Die Metamorphosenlehre.

Man kann Goethes Verhältnis zu den Naturwissenschaften nicht verstehen, wenn man sich bloß an die Einzelentdeckungen hält, die er gemacht hat. Ich sehe als leitenden Gesichtspunkt für die Betrachtung dieses Verhältnisses die Worte an, die Goethe am 18. August 1787 von Italien aus an Knebel gerichtet hat: „Nach dem, was ich bei Neapel, in Sizilien von Pflanzen und Fischen gesehen habe, würde ich, wenn ich zehn Jahre jünger wäre, sehr versucht sein, eine Reise nach Indien zu machen, nicht um Neues zu entdecken, sondern um das Entdeckte nach meiner Art anzusehen.“ Auf die Art, wie Goethe die ihm bekannten Naturerscheinungen in einer seiner Denkungsart gemäßen Naturansicht zusammengefaßt hat, scheint es mir anzukommen. Wenn alle die Einzelentdeckungen, die ihm gelungen sind, schon vor ihm gemacht gewesen wären, und er uns nichts als seine Naturansicht gegeben hätte, so schmälerte dies die Bedeutung seiner Naturstudien nicht im geringsten. Ich bin mit du Bois-Reymond einer Meinung darüber, daß „auch ohne Goethes Beteiligung die Wissenschaft heute so weit wäre, wie sie ist“, daß „die ihm gelungenen Schritte früher oder später andere gethan hätten.“ (Goethe und kein Ende S. 31). Ich kann diese Worte nur nicht, wie es du Bois-Reymond tut, auf den ganzen Umfang von Goethes naturwissenschaftlichen Arbeiten beziehen. Ich beschränke sie auf die in ihrem Verlaufe gemachten Einzelentdeckungen. Keine einzige derselben würde uns wahrscheinlich heute fehlen, wenn Goethe sich nie mit Botanik, mit Anatomie u. s. w. beschäftigt hätte. Seine Naturansicht aber ist ein Ausfluß seiner Persönlichkeit; kein Anderer hätte zu ihr kommen können. Ihn interessierten auch nicht die Einzelentdeckungen. Sie drängten sich ihm während seiner Studien von selbst auf, weil über die Tatsachen, die sie betreffen, zu seiner Zeit Ansichten Geltung hatten, die unvereinbar mit seiner Art, die Dinge anzusehen, waren. Hätte er mit dem, was die Naturwissenschaft ihm überlieferte, seine Anschauung aufbauen können: so würde er sich nie mit Detailstudien beschäftigt haben. Er mußte ins Einzelne gehen, weil das, was ihm über das Einzelne von den Naturforschern gesagt wurde, seinen Forderungen nicht entsprach. Und nur wie zufällig ergaben sich bei diesen Detailstudien die Einzelentdeckungen. Ihn beschäftigte zunächst nicht die Frage: ob der Mensch wie die übrigen Tiere einen Zwischenkieferknochen in der oberen Kinnlade habe. Er wollte den Plan entdecken, nach dem die Natur die Stufenfolge der Tiere und auf der Höhe dieser Stufenfolge den Menschen bildet. Das gemeinsame Urbild, das allen Tiergattungen und zuletzt in seiner höchsten Vollkommenheit auch der Menschengattung zu Grunde liegt, wollte er finden. Die Naturforscher sagten ihm: es besteht ein Unterschied im Bau des tierischen und des menschlichen Körpers. Die Tiere haben in der oberen Kinnlade den Zwischenknochen, der Mensch hat ihn nicht. Seine Ansicht war, daß sich der menschliche Bau nur dem Grade der Vollkommenheit nach von dem tierischen unterscheiden könne, nicht aber in Einzelheiten. Denn, wenn das letztere der Fall wäre, könnte nicht ein gemeinsames Urbild der tierischen und der menschlichen Organisation zu Grunde liegen. Er konnte mit der Behauptung der Naturforscher nichts anfangen. Deshalb suchte er nach dem Zwischenknochen beim Menschen und fand ihn. Ähnliches ist bei allen seinen Einzelentdeckungen zu beobachten. Sie sind ihm nie Selbstzweck. Sie müssen gemacht werden, um seine Vorstellungen über die Naturerscheinungen als berechtigt erscheinen zu lassen.

Im Gebiete der organischen Naturerscheinungen ist das Bedeutsame in Goethes Ansicht die Vorstellung, die er vom Wesen des Lebens ausbildete. Nicht auf die Betonung der Tatsache, daß Blatt, Kelch, Krone u. s. w. Organe an der Pflanze sind, die mit einander identisch sind, und sich aus einem gemeinschaftlichen Grundgebilde entwickeln, kommt es an. Sondern darauf, welche Vorstellung Goethe von dem Ganzen der Pflanzennatur als einem Lebendigen hatte und wie er sich das Einzelne aus diesem Ganzen hervorgehend dachte. Seine Idee von dem Wesen des Organismus ist seine ureigenste zentrale Entdeckung im Gebiete der Biologie zu nennen. Daß sich in der Pflanze, in dem Tiere etwas anschauen lasse, was der bloßen Sinnenbeobachtung nicht zugänglich ist, war Goethes Grundüberzeugung. Was das leibliche Auge an dem Organismus beobachten kann, scheint Goethe nur die Folge zu sein des lebendigen Ganzen durcheinander wirkender Bildungsgesetze, die dem geistigen Auge allein zugänglich sind. Was er mit dem geistigen Auge an der Pflanze, an dem Tier erschaut, das hat er beschrieben. Nur wer ebenso wie er zu sehen fähig ist, kann seine Idee von dem Wesen des Organismus nachdenken. Wer bei dem stehen bleibt, was die Sinne und das Experiment liefern, der kann Goethe nicht verstehen. Wenn wir seine beiden Gedichte lesen „die Metamorphose der Pflanzen“ und „die Metamorphose der Tiere“, so scheint es zunächst, als ob die Worte uns nur von einem Glied des Organismus zum andern führten, als ob bloß äußerlich Tatsächliches verknüpft werden sollte. Wenn wir uns aber durchdringen mit dem, was Goethe als Idee des Lebewesens vorschwebt, dann fühlen wir uns in die Sphäre des Lebendig-Organischen versetzt, und aus einer centralen Vorstellung wachsen die Vorstellungen über die einzelnen Organe hervor.

Als Goethe anfieng selbständig über die Erscheinungen der Natur nachzusinnen, nahm vor allem Andern der Begriff des Lebens seine Aufmerksamkeit in Anspruch. In einem Briefe aus der Straßburger Zeit vom 14. Juli 1770 schreibt er von einem Schmetterling: „Das arme Tier zittert im Netz, streift sich die schönsten Farben ab; und wenn man es ja unversehrt erwischt, so steckt es doch endlich steif und leblos da; der Leichnam ist nicht das ganze Tier, es gehört noch etwas dazu, noch ein Hauptstück und bei der Gelegenheit, wie bei jeder andern, ein hauptsächliches Hauptstück: das Leben.“ — Daß ein Organismus nicht wie ein totes Naturprodukt betrachtet werden kann, daß noch mehr darin steckt als die Kräfte, die auch in der unorganischen Natur leben, war Goethe von vornherein klar. Wenn du Bois-Reymond meint, daß „die rein mechanische Weltkonstruktion, welche heute die Wissenschaft ausmacht, dem Weimarschen Dichterfürsten nicht minder verhaßt gewesen wäre, als einst Friederikens Freund das système de la nature“, so hat er unzweifelhaft Recht; und nicht minder hat er Recht mit den andern Worten: von dieser Weltkonstruktion, die „durch die Urzeugung an die Kant-Laplacesche Theorie grenzt, von der Entstehung des Menschen aus dem Chaos durch das von Ewigkeit zu Ewigkeit mathematisch bestimmte Spiel der Atome, von dem eisigen Weltende — von diesen Bildern, welche unser Geschlecht so unfühlend ins Auge faßt, wie es sich an die Schrecknisse des Eisenbahnfahrens gewöhnte — hätte Goethe sich schaudernd abgewandt“ (Goethe und kein Ende S. 35 f.). Gewiß hätte er sich schaudernd abgewandt, weil er einen höhern Begriff des Lebendigen suchte und ihn auch fand als den eines komplizierten, mathematisch bestimmten Mechanismus. Nur wer unfähig ist, einen solchen höhern Begriff zu fassen und das Lebendige mit dem Mechanischen identifiziert, weil er am Organismus nur das Mechanische zu sehen vermag, der wird sich für die mechanische Weltkonstruktion und ihr Spiel der Atome erwärmen und unfühlend die Bilder ins Auge fassen, die du Bois-Reymond entwirft. Wer aber den Begriff des Organischen im Sinne Goethes in sich aufnehmen kann, der wird über seine Berechtigung ebensowenig streiten wie über das Vorhandensein des Mechanischen. Man streitet ja auch nicht mit dem Farbenblinden über die Farbenwelt. Alle Anschauungen, welche das Organische sich mechanisch vorstellen, verfallen dem Richterspruch, den Goethe seinen Faust sagen läßt:

„Wer will was Lebendiges erkennen und beschreiben

Sucht erst den Geist herauszutreiben;

Dann hat er die Teile in der Hand,

Fehlt, leider! nur das geistige Band.“

Die Möglichkeit, sich intimer mit dem Leben der Pflanzen zu beschäftigen, fand sich für Goethe, als ihm der Herzog Karl August am 21. April 1776 einen Garten schenkte. Auch durch die Streifzüge im Thüringerwald, auf denen er die Lebenserscheinungen der niederen Organismen beobachten konnte, wird Goethe angeregt. Moose und Flechten nehmen seine Aufmerksamkeit in Anspruch. Am 31. Oktober bittet er Frau von Stein um Moose von allen Sorten, womöglich mit den Wurzeln und feucht, damit er sie benützen könne, um die Fortpflanzung zu beobachten. Es ist wichtig, im Auge zu behalten, daß Goethe sich im Anfange seiner botanischen Studien mit den niederen Pflanzenformen beschäftigte. Denn er hat später bei der Konzeption seiner Idee der Urpflanze nur die höheren Pflanzen berücksichtigt. Dies kann also nicht davon herrühren, daß ihm das Gebiet der niederen fremd war, sondern davon, daß er die Geheimnisse der Pflanzennatur an den höheren deutlicher ausgeprägt glaubte. Er wollte die Idee der Natur da aufsuchen, wo sie sich am klarsten offenbart und dann von dem Vollkommenen zum Unvollkommenen herabsteigen, um dieses aus jenem zu begreifen. Nicht das Zusammengesetzte wollte er durch das Einfache erklären; sondern jenes mit einem Blick als wirkendes Ganzes überschauen und dann das Einfache und Unvollkommene als einseitige Ausbildung des Zusammengesetzten und Vollkommenen erklären. Wenn die Natur fähig ist, nach unzähligen Pflanzenformen noch eine zu machen, die sie alle enthält, so muß auch dem Geiste beim Anschauen dieser vollkommenen Form das Geheimnis der Pflanzenbildung in unmittelbarer Anschauung aufgehen, und er wird dann leicht das an dem Vollkommenen Beobachtete auf das Unvollkommene anwenden können. Umgekehrt machen es die Naturforscher, die das Vollkommene nur als eine mechanische Summe der einfachen Vorgänge ansehen. Sie gehen von diesem Einfachen aus und leiten das Vollkommene von demselben ab.

Als sich Goethe nach einem wissenschaftlichen Führer für seine botanischen Studien umsah, konnte er keinen andren finden als Linné. Wir erfahren von seiner Beschäftigung mit Linné zuerst aus den Briefen an Frau von Stein vom Jahre 1782. Wie ernst es Goethe mit seinen naturwissenschaftlichen Bestrebungen war, geht aus dem Interesse hervor, das er an Linnés Schriften genommen hat. Er gesteht, daß nach Shakespeare und Spinoza auf ihn die größte Wirkung von Linné ausgegangen ist. Aber wie wenig konnte ihn Linné befriedigen. Goethe wollte die verschiedenen Pflanzenformen beobachten, um das Gemeinsame, das in ihnen lebt, zu erkennen. Er wollte wissen, was alle diese Gebilde zu Pflanzen macht. Und Linné hatte sich damit begnügt, die mannigfaltigsten Pflanzenformen in einer bestimmten Ordnung nebeneinander zu stellen und zu beschreiben. Hier stieß Goethes naive, unbefangene Naturbeobachtung in einem einzelnen Falle auf die durch den Platonismus beeinflußte Denkweise der Wissenschaft. Diese Denkweise sieht in den einzelnen Formen Verwirklichungen ursprünglicher, nebeneinander bestehender platonischer Ideen oder Schöpfungsgedanken. Goethe sieht in dem einzelnen Gebilde nur eine besondere Ausgestaltung eines ideellen Urwesens, das in allen Formen lebt. Jene Denkweise will möglichst genau die einzelnen Formen unterscheiden, um die Vielgliedrigkeit der Ideenformen, oder des Schöpfungsplanes zu erkennen; Goethe will die Vielgliedrigkeit des Besonderen aus der ursprünglichen Einheit erklären. Daß vieles in mannigfaltigen Formen da ist, ist für jene Denkungsart ohne weiteres klar, denn schon die idealen Urbilder sind für sie das Mannigfaltige. Für Goethe ist das nicht klar, denn das Viele gehört nach seiner Ansicht nur zusammen, wenn sich Eines darin offenbart. Goethe sagt deshalb, was Linné „mit Gewalt auseinander zu halten suchte, mußte, nach dem innersten Bedürfnis meines Wesens, zur Vereinigung anstreben“. Linné nimmt die vorhandenen Formen einfach hin, ohne darnach zu fragen, wie sie aus einer Grundform geworden sind: „Spezies zählen wir so viele, als verschiedene Formen im Prinzip geschaffen worden sind:“ dies ist sein Grundsatz. Goethe sucht im Pflanzenreich das Wirksame, das durch Spezifizierung der Grundform das Einzelne schafft.

Ein naiveres Verhältnis zur Pflanzenwelt als bei Linné fand Goethe bei Rousseau. Am 16. Juni 1782 schreibt er an Karl August: „In Rousseaus Werken finden sich allerliebste Briefe über die Botanik, worin er diese Wissenschaft auf das faßlichste und zierlichste einer Dame vorträgt. Es ist recht ein Muster, wie man unterrichten soll und eine Beilage zum Emil. Ich nehme daher Anlaß, das schöne Reich der Blumen meinen schönen Freundinnen aufs neue zu empfehlen.“ In seiner „Geschichte meines botanischen Studiums“ legt Goethe dar, was ihn zu Rousseaus botanischen Ideen hingezogen hat: „Sein Verhältnis zu Pflanzenfreunden und Kennern, besonders zu der Herzogin von Portland, mag seinen Scharfblick mehr in die Breite gewiesen haben, und ein Geist wie der seinige, der den Nationen Ordnung und Gesetz vorzuschreiben sich berufen fühlt, mußte doch zu der Vermutung gelangen, daß in dem unermeßlichen Pflanzenreiche keine so große Mannigfaltigkeit der Formen erscheinen könnte, ohne daß ein Grundgesetz, es sei noch so verborgen, sie wieder sämtlich zur Einheit zurückbrächte.“ Ein solches Grundgesetz, das die Mannigfaltigkeit zur Einheit zurückbringt, von der sie ursprünglich ausgegangen ist, sucht auch Goethe.

Zwei Schriften vom Freiherrn von Gleichen, genannt Rußwurm, fielen damals in Goethes geistigen Horizont. Sie behandeln beide das Leben der Pflanze in einer Weise, die für ihn fruchtbar werden konnte: „Das Neueste aus dem Reiche der Pflanzen“ (Nürnberg 1764) und „Auserlesene mikroskopische Entdeckungen bei den Pflanzen“ (Nürnberg 1777–81). Sie beschäftigen sich mit den Befruchtungsvorgängen der Pflanzen. Blütenstaub, Staubfäden und Stempel sind in ihnen sorgfältig beschrieben und in gut ausgeführten Tafeln die Vorgänge bei der Befruchtung dargestellt. Goethe macht nun selbst Versuche, um die von Gleichen-Rußwurm beschriebenen Ergebnisse mit eigenen Augen zu beobachten. Er schreibt am 12. Januar 1785 an Frau von Stein: „Mein Mikroskop ist aufgestellt, um die Versuche des Gleichen, genannt Rußwurm, mit Frühlingsantritt nachzubeobachten und zu kontrollieren.“ Zur selben Zeit studiert er die Wesenheit des Samens, wie aus einem Bericht an Knebel vom 2. April 1785 hervorgeht: „Die Materie vom Samen habe ich durchgedacht, so weit meine Erfahrungen reichen.“ Diese Beobachtungen Goethes erscheinen erst im rechten Lichte wenn man berücksichtigt, daß er schon dazumal nicht bei ihnen stehen geblieben ist, sondern eine Gesamtanschauung der Naturvorgänge zu gewinnen suchte, der sie zur Stütze und Bekräftigung dienen sollten. Am 8. April desselben Jahres meldet er Knebel, daß er nicht nur Thatsachen beobachtet, sondern auch „hübsche Kombinationen“ über diese Thatsachen gemacht habe.

Von wesentlichem Einfluß auf die Ausbildung der Ideen Goethes über organische Naturwirkungen war der Anteil, den er an Lavaters großem Werke: „Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe“, nahm, das in den Jahren 1775 bis 1778 erschienen ist. Er hat selbst Beiträge zu diesem Werke geliefert. In der Art, wie er sich in diesen Beiträgen ausspricht, ist seine spätere Weise, das Organische anzusehen, schon vorgebildet. Lavater blieb dabei stehen, die Gestalt des menschlichen Organismus als Ausdruck der Seele zu behandeln. Er wollte aus den Formen der Körper die Charaktere der Seelen deuten. Goethe fieng bereits damals an, die äußere Gestalt um ihrer selbst willen zu betrachten, ihre eigene Gesetzmäßigkeit und Bildungskraft zu studieren. Er beschäftigt sich zugleich mit den Schriften des Aristoteles über die Physiognomik und versucht es, auf Grundlage des Studiums der organischen Gestalt, den Unterschied des Menschen von den Tieren festzustellen. Er findet diesen in dem durch das Ganze des menschlichen Baues bedingten Hervortreten des Kopfes, in der vollkommenen Ausbildung des menschlichen Gehirns, zu dem alle Teile wie zu einem Organ hindeuten, auf das sie gestimmt sind. Im Gegenteil ist bei dem Tiere der Kopf an den Rückgrat bloß angehängt, das Gehirn, das Rückenmark haben nicht mehr Umfang als zur Auswirkung der untergeordneten Lebensgeister und zur Leitung der bloß sinnlichen Verrichtungen unbedingt notwendig ist. Goethe sucht schon damals den Unterschied des Menschen von den Tieren nicht in irgend einem Einzelnen, sondern in dem verschiedenen Grade der Vollkommenheit, den das gleiche Grundgebilde in dem einen oder andern Falle erreicht. Es schwebt ihm bereits das Bild eines Typus vor, der sowohl bei den Tieren wie beim Menschen sich findet, der bei den ersteren so ausgebildet ist, daß der ganze Bau den animalischen Funktionen dient, während bei letzterem der Bau das Grundgerüste für die Entwicklung des Geistes abgibt.

Aus solchen Betrachtungen heraus erwächst Goethes Spezialstudium der Anatomie. Am 22. Januar 1776 berichtet er an Lavater: „Der Herzog hat mir sechs Schädel kommen lassen, habe herrliche Bemerkungen gemacht, die Euer Hochwürden zu Diensten stehen, wenn dieselben Sie nicht ohne mich fanden.“ Im Tagebuche Goethes lesen wir unter dem 15. Oktober 1781, daß er in Jena mit dem alten Einsiedel Anatomie trieb, und in demselben Jahre fing er an, sich von Loder in diese Wissenschaft genauer einführen zu lassen. Er erzählt davon in Briefen an Frau von Stein vom 29. Oktober 1781 und an den Herzog vom 4. November. Er hat auch die Absicht, den jungen Leuten an der Zeichenakademie „das Skelett zu erklären und sie zur Kenntnis des menschlichen Körpers anzuführen“ — „Ich thue es,“ sagt er, „um meinet- und ihretwillen; die Methode, die ich gewählt habe, wird sie diesen Winter über völlig mit den Grundsäulen des Körpers bekannt machen.“ Er hat, wie aus dem Tagebuch zu ersehen, diese Vorlesungen auch gehalten. Auch mit Loder hat er in dieser Zeit über den Bau des menschlichen Körpers manches Gespräch geführt. Und wieder ist es seine allgemeine Naturansicht, die als treibende Kraft und als eigentliches Ziel dieser Studien erscheint. Er behandelt „die Knochen als einen Text, woran sich alles Leben und alles Menschliche anhängen läßt“ (Briefe an Lavater und Merck vom 14. November 1781). Vorstellungen über das Wirken des Organischen, über den Zusammenhang der menschlichen Bildung mit der tierischen beschäftigen damals seinen Geist. Daß der menschliche Bau nur die höchste Stufe des tierischen ist, und daß er durch diesen vollkommeneren Grad des Tierischen die sittliche Welt aus sich hervorbringt, ist eine Idee, die bereits in der Ode „das Göttliche“ vom Jahre 1782 niedergelegt ist.

Edel sei der Mensch

Hilfreich und gut!

Denn das allein

Unterscheidet ihn

Von allen Wesen,

Die wir kennen.

— — — — —

Nach ewigen, ehrnen,

Großen Gesetzen

Müssen wir alle

Unsers Daseins

Kreise vollenden.

Die „ewigen, ehrnen Gesetze“ wirken im Menschen gerade so wie in der übrigen Organismenwelt; sie erreichen in ihm nur eine Vollkommenheit, durch die es ihm möglich ist „edel, hilfreich und gut“ zu sein.

Während in Goethe sich solche Ideen immer mehr festsetzten, arbeitete Herder an seinen „Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit“. Alle Gedanken dieses Buches wurden von den beiden durchgesprochen. Goethe war von Herders Auffassung der Natur befriedigt. Sie fiel mit seinen eigenen Vorstellungen zusammen. „Herders Schrift macht wahrscheinlich, daß wir erst Pflanzen und Tiere waren ... Goethe grübelt jetzt gar denkreich in diesen Dingen und jedes, was erst durch seine Vorstellung gegangen ist, wird äußerst interessant,“ schreibt am 1. Mai 1784 Frau von Stein an Knebel. Wie sehr man berechtigt ist, von Herders Ideen auf die Goethes zu schließen, zeigen die Worte, die Goethe am 8. Dezember 1783 an Knebel richtet: „Herder schreibt eine Philosophie der Geschichte, wie Du Dir denken kannst, von Grund aus neu. Die ersten Kapitel haben wir vorgestern zusammen gelesen, sie sind köstlich.“ Sätze wie die folgenden liegen ganz in Goethes Denkrichtung. „Das Menschengeschlecht ist der große Zusammenfluß niederer organischer Kräfte.“ „Und so können wir annehmen, daß der Mensch ein Mittelgeschöpf unter den Tieren, d. i. die ausgearbeitete Form sei, in der sich die Züge aller Gattungen um ihn her im feinsten Inbegriff sammeln.“

Mit solchen Vorstellungen war allerdings die Ansicht der damaligen Anatomen nicht zu vereinigen, daß der kleine Knochen, den die Tiere in der oberen Kinnlade haben, der Zwischenkiefer, der die oberen Schneidezähne enthält, dem Menschen fehle. Sömmering, einer der bedeutendsten Anatomen der damaligen Zeit, schrieb am 8. Oktober 1782 an Merck: „Ich wünschte, dass Sie Blumenbach nachsähen, wegen des ossis intermaxillaris, der ceteris paribus der einzige Knochen ist, den alle Tiere vom Affen an, selbst der Orang-Utang eingeschlossen, haben, der sich hingegen nie beim Menschen findet; wenn Sie diesen Knochen abrechnen, so fehlt Ihnen nichts, um nicht alles vom Menschen auf die Tiere transferieren zu können. Ich lege deshalb einen Kopf von einer Hirschkuh bei, um Sie zu überzeugen, daß dieses os intermaxillare (wie es Blumenbach) oder os incisivum (wie es Camper nennt) selbst bei Tieren vorhanden ist, die keine Schneidezähne haben.“ Das war die allgemeine Meinung der Zeit. Auch der berühmte Camper, für den Merck und Goethe die innigste Verehrung hatten, bekannte sich zu ihr. Der Umstand, daß der Zwischenknochen beim Menschen links und rechts mit den Oberkieferknochen verwachsen ist, ohne daß bei einem normal gebildeten Individuum eine deutliche Grenze zu sehen ist, hat zu dieser Ansicht geführt. Hätten die Gelehrten Recht gehabt mit derselben, dann wäre es unmöglich, ein gemeinsames Urbild für den Bau des tierischen und menschlichen Organismus aufzustellen; eine Grenze zwischen den beiden Formen müßte angenommen werden. Der Mensch wäre nicht nach dem Urbilde geschaffen, das auch den Tieren zu Grunde liegt. Dieses Hindernis seiner Weltanschauung mußte Goethe hinwegräumen. Es gelang ihm im Frühling 1784 in Gemeinschaft mit Loder. Nach seinem allgemeinen Grundsatze, daß die Natur kein Geheimnis habe, was „sie nicht irgendwo dem aufmerksamen Beobachter nackt vor Augen stellt“, gieng Goethe vor. Er fand bei einzelnen abnorm gebildeten Schädeln die Grenze zwischen Ober- und Zwischenkiefer wirklich vorhanden. Freudig berichtet er von dem Fund am 27. März an Herder und Frau von Stein. An Herder schreibt er: „Es soll Dich auch herzlich freuen; denn es ist wie der Schlußstein zum Menschen, fehlt nicht, ist auch da! Aber wie!“ „Ich habe mirs auch in Verbindung gedacht mit Deinem Ganzen, wie schön es da wird.“ Und als Goethe die Abhandlung, die er über die Sache geschrieben hat, im November 1784 an Knebel schickt, deutet er die Bedeutung, die er der Entdeckung für seine ganze Vorstellungswelt beilegt, mit den Worten an: „Ich habe mich enthalten, das Resultat, worauf schon Herder in seinen Ideen deutet, schon jetzt merken zu lassen, daß man nämlich den Unterschied des Menschen vom Tier in nichts Einzelnem finden könne.“ Goethe konnte erst Vertrauen zu seiner Naturansicht gewinnen, als die irrtümliche Ansicht über das fatale Knöchelchen beseitigt war. Er gewann allmählich den Mut, seine Ideen über die Art, wie die Natur, mit einer Hauptform gleichsam spielend, das mannigfaltige Leben hervorbringt, „auf alle Reiche der Natur, auf ihr ganzes Reich“ auszudehnen. In diesem Sinne schreibt er im Jahre 1786 an Frau von Stein.

Immer lesbarer wird Goethe das Buch der Natur, nachdem er den einen Buchstaben richtig entziffert hat. „Mein langes Buchstabieren hat mir geholfen, jetzt wirkts auf einmal und meine stille Freude ist unaussprechlich,“ schreibt er der Frau von Stein am 15. Mai 1785. Er hält sich jetzt auch bereits für fähig, eine kleine botanische Abhandlung für Knebel zu schreiben. Die Reise, die er 1785 nach Karlsbad mit diesem zusammen unternimmt, wird zu einer förmlichen botanischen Studienreise. Nach der Rückkehr werden mit Hilfe Linnés die Reiche der Pilze, Moose, Flechten und Algen durchgegangen. Er teilt am 9. November der Frau von Stein mit: „Ich lese Linné fort, ich muß wohl, ich habe kein anderes Buch bei mir; es ist die beste Art, ein Buch gewissenhaft zu lesen, die ich öfter praktizieren muß, da ich nicht leicht ein Buch auslese. Das ist nicht zum Lesen, sondern zur Rekapitulation gemacht und that mir die trefflichsten Dienste, da ich über die meisten Punkte selbst gedacht hatte.“ Während dieser Studien bekommt auch die Grundform, aus welcher die Natur alle mannigfaltigen Pflanzengebilde herausarbeitet, einzelne, wenn auch noch nicht deutliche Umrisse in seinem Geiste. In einem Briefe an die Frau von Stein vom 9. Juli 1786 sind die Worte enthalten: „Es ist ein Gewahrwerden der Form, mit der die Natur gleichsam nur immer spielt und spielend das mannigfaltige Leben hervorbringt.“

Im April und Mai 1786 beobachtete Goethe durch das Mikroskop die niederen Organismen, die sich in Aufgüssen verschiedener Substanzen (Pisangmark, Kaktus, Trüffeln, Pfefferkörnern, Thee, Bier u. s. w.) entwickeln. Er notiert sorgfältig die Vorgänge, die er an diesen Lebewesen beobachtet und verfertigt Zeichnungen dieser organischen Formen (vergl. Goethes naturwissenschaftliche Schriften in der Weimarer Goethe-Ausgabe, 2. Abteilung, Band 7 S. 289–309). Man kann auch aus diesen Notizen ersehen, daß Goethe der Erkenntnis des Lebens nicht durch solche Beobachtung niederer und einfacher Organismen näher zu kommen sucht. Es ist ganz offenbar, daß er die wesentlichen Züge der Lebensvorgänge an den höheren Organismen ebenso zu erfassen glaubt wie an den niederen. Er ist der Ansicht, daß sich an dem Infusionstierchen dieselbe Art von Gesetzmäßigkeit wiederholt, die das Auge des Geistes an dem Hund wahrnimmt. Die Beobachtung durch das Mikroskop lehrt nur Vorgänge kennen, die im Kleinen das sind, was das unbewaffnete Auge im Großen sieht. Sie bietet eine Bereicherung der sinnlichen Erfahrung. Einer höheren Art des Anschauens, nicht einer Verfolgung der den Sinnen zugänglichen Vorgänge bis in ihre kleinsten Bestandteile, offenbart sich das Wesen des Lebens. Goethe sucht dieses Wesen durch die Betrachtung der höheren Pflanzen und Tiere zu erkennen. Er würde diese Erkenntnis ohne Zweifel in derselben Weise gesucht haben, auch wenn zu seiner Zeit die Pflanzen- und Tieranatomie schon ebenso weit vorgeschritten gewesen wäre, wie sie gegenwärtig ist. Wenn Goethe die Zellen, aus denen sich der Pflanzen- und Tierkörper aufbaut, hätte beobachten können, so würde er erklärt haben, daß sich an diesen elementaren organischen Formen dieselbe Gesetzmäßigkeit zeigt, die auch am Zusammengesetzten wahrzunehmen ist. Er hätte sich durch dieselben Ideen, durch die er sich die Lebensvorgänge der höheren Organismen erklärte, auch die Erscheinungen an diesen kleinen Wesen begreiflich gemacht.

Den lösenden Gedanken des Rätsels, das ihm die organische Bildung und Umbildung aufgegeben hat, findet Goethe erst in Italien. Am 3. September verläßt er Karlsbad. In wenigen, aber bedeutsamen Sätzen schildert er in seiner „Geschichte meines botanischen Studiums“ (Goethes Werke in Kürschners Nat.-Litt. Band 33 S. 61 ff.) die Gedanken, welche die Beobachtung der Pflanzenwelt in ihm aufregt bis zu dem Augenblicke, da ihm in Sizilien eine klare Vorstellung darüber sich offenbart, wie es möglich ist, daß den Pflanzenformen „bei einer eigensinnigen, generischen und spezifischen Hartnäckigkeit eine glückliche Mobilität und Biegsamkeit verliehen ist, um in so viele Bedingungen, die über den Erdkreis auf sie einwirken, sich zu fügen und darnach bilden und umbilden zu können“. Beim Übergang über die Alpen, im botanischen Garten von Padua und an andern Orten zeigte sich ihm das „Wechselhafte der Pflanzengestalten“. „Wenn in der tiefern Gegend Zweige und Stengel stärker und massiger waren, die Augen näher aneinander standen und die Blätter breit waren, so wurden höher ins Gebirg hinauf Zweige und Stengel zarter, die Augen rückten auseinander, sodaß von Knoten zu Knoten ein größerer Zwischenraum stattfand und die Blätter sich lanzenförmiger bildeten. Ich bemerkte dies bei einer Weide und einer Gentiana und überzeugte mich, daß es nicht etwa verschiedene Arten wären. Auch am Walchensee bemerkte ich längere und schlankere Binsen als im Unterlande“ (ital. Reise 8. Sept.). Am 8. Oktober findet er in Venedig am Meere verschiedene Pflanzen, an denen ihm die Wechselbeziehung des Organischen zu seiner Umgebung besonders anschaulich wird. „Sie sind alle zugleich mastig und streng, saftig und zäh, und es ist offenbar, daß das alte Salz des Sandbodens, mehr aber die salzige Luft ihnen diese Eigenschaft gibt; sie strotzen von Säften wie Wasserpflanzen, sie sind fett und zäh wie Bergpflanzen; wenn ihre Blätterenden eine Neigung zu Stacheln haben, wie Disteln tun, sind sie gewaltig spitz und stark. Ich fand einen solchen Busch Blätter; er erschien mir wie unser unschuldiger Huflattig, hier aber mit scharfen Waffen bewaffnet, und das Blatt wie Leder, so auch die Samenkapseln, die Stiele, alles mastig und fett“ (ital. Reise). Im botanischen Garten zu Padua bekommt der Gedanke in Goethes Geiste eine bestimmtere Gestalt, wie man sich alle Pflanzengestalten vielleicht aus einer entwickeln könne (ital. Reise, 27. Sept.); im November teilt er Knebel mit: „So freut mich doch mein bischen Botanik erst recht in diesem Lande, wo eine frohere, weniger unterbrochene Vegetation zu Hause ist. Ich habe schon recht artige, ins allgemeine gehende Bemerkungen gemacht, die auch Dir in der Folge angenehm sein werden.“ Am 25. März 1787 kommt ihm „eine gute Erleuchtung über botanische Gegenstände“. Er bittet „Herdern zu sagen, daß er mit der Urpflanze bald zu stande sei“. Nur fürchtet er, daß „niemand die übrige Pflanzenwelt darin wird erkennen wollen“ (ital. Reise). Am 17. April geht er mit dem „festen, ruhigen Vorsatz, seine dichterischen Träume fortzusetzen, nach dem öffentlichen Garten“. Allein ehe er sichs versieht, erhascht ihn das Pflanzenwesen wie ein Gespenst. „Die vielen Pflanzen, die ich sonst nur in Kübeln und Töpfen, ja die größte Zeit des Jahres nur hinter Glasfenstern zu sehen gewohnt war, stehen hier froh und frisch unter freiem Himmel, und indem sie ihre Bestimmung erfüllen, werden sie uns deutlicher. Im Angesicht so vielerlei neuen und erneuten Gebildes, fiel mir die alte Grille wieder ein, ob ich nicht unter dieser Schar die Urpflanze entdecken könnte? Eine solche muß es denn doch geben: woran würde ich sonst erkennen, daß dieses oder jenes Gebilde eine Pflanze sei, wenn sie nicht alle nach einem Muster gebildet wären?“ Er bemüht sich die abweichenden Gestalten zu unterscheiden, aber immer wieder werden seine Gedanken zu dem einen Urbild, das ihnen allen zu Grunde liegt, hingelenkt (ital. Reise, 17. April 1787). Goethe legt sich ein botanisches Tagebuch an, in dem er alle während der Reise über das Pflanzenreich gemachten Erfahrungen und Reflexionen einzeichnet (vergl. Goethes Werke in der Weimarischen Ausgabe, 2. Abt., Band 7 S. 273 ff.). Diese Tagebuchblätter zeigen, wie unermüdlich er damit beschäftigt ist, Pflanzenexemplare ausfindig zu machen, die geeignet sind, auf die Gesetze des Wachstums und der Fortpflanzung hinzuleiten. Glaubt er irgend einem Gesetze auf der Spur zu sein, so stellt er es zunächst in hypothetischer Form auf, um es sich dann im Verlauf seiner weiteren Erfahrungen bestätigen zu lassen. Die Vorgänge der Keimung, der Befruchtung, des Wachstums notiert er sorgfältig. Daß das Blatt das Grundorgan der Pflanze ist, und daß die Formen aller übrigen Pflanzenorgane am besten zu verstehen sind, wenn man sie als umgewandelte Blätter betrachtet, leuchtet ihm immer mehr ein. Er schreibt in das Tagebuch: „Hypothese: Alles ist Blatt und durch diese Einfachheit wird die größte Mannigfaltigkeit möglich.“ Und am 17. Mai teilt er Herder mit: „Ferner muß ich Dir vertrauen, daß ich dem Geheimnis der Pflanzenzeugung und Organisation ganz nahe bin, und daß es das Einfachste ist, was nur gedacht werden kann. Unter diesem Himmel kann man die schönsten Beobachtungen machen. Den Hauptpunkt, wo der Keim steckt, habe ich ganz klar und zweifellos gefunden, alles übrige sehe ich auch schon im ganzen, und nur noch einige Punkte müssen bestimmter werden. Die Urpflanze wird das wunderlichste Geschöpf von der Welt, um welches mich die Natur selbst beneiden soll. Mit diesem Modell und dem Schlüssel dazu kann man alsdann noch Pflanzen ins unendliche erfinden, die konsequent sein müssen, das heißt, die, wenn sie auch nicht existieren, doch existieren könnten, und nicht etwa malerische oder dichterische Schatten und Scheine sind, sondern eine innerliche Wahrheit und Notwendigkeit haben. Dasselbe Gesetz wird sich auf alles übrige Lebendige anwenden lassen.“ .... „Vorwärts und rückwärts ist die Pflanze immer nur Blatt, mit dem künftigen Keime so unzertrennlich vereint, daß man eins ohne das andere nicht denken darf. Einen solchen Begriff zu fassen, zu ertragen, ihn in der Natur aufzufinden, ist eine Aufgabe, die uns in einen peinlich süßen Zustand versetzt“ (ital. Reise).

Goethe nimmt zur Erklärung der Lebenserscheinungen einen Weg, der gänzlich verschieden ist von denen, welche die Naturforscher gewöhnlich gehen. Diese scheiden sich in zwei Parteien. Es gibt Verteidiger einer in den organischen Wesen wirkenden Lebenskraft, die gegenüber anderen Naturursachen eine besondere, höhere Kräfteform darstellt. Wie es Schwerkraft, chemische Anziehung und Abstoßung, Magnetismus u. s. w. gibt, so soll es auch eine Lebenskraft geben, welche die Stoffe des Organismus in eine solche Wechselwirkung bringt, daß dieser sich erhalten, wachsen, ernähren und fortpflanzen kann. Die Naturforscher, welche dieser Meinung sind, sagen: in dem Organismus wirken dieselben Kräfte wie in der übrigen Natur; aber sie wirken nicht wie in einer leblosen Maschine. Sie werden von der Lebenskraft gleichsam eingefangen und auf eine höhere Stufe des Wirkens gehoben. Den Bekennern dieser Meinung stehen andere Naturforscher gegenüber, welche glauben, daß in den Organismen keine besondere Kraft wirke. Sie halten die Lebenserscheinungen für komplizierte chemische und physikalische Vorgänge und geben sich der Hoffnung hin, daß es einst vielleicht gelingen werde, einen Organismus ebenso durch Zurückführung auf unorganische Kraftwirkungen zu erklären wie eine Maschine. Die erstere Ansicht wird als Vitalismus, die andere als Mechanismus bezeichnet. Von beiden ist die Goethesche Auffassungsweise durchaus verschieden. Daß in dem Organismus noch etwas anderes wirksam ist als die Kräfte der unorganischen Natur, erscheint ihm selbstverständlich. Zur mechanischen Auffassung der Lebenserscheinungen kann er sich nicht bekennen. Ebensowenig sucht er, um die Wirkungen im Organismus zu erklären, nach einer besonderen Lebenskraft. Er ist überzeugt, daß zur Erfassung der Lebensvorgänge eine Anschauung gehört, die anderer Art ist als diejenige, durch welche die Erscheinungen der unorganischen Natur wahrgenommen werden. Wer zur Annahme einer Lebenskraft sich entschließt, der sieht zwar ein, daß die organischen Wirkungen nicht mechanistisch sind, aber es fehlt ihm zugleich die Fähigkeit, jene andere Art der Anschauung in sich auszubilden, durch die ihm das Organische erkennbar werden könnte. Die Vorstellung der Lebenskraft bleibt dunkel und unbestimmt. Ein neuerer Anhänger des Vitalismus, Gustav Bunge, meint: „In der kleinsten Zelle — da stecken schon alle Rätsel des Lebens drin, und bei der Erforschung der kleinsten Zelle — da sind wir mit den bisherigen Hilfsmitteln bereits an der Grenze angelangt“ (Vitalismus und Mechanismus, Leipzig 1886, S. 17). Es ist durchaus im Sinne der Goetheschen Denkweise, darauf zu antworten: Dasjenige Anschauungsvermögen, welches nur das Wesen der unorganischen Erscheinungen erkennt, ist mit seinen Hilfsmitteln an der Grenze angelangt. Dieses wird aber nie innerhalb seines Bereiches Mittel finden, die zur Erklärung des Lebens der kleinsten Zelle geeignet sein können. Wie zur Wahrnehmung der Farbenerscheinungen das Auge gehört, so gehört zur Auffassung des Lebens die Fähigkeit, in dem Sinnlichen ein Übersinnliches unmittelbar anzuschauen. Dieses Übersinnliche wird demjenigen immer entschlüpfen, der nur die Sinne auf die organischen Formen richtet. Goethe sucht die sinnliche Anschauung der Pflanzengestalten auf eine höhere Art zu beleben und sich die sinnliche Form einer übersinnlichen Urpflanze vorzustellen (vergl. Geschichte meines botanischen Studiums in Kürschners Nat. Litt., Goethes Werke, Band 33 S. 80). Der Vitalist nimmt seine Zuflucht zu dem inhaltleeren Begriff der Lebenskraft, weil er das, was seine Sinne im Organismus nicht wahrnehmen können, überhaupt nicht sieht. Goethe sieht das Sinnliche von einem Übersinnlichen so durchdrungen, wie eine gefärbte Fläche von der Farbe.

Die Anhänger des Mechanismus sind der Ansicht, daß es einmal gelingen könne, lebende Substanzen auf künstlichem Wege aus unorganischen Stoffen herzustellen. Sie sagen, vor noch nicht vielen Jahren wurde behauptet, daß es im Organismus Substanzen gebe, die nicht auf künstlichem Wege, sondern nur durch die Wirkung der Lebenskraft entstehen können. Gegenwärtig ist man bereits im stande, einige dieser Substanzen künstlich im Laboratorium zu erzeugen. Ebenso könne es dereinst möglich sein, aus Kohlensäure, Ammoniak, Wasser und Salzen ein lebendiges Eiweiß herzustellen, welches die Grundsubstanz der einfachsten Organismen ist. Dann, meinen die Mechanisten, werde unbestreitbar erwiesen sein, daß Leben nichts weiter ist als eine Kombination unorganischer Vorgänge, der Organismus nichts weiter als eine auf natürlichem Wege entstandene Maschine.

Vom Standpunkte der Goetheschen Weltanschauung ist darauf zu erwidern: die Mechanisten sprechen in einer Weise von Stoffen und Kräften, die durch keine Erfahrung gerechtfertigt ist. Und man hat sich an diese Weise, zu sprechen, so gewöhnt, daß es sehr schwer wird, diesen Begriffen gegenüber die reinen Aussprüche der Erfahrung geltend zu machen. Man betrachte aber doch einen Vorgang der Außenwelt unbefangen. Man nehme ein Quantum Wasser von einer bestimmten Temperatur. Wodurch weiß man etwas von diesem Wasser? Man sieht es an und bemerkt, daß es einen Raum einnimmt und zwischen bestimmten Grenzen eingeschlossen ist. Man steckt den Finger oder ein Thermometer hinein, und findet es mit einem bestimmten Grade von Wärme behaftet. Man drückt gegen seine Oberfläche und erfährt, daß es flüssig ist. Das sind Aussprüche, welche die Sinne über den Zustand des Wassers machen. Nun erhitze man das Wasser. Es wird sieden und zuletzt sich in Dampf verwandeln. Wieder kann man sich durch die Wahrnehmung der Sinne von den Beschaffenheiten des Körpers, des Dampfes, in den sich das Wasser verwandelt hat, Kenntnis verschaffen. Statt das Wasser zu erhitzen, kann man es dem elektrischen Strom unter gewissen Bedingungen aussetzen. Es verwandelt sich in zwei Körper, Wasserstoff und Sauerstoff. Auch über die Beschaffenheit dieser beiden Körper kann man sich durch die Aussagen der Sinne belehren. Man nimmt also in der Körperwelt Zustände wahr und beobachtet zugleich, daß diese Zustände unter gewissen Bedingungen in andere übergehen. Über die Zustände unterrichten die Sinne. Wenn man noch von etwas anderem als von Zuständen, die sich verwandeln, spricht, so beschränkt man sich nicht mehr auf den reinen Tatbestand, sondern man fügt zu demselben Begriffe hinzu. Sagt man, der Sauerstoff und der Wasserstoff, die sich durch den elektrischen Strom aus dem Wasser entwickelt haben seien schon im Wasser enthalten gewesen, nur so innig mit einander verbunden, daß sie in ihrer Selbständigkeit nicht wahrzunehmen waren, so hat man zu der Wahrnehmung einen Begriff hinzugefügt, durch den man sich das Hervorgehen der beiden Körper aus dem einen erklärt. Und wenn man weitergeht und behauptet, Sauerstoff und Wasserstoff seien Stoffe, was man schon durch die Namen tut, die man ihnen beilegt, so hat man ebenfalls zu dem Wahrgenommenen einen Begriff hinzugefügt. Denn tatsächlich ist in dem Raume, der vom Sauerstoff eingenommen wird, nur eine Summe von Zuständen wahrzunehmen. Zu diesen Zuständen denkt man den Stoff hinzu, an dem sie haften sollen. Was man von dem Sauerstoff und dem Wasserstoff im Wasser schon vorhanden denkt, das Stoffliche, ist ein Gedachtes, das zu dem Wahrnehmungsinhalt hinzugefügt ist. Wenn man Wasserstoff und Sauerstoff durch einen chemischen Prozeß zu Wasser vereinigt, so kann man beobachten, daß eine Summe von Zuständen in eine andere übergeht. Wenn man sagt: es haben sich zwei einfache Stoffe zu einem zusammengesetzten vereinigt, so hat man eine begriffliche Auslegung des Beobachtungsinhaltes versucht. Die Vorstellung „Stoff“ erhält ihren Inhalt nicht aus der Wahrnehmung, sondern aus dem Denken. Ein ähnliches wie vom „Stoffe“ gilt von der „Kraft“. Man sieht einen Stein zur Erde fallen. Was ist der Inhalt der Wahrnehmung. Eine Summe von Sinneseindrücken, Zuständen, die an aufeinanderfolgenden Orten auftreten. Man sucht sich diese Veränderung in der Sinneswelt zu erklären, und sagt: die Erde ziehe den Stein an. Sie habe eine „Kraft“, durch die sie ihn zu sich hinzwingt. Wieder hat unser Geist eine Vorstellung zu dem Tatbestande hinzugefügt und derselben einen Inhalt gegeben, der nicht aus der Wahrnehmung stammt. Nicht Stoffe und Kräfte nimmt man wahr, sondern Zustände und deren Übergänge in einander. Man erklärt sich diese Zustandsänderungen durch Hinzufügung von Begriffen zu den Wahrnehmungen.

Man nehme einmal an, es gebe ein Wesen, das Sauerstoff und Wasserstoff wahrnehmen könnte, nicht aber Wasser. Wenn wir vor den Augen eines solchen Wesens den Sauerstoff und Wasserstoff zu Wasser vereinigten, so verschwänden vor ihm die Zustände, die es an den beiden Stoffen wahrgenommen hat, in Nichts. Wenn wir ihm nun die Zustände auch beschrieben, die wir am Wasser wahrnehmen: es könnte sich von ihnen keine Vorstellung machen. Das beweist, daß in den Wahrnehmungsinhalten des Sauerstoffs und des Wasserstoffs nichts liegt, aus dem der Wahrnehmungsinhalt Wasser abzuleiten ist. Ein Ding entsteht aus zwei oder mehreren andern heißt: es haben sich zwei oder mehrere Wahrnehmungsinhalte in einen zusammenhängenden, aber den ersteren gegenüber durchaus neuen, verwandelt.

Was wäre also erreicht, wenn es gelänge, Kohlensäure, Ammoniak, Wasser und Salze künstlich zu einer lebenden Eiweißsubstanz im Laboratorium zu vereinigen? Man wüßte, daß die Wahrnehmungsinhalte der vielerlei Stoffe sich zu einem Wahrnehmungsinhalt vereinigen können. Aber dieser Wahrnehmungsinhalt ist aus jenen durchaus nicht abzuleiten. Der Zustand des lebenden Eiweißes kann nur an diesem selbst beobachtet, nicht aus den Zuständen der Kohlensäure, des Ammoniaks, des Wassers und der Salze herausentwickelt werden. Im Organismus hat man etwas von den unorganischen Bestandteilen, aus denen er aufgebaut werden kann, völlig verschiedenes vor sich. Die sinnlichen Wahrnehmungsinhalte verwandeln sich bei der Entstehung des Lebewesens in sinnlich-übersinnliche. Und wer nicht die Fähigkeit hat, sich sinnlich-übersinnliche Vorstellungen zu machen, der kann von dem Wesen eines Organismus ebensowenig etwas wissen, wie jemand vom Wasser etwas erfahren könnte, wenn ihm die sinnliche Wahrnehmung desselben unzugänglich wäre.

Die Keimung, das Wachstum, die Umwandlung der Organe, die Ernährung und Fortpflanzung des Organismus sich als sinnlich-übersinnlichen Vorgang vorzustellen, war Goethes Bestreben bei seinen Studien über die Pflanzen- und die Tierwelt. Er bemerkte, daß dieser sinnlich-übersinnliche Vorgang in der Idee bei allen Pflanzen derselbe ist, und daß er nur in der äußeren Erscheinung verschiedene Formen annimmt. Dasselbe konnte Goethe für die Tierwelt feststellen. Hat man die Idee der sinnlich-übersinnlichen Urpflanze in sich ausgebildet, so wird man sie in allen einzelnen Pflanzenformen wiederfinden. Die Mannigfaltigkeit entsteht dadurch, daß das der Idee nach Gleiche in der Wahrnehmungswelt in verschiedenen Gestalten existieren kann. Der einzelne Organismus besteht aus Organen, die auf ein Grundorgan zurückzuführen sind. Das Grundorgan der Pflanze ist das Blatt mit dem Knoten, an dem es sich entwickelt. Dieses Organ nimmt in der äußeren Erscheinung verschiedene Gestalten an: Keimblatt, Laubblatt, Kelchblatt, Kronenblatt u. s. w. „Es mag die Pflanze sprossen, blühen oder Früchte tragen, so sind es doch immer nur dieselbigen Organe, welche in vielfältigen Bestimmungen und unter oft veränderten Gestalten die Vorschrift der Natur erfüllen.“

Um ein vollständiges Bild der Urpflanze zu erhalten, mußte Goethe die Formen im allgemeinen verfolgen, welche das Grundorgan im Fortgang des Wachstums einer Pflanze von der Keimung bis zur Samenreife durchmacht. Im Anfang ihrer Entwicklung ruht die ganze Pflanzengestalt in dem Samen. In diesem hat die Urpflanze eine Gestalt angenommen, durch die sie ihren ideellen Inhalt gleichsam in der äußeren Erscheinung verbirgt.

„Einfach schlief in dem Samen die Kraft; ein beginnendes Vorbild

Lag, verschlossen in sich, unter die Hülle gebeugt,

Blatt und Wurzel und Keim, nur halb geformet und farblos;

Trocken erhält so der Kern ruhiges Leben bewahrt,

Quillet strebend empor, sich milder Feuchte vertrauend,

Und erhebt sich sogleich aus der umgebenden Nacht.“

(Goethes Werke in Kürschners Nat.-Litt. Band 33 S. 105).

Aus dem Samen entwickelt die Pflanze die ersten Organe, die Kotyledonen, nachdem sie „ihre Hüllen mehr oder weniger in der Erde“ zurückgelassen und „die Wurzel in den Boden“ befestigt hat. Und nun folgt im weiteren Verlauf des Wachstums Trieb auf Trieb; Knoten auf Knoten türmt sich übereinander, und an jedem Knoten findet sich ein Blatt. Die Blätter erscheinen in verschiedenen Gestalten. Die unteren noch einfach, die oberen mannigfach gekerbt, eingeschnitten, aus mehreren Blättchen zusammengesetzt. Die Urpflanze breitet auf dieser Stufe der Entwicklung ihren sinnlich-übersinnlichen Inhalt im Raume als äußere sinnliche Erscheinung aus. Goethe stellt sich vor, daß die Blätter ihre fortschreitende Ausbildung und Verfeinerung dem Lichte und der Luft schuldig sind. „Wenn wir jene in der verschlossenen Samenhülle erzeugten Kotyledonen, mit einem rohen Safte nur gleichsam ausgestopft, fast gar nicht oder nur grob organisiert und ungebildet finden, so zeigen sich uns die Blätter der Pflanzen, welche unter dem Wasser wachsen, gröber organisiert als andere, der freien Luft ausgesetzte; ja, sogar entwickelt dieselbige Pflanzenart glättere und weniger verfeinerte Blätter, wenn sie in tiefen, feuchten Orten wächst, da sie hingegen, in höhere Gegenden versetzt, rauhe, mit Haaren versehene, feiner ausgebildete Blätter hervorbringt“ (Goethes Werke, Nat.-Litt. Band 33 S. 25 f.). In der zweiten Epoche des Wachstums zieht die Pflanze wieder in einen engeren Raum zusammen, was sie vorher ausgebreitet hat.

„Mäßiger leitet sie nun den Saft, verengt die Gefäße,

Und gleich zeigt die Gestalt zärtere Wirkungen an.

Stille zieht sich der Trieb der strebenden Ränder zurücke,

Und die Rippe des Stiels bildet sich völliger aus.

Blattlos aber und schnell hebt sich der zärtere Stengel,

Und ein Wundergebild zieht den Betrachtenden an.

Rings im Kreise stellet sich nun, gezählet und ohne

Zahl, das kleinere Blatt neben dem ähnlichen hin.

Um die Achse gedrängt, entscheidet der bergende Kelch sich,

Der zur höchsten Gestalt farbige Kronen entläßt.“

Im Kelch zieht sich die Pflanzengestalt zusammen; in der Blumenkrone breitet sie sich wieder aus. Nun folgt die nächste Zusammenziehung in den Staubgefäßen und dem Stempel, den Organen der Fortpflanzung. Die Bildungskraft der Pflanze entwickelte in den vorhergehenden Wachstumsperioden in einerlei Organen als Trieb, das Grundgebilde zu wiederholen. Dieselbe Kraft verteilt sich auf dieser Stufe der Zusammenziehung auf zwei Organe. Das Getrennte sucht sich wieder zusammenzufinden. Dies geschieht im Befruchtungsvorgang. Der in dem Staubgefäß vorhandene männliche Blütenstaub vereinigt sich mit der weiblichen Substanz, die im Stempel enthalten ist; und damit ist der Keim zu einer neuen Pflanze gegeben. Goethe nennt die Befruchtung eine geistige Anastomose und sieht in ihr nur eine andere Form des Vorgangs, der in der Entwicklung von einem Knoten zum andern stattfindet. „An allen Körpern, die wir lebendig nennen, bemerken wir die Kraft, ihresgleichen hervorzubringen. Wenn wir diese Kraft geteilt gewahr werden, bezeichnen wir sie unter dem Namen der beiden Geschlechter“ (Weimarische Goethe-Ausgabe, 2. Abteil., Band 6 S. 361). Von Knoten zu Knoten bringt die Pflanze ihresgleichen hervor. Denn Knoten und Blatt sind die einfache Form der Urpflanze. In dieser Form heißt die Hervorbringung Wachstum. Ist die Fortpflanzungskraft auf zwei Organe verteilt, so spricht man von zwei Geschlechtern. Auf diese Weise glaubt Goethe die Begriffe von Wachstum und Zeugung einander näher gerückt zu haben. In dem Stadium der Fruchtbildung erlangt die Pflanze ihre letzte Ausdehnung; in dem Samen erscheint sie wieder zusammengezogen. In diesen sechs Schritten vollendet die Natur einen Kreis von Pflanzenentwicklung, und sie beginnt den ganzen Vorgang wieder von vorne. In dem Samen sieht Goethe nur eine andere Form des Auges, das sich an den Laubblättern entwickelt. Die aus den Augen sich entfaltenden Seitenzweige sind ganze Pflanzen, die, statt in der Erde, auf einer Mutterpflanze stehen. Die Vorstellung von dem sich stufenweise, wie auf einer „geistigen Leiter“ vom Samen bis zur Frucht sich umbildenden Grundorgan ist die Idee der Urpflanze. Gleichsam um die Verwandlungsfähigkeit des Grundorgans für die sinnliche Anschauung zu beweisen, läßt die Natur unter gewissen Bedingungen auf einer Stufe statt des Organs, das nach dem regelmäßigen Wachstumsverlaufe entstehen sollte, ein anderes sich entwickeln. Bei den gefüllten Mohnen z. B. treten an der Stelle, wo die Staubgefäße entstehen sollten, Blumenblätter auf. Das Organ, das der Idee nach zum Staubgefäß bestimmt war, ist ein Blumenblatt geworden. In dem Organ, das im regelmäßigen Fortgang der Pflanzenentwicklung eine bestimmte Form hat, ist die Möglichkeit enthalten, auch eine andere anzunehmen.

Als Illustration seiner Idee von der Urpflanze betrachtet Goethe das Bryophyllum calycinum, die gemeine Keim-Zumpe, eine Pflanzenart, die von den Molukkeninseln nach Kalkutta und von da nach Europa gekommen ist. Aus den Kerben der fetten Blätter dieser Pflanzen entwickeln sich frische Pflänzchen, die, nach ihrer Ablösung, zu vollständigen Pflanzen auswachsen. Goethe sieht in diesem Vorgang sinnlich-anschaulich dargestellt, daß in dem Blatte eine ganze Pflanze der Idee nach ruht (vergl. Goethes Bemerkungen über das Bryophyllum calycinum in der Weimarischen Goethe-Ausgabe, 2. Abteil., Band VII S. 137 ff.).

Wer die Vorstellung der Urpflanze in sich ausbildet und so beweglich erhält, daß er sie in allen möglichen Formen denken kann, die ihr Inhalt zuläßt, der kann mit ihrer Hilfe sich alle Gestaltungen im Pflanzenreiche erklären. Er wird die Entwicklung der einzelnen Pflanze begreifen; aber er wird auch finden, daß alle Geschlechter, Arten und Varietäten nach diesem Urbilde geformt sind. Diese Anschauungen hat Goethe in Italien ausgebildet und in seiner 1790 erschienenen Schrift: „Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären“ niedergelegt.

Auch in der Entwicklung seiner Ideen über den menschlichen Organismus schreitet Goethe in Italien vor. Am 20. Januar schreibt er an Knebel: „Auf Anatomie bin ich so ziemlich vorbereitet, und ich habe mir die Kenntnis des menschlichen Körpers, bis auf einen gewissen Grad, nicht ohne Mühe erworben. Hier wird man durch die ewige Betrachtung der Statuen immerfort, aber auf eine höhere Weise hingewiesen. Bei unserer medizinisch-chirurgischen Akademie kommt es bloß darauf an, den Teil zu kennen, und hierzu dient auch wohl ein kümmerlicher Muskel. In Rom aber wollen die Teile nichts heißen, wenn sie nicht zugleich eine edle schöne Form darbieten. — In dem großen Lazarett San Spirito hat man den Künstlern zulieb einen sehr schönen Muskelkörper dergestalt bereitet, daß die Schönheit desselben in Verwunderung setzt. Er könnte wirklich für einen geschundenen Halbgott, für einen Marsyas gelten. — So pflegt man auch nach Anleitung der Alten das Skelett nicht als eine künstlich zusammengereihte Knochenmaske zu studieren, vielmehr zugleich mit den Bändern, wodurch es schon Leben und Bewegung erhält.“ Auch nach seiner Rückkehr aus Italien treibt Goethe fleißig anatomische Studien. Es drängt ihn, die Bildungsgesetze der tierischen Gestalt ebenso zu erkennen, wie ihm dies für diejenigen der Pflanze gelungen war. Er ist überzeugt, daß auch die Einheit des Tier-Organismus auf einem Grundorgan beruht, welches in der äußeren Erscheinung verschiedene Formen annehmen kann. Verbirgt sich die Idee des Grundorgans, so erscheint dieses ungeformt. Es stellt dann die einfacheren Organe des Tieres dar; bemächtigt sich die Idee des Stoffes so, daß sie ihn sich völlig ähnlich macht, dann entstehen die höheren, die edleren Organe. Was in den einfacheren Organen der Idee nach vorhanden ist, das schließt sich in den höheren nach außen auf. Es ist Goethe nicht geglückt, die Gesetzmäßigkeit der ganzen tierischen Gestalt in eine einzige Vorstellung zu fassen, wie er es für die Pflanzenform erreicht hat. Nur für einen Teil dieser Gestalt hat er das Bildungsgesetz gefunden, für das Rückenmark und Gehirn mit den diese Organe einschließenden Knochen. In dem Gehirn sieht er eine höhere Ausbildung des Rückenmarks. Jedes Nervenzentrum der Ganglien gilt ihm als ein auf niederer Stufe stehengebliebenes Gehirn (vergl. Weimarische Goethe-Ausgabe, 2. Abteil., Band 8 S. 360). Und die das Gehirn einschließenden Schädelknochen deutet er als Umformungen der Wirbelknochen, die das Rückenmark umhüllen. Daß er die hintern Schädelknochen (Hinterhauptbein, hinteres und vorderes Keilbein) als drei umgebildete Wirbel anzusehen hat, ist ihm schon früher aufgegangen; für die vorderen Schädelknochen behauptet er dasselbe, als er im Jahre 1790 auf den Dünen des Lido einen Schafschädel findet, der so glücklich geborsten ist, daß in dem Gaumbein, der oberen Kinnlade und dem Zwischenknochen drei Wirbel in verwandelter Gestalt unmittelbar sinnlich sich darzustellen scheinen.

Die Anatomie der Tiere war zu Goethes Zeit noch nicht so weit vorgeschritten, daß er ein Lebewesen hätte anführen können, welches wirklich an Stelle von entwickelten Schädelknochen Wirbel hat, und das also im sinnlichen Bilde das zeigt, was bei den vollkommenen Tieren nur der Idee nach vorhanden ist. Durch die Untersuchungen Carl Gegenbauers, die im Jahre 1872 veröffentlicht worden sind, ist es gelungen, eine solche Tierform anzugeben. Die Urfische oder Selachier haben Schädelknochen und ein Gehirn, die sich deutlich als Endglieder der Wirbelsäule und des Rückenmarkes erweisen. Nach dem Befund an diesen Tieren scheint allerdings eine größere Zahl von Wirbeln in die Kopfbildung eingegangen zu sein (mindestens neun), als Goethe angenommen hat. Dieser Irrtum über die Zahl der Wirbel und auch noch die Tatsache, daß im Embryonalzustand der Schädel der höheren Tiere keine Spur einer Zusammensetzung aus wirbelartigen Teilen zeigt, sondern sich aus einer einfachen knorpeligen Blase entwickelt, ist gegen den Wert der Goetheschen Idee von der Umwandlung des Rückenmarks und der Wirbelsäule angeführt worden. Man giebt zwar zu, daß der Schädel aus Wirbeln entstanden ist. Aber man leugnet, daß die Kopfknochen in der Form, in der sie sich bei den höheren Tieren zeigen, umgebildete Wirbel seien. Man sagt, daß eine vollkommene Verschmelzung der Wirbel zu einer knorpeligen Blase stattgefunden habe, in der die ursprüngliche Wirbelstruktur vollständig verschwunden sei. Aus dieser Knorpelkapsel haben sich dann die Knochenformen herausgebildet, die an höheren Tieren wahrzunehmen sind. Diese Formen haben sich nicht nach dem Urbilde des Wirbels gebildet, sondern entsprechend den Aufgaben, die sie am entwickelten Kopfe zu erfüllen haben. Man hätte also, wenn man nach einem Erklärungsgrund für irgend eine Schädelknochenform sucht, nicht zu fragen: wie hat sich ein Wirbel umgebildet, um zu dem Kopfknochen zu werden; sondern welche Bedingungen haben dazu geführt, daß sich diese oder jene Knochengestalt aus der einfachen Knorpelkapsel herausgetrennt hat? Man glaubt an die Bildung neuer Gestalten, nach neuen Bildungsgesetzen, nachdem die ursprüngliche Wirbelform in eine strukturlose Kapsel aufgegangen ist. Ein Widerspruch zwischen dieser Auffassung und der Goetheschen kann nur vom Standpunkte des Tatsachenfanatismus aus gefunden werden. Was in der Knorpelkapsel des Schädels nicht mehr sinnlich-wahrnehmbar ist, die Wirbelstruktur, ist in ihr gleichwohl der Idee nach vorhanden und tritt wieder in die Erscheinung, sobald die Bedingungen dazu vorhanden sind. In der knorpeligen Schädelkapsel verbirgt sich die Idee des wirbelförmigen Grundorgans innerhalb der sinnlichen Materie; in den ausgebildeten Schädelknochen tritt sie wieder in die äußere Erscheinung.

Goethe hofft, daß sich ihm die Bildungsgesetze der übrigen Teile des tierischen Organismus in derselben Weise offenbaren werden, wie es diejenigen des Gehirns, Rückenmarks und ihrer Umhüllungsorgane getan haben. Über die am Lido gemachte Entdeckung läßt er am 30. April Herdern durch Frau von Kalb sagen, daß er „der Tiergestalt und ihren mancherlei Umbildungen um eine ganze Formel näher gerückt ist und zwar durch den sonderbarsten Zufall“ (Goethe an Frau von Kalb). Er glaubt, seinem Ziele so nahe zu sein, daß er noch in demselben Jahre, das ihm den Fund gebracht hat, eine Schrift über die tierische Bildung vollenden will, die sich der „Metamorphose der Pflanzen“ an die Seite stellen läßt. (Briefwechsel mit Knebel S. 98.) In Schlesien, wohin er im Juli 1790 reist, treibt er Studien zur vergleichenden Anatomie und beginnt an einem Aufsatz „Über die Gestalt der Tiere“ zu schreiben. (Weimarische Goethe-Ausgabe, 2. Abt. Band 8 S. 261 ff.). Es ist Goethe nicht gelungen, von dem glücklich gewonnenen Ausgangspunkte aus zu den Bildungsgesetzen der ganzen Tiergestalt fortzuschreiten. So viel Ansätze er auch dazu macht, den Typus der tierischen Gestalt zu finden: etwas der Idee der Urpflanze Analoges ist nicht zu stande gekommen. Er vergleicht die Tiere untereinander und mit dem Menschen und sucht ein allgemeines Bild des tierischen Baues zu gewinnen, nach welchem, als einem Muster, die Natur die einzelnen Gestalten formt. Eine lebendige Vorstellung, die sich nach den Grundgesetzen der tierischen Bildung mit einem Gehalt erfüllt und so das Urtier der Natur gleichsam nachschafft, ist dieses allgemeine Bild des tierischen Typus nicht. Ein allgemeiner Begriff ist es nur, der von den besonderen Erscheinungen abgezogen ist. Er stellt das Gemeinsame in den mannigfaltigen Tierformen fest; aber er enthält nicht die Gesetzmäßigkeit der Tierheit.

„Alle Glieder bilden sich aus nach ew’gen Gesetzen,

Und die seltenste Form bewahrt im Geheimen das Urbild.“

(Gedicht, Die Metamorphose der Tiere).

Wie dieses Urbild durch gesetzmäßige Umformung eines Grundgliedes sich als die vielgliedrige Urform des tierischen Organismus entwickelt, davon konnte Goethe eine einheitliche Vorstellung nicht entwickeln. Sowohl der Versuch über „die Gestalt der Tiere“ als auch der 1795 in Jena entstandene „Entwurf einer vergleichenden Anatomie, ausgehend von der Osteologie“ und seine spätere ausführlichere Gestalt „Vorträge über die drei ersten Kapitel des Entwurfs einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie“ (1796) enthalten nur Anleitungen darüber, wie die Tiere zweckmäßig zu vergleichen sind, um ein allgemeines Schema zu gewinnen, nach dem die schaffende Gewalt die „organischen Naturen erzeugt und entwickelt“, eine Norm, nach welcher die „Beschreibungen auszuarbeiten“ und auf welche, indem „solche von der Gestalt der verschiedenen Tiere abgezogen wäre, die verschiedensten Gestalten wieder“ zurückzuführen sind (vergl. die genannten „Vorträge“). Bei der Pflanze hingegen hat Goethe gezeigt, wie ein Urgebilde durch aufeinanderfolgende Modifikationen sich gesetzmäßig zu der vollkommenen organischen Gestalt ausbildet.

Wenn er auch nicht die schaffende Naturgewalt in ihrer Bildungs- und Umbildungskraft durch die verschiedenen Glieder des tierischen Organismus hindurch verfolgen konnte, so ist es Goethe doch gelungen, einzelne Gesetze zu finden, an die sich die Natur bei der Bildung der tierischen Formen hält, welche die allgemeine Norm zwar festhalten, doch aber in der Erscheinung verschieden sind. Er stellt sich vor, daß die Natur nicht die Fähigkeit habe, das allgemeine Bild beliebig zu verändern. Wenn sie in einer Form ein Glied in besonders vollkommener Form ausbildet, so kann dies nur auf Kosten eines andern geschehen. Im Urorganismus sind alle Glieder enthalten, die bei irgend einem Tiere vorkommen können. Bei der einzelnen Tierform ist das eine ausgebildet, das andere nur angedeutet; das eine besonders vollkommen entwickelt, das andere vielleicht für die sinnliche Beobachtung gar nicht wahrzunehmen. Für den letztern Fall ist Goethe überzeugt, daß in jedem Tiere das, was von dem allgemeinen Typus an ihm nicht sichtbar, doch in der Idee vorhanden ist.

„Siehst du also dem einen Geschöpf besonderen Vorzug

Irgend gegönnt, so frage nur gleich, wo leidet es etwa

Mangel anderswo, und suche mit forschendem Geiste.

Finden wirst du sogleich zu aller Bildung den Schlüssel.

Denn so hat kein Tier, dem sämtliche Zähne den obern

Kiefer umzäunen, ein Horn auf seiner Stirn getragen,

Und daher ist den Löwen gehörnt der ewigen Mutter

Ganz unmöglich zu bilden und böte sie alle Gewalt auf;

Denn sie hat nicht Masse genug, die Reihen der Zähne

Völlig zu pflanzen und auch ein Geweih und Hörner zu treiben.“

(Metamorphose der Tiere).

Im Urorganismus sind alle Glieder ausgebildet und halten sich das Gleichgewicht; die Mannigfaltigkeit des Einzelnen entsteht dadurch, daß die Kraft der Bildung sich auf das eine Glied wirft und dafür ein anderes in der äußern Erscheinung gar nicht oder nur andeutungsweise entwickelt. Dieses Gesetz des tierischen Organismus nennt man heute das von der Korrelation oder Kompensation der Organe.

Goethe denkt sich in der Urpflanze die ganze Pflanzenwelt, in dem Urtiere die ganze Tierwelt der Idee nach enthalten. Aus diesem Gedanken entsteht die Frage: wie kommt es, daß in dem einen Falle diese bestimmten Pflanzen- oder Tierformen, in dem andern Falle jene entstehen? Unter welchen Bedingungen wird aus dem Urtiere ein Fisch? Unter welchen ein Vogel? Goethe findet zur Erklärung des Baues der Organismen in der Wissenschaft eine Vorstellungsart vor, die ihm zuwider ist. Die Anhänger dieser Vorstellungsart fragen bei jedem Organ: wozu dient es dem Lebewesen, an dem es vorkommt? Einer solchen Frage liegt der allgemeine Gedanke zu Grunde, daß ein göttlicher Schöpfer oder die Natur jedem Wesen einen bestimmten Lebenszweck vorgesetzt und ihm dann einen solchen Bau gegeben habe, daß es diesen Zweck erfüllen kann. Goethe findet eine solche Frage ebenso ungereimt, wie etwa die: zu welchem Zwecke bewegt sich eine elastische Kugel, wenn sie von einer andern gestoßen wird? Eine Erklärung der Bewegung kann nur gegeben werden durch Auffinden des Gesetzes, nach welchem die Kugel durch einen Stoß oder eine andere Ursache in Bewegung versetzt worden ist. Man fragt nicht: wozu dient die Bewegung der Kugel, sondern: woher entspringt sie? Ebenso soll man, nach Goethes Meinung, nicht fragen: wozu hat der Stier Hörner, sondern: wie kann er Hörner haben. Durch welche Gesetze tritt in dem Stiere das Urtier als hörnertragende Form auf? Goethe hat die Idee der Urpflanze und des Urtieres gesucht, um in ihnen die Erklärungsgründe für die Mannigfaltigkeit der organischen Formen zu finden. Die Urpflanze ist das schaffende Element in der Pflanzenwelt. Will man eine einzelne Pflanzenart erklären, so muß man zeigen, wie dieses schaffende Element in dem besonderen Falle wirkt. Die Vorstellung, ein organisches Wesen verdanke seine Gestalt nicht den in ihm wirkenden und bildenden Kräften, sondern sie sei ihm zu gewissen Zwecken von außen aufgedrängt, wirkt auf Goethe geradezu abstoßend. Er schreibt: „Neulich fand ich in einer leidig apostolisch kapuzinermäßigen Deklamation des Züricher Propheten die unsinnigen Worte: Alles, was Leben hat, lebt durch etwas außer sich — oder so ungefähr klang’s. Das kann nun so ein Heidenbekehrer hinschreiben, und bei der Revision zupft ihn der Genius nicht beim Ärmel“ (ital. Reise, 5. Oktober 1787). Goethe denkt sich das organische Wesen als eine kleine Welt, die durch sich selbst da ist und sich nach ihren Gesetzen gestaltet. „Die Vorstellungsart, daß ein lebendiges Wesen zu gewissen Zwecken nach außen hervorgebracht sei und seine Gestalt durch eine absichtliche Urkraft dazu determiniert werde, hat uns in der philosophischen Betrachtung der natürlichen Dinge schon mehrere Jahrhunderte aufgehalten, und hält uns noch auf, obgleich einzelne Männer diese Vorstellungsart eifrig bestritten, die Hindernisse, welche sie in den Weg legt, gezeigt haben ... Es ist, wenn man sich so ausdrücken darf, eine triviale Vorstellungsart, die eben deswegen, wie alle trivialen Dinge, trivial ist, weil sie der menschlichen Natur im ganzen bequem und zureichend ist“ (vergl. Weimarische Goethe-Ausgabe, 2. Abteil., Band 7 S. 217 f.). Es ist allerdings bequem zu sagen: ein Schöpfer hat bei Erschaffung einer organischen Art einen gewissen Zweckgedanken zu Grunde gelegt, und ihr deswegen eine bestimmte Gestalt gegeben. Goethe will aber die Natur nicht aus den Absichten irgend eines göttlichen Wesens, sondern aus den in ihr selbst liegenden Bildungsgesetzen erklären. Eine einzelne organische Form entsteht dadurch, daß Urpflanze oder Urtier in einem besonderen Falle sich eine bestimmte Gestalt geben. Diese Gestalt muß eine solche sein, daß die Form innerhalb der Bedingungen, in denen sie lebt, auch leben kann. „Die Existenz eines Geschöpfes, das wir Fisch nennen, ist nur unter der Bedingung eines Elementes, das wir Wasser nennen, möglich“ (Weimarische Ausgabe, 2. Abteil., Band 7 S. 221). Will Goethe begreifen, welche Bildungsgesetze eine bestimmte organische Form hervorbringen, so hält er sich an seinen Urorganismus. In ihm liegt die Kraft, sich in den mannigfaltigsten äußeren Gestalten zu verwirklichen. Um einen Fisch zu erklären, würde Goethe untersuchen, welche Bildungskräfte das Urtier anwendet, um von allen Gestalten, die der Idee nach in ihm liegen, gerade die Fischgestalt hervorzubringen. Würde das Urtier innerhalb gewisser Verhältnisse sich in einer Gestalt verwirklichen, in der es nicht leben kann, so ginge es zu Grunde. Erhalten kann sich eine organische Form innerhalb gewisser Lebensbedingungen nur, wenn es denselben angepaßt ist.

„Also bestimmt die Gestalt die Lebensweise des Tieres,

Und die Weise zu leben, sie wirkt auf alle Gestalten

Mächtig zurück. So zeiget sich fest die geordnete Bildung,

Welche zum Wechsel sich neigt durch äußerlich wirkende Wesen.“

(Metamorphose der Tiere.)

Die in einem gewissen Lebenselemente dauernden organischen Formen sind durch die Natur dieses Elementes bedingt. Wenn eine organische Form aus einem Lebenselemente in ein anderes käme, so müßte sie sich entsprechend verändern. Das wird in bestimmten Fällen eintreten können, denn der ihr zu Grunde liegende Urorganismus hat die Fähigkeit, sich in unzähligen Gestalten zu verwirklichen. Die Umwandlung der einen Form in die andere ist aber, nach Goethes Ansicht, nicht so zu denken, daß die äußeren Verhältnisse die Form unmittelbar nach sich umbilden, sondern so, daß sie die Veranlassung werden, durch die sich die innere Wesenheit verwandelt. Veränderte Lebensbedingungen reizen die organische Form, sich nach inneren Gesetzen in einer gewissen Weise umzubilden. Die äußeren Einflüsse wirken mittelbar, nicht unmittelbar auf die Lebewesen. Unzählige Lebensformen sind in Urpflanze und Urtier der Idee nach enthalten; diejenigen kommen zur thatsächlichen Existenz, auf welche äußere Einflüsse als Reize wirken.

Die Vorstellung, daß eine Pflanzen- oder Tierart sich im Laufe der Zeiten durch gewisse Bedingungen in eine andere verwandelt, hat innerhalb der Goetheschen Naturanschauung ihre volle Berechtigung. Goethe stellt sich vor, daß die Kraft, welche im Fortpflanzungsvorgang ein neues Individuum hervorbringt, nur eine Umwandlung derjenigen Kraftform ist, die auch die fortschreitende Umbildung der Organe im Verlaufe des Wachstums bewirkt. Die Fortpflanzung ist ein Wachstum über das Individuum hinaus. Wie das Grundorgan während des Wachstums eine Folge von Veränderungen durchläuft, die der Idee nach gleich sind, so kann auch bei der Fortpflanzung eine Umwandlung der äußeren Gestalt unter Festhaltung des ideellen Urbildes stattfinden. Wenn eine ursprüngliche Organismenform vorhanden war, so konnten die Nachkommen derselben im Laufe großer Zeiträume durch allmähliche Umwandlung in die gegenwärtig die Erde bevölkernden mannigfaltigen Formen übergehen. Der Gedanke einer tatsächlichen Blutsverwandtschaft aller organischen Formen fließt aus den Grundanschauungen Goethes. Er hätte ihn sogleich nach der Konzeption seiner Ideen von Urtier und Urpflanze in vollkommener Form aussprechen können. Aber er drückt sich, wo er diesen Gedanken berührt, zurückhaltend, ja unbestimmt aus. In dem Aufsatz: „Versuch einer allgemeinen Vergleichungslehre“, der nicht lange nach der „Metamorphose der Pflanzen“ entstanden sein dürfte, ist zu lesen: „Und wie würdig ist es der Natur, daß sie sich immer derselben Mittel bedienen muß, um ein Geschöpf hervorzubringen und es zu ernähren! So wird man auf eben diesen Wegen fortschreiten und, wie man nur erst die unorganisierten, undeterminierten Elemente als Vehikel der organisierten Wesen angesehen, so wird man sich nunmehr in der Betrachtung erheben und wird die organisierte Welt wieder als einen Zusammenhang von vielen Elementen ansehen. Das ganze Pflanzenreich z. B. wird uns wieder als ein ungeheures Meer erscheinen, welches ebensogut zur bedingten Existenz der Insekten nötig ist als das Weltmeer und die Flüsse zur bedingten Existenz der Fische, und wir werden sehen, daß eine ungeheure Anzahl lebender Geschöpfe in diesem Pflanzenozean geboren und ernährt werde, ja wir werden zuletzt die ganze tierische Welt wieder nur als ein großes Element ansehen, wo ein Geschlecht auf dem andern und durch das andere, wo nicht entsteht, doch sich erhält.“ Rückhaltloser ist folgender Satz der „Vorträge über die drei ersten Kapitel des Entwurfs einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie“ (1796): „Dies also hätten wir gewonnen, ungescheut behaupten zu können, daß alle vollkommenern organischen Naturen, worunter wir Fische, Amphibien, Vögel, Säugetiere und an der Spitze der letztern den Menschen sehen, alle nach einem Urbilde geformt seien, das nur in seinen beständigen Teilen mehr oder weniger hin- und herneigt und sich noch täglich durch Fortpflanzung aus- und umbildet.“ Goethes Vorsicht dem Umwandlungsgedanken gegenüber ist begreiflich. Der Zeit, in welcher er seine Ideen ausbildete, war dieser Gedanke nicht fremd. Aber sie hatte ihn in der wüstesten Weise ausgebildet. „Die damalige Zeit (schreibt Goethe 1807, vergl. Kürschners Nat.-Litt., Goethes Werke Band 33 S. 12) jedoch war dunkler, als man es sich jetzt vorstellen kann. Man behauptete zum Beispiel, es hänge nur vom Menschen ab, bequem auf allen vieren zu gehen, und Bären, wenn sie sich eine Zeit lang aufrecht hielten, könnten zu Menschen werden. Der verwegene Diderot wagte gewisse Vorschläge, wie man ziegenfüßige Faune hervorbringen könne, um solche in Livrée, zu besonderem Staat und Auszeichnung, den Großen und Reichen auf die Kutsche zu stiften.“ Mit solchen unklaren Vorstellungen wollte Goethe nichts zu thun haben. Ihm lag daran, eine Idee von den Grundgesetzen des Lebendigen zu gewinnen. Dabei wurde ihm klar, daß die Gestalten des Lebendigen nichts Starres, Unveränderliches, sondern daß sie in einer fortwährenden Umbildung begriffen sind. Wie diese Umbildung sich im einzelnen vollzieht, festzustellen, dazu fehlten ihm die Beobachtungen. Erst Darwins Forschungen und Häckels geistvolle Reflexionen haben einiges Licht auf die tatsächlichen Verwandtschaftsverhältnisse einzelner organischer Formen geworfen. Vom Standpunkt der Goetheschen Weltanschauung kann man sich den Behauptungen des Darwinismus gegenüber, soweit sie das tatsächliche Hervorgehen einer organischen Art aus der andren betreffen, nur zustimmend verhalten. Goethes Ideen dringen aber tiefer in das Wesen des Organischen ein als der Darwinismus der Gegenwart. Dieser glaubt die im Organischen gelegenen inneren Triebkräfte, die sich Goethe unter dem sinnlich-übersinnlichen Bilde vorstellt, entbehren zu können. Ja er spricht Goethe sogar die Berechtigung ab, von seinen Voraussetzungen aus von einer wirklichen Umwandlung der Organe und Organismen zu sprechen. Jul. Sachs weist Goethes Gedanken mit den Worten zurück, er übertrage „die vom Verstand vollzogene Abstraktion auf das Objekt selbst, indem er diesem eine Metamorphose zuschreibt, die sich im Grunde genommen nur in unserem Begriffe vollzogen hat.“ Goethe soll, nach dieser Ansicht, nichts weiter gethan haben als Laubblätter, Kelchblätter, Blumenblätter u. s. w. unter einen allgemeinen Begriff gebracht und mit dem Namen Blatt bezeichnet haben. „Ganz anders freilich wäre die Sache, wenn ... wir annehmen dürften, daß bei den Vorfahren der uns vorliegenden Pflanzenform die Staubfäden gewöhnliche Blätter waren u. s. w.“ (Sachs, Geschichte der Botanik 1875 S. 169). Diese Ansicht entspringt dem Tatsachenfanatismus, der nicht einsehen kann, daß die Ideen ebenso objektiv zu den Dingen gehören, wie das, was man mit den Sinnen wahrnehmen kann. Goethe ist der Ansicht, daß von Verwandlung eines Organes in das andere nur gesprochen werden kann, wenn beide außer ihrer äußeren Erscheinung noch etwas enthalten, das ihnen gemeinsam ist. Dies ist die sinnlich-übersinnliche Form. Das Staubgefäß einer uns vorliegenden Pflanzenform kann nur dann als das umgewandelte Blatt der Vorfahren bezeichnet werden, wenn in beiden die gleiche sinnlich-übersinnliche Form lebt. Ist das nicht der Fall, entwickelt sich an der uns vorliegenden Pflanzenform einfach an derselben Stelle ein Staubgefäß, an der sich bei den Vorfahren ein Blatt entwickelt hat, dann hat sich nichts verwandelt, sondern es ist an die Stelle des einen Organs ein anderes getreten. Der Zoologe Oskar Schmidt fragt: „Was sollte denn auch nach Goethes Anschauungen umgebildet werden? Das Urbild doch nicht“ (War Goethe Darwinianer? Graz 1871 S. 22). Gewiß wandelt sich nicht das Urbild um, denn dieses ist ja in allen Formen das gleiche. Aber eben weil dieses gleich bleibt, können die äußeren Gestalten verschieden sein und doch ein einheitliches Ganzes darstellen. Könnte man nicht in zwei auseinander entwickelten Formen das gleiche ideelle Urbild erkennen, so könnte keine Beziehung zwischen ihnen angenommen werden. Erst durch die Vorstellung der ideellen Urform kann man mit der Behauptung, die organischen Formen entstehen durch Umbildung auseinander, einen wirklichen Sinn verbinden. Wer nicht zu dieser Vorstellung sich erhebt, der bleibt innerhalb der bloßen Tatsachen stecken. In ihr liegen die Gesetze der organischen Entwicklung. Wie durch Kepplers drei Grundgesetze die Vorgänge im Sonnensystem begreiflich sind, so durch Goethes ideelle Urbilder die Gestalten der organischen Natur.

Kant, der dem menschlichen Geiste die Fähigkeit abspricht, ein Ganzes ideell zu durchdringen, durch welches ein Mannigfaltiges in der Erscheinung bestimmt wird, nennt es ein „gewagtes Abenteuer der Vernunft“, wenn jemand die einzelnen Formen der organischen Welt aus einem Urorganismus erklären wollte. Für ihn ist der Mensch nur im stande, die mannigfaltigen Einzelerscheinungen in einen allgemeinen Begriff zusammenzufassen, durch den sich der Verstand ein Bild macht von der Einheit. Dieses Bild ist aber nur im menschlichen Geiste vorhanden und hat nichts zu thun mit der schaffenden Gewalt, durch welche die Einheit wirklich die Mannigfaltigkeit aus sich hervorgehen läßt. Das „gewagte Abenteuer der Vernunft“ bestände darin, daß jemand annähme, die Erde ließe aus ihrem Mutterschoß erst einfache Organismen von minder zweckmäßiger Bildung hervorgehen, die aus sich zweckmäßigere Formen gebären. Daß ferner aus diesen noch höhere sich entwickeln bis hinauf zu den vollkommensten Lebewesen. Wenn auch jemand eine solche Annahme machte, meint Kant, so könne er doch nur eine absichtsvolle Schöpferkraft zu Grunde legen, welche der Entwicklung einen solchen Anstoß gegeben hat, daß sich alle ihre einzelnen Glieder zweckmäßig entwickeln. Der Mensch nimmt eben eine Vielheit mannigfaltiger Organismen wahr; und da er nicht in sie hineindringen kann, um zu sehen, wie sie sich selbst eine Form geben, die dem Lebenselement angepaßt ist, in dem sie sich entwickeln, so muß er sich vorstellen, sie seien von außen her so eingerichtet, daß sie innerhalb ihrer Bedingungen leben können. Goethe legt sich die Fähigkeit bei, zu erkennen, wie die Natur aus dem Ganzen das Einzelne, aus dem Innern das Äußere schafft. Was Kant „Abenteuer der Vernunft“ nennt, will er deshalb mutig bestehen (vergl. den Aufsatz „Anschauende Urteilskraft“, Goethes Werke in Kürschners Nat.-Litt. Bd. 34). Wenn wir keinen anderen Beweis dafür hätten, daß Goethe den Gedanken einer Blutsverwandtschaft aller organischen Formen als berechtigt anerkennt, wir müßten es aus diesem Urteil über Kants „Abenteuer der Vernunft“ folgern.

Ein noch vorhandener skizzenhafter „Entwurf einer Morphologie“ läßt erraten, daß Goethe den Plan hatte, die besonderen Gestalten in ihrer Stufenfolge darzustellen, die seine Urpflanze und sein Urtier in den Hauptformen der Lebewesen annehmen (vergl. Weimar. Ausgabe, 2. Abteil., Band 6 S. 321). Er wollte zuerst das Wesen des Organischen schildern, wie es ihm bei seinem Nachdenken über Tiere und Pflanzen aufgegangen. Dann „aus einem Punkte ausgehend“ zeigen, wie das organische Urwesen sich nach der einen Seite zu der mannigfaltigen Pflanzenwelt, nach der andern zu der Vielheit der Tierformen entwickelt, wie besonderen Formen der Würmer, Insekten, der höheren Tiere und die Form des Menschen aus dem allgemeinen Urbilde abgeleitet werden können. Auch auf die Physiognomik und Schädellehre sollte ein Licht fallen. Die äußere Gestalt im Zusammenhange mit den inneren geistigen Fähigkeiten darzustellen, machte sich Goethe zur Aufgabe. Es drängte ihn, den organischen Bildungstrieb, der sich in den niederen Organismen in einer einfachen äußeren Erscheinung darbietet, zu verfolgen in seinem Streben, sich stufenweise in immer vollkommeneren Gestalten zu verwirklichen, bis er sich in dem Menschen eine Form giebt, die diesen zum Schöpfer der geistigsten Erzeugnisse geeignet macht.

Dieser Plan Goethes ist ebensowenig zur Ausführung gekommen wie ein anderer, zu dem das Fragment „Vorarbeiten zu einer Physiologie der Pflanzen“ ein Anlauf ist (vergl. Weimar. Goethe-Ausgabe, 2. Abteil., Band 6 S. 286 ff.). Goethe wollte zeigen, wie alle einzelnen Zweige des Naturerkennens: Naturgeschichte, Naturlehre, Anatomie, Chemie, Zoonomie und Physiologie zusammenwirken müssen, um von einer höheren Anschauungsweise dazu verwendet zu werden, Gestalten und Vorgänge der Lebewesen zu erklären. Er wollte eine neue Wissenschaft, eine allgemeine Morphologie der Organismen aufstellen, zwar „nicht dem Gegenstande nach, denn derselbe ist bekannt, sondern der Ansicht und der Methode nach, welche sowohl der Lehre selbst eine eigene Gestalt geben muß, als ihr auch gegen andere Wissenschaften ihren Platz anzuweisen hat.“ Was die Anatomie, Naturgeschichte, Naturlehre, Chemie, Zoonomie, Physiologie an einzelnen Naturgesetzen darbieten, soll von der lebendigen Vorstellung des Organischen ebenso aufgenommen und auf eine höhere Stufe gestellt werden, wie das Lebewesen selbst die einzelnen Naturvorgänge in den Kreis seiner Bildung aufnimmt und auf eine höhere Stufe des Wirkens stellt.

Goethe ist zu den Ideen, die ihm durch das Labyrinth der lebendigen Gestalten durchhalfen, auf eigenen Wegen gelangt. Die herrschenden Anschauungen über wichtige Gebiete des Naturwirkens widersprachen seiner allgemeinen Weltanschauung. Deshalb mußte er sich selbst über solche Gebiete Vorstellungen ausbilden, die seinem Wesen gemäß waren. Er war aber überzeugt, daß es nichts Neues unter der Sonne gebe, und daß man „gar wohl in Überlieferungen schon angedeutet finden könne, was man selbst gewahr wird“. Er teilt gelehrten Freunden aus diesem Grunde seine Schrift über die „Metamorphose der Pflanzen“ mit und bittet sie, ihm darüber Auskunft zu geben, ob über den behandelten Gegenstand schon etwas geschrieben oder überliefert ist. Er hat die Freude, daß ihn Friedrich August Wolf, auf einen „trefflichen Vorarbeiter“, Kaspar Friedrich Wolf aufmerksam macht. Goethe macht sich mit dessen 1759 erschienenen Theoria generationis bekannt. Gerade an diesem Vorarbeiter aber ist zu beobachten, wie jemand eine richtige Ansicht über die Tatsachen haben und doch nicht zur vollendeten Idee der organischen Bildung kommen kann, wenn er nicht fähig ist, sich durch ein höheres als das sinnliche Anschauungsvermögen in den Besitz der sinnlich-übersinnlichen Form des Lebens zu setzen. Wolf ist ein ausgezeichneter Beobachter. Er sucht durch mikroskopische Untersuchungen sich über die Anfänge des Lebens aufzuklären. Er erkennt in dem Kelch, der Blumenkrone, den Staubgefäßen, dem Stempel, dem Samen umgewandelte Blätter. Aber er schreibt die Umwandlung einer allmählichen Abnahme der Lebenskraft zu, die in dem Maße sich vermindern soll, als die Vegetation länger fortgesetzt wird, um endlich ganz zu verschwinden. Kelch, Krone u. s. w. sind ihm daher eine unvollkommene Ausbildung der Blätter. Wolf ist als Gegner Hallers aufgetreten, der die Präformations- oder Einschachtelungslehre vertrat. Nach dieser sollten alle Glieder eines ausgewachsenen Organismus im Keim schon im Kleinen vorgebildet sein, und zwar in derselben Gestalt und gegenseitigen Anordnung wie im vollendeten Lebewesen. Die Entwicklung eines Organismus ist demzufolge nur eine Auswicklung des schon Vorhandenen. Wolf ließ nur das gelten, was er mit Augen sah. Und da der eingeschachtelte Zustand eines Lebewesens auch durch die sorgfältigsten Beobachtungen nicht zu entdecken war, betrachtete er die Entwicklung als eine wirkliche Neubildung. Die Gestalt eines organischen Wesens ist, nach seiner Ansicht, im Keime noch nicht vorhanden. Goethe ist derselben Meinung in Bezug auf die äußere Erscheinung. Auch er lehnt die Einschachtelungslehre Hallers ab. Für Goethe ist der Organismus im Keime zwar vorgebildet, aber nicht der äußeren Erscheinung, sondern der Idee nach. Die äußere Erscheinung betrachtet auch er als eine Neubildung. Aber er wirft Wolf vor, daß dieser da, wo er nichts mit den Augen des Leibes sieht, auch mit Geistes-Augen nichts wahrnimmt. Wolf hatte keine Vorstellung davon, daß etwas der Idee nach doch vorhanden sein kann, auch wenn es nicht in die äußere Erscheinung tritt. „Deshalb ist er immer bemüht, auf die Anfänge der Lebensbildung durch mikroskopische Untersuchungen zu dringen, und so die organischen Embryonen von ihrer frühesten Erscheinung bis zur Ausbildung zu verfolgen. Wie vortrefflich diese Methode auch sei, durch die er soviel geleistet hat; so dachte der treffliche Mann doch nicht, daß es ein Unterschied sei zwischen Sehen und Sehen, daß die Geistes-Augen mit den Augen des Leibes in stetem lebendigen Bunde zu wirken haben, weil man sonst in Gefahr gerät zu sehen und doch vorbeizusehen. — Bei der Pflanzenverwandlung sah er dasselbige Organ sich immerfort zusammenziehen, sich verkleinern; daß aber dieses Zusammenziehen mit einer Ausdehnung abwechsele, sah er nicht. Er sah, daß es sich an Volum verringere, und bemerkte nicht, daß es sich zugleich veredle, und schrieb daher den Weg zur Vollendung, widersinnig, einer Verkümmerung zu“ (33. Band der Goethe-Ausgaben in Kürschners Nat.-Litt.).

Bis zu seinem Lebensende stand Goethe mit zahlreichen Naturforschern in persönlichem und schriftlichem Verkehre. Er beobachtete die Fortschritte der Wissenschaft von den Lebewesen mit dem regsten Interesse; er sah mit Freuden, wie in diesem Erkenntnisgebiete Vorstellungsarten Eingang fanden, die sich der seinigen näherten und wie auch seine Metamorphosenlehre von einzelnen Forschern anerkannt und fruchtbar gemacht wurde. Im Jahre 1817 begann er seine Arbeiten zu sammeln und in einer Zeitschrift, die er unter dem Titel „Zur Morphologie“ begründete, herauszugeben. Zu einer Weiterbildung seiner Ideen über organische Bildung durch eigene Beobachtung oder Reflexion kam er trotz alledem nicht mehr. Zu einer eingehenderen Beschäftigung mit solchen Ideen fand er sich nur noch zweimal angeregt. In beiden Fällen fesselten ihn wissenschaftliche Erscheinungen, in denen er eine Bestätigung seiner Gedanken fand. Die eine waren die Vorträge, die K. F. Ph. Martius über die „Vertikal- und Spiraltendenz der Vegetation“ auf den Naturforscherversammlungen in den Jahren 1828 und 29 hielt und von denen die Zeitschrift „Isis“ Auszüge brachte; die andere ein naturwissenschaftlicher Streit in der französischen Akademie, der im Jahre 1830 zwischen Geoffroy de Saint-Hilaire und Cuvier ausbrach.

Martius dachte sich das Wachstum der Pflanze von zwei Tendenzen beherrscht, von einem Streben in der senkrechten Richtung, wovon Wurzel und Stengel beherrscht werden; und von einem anderen, wodurch Blätter-, Blütenorgane u. s. w. veranlaßt werden, sich gemäß der Form einer Spirallinie an die senkrechten Organe anzugliedern. Goethe griff diese Ideen auf und brachte sie mit seiner Vorstellung von der Metamorphose in Verbindung. Er schrieb einen längeren Aufsatz (Goethe-Ausgabe in Kürschners Nat.-Litt. Band 33), in dem er alle seine Erfahrungen über die Pflanzenwelt zusammenstellte, die ihm auf das Vorhandensein der zwei Tendenzen hinzudeuten schienen. Er glaubt, daß er diese Tendenzen in seine Idee der Metamorphose aufnehmen müsse. „Wir mußten annehmen: es walte in der Vegetation eine allgemeine Spiraltendenz, wodurch in Verbindung mit dem vertikalen Streben aller Bau, jede Bildung der Pflanzen nach dem Gesetze der Metamorphose vollbracht wird.“ Das Vorhandensein der Spiralgefäße in einzelnen Pflanzenorganen faßt Goethe als Beweis auf, daß die Spiraltendenz das Leben der Pflanze durchgreifend beherrscht. „Nichts ist der Natur gemäßer, als daß sie das, was sie im ganzen intentioniert, durch das Einzelnste in Wirksamkeit versetzt.“ „Man trete zur Sommerszeit vor eine im Gartenboden eingesteckte Stange, an welcher eine Winde (Konvolvel) von unten an sich fortschlängelnd in die Höhe steigt, sich fest anschließend ihren lebendigen Wachstum verfolgt. Man denke sich Winde und Stange, beide gleich lebendig, aus einer Wurzel aufsteigend, sich wechselweise hervorbringend und so unaufhaltsam fortschreitend. Wer sich diesen Anblick in ein inneres Anschauen verwandeln kann, der wird sich den Begriff sehr erleichtert haben. Die rankende Pflanze sucht das außer sich, was sie sich selbst geben sollte und nicht vermag.“ Dasselbe Gleichnis wendet Goethe am 15. März 1832 in einem Briefe an den Grafen Sternberg an und setzt die Worte hinzu: „Freilich paßt dies Gleichnis nicht ganz, denn im Anfang mußte die Schlingpflanze sich um den sich erhebenden Stamm in kaum merklichen Kreisen herumwinden. Je mehr sie sich aber der oberen Spitze näherte, desto schneller mußte die Schraubenlinie sich drehen, um endlich (bei der Blüte) in einem Kreise auf einen Discus sich zu versammeln, dem Tanze ähnlich, wo man sich in der Jugend gar oft Brust an Brust, Herz an Herz mit den liebenswürdigsten Kindern selbst wider Willen gedrückt sah. Verzeih diese Anthropomorphismen.“ Ferdinand Cohn bemerkt zu dieser Stelle: „Hätte Goethe nur noch Darwin erlebt! ... wie würde er sich des Mannes erfreut haben, der durch streng induktive Methode klare und überzeugende Beweise für seine Ideen zu finden wußte.“ Darwin hat von fast allen Pflanzenorganen gezeigt, daß sie in der Zeit ihres Wachstums die Tendenz zu schraubenförmigen Bewegungen haben, die er circummutation nennt.

Im September 1830 spricht sich Goethe in einem Aufsatz über den Streit der beiden Naturforscher Cuvier und Geoffroy de Saint-Hilaire aus; im März 1832 setzt er diesen Aufsatz fort. Der Tatsachenfanatiker Cuvier trat im Februar und März 1830 in der französischen Akademie gegen die Ausführungen Geoffroy St. Hilaires auf, der, nach Goethes Meinung, zu „einer hohen der Idee gemäßen Denkweise gelangt“ war. Cuvier ist ein Meister im Unterscheiden der einzelnen organischen Formen. Geoffroy bemüht sich, die Analogien in diesen Formen aufzusuchen und den Nachweis zu führen, die Organisation der Tiere sei „einem allgemeinen, nur hier und da modifizierten Plan, woher die Unterscheidung derselben abzuleiten sei, unterworfen“. Er strebt die Verwandtschaft der Geschöpfe zu erkennen und ist der Überzeugung, das Einzelne könne aus dem Ganzen nach und nach entwickelt werden. Goethe betrachtet Geoffroy als Gesinnungsgenossen; er spricht das am 2. August 1830 zu Eckermann mit den Worten aus: „Jetzt ist Geoffroy de Saint-Hilaire entschieden auf unserer Seite und mit ihm alle bedeutenden Schüler und Anhänger Frankreichs. Dieses Ereignis ist für mich von ganz unglaublichem Wert und ich juble mit Recht über den endlichen Sieg einer Sache, der ich mein Leben gewidmet habe und die vorzüglich auch die meinige ist.“ Geoffroy übt eine Denkweise, die auch die Goethes ist, er sucht in der Erfahrung mit dem sinnlich Mannigfaltigen zugleich auch die Idee der Einheit zu ergreifen; Cuvier hält sich an das Mannigfaltige, an das Einzelne, weil ihm bei dessen Betrachtung die Idee nicht zugleich aufgeht. Geoffroy hat eine richtige Empfindung von dem Verhältnisse des Sinnlichen zur Idee; Cuvier hat sie nicht. Deshalb bezeichnet er Geoffroys einziges Prinzip als anmaßlich, ja erklärt es sogar für untergeordnet. Man kann besonders an Naturforschern die Erfahrung machen, daß sie absprechend über ein „bloß“ Ideelles, Gedachtes sprechen. Sie haben kein Organ für das Ideelle und kennen daher dessen Wirkungsweise nicht. Goethe wurde dadurch, daß er dieses Organ in besonders vollkommener Ausbildung besaß, von seiner allgemeinen Weltanschauung aus zu seinen tiefen Einsichten in das Wesen des Lebendigen geführt. Seine Fähigkeit, die Geistes-Augen mit den Augen des Leibes in stetem lebendigen Bunde wirken zu lassen, machte es ihm möglich, die einheitliche sinnlich-übersinnliche Wesenheit anzuschauen, die sich durch die organische Entwicklung hindurchzieht, und diese Wesenheit auch da anzuerkennen, wo ein Organ sich aus dem andern herausbildet, durch Umbildung seine Verwandtschaft, seine Gleichheit mit dem vorhergehenden verbirgt, verleugnet, und sich in Bestimmung wie in Bildung in dem Grade verändert, daß keine Vergleichung nach äußeren Kennzeichen mehr mit dem vorhergehenden stattfinden könne (vergl. den Aufsatz über Joachim Jungius in Goethes Werken, Band 33, Kürschners Nat.-Litt.). Das Sehen mit den Augen des Leibes vermittelt die Erkenntnis des Sinnlichen und Materiellen; das Sehen mit Geistes-Augen führt zur Anschauung der Vorgänge im menschlichen Bewußtsein, zur Beobachtung der Gedanken-, Gefühls- und Willenswelt; der lebendige Bund zwischen geistigem und leiblichem Auge befähigt zur Erkenntnis des Organischen, das als sinnlich-übersinnliches Element zwischen dem rein Sinnlichen und rein Geistigen in der Mitte liegt.

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