19

Dreiundzwanzig Jahre hat der Nachbar Witkuhn auf die Erdme gewartet.

Und nun sie da ist, ist er ein alter Mann.

Er sitzt und sieht sie an und sieht sie wieder und wieder an. Sie ist die Schönste, die Jüngste, die Kräftigste geblieben, aber er ist ein alter Mann.

Ihre Töchter läßt er lachen und laufen und schwatzen, wie sie nur mögen, und achtet ihrer nicht. Sie sind ihm wie zwei fremde Tiere, die die Erdme mitgebracht hat und denen er Obdach geben muß, weil sie nun einmal zu ihr gehören. Und die Jette wirtschaftet draußen mit seiner Magd.

Die Urte und die Katrike haben gestern Großes erlebt, und das erzählen sie immer von neuem: Kaum daß der junge Herr Schmidt sie gesehen hat, da ist er gleich ganz hingenommen gewesen. Zuerst hat er freilich gedacht, die Urte sei ihm als Zukünftige bestimmt, und da hat er sich zurückziehen wollen, denn er ist sich nicht gut genug erschienen für sie; wie er aber gehört hat, daß die Katrike es ist, da hat er um so freudiger zugegriffen und hat mit ihnen beiden und dem Herrn Tuleweit in der „Germania“ gesessen bis in den späten Nachmittag. Herr Tuleweit weiß auch schon eine Wirtschaft für ihn, die mit Fünftausend Anzahlung wohl zu haben wäre, nur das Viehzeug müßte beschafft werden, denn sein Vater gibt ihm rein gar nichts.

Wie vom Viehzeug die Rede ist, da horcht die Erdme hoch auf, denn von ihrem Eigenen her kommt kläglich das Brüllen der Kühe, die nicht gemolken, vielleicht auch nicht gefuttert sind in der Frühe.

Darum sagt sie der Jette, sie soll mit einem Eimer hinübergehen. Die wehrt sich erst, denn sie glaubt, sie kriegt Prügel, aber schließlich tut sie’s doch, und wie sie zurückkommt, erzählt sie, der Wirt habe auf der Häckselbank gesessen, den Kopf in die Hände gestützt, und die Petruschka vor ihm, und keines habe sich auch nur nach ihr umgesehen.

Und die Urte erzählt weiter: Um drei nachmittags habe der junge Herr Schmidt weggemußt, aber am Nebentisch — da hätten ein paar vornehme junge Herren gesessen mit Schmissen und goldenen Kneifern, die wären schon lange bemüht gewesen, sich mit ihnen bekannt zu machen, und hätten ihr zugeprostet und so. Und schließlich wären sie alle zueinander gerückt und hätten fröhlich getrunken bis an den Abend. Den kleinen Herrn Tuleweit hätten die fremden Herren erst für den Vater gehalten; als sie aber hörten, daß er bloß ein Heiratsvermittler sei, da wäre des Neckens kein Ende gewesen, so daß er nichts Besseres zu tun gewußt habe, als bald zu verschwinden. Und von nun an sei es erst recht hoch hergegangen.

Und sie kichern und blinzen sich zu und kommen mit Heimlichtun nicht zu Ende.

Die Erdme will dem Nachbar Witkuhn den Haushalt besorgen, aber das Kreuz ist ihr wie gebrochen von dem Streiche des Pfahls. Darum redet die Urte ihr auch zu, sich beizeiten ein Attest zu beschaffen wegen der künftigen Scheidung.

Um vier Uhr nachmittags wird drüben der gute Wagen angespannt, und Jons fährt weg, ohne das Gesicht nach ihr hinzudrehen.

Nun ist die Zeit da, herüberzuholen, was gestern zur Nacht nicht mitgebracht werden konnte.

Vor die Haustür, deren Schlüssel die Erdme bei sich trägt, hat der Jons zum Schutze vor Einbruch ein paar Bretter genagelt. Mit zwei Fingern kann man die losreißen. Es ist wahrhaftig zum Lachen.

Die Urte, die Katrike packen rasch ihre Sachen, und auch sie selber gibt an, was sie für Sonntags wohl braucht. Ebenso muß jeder sein Bettzeug haben, denn wie kann der Nachbar Witkuhn soviel Gäste versorgen?

Mag der Jons sehen, womit er sich zudeckt! Die Federbetten gehen mit, und so noch vieles andere, so daß der Handwagen des Nachbars viermal hochbeladen den Knüppelweg überquert.

Schwer wird der Abschied von den Kühen, die die Erdme nicht einmal melken kann, so weh tut ihr das Kreuz. Sie streichelt sie nur und wirft ihnen Heu hin und denkt: „Wie gut wär’s, wenn ich sie drüben hätte!“ Auch die Neue ist ihr bereits ans Herz gewachsen, und doch hat sie sie kaum schon gesehen.

Dann kriegen noch die Schweine ihr Futter, und dann geht es heim.

Gegen Mitternacht erhebt sich vor dem Hause des Nachbars ein furchtbarer Lärm. Schwere Schläge fallen gegen die Läden, und des Jons betrunkene Stimme schreit: „Ihr Diebe! Ihr Räuber! Kommt ’raus! Ich schlag’ euch tot, ihr Räuber! Das verhurte Weib zuerst! Und dann ihren“ — „Liebhaber“ sagt er nicht, es ist ein viel schlimmeres Wort, das er sagt. Und ebenso beschimpft er die Töchter und die Magd und droht, sie alle zu erschlagen.

Die Urte und die Katrike knien im Hemd an der Mutter Bett und kreischen bei jedem Schlage, der das Ladenholz zersplittern will. Und vor der Stubentür steht der Nachbar Witkuhn und ruft durchs Schlüsselloch, sie möchten ganz ruhig sein, er halte das Teschin in der Hand, und wenn der draußen einbräche, so sei es um ihn geschehen.

Aber schließlich entfernt sich der Wüterich, und auch das Winseln und Heulen Petruschkas verstummt nach und nach.

Am nächsten Morgen gibt es ein langes Gespräch zwischen dem Nachbar Witkuhn und der Erdme.

„Gestern dachte ich noch, du würdest zurückkönnen,“ sagt der Nachbar, „aber heute seh’ ich ein, daß die Brücke zerbrochen ist. Nun tu, was du für richtig hältst. Ich werde dir in allem zu Diensten sein, was dein Wunsch ist.“

„Ich weiß nicht aus, nicht ein,“ sagt die Erdme.

Und der Nachbar sagt: „Ich habe es mein Lebenlang für das größte Glück auf Erden gehalten, daß du einmal meine Frau würdest. Aber nun mir plötzlich die Möglichkeit gegeben ist, daß es so werden könnte, da seh’ ich ein, ich bring’ es nicht übers Herz. Denn jeder wird sagen, wie Er es ausschrie heute nacht, daß wir in Buhlschaft gelebt haben alle die Jahre.“

„Beinahe wär’ es ja so gewesen,“ sagt die Erdme.

„Wenn es so gewesen wäre,“ erwidert der Nachbar, „dann hätten wir längst kein Gewissen mehr und keine Scham und würden lachen, wenn die Leute mit Fingern auf uns zeigen. Aber nun schreck’ ich schon zurück bei dem Gedanken, Ihm auf dem Weg zu begegnen.“

„Ich dränge mich niemandem auf,“ sagt die Erdme gekränkt.

„Und ich bin ein alter Mann,“ sagt der Nachbar. „Ich möchte nicht, daß du mir fluchst, wenn du mich auf den Kirchhof trägst.“

„So bleibt mir als einziges,“ sagt die Erdme, „daß ich in Ausgedinge zu der Katrike zieh’, wenn die jetzt heiratet.“

„Ist es denn schon so weit?“ fragt der Nachbar.

„Wenn ich alles hergebe,“ sagt die Erdme und drückt die Hand gegen das Sparkassenbuch, das sie auf nackigem Leibe trägt, „dann ist es so weit.“

„Er wird das Geld schon gesperrt haben,“ sagt der Nachbar.

„Vielleicht auch nicht,“ sagt die Erdme, und weil sie sowieso nach Heydekrug muß wegen des Doktorattestes, wird sie auch gleich die Fünftausend abheben, die ihr nicht weniger gehören als ihm.

Der Nachbar beschafft ein Fuhrwerk, denn er selber hat immer noch keins, und wie sie aufsteigen will, muß sie von zweien gehoben werden, so verschwollen ist alles.

Als der Doktor sie untersucht hat, macht er ein ernstes Gesicht und sagt: „Schlimm genug sieht es aus, und schlimm wird auch, was ich schreiben muß, aber ich rat’ euch trotzdem: Vertragt euch!“

Bisher ist der Erdme noch alles gewesen wie ein ängstlicher Traum, und oft hat sie gedacht: „Wenn er jetzt käme und sagte: ‚Laß gut sein‘ — weiß Gott, ich ginge zurück.“ Wie der Doktor aber sagt: „Es sieht schlimm aus,“ da wird ihr Sinn wie von Stein, und sie denkt bloß, daß sie sich Recht verschaffen muß vor Gott und den Menschen.

Der Beamte der Sparkasse kennt sie seit langem und zahlt ihr das Geld ohne Bedenken. „Ja ja,“ sagt er, „wenn man Töchter verheiraten will.“

Und da hat sie’s auch schon in den Händen.

Die Katrike, die mitgefahren ist, denn sie selber kann sich nicht an- und nicht ausziehen, weiß sich vor Liebe gar nicht zu lassen. Sie nennt sie „Mamusze“ und „Mammelyte“, was sonst nur die Urte sagt, und „Mane Baltgalwele“ — mein Weißköpfchen — nennt sie sie, wie die alten Mütter in den Liedern heißen, ob auch ihr Haar noch fast braun ist.

Auf dem Heimweg denkt die Erdme immerzu, jetzt wird sie dem Jons begegnen, aber sie begegnet ihm nicht. Doch auf ihrer Wiese, die wohl fünfhundert Schritt weit auf der anderen Seite der Chaussee gelegen ist, sieht sie was Helles. Das ist die Petruschka. Die sitzt und bewacht ihn, denn er ist wohl wieder betrunken.

Von weitem schon hört man das Brüllen der Kühe. Die müssen verkommen, wenn man sie da läßt.

„Hast du Platz im Stalle für sie?“ fragt die Erdme.

„Ich habe Platz für alles, was dein ist,“ sagt der Nachbar.

Darum schickt sie auch gleich die Jette und die Witkuhnsche Magd hinüber, die Kühe zu holen.

Und die Katrike tanzt herum wie eine Besessene. — Das Geld und das Vieh — alles ist da. Nun kann geheiratet werden.

Und noch am selben Abend macht sie sich auf, zum kleinen Tuleweit zu gehen, damit er so rasch wie möglich alles in Ordnung bringt.

Die Urte will sie begleiten, um einen Abstecher nach Heydekrug zu machen, wo irgendwo am Spazierweg die jungen Herren von gestern schon warten. Sie ärgert sich bloß, daß die Petruschka nicht bei ihr ist — dann wäre ihr Anblick zehnmal so vornehm gewesen. Und darum bleibt sie schließlich zu Hause.

Die Erdme liegt und zittert vor Angst, daß der Spektakel von voriger Nacht heut wegen der Kühe noch einmal losgehen wird.

Aber nichts regt sich fortan.

Sie muß im Bette bleiben wohl eine Woche lang, und wenn sie sich aufrichten will, kriegt sie ein Handtuch anzufassen, woran sie sich hochzieht.

Die Marjellen aber nützen die Zeit und holen herüber, was für die Aussteuer irgend von Wert ist — den großen Ecktisch und den buntblumigen Schrank und noch vieles andere.

Niemand hindert sie dran, denn morgens fährt er weg, und mit der Dunkelheit kommt er wieder, und die Petruschka läuft nebenher. Was er macht und wo er sich aufhält, weiß keiner.

Am fünften Tage von Erdmes Bettlägerigkeit tritt ein junger Mensch in die Kammer. Der hat einen deutschen Backenbart und schiefe, ängstliche Augen. Und hinterher schiebt sich mit heißem Gesicht und frisch gebranntem Strohhaar die Katrike. Sie ist fast einen Kopf größer als er und sieht aus, als möcht’ sie ihn auf den Arm nehmen.

Das ist der junge Herr Schmidt, ihrer Tochter künftiger Bräutigam.

Er spricht die Erdme in stolprigem Litauisch an, und sie richtet sich auf und sagt auf Deutsch:

„Was Sie sich wohl denken, Ponusze! Wir reden das Deutsche genau so wie Sie. Und im Bett liege ich nur, weil ich das Gliederreißen habe. Gewöhnlich arbeit’ ich wie sonst nur die Jüngste.“

Die Katrike und der junge Mensch sehen sich verstohlen an, woraus sie schließen muß, daß ihm die Tochter schon alles gesagt hat. Und noch etwas Anderes will sie daraus schließen, aber das drängt sie sofort von sich ab.

Er möchte am liebsten das Geld gleich mit sich nehmen, aber sie weiß, daß es ihr wohlgeborgen unter dem Leibe liegt, und erst müßte man sie totschlagen, ehe sie es hergäbe.

„In dem Kontrakt soll stehen,“ sagt sie, „daß ich eine Altsitzerstelle bekomme mit so und so viel Korn und Kartoffeln und dem Recht, Hühner zu halten, und noch anderen Rechten, die ich alle bezeichnen werde. Sonst wird aus dem Kaufe nichts.“

Die Katrike fängt sofort an zu weinen und klagt sie an, sie steh’ ihrem Glücke entgegen. Der junge Herr Schmidt aber sagt: „Es wird auch alles in dem Kontrakte stehen, aber das ist ein ganz anderer Kontrakt als der, den ich mit dem Besitzer abschließen werde. Denn den geht es nichts an, was wir miteinander ausmachen wollen.“

Da sieht sie ein, daß der dumme Deutsche klüger ist als sie selbst, und schickt sich in das, was verlangt wird.

Aber erst will sie gesund sein und mit aufs Gericht gehen und alles bewachen können bis in das kleinste.

Die Katrike und der junge Herr Schmidt sehen sich schon wieder an. Dann aber geben sie sich die Hand und knien am Bette nieder und bitten um ihren Segen.

Sie weint und küßt und segnet die beiden, aber in ihrem Innern denkt sie dabei: „Ich will doch erst den Rechtsanwalt fragen.“

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