A Marienleich dating from the end of the 12th century, during which the type was much cultivated. The manuscript, from the convent of St. Mary at Arnstein on the Lahn, contains 325 short lines in couplets (beginning and end missing), of which lines 78-261 are given below.
Hätt’ ich tausend Munde,
Ich könnte nie berichten
80
In vollem Mass das Wunder,
Das von dir geschrieben ist.
Alle Zungen vermögen nicht
Zu sagen noch zu singen,
Fraue, deiner Ehren
85
Noch deines Lobes volles Mass.
Der ganze Himmelshof
Singet dein Lob:
Es preisen dich die Cherubim,
Es ehren dich die Seraphim.
90
All das grosse Heer
Der heiligen Engel,
Die vor Gottes Antlitz
Stehen seit dem Anfang,
Propheten und Apostel
95
Und alle Gottes Heilige
Freun sich immer dein,
Königliche Jungfrau.
Wohl müssen sie dich ehren:
Du bist die Mutter ihres Herrn,
100
Der da Himmel und Erde
Im Anfang werden hiess;
Der mit einem Worte
Die ganze Welt erschuf,
Dem alles ist untertan,
105
Dem nichts kann widerstehn,
Dem alle Kraft weichet,
Dem nichts gleichet,
Den ehret und fürchtet
All diese Welt.
39 110
Es wäre mir lang zu sagen,
Wie hehr du bist im Himmel:
Niemand hat davon Kunde
Als die Seligen, die da sind.
Des einen bin ich von dir gewiss:
115
Dass, Fraue, du so geehret bist
Wegen deiner grossen Güte,
Wegen deiner Demut
Wegen deiner Reinheit,
Wegen deiner grossen Milde.
120
Deshalb ruf’ ich dich an;
Fraue, nun erhöre mich;
Allerheiligstes Weib,
Vernimm mich sündiges Weib!
All mein Herze
125
Fleht zu dir ernstlich,
Mir gnädig zu sein,
Bei deinem Sohne zu helfen,
Dass er in seiner Güte
Meine Missetaten
130
Vergesse gänzlich
Und mir gnädig sei.
Leider, meine Schwachheit
Hat mich oft verleitet,
Dass ich durch meine Schuld
135
Verwirkte seine Huld.
Fraue, das macht mir bange;
Deswegen fürchte ich,
Dass er seine Gnade
Von mir kehren werde.
140
Deshalb fleh’ ich zu dir.
Nun muss es an dir liegen,
Mir, Jungfrau milde,
Zu seiner Huld zu helfen.
Hilf mir zu wahrer Reue,
145
Dass ich meine Sünden
Möge beweinen
Mit innigen Tränen.
Hilf mir kräftiglich,
Dass ich die Höllenstrafe
150
Nimmer erleide;
Dass ich auch vermeide
Hinfort alle Dinge,
Die wider Gottes Huld sind.
Und geruhe mich zu stärken
155
In allen guten Werken,
Dass ich verbringe mein Leben
Wie die heiligen Weiber,
Die uns aller Tugenden
Ein Vorbild gegeben:
160
Sara, die demütige,
Anna, die geduldige,
Esther, die milde,
Judith, die verständige,
Und die andern Frauen,
165
Die in der Furcht Gottes
Sich hier so betrugen,
Dass sie Gott wohl behagten.
Auch ich nach deiner Güte,
Nach deiner Demut,
170
Möchte mein Leben gestalten:
Dazu hilf mir, heiliges Weib!
In deine Hand begebe ich
Mich und all mein Leben.
Dir überlass’ ich all meine Not,
175
Dass du hilfsbereit seiest,
In was für Drangsalen
Ich dich immer anrufe.
Fraue, deinen Händen
Sei mein Ende befohlen!
180
Und geruhe mich zu weisen
Und mich zu erlösen
Aus der grossen Not,
Wenn der leide Tod
An mir soll scheiden
185
Den Leib von der Seele.
40
In jener grossen Angst
Komm du mir zum Troste!
Und hilf, dass meine Seele
Werde zu Teile
190
Des lieben Gottes Engeln,
Nicht den leiden Teufeln;
Dass sie mich dahin bringen,
Wo ich soll finden
Die ewige Freude,
195
Die im Himmel haben
Die hochseligen Gotteskinder,
Die dazu erwählt sind;
Dass ich dort schaue
Unsern lieben Herrn,
200
Unsern Schöpfer,
Unsern Heiland,
Der uns aus nichts erschuf,
Der uns auch kaufte
Mit seines Sohnes Blut
205
Von dem ewigen Tode.
Wer soll mir dazu helfen,
Wer soll mich so läutern,
Dass ich es würdig wäre?
Das sollst du, Jesus, mein Herr.
210
Gib mir, Herr, deinen Geist,
Da du selbst wohl weisst
All meine Krankheit
Und all meine Unwissenheit;
Auf dass ich schauen dürfe
215
Mit meinen Augen
Dein unverlöschlich Licht:
Das versage du mir nicht!
Es ist das ewige Leben,
Das ich, armes Weib,
220
Mit deiner Hilfe suche:
Das lass mich, Herre, finden!
Darum sei mein Bote zu dir
Deine eigne Mutter:
O, wie selig bin ich dann,
225
Nimmt sie sich meiner an!
Maria, Gottes Traute,
Maria, Trost der Armen,
Maria, stella maris,
Zuflucht des Sünders,
230
Burg des Himmels,
Born des Paradieses!
Der uns die Gnad’ entfloss,
Die uns Elenden erschloss
Das rechte Vaterland;
235
Nun gib uns, Fraue, deine Hand,
Weise uns den Ausweg
Aus jener grossen Tiefe:
Das ist des Teufels Gewalt.
Darein uns hat gebracht
240
Eva, unsere Mutter;
Jetzt fliehen wir alle zu dir.
Wir weinen und seufzen
Zu deinen lieben Füssen.
Lass dich nun erbarmen
245
Der Not, die wir Armen
In diesem engen Tale
Mannigfach erdulden!
Stella maris, bist du genannt
Nach dem Stern, der an das Land
250
Das müde Schiff geleitet,
Wo es die Ruh’ erwartet.
Geleite uns an Jesum,
Deinen guten Sohn,
Der uns begnaden soll.
255
In ihm sollen wir ruhen,
Er soll uns erlösen
Von allen unsern Nöten,
Von allen schweren Sünden:
Das sind des Meeres Wellen,
260
Die uns nun, ach, umschwellen.
Nun hilf uns, heilige Jungfrau!
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