem Gebirg, wo er Kranke besucht.

Ein durch die Jahre, wie Janfru Emerenzia von dem Fröken Ulrike es bemerkte, tiefgekrümmter und durch die Grabesnähe schmächtig gewordener Greis erschien an der Schwelle, mit einem Haupt voll schneeweißer Locken, die zu beiden Seiten des ganz schmalen Gesichtchens auf die Schultern herabfielen; sein Auge war noch hell und scharf, und der Schnitt der Züge, wenn man sie nur erst recht angesehen, und über alle Narben und Zeichen, welche Wetter-Unbill, Alter und Gram ihnen aufgeprägt, hinaus war, immer noch auffallend edel und schön. Wie eine Glocke tief und fromm klang seine milde Stimme; es war, als läge schon im Ton derselben eine Beschwichtigung für den Leidenden, ihm seine Noth Klagenden. Ueber dem geistlichen Gewande trug er einen schwarzen Mantel, der um den Leib mit einem Strick von Ziegenhaar gegürtet war, daß der Orcan ihn nicht an demselben zu erfassen und vom Felsrand hinab in die Tiefe zu schleudern vermöge; auf dem Kopf hatte er eine Pelzkappe, die er beim Eintritt nebst seinem Alpenstock der alten Magd übergab.

Freundlich und würdig begrüßte er den Fremden, als er ihn genauer in's Auge faßte, überflog ein leichtes Zittern die ganze Erscheinung; er fuhr mit der bebenden Hand über die Stirn – als müßte er einen Gedanken verscheuchen, doch setzte er sich schnell gefaßt zu uns und entschuldigte, ihn herzlich bewillkommnend, bei seinem Gast sein spätes Erscheinen. Graf Thugge erzählte dagegen ihm nun von seinem botanischen Reisezweck und seiner Absicht, die Geiser und das Hochgebirg aufzusuchen, und der Alte gab mit umsichtiger Ortskenntniß ihm Bescheid. Wir anderen ihn Geleitenden hatten uns in einen entfernten Winkel des Gemachs zurückgezogen, die Unterredung der beiden Männer nicht zu stören; von dem, was sie betreffen werde, hatten wir keine Ahnung; der Graf aber schien unsrer Gegenwart ganz zu vergessen. Nachdem er dem Pfarrer für die ihm gegebene Auskunft gedankt, sagte er ihm, daß er noch einen Auftrag, einen Gruß ihm zu überbringen versprochen, und nannte des Frökens Namen. Als der Schall dieses Wortes sein Ohr traf, schrak der Pfarrer zusammen, als habe ein elektrischer Schlag ihn berührt – dann aber vergeistigte sich die ganze zitternde Greisesgestalt, einen Augenblick ward sie strahlend schön, durch einen fast überirdischen Ausdruck; Johannes stand mit himmelaufwärts gerichtetem Antlitz wie ein Prophet vor uns, der zu seinem Gotte spricht, aller Erdengram war von ihm abgefallen; es war der heiße Dank der Seele, der im preisenden Gebet zum Ewigen sich erhob für den ihm endlich gewordenen, ein Leben lang ersehnten Augenblick.

Graf Thugge vollendete seinen Bericht; ach, es blieb unmöglich, dem Alten die Trauerkunde von Ulrikens Geisteszustande zu bergen! Demüthig mit vor den zitternden Lippen gefaltenen Händen nahm er schweigend sie hin; es lag etwas Unantastbares in der höchsten Freude, die ihm geworden, nichts vermochte sie ganz zu zerstören; in frommer Ergebung hörte er dem Grafen zu. – »Sie sind Thugge! mein einstiger Schüler,« sagte er endlich, »der hoffnungsvolle und doch so traurige Knabe, den ich nur kurze Zeit unterrichtete und dann verlor! – wie dachten wir Beide so oft auch Ihrer! Auch diese Freude, Sie wiederzusehen, hat mir der Herr geschenkt, o was sind alle Leiden, die uns Menschenhand auferlegt, gegen seine allerbarmende Gnade! –«

Er stand auf und näherte sich den mit Papier verklebten Fenstern, um in hellerem Licht den Grafen besser zu sehen; es war als tränke er Ausdruck und Form seiner Züge, als zöge er sie mit aller Seelenkraft in sein Gemüth, um nur ja nie sie zu vergessen! – Endlich richtete er gefaßter den klaren Blick auf ihn: »Sagen Sie ihr,« sprach er mit fester, sonorer Stimme, »daß auch ich keine Andre geliebt – ja nicht einmal ein andres Weib bemerkt auf der ganzen Welt! Daß auch ich täglich immer und immer ihrer gedacht: daß Schmerz und Seligkeit meiner Liebe zu ihr niemals geendet! meine Pfarre hat mich gerettet!« – Unfähig weiter zu reden, drückte er dem Grafen die Hand, wandte sich ab und trat in eine kleine Kammer, in welcher er schlief; die Thüre zog er leise hinter sich zu. –

Uns aber winkte der Graf und wir gingen ernst, wortlos, wie aus der Kirche, hinaus, schwangen uns auf unsere vor der Thüre angebundenen Pferde und ritten schweigend dem Hecla zu. Draußen schien es Frühling geworden, eine warme belebende Sonne vergoldete den fernen Gebirgsschnee, und ließ die Gletscherspalten im reinsten Saphirblau erscheinen, die Schneeammer sang, und die Kinder liefen uns mit Alpenblüthen entgegen, die sie während unseres Aufenthaltes in der Pfarre gesucht.

Der Graf kehrte nicht nach Rangavallesyssel zurück; allein er weilte noch mehrere Tage in der Sundlendinga Fiordung, und sprach den Stiftsamtmann zu Reikiawik, bei welchem er eine große Geldsumme niederlegte für die Gemeine von Skalholt, um jedem Wunsch des würdigen Pfarrers für dieselbe, welcher bisher durch Unzulänglichkeit der Mittel unerfüllt geblieben, zu willfahren.

Johannes errichtete im nächsten Jahr sein kleines Hospital und verband mit demselben, wie er Jahre lang gewünscht, eine Apotheke. – Wenn Ihr einmal nach Island kommt, lieb Fröken, will ich Euch das Granit- und Krystall-Denkmal zeigen, das die Gemeine dem guten dänischen Grafen erbauet; – die Leute wissen seinen Namen nicht, auch der Stiftsamtmann weiß ihn nicht, allein wenn der Johannistag kommt und die Schneeammer singt, eilen alle Einwohner von Skalholt, dasselbe zu bekränzen, und finden es oft schon von tausend blühenden Rankenrosen dicht umwoben.«

Am späten Abende versuchte Alslev noch einmal in einer langen Unterredung seiner jungen Freundin tief erregtes Gemüth zu beschwichtigen. Er fand sie sehr schmerzlich bewegt: – das Bild eines zu lebenslanger Einsamkeit verdammten Herzens stand unaufhörlich ihrem inneren Blicke gegenüber; ein unsägliches Grauen vor dem Scheiden aus Thoralds unmittelbarer Nähe, und vor der durch eigenes Leid nie zu erweichenden Hartnäckigkeit des Stammes, dem sie angehörte, hatte sich ihrer bemächtigt; ach, nur zu deutlich empfand sie im eigenen Busen dessen unbeugsamen Eigensinn!

Alslev bewies ihr, daß jeder Versuch vergeblich sein würde, die von ihrer Großtante testamentarisch dem jüngsten Fräulein des älteren Familienzweiges hinterlassene Dot, anders, als im Augenblick ihrer öffentlichen Verlobung in Anspruch zu nehmen, und daß diese nie zuzugeben Graf Christian jetzt fest entschlossen. Auf dem Rechtswege einer gerichtlichen Klage aber könne nur dann etwas erreicht werden, wenn Thorald eine Frau zu ernähren im Stande, der Unannehmlichkeit des öffentlichen Verfahrens und des Verstoßes gegen altes Herkommen und gewohnte Sitte gar nicht zu gedenken! – Er vertröstete sie auf den Zeitpunkt, in welchem Thorald durch die zu hoffende Professor-Stelle an der neu errichteten Akademie, um ihre Hand beim Bruder anzuhalten befähigt sein werde, weil irgend ein unberechenbarer äußerer Umstand sich ihr günstig gestalten, oder auf Christians störrischen Sinn Einfluß gewinnen könne! Kjöbenhavn, meinte er, sei groß genug, ihr, welche kaum ein paar Wochen alljährlich in seinen höheren Kreisen zugebracht, den Unterschied zwischen diesen und der erwählten bürgerlichen Lebensstellung nicht allzu schmerzlich fühlbar zu machen, wenn es ihr nur glücke, die Zustimmung des nach Landesweise Vaterstelle an ihr Vertretenden zu gewinnen.

»Und,« fragte erbebend das Mädchen, »wie lange Zeit, theurer Alslev, kann es erfordern, bis Thorald jenen Punkt erreicht?«

»Wenn ihm jetzt gelingt, die Portraits der Königin Juliane Maria und des Prinzen Friedrich zu deren Zufriedenheit zu vollenden und diesem Auftrag noch einige andre bedeutende Bestellungen folgen, so zweifle ich kaum, daß er die offne Professur nicht bald erhalte, doch können allerdings noch zwei, drei Jahre vergehen, ehe er ein kleines Vermögen erworben.«

»Zwei, – drei Jahre! Alslev!«

»Helene! Sie sagen mir ja, Ihre Liebe sei ewig, werde das Leben überdauern!«

»Aber wir werden nicht immer jung bleiben, Alslev, und die Zeit ist eine so furchtbare Macht, sie kann eben so gut Tod und Verzweiflung uns bringen,« – wieder flog ihrem Geiste das Geschick der wahnsinnig gewordenen Tante vorüber! Alslev schüttelte das ernste Haupt; ihm erschien Alles gering neben der Kraft des eignen unbeugsamen Willens. »Wer etwas erreichen will, muß warten können,« sagte er stolz.

Bitterlich weinte Helene. Ach, noch vor wenig Stunden hatte ihr das Loos der Liebenden so sanfte, süße Thränen entlockt! damals hatte nur die Poesie eines alle Qual und Lust, Jugend, Alter, jeden Wechsel des Lebens überdauernden Gefühls sie erfaßt; jetzt sah sie nicht mehr die im Geist einander begegnenden bejahrten Liebenden, denen die eigne Treue zum Bürgen einer die schwere Erdenlast durchwachsenden Hoffnung geworden, sie sah nur die furchtbare, nackte Realität des Leids! Das einsame Todtenbett der gewaltsam Getrennten, zwischen denen sich das weite Meer des ganzen wogenden Daseins ausgedehnt, und welche nicht einmal die letzte Stunde desselben wiedervereinte! –

Thoralds schriftliche Versicherung, daß er ihr nach Kiögge folgen und ganz gewiß von dort Mittel finden werde, sie im Stift zu sehen, vermochte nicht die tiefe, fast krankhafte Niedergeschlagenheit ihres Gemüthes zu heben. – Trostlos warf sie sich in den Wagen, trostlos empfing sie im Vorüberrollen ihres harrenden Freundes Abschiedsgruß. – Trostlos erreichte sie bei einbrechendem Abend das Ziel ihrer Reise.

Eine Meile abwärts von der ehemaligen kleinen Festung Kiögge, welche längst im Lauf der Zeiten ihre mittelalterlichen Ringmauern, ihre Gräben und Wälle eingebüßt, liegt in lieblichster Umgebung, von den herrlichsten Buchenhainen umgürtet, das große adlige Schloß und Damenstift Wallöe. Weiter zurück, nach der Seeseite zu, zieht sich das Dörfchen hin mit seiner schönen Kirche; ungemein fruchtbar und anmuthig ist die Gegend.

Das Schloß selbst, im Geschmack der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts erbauet, scheint eine Art deutsch-gothische Uebertragung zum Zopfstyl, vielleicht ist es ein wenig zu überladen im architektonischen Schmuck; die zwei breiten Wassergräben mit Zugbrücken, die beiden hohen Thürme an seinen Flanken, der eine rund, der andre viereckig, deren Kupferdächer in der Sonne glitzern und glänzen, geben der schönen Façade ein ehrenfestes, burgartiges Ansehen. Die sehr solide Unterlage des Baues besteht aus großen grauen Sandsteinquadern; der obere Theil prangte in den Tagen, von welchen wir erzählen, noch in seiner ursprünglichen rothen Backsteinfarbe; unter jeder Fensterflucht ziehen sich breite, ebenfalls graue, Sandsteingurten hin, vom selben Material ist die reiche Steinmetzenarbeit der Fenstergiebel; zwischen diesen und wo es irgend sonst noch ausführbar, sind graue rosettenartige Verzierungen angebracht; höchst charakteristische Hautreliefsköpfe, die sonderbar dämonisch auf den Eintretenden herabschauen! Ueber dem Haupteingange prangt das ebenfalls in Stein gehauene riesige Wappen der Gründerin des Stiftes; es steht unter unmittelbarem Schutze der Königin.

Das Ganze macht, trotz des zwischen dem Ehrwürdigen und Barocken schwankenden Styls, einen ernsten Eindruck, durch Größe und Uebereinstimmung edler Proportionen.

Als der Wagen über die Brücke fuhr, schreckte Helene auf aus ihren Träumen; aber der Ausdruck stiller Abgeschlossenheit der Umgebung, die etwas feierliche Ehrbarkeit des alten Stiftsbedienten, der sie am Thor empfing, wie die in ihren Zimmern herrschende peinliche Ordnung berührte sie schmerzlich. Alles erinnerte sie an Begräbniß und Gefängniß, und die draußen in buntem Herbstschmuck wogende Waldnatur, mit all ihrem Drossel- und Finkenschlag, mit dem unsäglich lieblichen, allmäligen Stillwerden der eintretenden Dämmerung, reizten sie durch den Widerspruch mit ihrem Innern zu immer verzweifelnderer Stimmung.

Sie bewohnte das letzte Zimmer zur linken Hand eines ziemlich langen Ganges; um es zu erreichen, mußte sie an den jetzt noch leer stehenden Stuben ihrer Schwestern vorüber, das Vorzimmer, das ihnen gemeinschaftlich war, schloß eine Glasthüre; ließ Helene die ihres eigenen Gemachs offen, so blickte sie durch dieselbe auf den matt erhellten Corridor.

Nach einer etwas späteren Präsentation bei der alten sehr kränklichen Abatissin, entschuldigte sich Helene mit Kopfschmerz, entzog sich dem gemeinschaftlichen Abendmahl und eilte zurück in ihre Wohnung. Die neugierigen Fragen nach allen gesellschaftlichen Verhältnissen und den Hochzeitsfeierlichkeiten reizten ihre Nerven bis zum Unerträglichen.

Als sie den langen Gang durchschritt, gewahrte sie durch die Glasthüre im matten, nicht eigentlich klaren Mondenlicht in ihrem Vorzimmer eine Art Bewegung, – wie ein wehender Vorhang wogte etwas durchsichtig Weißes in demselben. Des Mädchens Charakter neigte weder zur Furcht noch eigentlicher Exaltation, – die momentane Ueberspannung all ihrer Kräfte war ihr selbst fühlbar; so blieb sie besonnen auf dem Gange stehen, ungefähr in der Mitte desselben, und schloß beide Augen mit der vorgelegten Hand. – Erst als sie ihr Herz ruhiger schlagen fühlte, öffnete sie dieselben, es war Alles still. – Wunderliche Einbildung! sagte sich Helene und setzte ihren Weg fort, – in demselben Augenblick erhob sich's wieder, die Bewegung mehrte sich, allein das nebelartige Wesen hatte zur Gestalt sich verdichtet, welche mit langem weißen Arm rückwärts zu deuten, ja zu drohen schien! Jetzt stürzte Helene in fliegendem Lauf auf dieselbe zu, »es hat sich Jemand eingeschlichen,« war ihr einziger Gedanke, Thoralds Briefe auf dem Schreibtisch ihre einzige Sorge. – – Die Figur wurde compact, – sie stand mit gläsernem, wasserblauen Blick und todtenbleichem Antlitz dicht hinter der Glasscheibe, – es war eine steinalte Frau in wunderlichem jugendlichen Aufputz, in weißem Kleid, eine blaßrosa Schleife in dem schneeweißen Haar, und die dünne weiße Hand winkte zurück! zurück! mit immer steigender, ängstlicher Hast: zurück!

Jesus! es sind der Tante Zimmer, die ich bewohne! durchblitzte es Helenens Gehirn, aufschreiend sank sie bewußtlos zu Boden.

Als sie zu sich kam, standen der alte Diener und die Kammerfrau, welche im Stift sie bediente, vor ihr, man hatte sie ohnmächtig im Corridor gefunden, aufgenommen, in ihre Stube getragen und in einen Fauteuil gesetzt, man sprach von lauter Hausmitteln, vom Arzt, der Apotheke und einem heftigen Blutandrang, – nach wenigen Secunden war ihr die volle Geisteskraft zurückgekehrt.

Sie bat Niemand weiter zu rufen, die Damen nicht an der Tafel zu stören, nahm geduldig den ihr gebotenen Thee, ließ gelassen sich zu Bette bringen. Die dienstgewohnte alte Margareth bestand darauf, im Vorzimmer zu wachen; auch das ließ die Comtesse ruhig geschehen.

Ein tiefes Besinnen hatte ihre ganze Seele erfaßt, »es war die Tante!« sagte sie sich selbst, »sie warnte; ich soll nicht elend sein wie sie. Abwärts, zurück winkte der lange schneeweiße Arm, der Finger deutete den Gang entlang. – Wohin? hinaus? der Treppe zu?« – Alles Grausen war dem Mädchen untergegangen im seltsam angestrengten Bemühen, die Absicht der ihr wohlwollenden Erscheinung zu verstehen, – die grübelnden Gedanken begannen einander zu drängen, sie wurden zu Bildern, die sich mischten und theilten, – zusammen- und wieder auseinander flossen, – wie eine anschlagende Glocke tönte es ihr im Ohr, leiser, endlos dazwischen fort, die Töne wurden Musik, – Gesang, – Schlaf.

– In das weit offene Schloßthor wallte ein Festzug in fremder, altmodiger Kleidung in den Saal, in welchem alle großen Feierlichkeiten des Hauses Statt zu finden pflegten, Helene kannte Niemanden von all den Versammelten; unter dem rothsammetnen Baldachin stand eine schöne Frau, vor ihr, den Rücken Helenen zugekehrt, kniete eine Dame in der Galatracht der Priorinnen des Stifts, – die Königin nahm die Insignien des Ordens und eine Pergamentrolle von einem Sammetkissen, das ein Cavalier hielt, – auf dem Kissen, auf den Sammetbehängen immer das Wappen der fürstlichen Gründerin und Beschirmerin des Stifts zahllos wiederholt; – »überall das Wappen der Königin!« dachte Helene, – »ja, an den Wänden, – über der Thüre des Refectoriums, die nach dem Gange führt, überall das Wappen,« – sie erwachte? – Hell und klar drang die Sonne durch den halbgeschlossenen Vorhang, – sie warf ihn zurück und sog mit langem genesenen Blick die Pracht der herbstlichen, rings ihr entgegen quellenden, bunten Fülle ein! »Der Mensch kann glücklich sein,« sagte sie, »auch ich will glücklich sein.«

Den ganzen Morgen blieb Helene in ihrem Zimmer eingeschlossen und schrieb. Die Nacht, der wirre, nur den unmittelbaren Schutz der Königin andeutende Traum, mochte er dem Zufall oder der ungeheuren geistigen Arbeit des gewaltsamen Nachsinnens sein Entstehen danken, hatte einen klaren, festen Entschluß in ihr gereift. Eine Ordensdame des königlichen Stifts Wallöe hatte den Rang einer hochadligen Erbtochter; – zu einer Vermählung nach freier Willkür bedurfte sie nur der Zustimmung ihrer Majestät! Helene war die erste Dame des Stifts Wallöe, welche in diesem Augenblick von jenem höchsten Anrecht Gebrauch zu machen beschloß und sie führte den Entschluß durch!

In der verwitweten Königin Juliane Marie Privatgemache, stand ihres Eintritts gewärtig und ihrer harrend ein junger, schöner Mann; die hochgerötheten Wangen und die fliegende Brust, deren convulsivisch-heftigen Herzschlag das Spitzen-Jabeau verrieth, bezeugten, daß die ehrfurchtsvoll-ruhige, fast hofmännische Haltung desselben, eine mühsam erzwungene! Er hielt ein paar Chagrinleder-Etuis in der Hand, welche kleine Wiederholungen zweier, auf der Staffelei am Fenster bereit gestellter Portraits der Königin und ihres erhabenen Sohnes Friedrich umschlossen. In einzelnen Pausen der sein Haupt durchjagenden Gedanken, blickte er mit Wohlgefallen auf die in herrlichen Goldrahmen prangenden Staffeleibilder, besonders auf das der Königin, – es war wirklich ein sehr gelungenes Portrait; französische Erinnerungen der damaligen Behandlungsweise schienen des Künstlers Hand geleitet zu haben, und gerade diesen Zügen war sie ungemein günstig; der Hang zur Intrigue, der in denselben fast kleinlich hervorstechend sich zeigte, war in anmuthige Schlauheit und feine Ironie übersetzt, der fast hinterlistig-scharfe Blick gewandt mit einer königlichen, stolzen Haltung gepaart, so daß er ohne hochmüthig zu erscheinen, durchdringende Klugheit aussprach, die sich der eigenen Kraft bewußt ist.

Kurz, es war dem Maler gelungen, durch eine sehr geistreiche Schmeichelei auf dennoch nicht unwahre Weise, die Eigenschaften der Seele hier so zu idealisiren, wie wohl andere Künstler bei äußeren Eigenschaften der Gestalt es zu thun pflegen.

Juliane trat, noch im Gespräch mit ihnen, von den Grafen Reventlow und Schimmelmann begleitet aus ihrem Cabinet. Des Letzteren Züge und ein kaum merkliches Zucken der linken Achsel verriethen, daß er dem Gegenstand der eben gehabten Unterredung keinen sonderlichen Werth beimesse; der Königin Gesicht dagegen sprach Aerger und Empfindlichkeit aus, die sie vergebens zu bemeistern strebte – keinen günstigern Augenblick hätte der Maler finden können, die Trefflichkeit seiner Auffassung zu beurkunden, als die, welche eben jetzt die Vergleichung des Originals und der Copie dem unbefangenen Beobachter bot.

»Aha, mein lieber Meister,« redete ihn sogleich die Königin an, »er bringt mir pünktlich das Gemälde und die kleinen Copien. Schelm!« fügte sie im Nähertreten hinzu, »hat Er in Frankreich so artig schmeicheln gelernt? Er hat uns da eine Physiognomie gegeben, die Er um zehn Jahr rückwärts errathen haben muß. Schon recht, man muß in effigie der Zeit das wieder abzugewinnen versuchen, wozu in der Realität ihr unerbittliches Gericht uns verdammt. Sehr brav! Schöner Atlas! ja, ja, das Portraitiren verstehen die Franzosen. Er ist auch in Italien gewesen?«

»Zwei Jahre, Majestät, in Rom und Florenz.«

»Hat Er mir nicht gesagt, seine Mutter sei arm, die Witwe eines Officianten – wo hat sie denn das Geld hergenommen, Ihn so lange im Auslande lernen zu lassen?«

»Sie hat entbehrt, Hoheit, vieles sich versagt, um mich reisen und studiren –«

»So? ich hoffe Er wird dankbar sein, ihr das vergelten, nicht zu den technischen Fortschritten in Seiner Kunst, Herzens-Demoralisation des Auslandes uns mitgebracht haben!«

»Ach, wollte der Himmel ich könnte ihr den so tief, so warm empfundenen Dank anders als in Worten zeigen – –«

»Was ist Ihm denn? Das wird Er ja nun können, wenn Er die Ihm versprochene Professur erhält – nun? Er kommt ja ganz in Agitation – –«

Ein Blick auf die Minister, welche das Gemälde betrachteten, wandte plötzlich die Aufmerksamkeit der Majestät von ihm ab, jenen zu. »Sie sind verdrießlich, Graf Schimmelmann, und sagen mir kein Wort, weder über mein Portrait noch meinen Protégé?«

»Leider haben wir dem anerkannt tüchtgen Maler desselben wehe thun müssen und gerade im Augenblicke, da Ew. Majestät ihm ein so gnädiges Wohlwollen geschenkt,« erwiederte etwas verlegen der Minister, »der Anblick der so gelungenen Aehnlichkeit –«

»Qu'est-ce donc, Comte?« fragte etwas zurücktretend Juliane Marie, »wir haben unsre Freude daran, heimischen Künstlern die Aufrechthaltung der neuen Akademie anvertrauen zu können und haben dem Manne die erledigte Professur zugesagt –«

Auch Thorald wich einige Schritte zurück; die Königin trat mit den beiden Grafen in eine Fenstervertiefung, das Gespräch ward mit halber Stimme fortgesetzt.

So ungemein vaterländisch nach Struensee's Tode alle Hofgesinnungen geworden, denn unter der Königin und Prinz Friedrichs Regentschaft war dem Ausländischen offene Fehde erklärt, so konnte dennoch Juliane Marie die französischen gewohnten Brocken in ihrer Wortstellung nicht wohl entbehren, und im Affect verfiel sie leicht in den damals fast in allen fürstlichen Häusern üblichen Ton – »c'est fort,« fuhr sie fort, »wenn nicht die Meine, welche Art Fürsprache soll denn hier wohl entscheiden? Giebts einmal wieder irgend einen lumpigen Deutschen oder Franzosen zu versorgen?«

»Bernstorff trägt die Schuld,« flüsterte ehrerbietig der Minister, »einem früheren Versprechen nach und auf ganz besondere Bitte eines Mannes, dem man verpflichtet, hat der alte Informator Henning Klint die Professur erhalten –«

»Der Prinz kennt meinen Wunsch, c'éstoit une chose arangée, Messieurs – Eynerssen hat mein Wort –«

»Der König hat diesen Morgen das Decret unterschrieben.«

Die Königin ward bis an die Stirne roth und stampfte mit dem Fuße: »wer hat mir das gethan? il me le payera!« setzte sie zwischen den Zähnen murmelnd hinzu. Die beiden Grafen schwiegen. »Nun, meine Herren? Graf Schak-Reventlow? Darf ich um die besonderen Verdienste des alten Informators oder seines Fürsprechers bitten? Sie werden doch dessen Licht nicht unter den Scheffel stellen wollen?«

»Ma foi, Madame,« sagte der Graf, »es ist mir bloß klar, daß Graf Christian Gejern Alles gegen den jungen Eynerssen und für den Klint gethan; Ew. Majestät werden geruhen sich zu erinnern, daß der Graf alle Offerten der königlichen Huld stets abgelehnt – diese Besetzung der Akademiestelle war eine von ihm erbetene Gnade – die aller Erste! Es war unmöglich ihm nicht zu willfahren und Se. Majestät der König, welcher ihm von der Bauernsache her noch immer gewogen, unterschrieb sogleich – –«

»Allerdings sind des Grafen Gejer Verdienste bedeutend,« erwiederte gewaltsam gefaßt die Königin; ihr Auge flammte und in den Mundwinkeln zeigte sich das Lächeln höhnischer Verbitterung, »ich werde morgen mit dem Könige sprechen.« Mit einer anmuthigen Bewegung des Hauptes und der linken Hand entließ sie die beiden Herren – Eynerssen stand noch ihres Befehles gewärtig nahe am Ausgang. Juliane wandte sich nach der inneren, zu ihrem Cabinet führenden Thüre, »bleibe Er und erwarte Er mich hier, mein Sohn,« sprach sie mit gnädigem Kopfnicken, »es wird sich wohl in meiner Armuth irgend ein Mittel finden, ihn zu lohnen.«

Rasch schritt sie durch ihr Schreibe-Cabinet in das Zimmer, in welchem sie schlief, eine ihrer vertrauten Kammerfrauen arbeitete dort mit einem Hoffräulein, Sophie Harrested. »Kennt eine von Euch,« fragte Juliane, »die Verhältnisse der Gräflich Gejerschen Familie?« Beide hatten bei Eintritt und Anrede der Königin sich ehrfurchtsvoll erhoben. Das Fröken erzählte von den Hochzeiten, den Ausstattungen der beiden Neuvermählten. »Schon gut, das haben wir selbst erlebt.« – »Die Gräfin?« Niemand kannte sie. »Kinder?« – Keine. »Die dritte Comtesse ist also die junge Stiftsdame von Wallöe, von welcher dies Schreiben,« sagte die Königin vor sich hin, »und der Graf will die glücklich genug fruchtlos gebliebene Mißheirath durch einen glänzenden Stammerben auslöschen; der eine Bruder kinderlos, wie er – der jüngste kränklich – keine Kinder zu hoffen. Da rechnet man auf Uebertragung des Namens. – Weiß Jemand von der jüngsten Comtesse?« Die Kammerfrau kannte die Familie Alslev und floß über vom Lobe Helenens. »Keine Aussicht zur Heirath, nicht verlobt?« Beide Erzählerinnen stockten – endlich fuhr die Harrested fort – »man hat von einer großen Leidenschaft der Comtesse für einen jungen Bürgerlichen gesprochen, allein das Betragen derselben ist so in den strengsten Regeln des Schicklichen geblieben, daß Niemand den Gegenstand dieser Neigung kennt.« – »Schon gut,« sagte die Königin, »Ihr könnt gehen;« sie stand auf und rief, indem sie selbst die Thüre öffnete, den jungen Mann in ihr Cabinet.

»Mit der Professur ist's wirklich nichts, junger Freund,« redete sie ihn an; »danke Er Gott dafür! Er ist also in die Comtesse Gejern verliebt?« – Wie vom Blitz getroffen schwankte der Künstler auf den Füßen, die ihn nicht zu tragen vermochten, er taumelte rückwärts gegen die Wand, keines Wortes fähig – »nun, nun!« lächelte die Königin, »die Liebe an und für sich, wenn sie in den Grenzen der Zucht und Ehrbarkeit bleibt, ist eben kein Todesverbrechen. Fasse Er sich – und antworte mir klar und vernehmlich.«

»Ich liebe die Gräfin mehr als mein Leben,« erwiederte stolz und fest der junge Mann, »wenn aber mein Gefühl das Elend der Comtesse herbeiführen könnte, würde ich den Muth haben, Kjöbenhavn sogleich zu verlassen.«

»Ja? was ist denn seine Absicht? daß die Comtesse auch Ihn sehr schätzt, weiß ich; wollte er deshalb Professor werden?«

»Ja, Ew. Majestät; ich betrachtete diese Anstellung als den ersten Schritt, um der Gräfin würdiger gegenüber zu stehen, wenn ich auch kein anderes Ziel an diese Aussicht zu knüpfen wagte.«

»Und der Graf Christian weiß um diese Neigung?«

»Leider! da er sie verdammt!«

»So, so,« sagte die Königin für sich, »ich will ihn lehren eigenmächtig handeln!« Sie ging an den Schreibtisch und unterschrieb Helenens Petition, durch welche sie ihr gestattete, ohne Einwilligung ihres Bruders sich zu vermählen. »Lese er das.«

Der Glückliche lag, ihr Gewand an seine Lippen drückend, zu ihren Füßen. »Aber höre Er, meine Bedingung! ich will keine Auswanderung unserer Landeskinder; daß wir in der Fremde etwas Tüchtiges zu lernen suchen, ist schon recht, allein man soll Dänemark nicht die Früchte des Erworbenen entziehen. Man wird sich Eurer annehmen! Ich bin Ihm das Honorar für die Bilder schuldig – und – Ihr könnt im Cavalier-Hause wohnen, fällt mir ein! Sagen Sie dies Alles der Comtesse und vergessen Sie nicht, daß wir in Gnade Ihnen Beiden gewogen bleiben!« setzte sie plötzlich französisch hinzu; trotz der innern Heftigkeit, welche ihre rasche Handlung herbeigeführt, machten deren Folgen sie bereits verlegen.

Ein reitender Bote brachte den Befehl der Königin nach Wallöe, das sogenannte Cavalier-Haus der Gräfin Gejer zur Verfügung zu stellen und mit diesem zugleich Helenen die Erlaubniß zu ihrer Vermählung. – Thorald erhielt noch am selben Abende eine für die Privatkasse Julianens sehr bedeutende Summe als Bezahlung der Gemälde.

Christian war wie vernichtet! Helene nahm sogleich die ihr zufallenden 10,000 Thaler in Beschlag und ihren Antheil an der Tante Mitgift. Ohne weiter ein Wort zu verlieren, sandte der Graf Alslev alle nöthigen Papiere, sowohl zu Auszahlung der seiner Schwester aus ihrem gemeinsamen Vermögen zufallenden Dot, als zu jener der Gräfin Owen; als er das Paket siegelte überfiel ihn eine an Ohnmacht grenzende Schwäche – mit gewaltsamer Anstrengung drückte er sein Wappen auf dasselbe. – »Man wird es zerbrechen!« sagte er leise vor sich hin, dann zog er sich in seine Zimmer zurück und begrub sich in seinen Studien.

Gar anders sah es in Wallöe aus. Von allen Seiten zog die Freude ein. Der Königin so bestimmte Bestimmung schloß alle böswilligen Bemerkungen aus – selbst die sieben Mogenstrupps wagten nur orcanische Seufzer. Im Cavalier-Hause regte sich ein gewaltiges Leben, es wimmelte von Arbeitern; da wurde tapeziert und gezimmert, angestrichen, gemalt, geschmückt, und die Liebe half überall der Liebe! denn Thorald war selbst von Kjöbenhavn herüber gekommen, Helenen beizustehen.

Das Cavalier-Haus, ein freundliches, kleines Gebäude aus der nämlichen Zeit als das Stift; rings von einem Blumengarten umfaßt, lehnt es an einem mit Buchen schön bewaldeten Hügel; diese herrschaftliche Wohnung wurde von Alters her bei Regulirung der Gesammt-Einkünfte desselben von den dabei beschäftigten Herren eingenommen, wenn sie zu einem längern Aufenthalt in Wallöe veranlaßt wurden. Auch die Königin bediente sich ihrer früher gern, wenn sie um die Osterzeit einige Tage in der von ihr bevorzugten Stiftung zubrachte, um die sie begleitenden Cavaliere unterzubringen, wodurch das freundliche Schlößchen den ihm anhangenden Namen erhielt. Seit Jahren war Juliane Marie nur auf einzelne Stunden in ihr Ordenshaus eingekehrt; der hübsche Bau hatte verödet dagestanden.

Wer hat nicht irgend einmal mit Vergnügen zugesehen, wenn Kinder Wirthschaft spielen? Wenn sie auf Blumenblättern statt auf Tellern serviren? Des Vaters goldne Dose und der Mutter Schmuck zu Küchengeräth machen, und lauter Bisquit und Bonbons kochen? Nicht sehr viel anders war der Brautleute Einrichtung, weil Jedes das Andere mit noch einer ganz einzigen Herrlichkeit und Bequemlichkeit überraschen wollte. Es wurde Alles phantastisch-schön und nebenbei sehr kostbar; aber es war dem Geschmack Beider vollkommen analog, und wurde dadurch wieder ein Beider Leben enger verflechtendes Band.

Man hatte dergleichen nie in der Gegend gesehen, halb Kiögge ritt und fuhr herbei, das Wunder zu schauen. An einem wunderschönen Spät-Herbstmorgen ward die stille Trauung vollzogen; keiner der drei Brüder war zugegen, die Schwestern schrieben freundlich und sandten Geschenke. Alslev kam mit seiner Familie – er hatte Helenen zur Oeconomie ermahnen wollen; als er aber in dieser Mischung von englischem Cottage-Comfort und italienischer Villa und französischer Eleganz das glückstrahlende Gesichtchen Helenens sah, verschob er es auf ein andermal. Der isländische Pfarrer hatte eine rührende Botschaft gesandt und die Versicherung: er werde bei seiner Rückreise bei dem neuen Paare einkehren; ihn hielt die bereits geschlossene Schifffahrt noch in Dänemark zurück.

Auch die arme Nordermule hatte geschrieben. Helene las das Blatt wohl zwanzigmal, ohne daß ihr dessen Inhalt verständlich geworden wäre. Es war ein wild-schmerzlicher Abschied, einem Schmerzensschrei vergleichbar, der in der jungen Frau Seele einschnitt – unklar und verworren. »Sie traut sich wegen Christian nicht zu mir,« sagte sie sich, »die arme Gute! sie mag wohl recht haben, er würde es ihr kaum verzeihen, und besser ist ihr das sichere Dach meines Bruders, als die Decke unsres Wanderzelts! – Wer weiß, wo wir einst es aufschlagen. Christians Haus beut ihr eine stets gleiche Zuflucht, während wir vielleicht nur einer des andern Brust behalten, unser müdes Haupt darauf zu legen.« Aber so vernünftig das Alles war, streifte es nur leicht ihre Gedanken; das Glück war zu übermächtig in ihr.

Der Winter flog auf seinen Silberfittigen dahin, er war mild und schön; schon nahte der Lenz; die Liebenden waren glücklich und fleißig. Helene hatte Zeichnen gelernt und begann zu malen.

Sie rechneten nicht, ihr Capital nahm ab! ihre Wirthschaftskasse war eine offene Schieblade – aber die Seeländer sind ehrlich; weder sie noch das sorglose Paar dachten an Diebstahl.

Die Schifffahrt war eröffnet, als unvermuthet spät Abends ein Gast erschien; Helene hatte zum ersten Mal den Versuch gemacht, nach Gyps zu zeichnen, und die Lection hatte wie gewöhnlich mit einem Kußhonorar geschlossen, als Kund Jürgenssen eintrat. »Dieser Anblick ihres Wohlergehens erleichtere ihm das Abschiednehmen,« meinte er, »und er hoffe, daß ihn die Kunde ihres ferneren Glücks noch oft erreichen werde.« Dem Alten war Alles zu reich und köstlich in ihrer Umgebung – er konnte sich aus all der Seide und den Spiegeln und dem Mahagoni gar nicht herausfinden; Helene sperrte ihn lachend mit dem Tisch in einen Saffian-Fauteuil, damit er nicht gar vor lauter Achtsamkeit, ihre Schätze nicht zu beschmutzen oder zu zerbrechen, ganz verstumme; und nun begann er zu erzählen, »wie er auch einmal beim Grafen zu Aalholm gewesen,« – ein leichtes Wölkchen überflorte Helenens glänzende Stirn, sie reichte rasch Thorald die Hand. – Es wären schon ein paar Monate her, fuhr er fort, und wiederum sei ihm dort eine besondere Gnade des Herrn geworden! »Es war Abend,« erzählte er weiter, »eine silbergraue, noch klare Dämmerung lag auf Aalholm, und ich ging durch die schönen buntgefärbten Buchengänge, die ich nun bald wieder entbehren sollte; auf den Wiesen wogte eine bläuliche Feuchte, und am Teich kräuselte und webte es so neblig hin, und ballte und rollte sich auf – das Schilf schwankte träumerisch mit seinen schweren Dolden, die Vögel hörte man nur fliegend und flatternd im Laube ihr Nachtlager suchen, sie sangen schon längst nicht mehr – auch die Insectenwelt war abgestorben. Den dunkelnden Wald durchleuchteten die fernen Schloßfenster mit röthlich schimmerndem Lichtschein; zwischen den Mauern dort mochte es wohl schon finster sein.

Ich gedachte der immer trauriger werdenden Jahreszeit in meinem Vaterlande, und der hübschen Mährchen und Balladen, mit welchen wir sie Abends daheim zu erheitern suchen, da sah ich plötzlich mir gegenüber am jenseitigen Ufer des Weihers eine fliegende Gestalt, um sie her flatterten weiße Gewänder, kaum berührte, so schien mir's, dann und wann ihr Fuß den Boden. Sie eilte auf den mir nicht allzu fern im Schilf liegenden und ganz von Weiden und Wasserpflanzen umgebenen Kahn – ich war schon wieder besonnen und wußte gar wohl, daß die Erscheinung nur eine menschliche sein könne! Sie kniete nieder in den Nachen und begann eine Menge Steine in ein Tuch zu binden, welche vermuthlich dort schon bereit lagen; endlich wand sie dasselbe um ihre Füße, indem sie zugleich damit ihre Kleider festschnürte; – als sie damit fertig, richtete sie nochmals das Antlitz betend gen Himmel auf – jetzt kniete sie schon am Schnabelende des Boots, und so rutschte sie mit den gebundenen Füßen vorwärts dem Rande näher –«

»Um Gotteswillen, Emerenzia!« schrie Helene auf.

»Ja,« sagte der Pfarrer, »ja sie war's! aber Gott leitete meine Schritte und meine Hand, daß ich im rechten Augenblicke sie erfaßte und gewaltsam sie zurückhielt! ich nahm sie wortlos in meine Arme und trug sie zurück; ihr selbst schwanden die Sinne, und sie kam erst dem prasselnden Feuer gegenüber in ihrem Stübchen, wohin ich sie getragen, zu völligem Bewußtsein.« »Unglückselige!« sagte Thorald, »was hatte zu solchem Schritte sie vermocht?«

»Ach, lieber Herr,« erwiederte Jürgenssen, »sie verstand es nicht, so allein zu leben! Die drei nun zu Frauen gewordenen Fröken waren so glücklich ohne sie, es hatte, so meinte sie in böswilligem Trotz –«

»Ach, Trotz! meine arme Nordermule, das demüthige Herz!«

»Frau Eynerssen wissen nicht, daß sich Demuth und Trotz im Leben manchmal gar nicht unterscheiden lassen?«

»Also Janfru Nordermule sah den langen Tag und die lange Nacht immer wieder vorüberziehen, ohne daß irgend Eines ihrer bedurft hätte – da wurde sie trauriger mit jeder Stunde! Sie kam sich mit einem Male vor, wie ein abgelaufenes Uhrwerk, zu welchem der Schlüssel verloren gegangen; und als der Kummer allmälig mehr und mehr all ihre Gedanken überschattete, konnte sie zuletzt der Sehnsucht nach dem stillen Weiher nicht länger widerstehen, in dem sie Schlaf und Ruhe zu finden meinte,« – »und nun? und nun?« fragte in ängstlicher Spannung das junge Paar, »wo ist sie jetzt?«

»Nun steht sie draußen vor der Thüre und hat mich beauftragt, das Alles My Frau Eynerssen zu erzählen; sie will Abschied nehmen – denn sie geht mit mir nach Island!«

Die jungen Leute waren schon draußen bei ihr, als er die letzten Worte vollendete.

Ja, so war's! Die kleine graue Nordermule stand, tief in Pelze verhüllt, im nordischen Reiseanzuge auf der Flur; mit tausend Liebkosungen ward sie in die lieblich phantastischen Räume eingeführt, gehätschelt, gescholten – das ganze Herz ward ihr bewegt; aber ganz unerschütterlich entschlossen reichte sie ihrem alten greisen Führer die Hand – »er hat mich überzeugt, daß ich dort noch nützen kann,« – versicherte sie freundlich.

»Ob sie das kann!« sagte der alte Kund, »für's erste muß sie gleich den Sommer hindurch uns beistehen, Thorsons mit Ihres Herrn Vaters Gelde gestiftetes Hospital aufrecht zu erhalten, dann mag sie meiner Mathilde helfen, die Kranken meines eigenen Sprengels zu pflegen; ach und Abends, wenn der Winter draußen um unsre Hütten ras't, dann wird Emerenzia uns Allen erzählen! Unsre Weiber wird sie lehren, bessere, feinere Handarbeit machen, unsre Kinder mit unterrichten helfen und vor Allem meine Kirche mit den fleißigen, geschickten Händen schmücken, o wir werden Alle so dankbar und glücklich sein, Janfru Emerenzia um uns zu haben, – so glücklich!« er drückte ihre Hand.

»Aber Jürgenssen, es kann ja nicht Ihr Ernst sein – sie wird mit ihrer geschwächten Kraft die Reise nicht überstehen – sie bringen sie nicht lebend hinüber!« sagte leise Thorald –

»Sie irren,« erwiederte ernst und mild der alte Pfarrer, »sie ist eine Nordländerin und wird die Fahrt überdauern – und gönnen Sie ihr denn nicht, umringt von den poetischen Erinnerungen ihrer Jugend, als Pflegerin der Pfarrkinder unsres Johannes und der Rosen des ihr so theuern Grafen Thugge zu sterben? Dort sind all die ihr hier abgewelkten Interessen noch frisch erhalten – hier verdrängt sie eine laut und lauter sich erhebende Gegenwart!«

»Er hat Recht!« sagte wehmüthig Helene, und am andern Morgen zogen sie von dannen! Das Ehepaar sah vom Kiögger Hafen aus lange dem buntbewimpelten Schiffe nach und kehrte in seine Künstler-Einsamkeit zurück. Wie ein Thautropfen hing die Abschiedsthräne an der vollen Rose ihres Glücks, und der nächste Sonnenstrahl küßte sie auf!

Und Graf Christian, und Eva? und wie wurde es denn weiter? dauerte denn das Glück im Cavalierhause bei dieser tollen, wunderlichen Wirthschaftsweise?

Soll ich meinen Lesern weitläuftig von der Ebbe und Fluth alles menschlichen Erfahrens berichten? Das Gold ward alle – manchmal klopften böse Verlegenheit und Noth an die Thüren und Fenster, manchmal schlich die Sorge ein und zog ihre grauen Schleier über das fröhliche Auge Helenens, und zuweilen faßte auch wohl eine fast wilde Sehnsucht ihr Innres nach ihren beiden Schwestern und nach Christian, ihrem nun ganz vereinsamten Bruder, der seine arme Eva mit dem fallenden Laube zu Grabe getragen, und nun, wie einst ihr Vater Thugge, allein das große Aalholm bewohnte; aber der Gejersche Trotz wollte dennoch sich nicht bändigen lassen in dem stolz aufschlagenden Herzen und der freundlichere Gedanke wurde noch lange Jahre hindurch in Beiden nicht zum einander verzeihenden Wort.

Da starb auch Joachim. Seine Ehe war kinderlos geblieben. Der Trauerfall und die ihm entstehenden Angelegenheiten zogen alle Geschwister in die Residenz. Die Schwestern sahen sich, und das gute Vernehmen zwischen ihnen stellte sich her. Christian und Helene aber blieben sich fern; auch Thorald, der zum tüchtigen, vielfach beschäftigten, vom Hofe vergötterten Künstler sich herangebildet, mied seine Schwäger. Der gute Alslev und seine würdige Gattin hörten mit unveränderter Theilnahme jedes Einzelnen Klage an, aber beide scheuten den ihnen wohlbekannten finstern Geist des Geschlechts, den alten Starrsinn der Gejers zu sehr, um eine Aussöhnung auch nur zu versuchen.

Da öffnete eines Tages Christian unvermuthet die Thüre des Studirstübchens seines alten Freundes; Alslev saß schlummernd in seinem hochrückigen Großvaterstuhl, er war über einer langen Actenrevision eingenickt, auf der Lehne des Sessels aber hing oder ritt ein wunderbar schöner Knabe von etwa sechs Jahren; er hatte dem Alten ein buntseidenes Band über den Kopf geworfen, daß er ihm durch die vom Schlaf halb erschlossenen Lippen zu ziehen eifrig bemüht war, indem er sich zugleich auf dessen Schulter zu schwingen suchte, um ihn zum Roß zu machen und einen kühnen Ritt in's Fabelland seiner Phantasie zu thun. »Willst Du mitspielen,« fragte das kecke Bübchen, »mußt aber jetzt auch Pferd sein und Dich von mir führen lassen, nachher darfst Du aber auch reiten!«

Helenens Sohn! durchblitzte es Christians Starrsinn, und die Wunderkraft der Kindheit trat plötzlich in ihr volles Licht. Denn der Graf vermochte kein Auge von dem kleinen Tyrannen zu wenden, der ihm mit schmeichelnder Gewalt den Zügel bot – als Alslev von dem Jubel-Geschrei erwachte, war die Bekanntschaft schon weit vorgeschritten.

Wer in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren in Wallöe war, wird wohl den neuen herrlichen Aufbau des ehemaligen Cavalier-Hauses und seine prächtige Umgebung und Einrichtung bemerkt haben; sie ist solider aber noch kostbarer als sie vor etwa fünfzig Jahren es war. Ein neues, kräftiges Geschlecht der Gejer bringt dort die schönen Sommertage zu; die bösen Geister des erloschenen Stammes beunruhigen es nicht, sie sind dem heitern Glück gewichen!

Der jetzige Graf ist ein schöner, alternder Mann und unermeßlich reich, weil ihm das Vermögen aller Nebenzweige der großen Familie zugefallen; seine Mutter war eine geborene Comtesse Gejer und hieß Helene; er hat schon als Knabe den Namen derselben auf seiner Oheime Wunsch angenommen, weil ihnen selbst kein Stamm-Erbe erblüht war.

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