Anmerkungen des Übersetzers

Was ist dieses Buch, gewöhnlich „Germania“ genannt, das die Insel-Bücherei hiermit erneuert? Vielleicht eine Schilderung, vielleicht eine Schrift für den Tag und seinen Zweck; sicher ein Kunstwerk.

Eine Schilderung, und als solche das älteste Buch von den deutschen Landschaften und ihren Bewohnern, schon darum kostbar; aber auch, weil es so vieles weiß und bewahrt hat. Vor Tacitus haben wohl, und schon früh, Griechen und Römer über die Germanen berichtet. Pytheas aus Massilia kam im vierten vorchristlichen Jahrhundert auf einer Entdeckerfahrt bis zu der Insel „Thule“ (Island?) und an die Küste der Nordsee; die Nachrichten des Poseidonios stehen an der Wende des zweiten zum ersten; Strabon behandelt Germanien in einem Buche seiner Geographie. Die ältesten römischen Quellen sind spärlich auf uns gekommen. Erst Cäsars Kriege in Gallien und seine Aufzeichnungen darüber bringen größere Klarheit; deutlich sondern sie, zum erstenmal, Germanen und Gallier. Was Tacitus bei Sallust und Livius (im 104. Buch seiner Römischen Geschichte) finden konnte, ist längst verloren; verloren auch ein Werk des Aufidius Bassus über die Germanenkriege und seine Fortsetzung durch den älteren Plinius. Erhalten aber des Plinius Historia naturalis, die Geschichte des Velleius Paterculus und die Geographie des Pomponius Mela; auch die Reichskarte des Agrippa, soweit sie in der vom Mittelalter aufgezeichneten Tabula Peutingeriana nachwirkt.

Was vor ihm geschrieben wurde, wird Tacitus gekannt haben. Soldaten, Händler, Beamte aus Germanien gaben ihm neue Kunde. So ist sein Buch der Wissenschaft unschätzbar geworden, zumal da es immer mehr durch fortgesetzte Forschungen und besonders [pg 41]Grabungen bestätigt wird. Aber auch jenseits von allem Wissen, auch dort, wo er irrt, ist uns Tacitus teuer als Mensch, als Mann, als Künstler. Und die Größe seines Geistes und seiner Erscheinung mag sein Werk sicherer durch die Jahrhunderte getragen haben als der bloße Inhalt.

Dennoch dankt man es wohl einem Bedürfnis des Tages. Es war im Jahre 98 nach Christi Geburt. Trajan, der neue Kaiser, weilte lange an den Grenzen Germaniens; in Rom fiel das auf. Da erschien die Schrift des Tacitus. Sie wollte zeigen, wer diese gefährlichsten Feinde Roms seien, und daß der Kaiser gut daran tue, viel Zeit an die Sicherung der Grenze zu wenden und an nichts anderes; daß es insbesondere falsch sei, außer an den Schutz des Reiches noch an einen Angriff zu denken, den eine Kriegspartei erwog. Man darf annehmen, daß der Kaiser, dessen Hause Tacitus nahe stand, die Schrift billigte.

Der Verfasser hat seinen Zweck freilich mit keinem Wort verraten. Dennoch spricht viel für diese Annahme des großen Müllenhoff. Tacitus schildert nur – und schildert als Künstler. Der Plan des Ganzen ist wie jede Einzelheit, jedes Wort bedacht. Land, Eigenart, Abstammung, Leben des Volkes, dann, vom Nächsten und Bekannten ausgehend und sich immer mehr in „romantische“ Ferne verlierend, seine einzelnen Stämme und Landschaften, bis er im Märchen endet. Mit knappen, dunklen Worten, oft als Dichter, in rhythmischer Sprache, der manchmal fast Verse, einmal sogar (Kap. 39) ein rechter Hexameter, vielleicht wider Willen, gerät. Jeder Absatz ist durch das zugespitzte Ergebnis einer Betrachtung deutlich bezeichnet. Niemals siegen nüchterne Angaben über den beziehungsreichen Bildner des Werkes, über den Meister.

Meister ist er auch als Mensch: ein Mann im altrömischen Sinn. Dabei verbittert und ergrimmt über seine feile, alle Freiheit erdrückende Zeit, unter einer besseren Regierung eben wieder aufatmend [pg 42]und von jener Sehnsucht erfüllt, die dazumal die Geister bewegt, der Sehnsucht nach einer neuen Welt der Einfachheit und Wahrheit. Vielleicht bringen sie die Germanen herauf: darum schildert er dieses kühne, furchtbare und lichte Volk fast wohlwollend, obwohl es Feinde und über kurz oder lang siegreiche Feinde sind. Denn das römische Reich, dem er angehört, steht vor dem Ende. Er aber, ein wissender Warner, will nicht unbemerkt dahingelebt haben.

So lassen ihn auch seine anderen Werke, so die kargen Nachrichten von seinem Leben erkennen. Er wurde etwa 55 nach Christo geboren und in der rhetorisch-politischen Schulung des Zeitalters herangebildet. Dann war er Staatsmann unter den flavischen Kaisern und zuletzt noch Statthalter in Asien. Mit der Tochter des britannischen Statthalters Agricola verheiratet, hielt er sich während der Verfolgungen unter Domitian fern. Dann, unter Nerva und Trajan, stand er wieder in hohem Ansehen. Er scheint noch die ersten Jahre Hadrians erlebt zu haben.

Als Schriftsteller begann er, wahrscheinlich erst nach Domitians Tode hervortretend, mit dem Dialog über die Redekunst und ihren Verfall. Es folgte die Lebensbeschreibung seines Schwiegervaters Agricola und, noch im gleichen Jahre 98, die Germania. Dann die Historien, eine Geschichte seiner Zeit von Galba (67) bis zum Ende Domitians (96), und die Annalen, vom Tode des Augustus bis zum Ausgang des Nero. Die letzten beiden Werke sind nichts weniger als vollständig erhalten. In ihnen erst erschließt sich Tacitus ganz, „le plus grand peintre de l’antiquité“, wie ihn Racine nannte. Er hat immer nur auf Kenner und verwandte Naturen gewirkt, auf diese aber durch Jahrhunderte, und seine Zeit und Sendung ist noch lange nicht vorüber. Freilich muß man, nach einer Anmerkung Lichtenbergs, „sehr viel selbst mitbringen, um ihn zu verstehen“.

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Die „Germania“ wird 865 von Rudolf von Fulda zitiert. Dann bleibt sie lange verschollen. Im Auftrage des Papstes Nikolaus V. reist Enoche von Ascoli nach Frankreich und Deutschland, um alte Handschriften zu suchen, und bringt die „Germania“ und den „Dialog“ 1455 nach Italien. (Die Handschrift, die beide Werke enthielt, ist wohl in einem deutschen Kloster gefunden worden.) Später kommen andere Handschriften hinzu. Der Titel der Schrift lautet einmal „De origine, situ, moribus ac populis Germanorum“, ein andermal „De origine et situ Germanorum“. 1469 schon wird die „Germania“ gedruckt. Wichtig sind die alten Ausgaben von Beatus Rhenanus und Justus Lipsius, beide aus dem 16. Jahrhundert; die neuen von Jakob Grimm (1833), Moritz Haupt (1855), Karl Müllenhoff (Germania antiqua, 1873); ferner Baumstark (1876), Schweizer-Sidler, zuletzt aufgelegt in der Bearbeitung von Schwyzer (1912).

Diese unsere Übersetzung ist nicht die Arbeit eines Philologen. Sie geht von dem Künstler Tacitus aus und sucht den Rhythmus seiner Sprache und den Gehalt seines Wesens für Deutsche wieder lebendig zu machen.

Sie lehnt sich fast überall an den Text von Schweizer-Sidler an; die Deutung und namentlich die folgenden Erläuterungen beruhen (von anderen Quellen abgesehen) auf seinem Kommentar, auf Baumstark und vor allem auf der ausführlichen Erklärung der Germania, die Müllenhoff im 4. Band seiner Deutschen Altertumskunde bietet. Von den zahlreichen Übersetzungen wurden alle wichtigeren, soweit sie erreichbar waren, benutzt, insbesondere alle neuen und neu aufgelegten; von älteren namentlich die von Bötticher und Bacmeister.

Den Herren Dr. Friedrich Löhr, Sekretär des Archäologischen Instituts in Wien, und Dr. Gustav Kafka, Privatdozenten an der Münchner Universität, schuldet der Übersetzer für freundliche Ratschläge besonderen Dank.

[pg 44]

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