Meine Tätigkeit als Reisemarschall.

Es begab sich, daß wir von Aix-les-Bains nach Genf fahren mußten und von dort in einer Reihe von tagelangen und höchst verzwickten Eisenbahnreisen nach Bayreuth in Bayern. Natürlich hätte ich einen Reisemarschall annehmen sollen, der für eine so zahlreiche Gesellschaft wie meine Familie nach dem Rechten sehen konnte.

Aber ich schob es auf die lange Bank. Die Zeit huschte dahin, und als ich eines Morgens aufwachte, kam mir die Tatsache zum Bewußtsein, daß wir abfahren sollten und keinen Reisemarschall hatten. Da faßte ich einen Entschluß; er war, das fühlte ich, wahnwitzig kühn, aber ich war gerade in der richtigen Stimmung dazu. Ich sagte, ich wollte für den ersten Teil der Fahrt ohne jede Hilfe allein die Führung übernehmen. Ich tat es.

Ich brachte die Gesellschaft – vier Personen – höchstselber von Aix nach Genf. Die Entfernung betrug reichlich zwei Stunden; unterwegs war einmal Wagenwechsel. Es ereignete sich nicht das geringste Mißgeschick; allerdings ließ ich eine Reisetasche und einige andre Sachen auf dem Bahnsteig stehen – aber das kann man doch kaum ein Mißgeschick nennen, so etwas kommt ja jeden Tag vor. Ich erbot mich daher, für den ganzen Weg bis Bayreuth die Führung der Gesellschaft zu übernehmen.

Das war ein böser Fehler, wenngleich es mir damals nicht so vorkam. Zur Aufgabe gehörten nämlich mehr Unteraufgaben, als ich vermutete. Erstens: zwei Personen, die wir ein paar Wochen vorher in einer Genfer Pension zurückgelassen hatten, mußten abgeholt und nach dem Hotel gebracht werden. Zweitens: ich mußte in dem Geschäft am Grand Quai, wo man die Aufbewahrung von Koffern besorgt, Bescheid sagen, daß sieben von unseren aufbewahrten Koffern nach dem Hotel gebracht und dafür sieben andre, die die Leute in der Vorhalle aufgestapelt finden würden, wieder abgeholt werden sollten. Drittens: ich mußte ausfindig machen, in welchem Teil von Europa Bayreuth liegt, und sieben Eisenbahnkarten nach diesem Punkt käuflich erwerben. Viertens: ich mußte ein Telegramm an einen Freund in Holland abschicken. Fünftens: es war jetzt zwei Uhr nachmittags und wir mußten scharf aufpassen, um rechtzeitig zum ersten Nachtzug zu kommen und die Schlafwagenplätze zu besorgen. Sechstens: ich mußte auf der Bank Geld erheben.

Die Schlafwagenplatzkarten waren, so schien es mir, das Allerwichtigste; um sicher zu gehen, begab ich mich daher selber nach dem Bahnhof; Gasthofbedienstete sind nicht immer allzu schlau. Es war ein heißer Tag, und ich hätte fahren sollen; es schien mir aber sparsamer, zu Fuß zu gehen. Das war indessen, wie sich’s herausstellte, ein Irrtum von mir, denn ich verlief mich und brachte dadurch die Entfernung auf das Dreifache. Ich verlangte die Fahrkarten, und man fragte mich, auf welchem Wege ich zu reisen wünschte. Das brachte mich in Verlegenheit und um meine Besinnung, denn es standen so viele Leute um mich herum, und ich hatte keine Ahnung von den Reisewegen und dachte nicht, es könnte zwei verschiedene geben; ich hielt es daher für das beste, erst wieder ins Hotel zu gehen, den Weg auf der Landkarte auszusuchen und dann wieder zu kommen.

Diesmal nahm ich eine Droschke, aber als ich im Hotel die Treppen hinaufstieg, fiel mir ein, daß meine Zigarren alle waren; ich dachte daher, es wäre gut, mir gleich welche zu besorgen, ehe ich’s wieder vergäße. Es war gleich um die Ecke, und ich brauchte dazu die Droschke nicht, sagte daher dem Kutscher, er solle warten. Unterwegs dachte ich an das Telegramm und versuchte den Wortlaut desselben in meinem Kopfe zu entwerfen; darüber vergaß ich Zigarren und Droschke und ging weiter und immer weiter. Ich kehrte um nach dem Hotel, um von einem der Angestellten das Telegramm besorgen zu lassen. Da ich aber inzwischen ziemlich in die Nähe des Telegraphenamts gekommen sein mußte, so dachte ich, ich wollte es selber tun. Aber es war weiter, als ich vermutet hatte. Schließlich fand ich das Gebäude, schrieb die Depesche und reichte sie durch den Schalter. Der Telegraphenbeamte war ein streng aussehender aufgeregter Mensch; er begann mit einer solchen Zungengeläufigkeit französische Fragen auf mich loszufeuern, daß ich nicht entdecken konnte, wo das eine Wort aufhörte und das andre anfing – und dadurch verlor ich abermals den Kopf. Zum Glück legte sich ein Engländer ins Mittel und sagte mir, der Beamte wünschte zu wissen, wohin er das Telegramm schicken sollte. Das konnte ich ihm nicht sagen, weil es nicht mein Telegramm war, und ich setzte ihm auseinander, daß ich es bloß für ein andres Mitglied meiner Reisegesellschaft besorgte. Aber nichts konnte die Schreiberseele beruhigen: er mußte durchaus die Adresse haben! Ich sagte ihm daher, wenn er so heikel wäre, so wollte ich nach Hause gehen und sie besorgen.

Es fiel mir indessen ein, ich wollte lieber erst gehen und die beiden fehlenden Personen abholen, denn es sei doch am besten alles systematisch und der Ordnung gemäß zu besorgen, und jedes Ding zu seiner Zeit. Dann fiel mir die Droschke ein, die mich da hinten vor dem Hotel mein schweres Geld kostete; ich rief daher eine andre Droschke an und sagte dem Mann, er solle seinen Kollegen nach dem Postamt kommen lassen, und da könnten sie warten, bis ich selber käme.

Es kostete mich einen langen heißen Marsch, bis ich zu den abzuholenden Leuten kam; und als ich ankam, sagten sie mir, sie könnten nicht mit, weil sie schwere Reisetaschen hätten und eine Droschke haben müßten. Ich ging weg, um eine zu suchen; bevor mir aber eine in die Quere kam, bemerkte ich, daß ich in der Nachbarschaft des Grand Quai war – oder wenigstens kam es mir so vor – mir däuchte daher, ich könnte Zeit sparen, indem ich schnell um die Ecke ginge und die Sache mit den Koffern in Ordnung brächte. Ich ging ungefähr eine Meile weit schnell um die Ecke und fand zwar nicht den Grand Quai, wohl aber einen Zigarrenladen. Da fielen mir denn die Zigarren ein. Ich sagte, ich reiste nach Bayreuth und wünschte soviele Zigarren, wie ich unterwegs brauchte. Der Mann fragte mich, welchen Weg ich führe. Ich antwortete, das wüßte ich nicht. Er sagte, er könnte mir empfehlen, über Zürich und verschiedene andre Orte, die er mir nannte, zu reisen, und bot mir sieben direkte Fahrkarten zweiter Klasse zu 110 Francs das Stück an; ich sparte dabei den Rabatt, den die Eisenbahnverwaltungen ihm gewährten. Ich hatte es bereits satt bekommen, mit Fahrkarten erster Klasse stets zweiter Klasse zu reisen; deshalb nahm ich ihm seine ab.

Mit der Zeit fand ich auch das Speditionsgeschäft von Natürlich & Cie.; ich sagte ihnen, sie sollten sieben von unsren Koffern nach dem Hotel schicken und dort in der Vorhalle aufstapeln. Es kam mir so vor, als ob ich nicht alles bestellte, was ich eigentlich sagen sollte; es war aber alles, was ich in meinem Kopf finden konnte.

Hierauf fand ich die Bank und bat um etwas Geld; aber ich hatte meinen Kreditbrief irgendwo liegen lassen und konnte daher nichts bekommen. Nun fiel mir ein, daß ich ihn jedenfalls auf dem Tisch hatte liegen lassen, an welchem ich das Telegramm geschrieben hatte. Ich nahm also eine Droschke, fuhr nach dem Postgebäude und ging nach dem ersten Stock hinauf. Sie sagten mir, der Kreditbrief sei wirklich auf dem Tisch liegen geblieben, er befinde sich aber jetzt in den Händen der Polizeibehörde, und ich müsse mich zu dieser hinbegeben und meine Eigentumsrechte nachweisen. Sie gaben mir einen Jungen mit, und wir gingen zu einer Hintertür hinaus und wanderten ein paar Meilen und gelangten zu dem Polizeigebäude. Dann fielen mir meine Droschken ein, und ich bat den Jungen, er möchte sie mir zuschicken, wenn er wieder nach dem Postamt zurückkäme.

Inzwischen war es Nacht geworden, und der Bürgermeister war zum Essen gegangen. Ich dachte, ich könnte ebenfalls zum Essen gehen, aber der diensthabende Beamte dachte anders darüber, und so blieb ich. Um halb elf sprach der Bürgermeister auf dem Bureau vor, sagte aber, es sei jetzt zu spät, um am Abend noch irgend etwas zu erledigen. »Kommen Sie morgen früh um halb zehn!« Der Beamte wünschte mich die ganze Nacht dazubehalten und sagte, ich wäre eine verdächtige Person; wahrscheinlich gehöre der Kreditbrief mir überhaupt nicht, und ich wüßte gar nicht mal, was ein Kreditbrief ist, sondern hätte nur gesehen, wie der wirkliche Eigentümer ihn auf dem Tisch hätte liegen lassen, und wollte ihn mir daher aneignen, weil ich wahrscheinlich ein Mensch wäre, der sich überhaupt alles aneignete, was er kriegen könnte, ob es Wert hätte oder nicht. Aber der Bürgermeister sagte, er sähe nichts Verdächtiges an mir, ich scheine ein harmloser Mensch zu sein, dem weiter nichts fehlte, als daß er das bißchen Verstand, das er überhaupt besäße, augenblicklich gerade nicht bei sich hätte. Ich dankte ihm für seine gute Meinung, er ließ mich frei, und ich fuhr in meinen drei Droschken nach Hause.

Da ich hundsmüde und nicht in der Verfassung war, auf Fragen genaue Antworten zu geben, so dachte ich, ich wollte die Expedition bei nachtschlafender Zeit nicht mehr stören. Ich wußte, es war am anderen Ende des Flurs ein leeres Zimmer vorhanden; aber ich kam nicht ganz bis dorthin, denn es war ein Wachtposten ausgestellt gewesen. Die Expedition hatte nämlich den dringenden Wunsch, mich zu sehen. Die Expedition saß steif und unnahbar auf vier Stühlen in einer Reihe, Tücher und Mäntel und alles andere angezogen, Reisetaschen und Reisehandbücher auf dem Schoß. So hatten sie vier volle Stunden schon gesessen, und während dieser ganzen Zeit war das Barometer fortwährend gefallen. Ja, und sie warteten – warteten auf mich. Mir schien, bloß ein plötzlich glücklich ausgedachter und glänzend ausgeführter tour de force könnte diese eiserne Schlachtlinie durchbrechen und eine Wendung zu meinen Gunsten herbeiführen. Ich trundelte daher meinen Hut in die Arena, folgte selber mit einem Hupf und Hops und rief munter:

»Haha! Siehstewohl, da kommt er schon!«

Nichts konnte eindrucksvoller oder stiller sein als der nun folgende gänzlich unhörbare Beifall. Aber ich blieb bei meiner Taktik, obgleich meine vorher bereits recht kümmerliche Zuversicht einen tödlichen Stoß bekommen hatte und tatsächlich bereits völlig geschwunden war.

Ich versuchte, trotz meinem schweren Herzen, den Lustigen zu spielen; ich versuchte die andren Herzen da vor mir zu rühren und den bitterbösen Groll in ihren Gesichtern zu besänftigen, indem ich fröhliche leichte Scherze hervorsprudelte und die ganze Trauergeschichte als einen humorvollen Vorfall darstellte; aber dieser Gedanke fand keine gute Aufnahme. Es war nicht die richtige Atmosphäre dafür. Ich erntete kein einziges Lächeln; keine Linie in diesen beleidigt aussehenden Gesichtern löste sich; den Winter, der mir aus diesen frostigen Augen entgegenblickte, vermochte ich nicht aufzutauen. Noch einmal machte ich krampfhaft einen schwachen Versuch, aber das Haupt der Expedition fiel mir – plumps! – ins Wort und fragte schneidend: »Wo bist du gewesen?«

Ich merkte an der Wahl der Worte und an ihrer Betonung, daß die Absicht obwaltete, sich auf einen kalten, geschäftlichen Standpunkt zu stellen. Ich begann also von meinen Fahrten zu erzählen, wurde aber wiederum schroff unterbrochen:

»Wo sind die beiden anderen? Wir haben eine fürchterliche Angst um sie ausgestanden.«

»O, die sind wohl und munter. Ich sollte ihnen eine Droschke besorgen. Ich will mich auch nun flugs auf den Weg machen und …«

»Setz dich! Weißt du denn gar nicht, daß es elf Uhr ist? Wo hast du sie gelassen?«

»In ihrer Pension.«

»Warum brachtest du sie nicht mit her?«

»Weil wir die Reisetaschen nicht tragen konnten. Darum dachte ich …«

»Dachte! Du solltest nicht versuchen, zu denken. Man kann nicht denken, wenn man nicht den nötigen Mechanismus dazu hat. Es sind zwei Meilen bis zu der Pension. Gingst du denn ohne Droschke dorthin?«

»Ich …, nun ja, ich wollte es eigentlich nicht, es kam nur ganz zufällig so.«

»Wieso kam es denn zufällig?«

»Weil ich auf der Post war, und da fiel mir ein, daß ich eine Droschke hier vor dem Hotel hatte warten lassen, und so, um die Ausgabe zu sparen, schickte ich eine andre Droschke, um … um …«

»Um …?«

»Ach du liebe Zeit, ich kann mich jetzt nicht so schnell darauf besinnen; aber ich glaube, der neue Droschkenkutscher sollte im Hotel Bescheid sagen, daß sie den alten Droschkenkutscher ablohnten und wegschickten.«

»Was sollte das für einen Zweck haben?«

»Was es für einen Zweck haben sollte? Dadurch hätte doch die Ausgabe für die Droschke aufgehört, nicht wahr?«

»Indem die neue Droschke an Stelle der alten wartete, und so die Ausgabe fortdauerte?«

Hierauf sagte ich nichts.

»Warum ließest du denn nicht die zweite Droschke zurückkommen, um dich abzuholen?«

»Ach so, das tat ich ja auch! Jetzt fällt mir’s ein. Jawohl, das tat ich. Ich erinnere mich nämlich, daß, als ich …«

»Nun, warum kam sie denn nicht zurück und holte dich ab?«

»Nach dem Postamt? Aber das tat sie ja!«

»Sehr schön. Wie kamst du denn darauf, zu Fuß nach der Pension zu gehen?«

»Ich – ich weiß nicht mehr so recht, wie das eigentlich zuging. O ja – jetzt hab’ ich’s! Richtig! Ich schrieb die Depesche, die nach Holland geschickt werden sollte, und …«

»O, Dank dem Himmel! Da hast du doch wenigstens etwas fertig gebracht. Ich hätte dir auch nicht raten mögen, die Absendung zu verbummeln – aber warum siehst du denn so sonderbar nach der Seite? Du versuchst, bei meinem Auge vorbeizublicken. Die Depesche ist das Allerwichtigste auf der … Du hast die Depesche nicht abgeschickt!!«

»Ich habe nicht gesagt, daß ich sie nicht abschickte.«

»Das brauchst du auch nicht erst zu sagen. Ach Herrje, es ärgert mich mehr als alles auf der Welt, daß gerade dies Telegramm nicht abgegangen ist. Warum schicktest du es nicht ab?«

»Hm, weißt du, wenn man so viel Verschiedenes zu tun und im Kopfe zu behalten hat …, sie nehmen es da so fürchterlich genau, und nachdem ich das Telegramm geschrieben hatte …«

»Ach, lass’ es nur, schweigen wir davon. Langes Reden kann es jetzt auch nicht mehr gut machen. Was soll er aber bloß von uns denken?«

»O, das ist ja ganz einfach, ganz furchtbar einfach. Er wird denken, wir hätten das Telegramm den Hotelleuten zur Besorgung übergeben, und sie …«

»Nun, natürlich. Und warum gabst du’s ihnen denn nicht? Das war ja doch das einzige Vernünftige.«

»Ja, das weiß ich wohl; aber dann fiel mir ein, ich müßte der Sicherheit wegen auf die Bank gehen und etwas Geld erheben.«

»Nun, das lass’ ich mir denn doch gefallen, daß du wenigstens daran gedacht hast. Ich will dir auch nicht zu nahe treten, aber du mußt selber zugeben, daß du uns allen viele Aufregungen verursacht hast und daß einige von diesen nicht nötig gewesen wären. Wieviel hast du dir geben lassen?«

»Hm, ich … ich habe mir gedacht, daß …«

»Daß was?«

»Daß … hm mir scheint, daß unter den obwaltenden Verhältnissen … und da wir so viele, weißt du … und … und …«

»Was brummelst du denn da in den Bart? Dreh’ dein Gesicht herum und laß mich … wahrhaftig, du hast überhaupt kein Geld erhoben!«

»Ja, der Bankier sagte …«

»Einerlei, was der Bankier sagte. Du mußt einen ganz besonderen Grund dafür gehabt haben. Oder eigentlich keinen Grund im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern etwas, was …«

»Nun denn, kurz und gut, die einfache Tatsache war die, daß ich meinen Kreditbrief nicht bei mir hatte.«

»Deinen Kreditbrief nicht bei dir?!«

»Meinen Kreditbrief nicht bei mir.«

»Plappere mir nicht so meine Worte nach! Wo war er?«

»Im Postgebäude.«

»Was sollte er denn da?«

»Ach Gott, ich habe ihn da vergessen und auf dem Tisch liegen lassen.«

»Auf mein Wort, ich habe schon recht viele Reisemarschälle gesehen; aber von allen Reisemarschällen, die ich jemals …«

»Ich habe mein Bestes getan!«

»Nun ja, das hast du, armer Kerl, und es ist unrecht von mir, daß ich dich so ausschelte. Du hast dich ja todmüde gelaufen, während wir hier saßen und bloß an unsre Verdrießlichkeiten dachten, anstatt dir dankbar zu sein für alles, was du für uns zu tun versucht hast. Es wird schon alles zurechtkommen. Wir können ebensogut morgen früh mit dem Halb-Acht-Zug fahren. Hast du die Fahrkarten gekauft?«

»Jawohl – und sogar recht billig; 2. Klasse.«

»Das freut mich. Alle Welt reist jetzt zweiter Klasse, und wir können die große Extraausgabe ganz gut sparen. Wieviel bezahltest du?«

»Hundertzehn Francs für das Stück – direkt bis Bayreuth.«

»So? Das wußte ich nicht, daß man direkte Fahrkarten kaufen könnte. Ich dachte, das könnte man nur in London und in Paris.«

»Manche Leute können’s vielleicht nicht – aber manche können’s; und zu den letzteren gehöre ich, wie es scheint.«

»Der Preis kommt mir ziemlich hoch vor.«

»Im Gegenteil, der Händler ließ mir seine Kommissionsgebühr ab!«

»Händler?!«

»Ja – ich kaufte sie in einem Zigarrenladen.«

»Da fällt mir was ein. Wir werden ziemlich früh aufstehen müssen, und deshalb wäre es gut, wenn wir nichts zu packen hätten. Dein Regenschirm, deine Gummischuhe, deine Zigarren …, was ist denn los?«

»Himmeldonnerwetter! Ich habe die Zigarren in der Bank liegen lassen.«

»Das sieht dir ganz ähnlich. Na, und dein Regenschirm?«

»Das will ich schon in Ordnung bringen. Die Sache hat ja keine Eile.«

»Was soll das heißen?«

»O, ’s ist schon recht. Ich will dafür sorgen, daß …«

»Wo ist der Regenschirm?«

»’s ist ja bloß ein Katzensprung; ich brauche ja keine fünf Mi …«

»Wo ist er?«

»Aeh …, ich glaube, ich habe ihn im Zigarrenladen stehen lassen; aber auf jeden Fall …«

»Nimm deine Füße da zwischen den Stuhlbeinen heraus! Das ist also genau so, wie ich’s mir gedacht hatte. Wo sind deine Gummischuhe?«

»Die … äh …«

»Wo sind deine Gummischuhe?«

»Es ist ja so trocken …, sie sagen ja alle, es sei kein Tropfen Regen mehr zu erw …«

»Wo – sind – deine – Gummischuhe?!«

»Sieh ’mal – die Sache kam so. Zuerst sagte der Beamte …«

»Was für ein Beamter?«

»Der Polizeibeamte; aber der Bürgermeister …«

»Was für ’n Bürgermeister?«

»Bürgermeister von Genf; aber ich sagte …«

»Warte ’mal! Was ist mit dir los?«

»Mit wem? Mit mir? Nichts. Sie wollten mich beide überreden, ich sollte dableiben, und …«

»Dableiben? Wo?«

»Die Sache ist nämlich …«

»Wo bist du gewesen? Was hast du bis halb elf in der Nacht draußen zu tun gehabt?«

»Sieh ’mal, liebes Kind, als ich meinen Kreditbrief verloren hatte, da …«

»Du gehst mir wie die Katze um den heißen Brei herum. Nun antworte mir kurz und bündig auf meine Frage! Wo sind die Gummischuhe?«

»Sie …, nun ja denn, sie sind im Kantonsgefängnis.«

Ich zauberte ein versöhnungheischendes Lächeln auf meine Lippen, aber es erstarrte zu Eis. Das Klima war nicht danach. Ein drei- oder vierstündiger Aufenthalt im Kantonsgefängnis schien der Expedition nicht sehr humoristisch vorzukommen. Mir eigentlich auch nicht.

Ich mußte nun die ganze Geschichte lang und breit auseinandersetzen, und natürlich stellte sich’s heraus, daß wir den Frühzug nicht benützen konnten, weil ich dann meinen Kreditbrief nicht herausbekommen hätte. Es sah so aus, als ob wir in Aerger und Hader zu Bett gehen würden, aber dazu kam es zum guten Glück doch nicht. Zufällig kam die Rede auf die Koffer, und ich war in der Lage, zu sagen, ich hätte diese Angelegenheit besorgt.

»Wirklich? Nun, dann bist du so gut und aufmerksam und eifrig und intelligent gewesen, wie’s in deinen Kräften steht, und es ist nicht recht, so viel an dir herumzunörgeln. Und nun soll auch kein Wort mehr darüber gesagt werden. Du hast dich wirklich schön, bewunderungswürdig benommen, und es tut mir leid, daß ich dir überhaupt ein unfreundliches Wort sagte.«

Diese Lobsprüche trafen mich tiefer als alle Scheltworte, und mir wurde unbehaglich dabei zu Mute, weil ich mich nicht so ganz sicher fühlte, daß ich das Koffergeschäft wirklich richtig besorgt hätte. Es schien mir irgend etwas dabei nicht ganz in Ordnung zu sein, obgleich ich nicht genau wußte, was es eigentlich war; aber ich verspürte keine Neigung, gerade in diesem Augenblick die Sache aufzurühren, denn es war schon spät, und ich dachte bei mir selber: O rühret, rühret nicht daran!

Natürlich gab es am Morgen Musik, als sich’s herausstellte, daß wir nicht mit dem Frühzug reisen konnten. Aber ich hatte keine Zeit zu warten; ich genoß nur die ersten Takte der Ouvertüre und machte mich dann sofort auf den Weg, um meinen Kreditbrief wiederzubekommen.

Es schien mir an der Zeit, zunächst mich mal um die Kofferangelegenheit zu bekümmern und sie ins rechte Geleise zu bringen, falls da etwas schief gegangen wäre, denn ich hatte einen unbestimmten Verdacht, das könnte wohl der Fall sein. Es war zu spät. Der Hausknecht sagte, er habe die Koffer am Abend vorher nach Zürich aufgegeben. Ich fragte ihn, wie er das hätte tun können, ohne unsre Fahrkarten vorzuzeigen.

»Ist in der Schweiz nicht nötig. Man bezahlt für die Koffer und schickt sie, wohin es einem gefällt. Frei geht bloß das Handgepäck.«

»Wieviel bezahlten Sie dafür?«

»140 Francs.«

»28 Dollars! Mit diesen Koffern ist ganz bestimmt irgend was nicht in Ordnung.«

Dann begegnete ich dem Portier. Er sagte:

»Sie haben nicht gut geschlafen, nicht wahr? Sie sehen abgespannt aus. Wenn Sie vielleicht gern einen Reisemarschall hätten – ein guter ist gestern abend angekommen und ist für fünf Tage frei. Er heißt Lüdy. Wir empfehlen ihn, das heißt: das Grand-Hotel Beau-Rivage empfiehlt ihn.«

Ich lehnte kalt ab. Mein Geist war noch nicht gebrochen. Und es gefiel mir nicht, daß man mit mir in solcher Art und Weise von meinem Reisemarschallsamt sprach.

Gegen neun Uhr war ich im Kantonsgefängnis in der Hoffnung, der Bürgermeister möchte viel früher als zu seiner Dienststunde aufs Bureau kommen. Das tat er aber nicht. Es war langweilig dort. Jedesmal wenn ich etwas anfassen oder ansehen oder tun oder nicht tun wollte, sagte der Polizist es wäre ›défendu‹. Ich dachte, ich könnte mich bei ihm ein bißchen im Französischen üben, aber auch davon wollte er nichts wissen. Es schien ihn ganz besonders ärgerlich zu machen, wenn er seine Muttersprache hörte.

Endlich kam der Bürgermeister, und dann ging alles glatt, denn er hatte die Minute vorher den Höchsten Gerichtshof zusammenberufen – das tun sie immer, wenn es sich um Streitfragen über wertvolles Eigentum handelt. Alles ging nach guter Ordnung vor sich, Schildwachen wurden ausgestellt, und der Kaplan sprach ein Gebet. Mein unversiegelter Brief wurde hereingebracht und geöffnet – und es war nichts weiter darin als ein paar Photographien. Ich hatte nämlich, wie mir nun einfiel, den Kreditbrief herausgenommen, um die Bilder hineinstecken zu können, und hatte den Brief in einer anderen Tasche verwahrt, wie ich zu allgemeiner Zufriedenheit nachwies, indem ich ihn herausnahm und mit nicht geringem freudigem Stolz herumzeigte. Die Herren vom Gerichtshof sahen mit einem eigentümlich nichtssagenden Ausdruck erst einander und dann mich an. Zuguterletzt ließen sie mich gehen, sagten aber, es sei unvorsichtig, mich frei herumlaufen zu lassen, auch fragten sie mich, welchen Beruf ich hätte. Ich sagte, ich sei Reisemarschall. Sie hoben in einer Art von staunender Ehrfurcht ihre Augen zum Himmel und sagten auf deutsch: »Du lieber Gott!« und ich sprach einige höfliche Worte des Dankes für ihre augenscheinliche Bewunderung und rannte spornstreichs nach der Bank.

Da ich aber nun einmal Reisemarschall war, so fühlte ich mich auch bereits als großen Herold der Grundsätze: Ordnung! System! Jedes Ding zu seiner Zeit! Jedes Ding an seinem Ort!

Ich ging daher am Bankgebäude vorüber, bog in eine Nebenstraße ein und begab mich auf den Weg, um die beiden fehlenden Mitglieder der Expedition abzuholen. Eine Droschke wankte an mir vorüber, und ich ließ mich überreden, sie zu nehmen. An Schnelligkeit gewann ich dadurch nichts, aber es war eine ruhevolle Abwechslung, und ich liebe recht viele Ruhe. Der wochenlange Jubellärm wegen des sechshundertsten Geburtstages der schweizerischen Freiheit und der Begründung der Eidgenossenschaft war auf seinem Höhepunkt, und alle Straßen waren mit wehenden Fahnen behangen.

Pferd und Kutscher waren drei Tage lang betrunken gewesen und hatten während dieser ganzen Zeit weder Stall noch Bett gesehen. Sie sahen aus wie ich mich fühlte: schläfrig und katzenjämmerlich. Aber im Laufe der Zeit kamen wir trotzdem an. Ich ging ins Haus und klingelte, und bat ein Dienstmädchen, sie möchte den fehlenden Mitgliedern sagen, daß sie schnell herauskommen sollten. Sie sagte darauf etwas, was ich nicht verstand, und ich kehrte zu meiner Karre zurück. Wahrscheinlich hatte das Mädchen mir gesagt, die Leute wohnten nicht in ihrem Stockwerk, und es würde ratsam sein, wenn ich höher ginge und von Stockwerk zu Stockwerk läutete, bis ich sie fände; denn in diesen schweizerischen Mietskasernen scheint man jemanden nur dadurch finden zu können, daß man geduldig ist und auf dem Wege von unten nach oben die richtige Wohnung zu erraten trachtet. Ich rechnete mir aus, daß ich fünfzehn Minuten würde warten müssen, da bei derartigen Gelegenheiten stets drei unvermeidliche Umstände vorhanden sind; erstens: die Hüte aufsetzen, herunterkommen, einsteigen; zweitens: Umkehren des einen Mitglieds: »um meinen anderen Handschuh zu holen«; drittens: Umkehren des anderen Mitglieds: »um meinen ›kleinen Franzosen in der Westentasche‹ zu holen.« Ich beschloß, diese fünfzehn Minuten hindurch mich mit meinen Gedanken zu beschäftigen und mich nicht zu ärgern.

Es folgte eine recht stille und ereignislose Pause; dann fühlte ich eine Hand auf meiner Schulter und fuhr in die Höhe. Der Störenfried war ein Polizist. Ich sah um mich und bemerkte, daß der äußere Anblick der Szenerie sich geändert hatte. Es war eine recht stattliche Menschenmenge versammelt, und die Leute sahen so vergnügt und neugierig drein, wie sie’s immer tun, wenn irgendwo irgendwer zu Schaden gekommen ist.

Das Pferd war eingeschlafen, der Kutscher auch, und einige Jungen hatten sie und mich von oben bis unten mit bunten Zieraten behangen, die sie von den unzähligen Fahnenmasten gestohlen hatten. Es war ein empörender Anblick! Der Beamte sagte:

»Es tut mir leid, aber wir können Sie nicht den ganzen Tag hier schlafen lassen.«

Ich war verletzt und sagte voll Würde:

»Ich bitte recht sehr – ich schlief nicht; ich dachte!«

»Nun Sie können ja denken, wenn es Ihnen Spaß macht; aber dann müssen Sie bei sich selber denken, Sie stören ja die ganze Nachbarschaft.«

Es war ein armseliger Witz, aber die Menge lachte darüber. Ich schnarche zuweilen nachts, aber es ist unwahrscheinlich, daß ich bei Tage und auf offener Straße so etwas tun sollte! Der Beamte nahm uns die Zieraten ab; unsre Hilflosigkeit schien ihm leid zu tun, und er gab sich wirklich Mühe, anständig zu sein. Er sagte aber, wir dürften nicht länger mehr auf der Straße halten, sonst müßte er uns in Buße nehmen – so laute die Bestimmung, sagte er. Und weiter bemerkte er in höflicher Weise, ich sähe ein bißchen angegriffen aus, und er möchte gern wissen …

Ich sah ihn recht hochnasig von oben bis unten an und sagte, ich wollte doch hoffen, man dürfte solche Tage ein bißchen feiern, besonders wenn sie einen ganz persönlich angingen.

»Persönlich?« fragte er. »Wieso?«

»Weil vor sechshundert Jahren einer meiner Vorfahren den Bundesvertrag mit unterzeichnete.«

Er dachte einen Augenblick nach, sah mich dann prüfend an und sagte:

»Vorfahre! Ich bin der Meinung, Sie haben ihn selber unterzeichnet. Denn von allen alten historischen Gedenkstücken, die ich jemals … aber lassen wir das … Worauf warten Sie hier so lange?«

Ich sagte:

»Ich warte überhaupt gar nicht so lange hier. Ich warte fünfzehn Minuten, bis sie einen Handschuh und ein Buch vergessen haben und wieder umkehren, um sich die Dinger zu holen.«

Hierauf sagte ich ihm, wer die Leute wären, die ich abholen wollte.

Er war sehr gefällig und begann Fragen zu den Köpfen und Schultern hinaufzurufen, die reihenweise aus allen Fenstern über uns heraussahen. Eine Frau rief von ganz oben herunter:

»Die? Für die habe ich ja eine Droschke geholt, und sie sind schon vor langer Zeit von hier abgefahren – so ungefähr um halb neun!«

Das war verdrießlich. Ich warf einen Blick auf meine Uhr, sagte aber nichts. Der Beamte aber bemerkte:

»Wie Sie sehen, ist es dreiviertel zwölf. Sie hätten sich besser erkundigen sollen. Sie haben hier dreiviertel Stunden lang geschlafen – und in was für einer Sonnenglut! Sie sind gebraten – braun gebraten. Es ist großartig! Und Sie werden vielleicht Ihren Zug verpassen. Sie interessieren mich sehr. Was ist Ihr Beruf?«

Ich sagte, ich sei Reisemarschall. Das schien ihn zu wundern, und bevor er sich davon erholt hatte, waren wir fort.

Als ich im dritten Stock des Hotels ankam, fand ich unsere Zimmer verlassen. Das überraschte mich nicht. Sobald ein Reisemarschall das Auge von seinen Schutzbefohlenen abwendet, so laufen sie in die Läden und machen Einkäufe. Je näher es der Abfahrtsstunde ist, desto sichrer sind sie weg. Ich setzte mich und versuchte zu überlegen, was ich nun zunächst tun solle, aber auf einmal kam der Hoteldiener herein und sagte, die Expedition sei vor einer halben Stunde nach dem Bahnhof gefahren. Es war meines Wissens das erstemal, daß sie etwas Vernünftiges taten, und diese neue Erfahrung war sehr geeignet, meine Gedanken in Verwirrung zu bringen. Dies ist eins von den Dingen, die den Beruf eines Reisemarschalls so schwierig und so ungewiß machen. Wenn gerade alles so recht schön im Geleise geht, pardauz, machen seine Leute einen Seitensprung, und aus ist es mit allen so sorgfältig ausgedachten Anordnungen.

Der Zug sollte mit dem Glockenschlag zwölf abfahren. Jetzt war es zehn Minuten bis zwölf. In zehn Minuten konnte ich auf dem Bahnhof sein. Ich sah also, daß ich nicht mehr viel Zeit zu verlieren hatte, denn unser Zug war der ›Blitzzug‹, und auf dem europäischen Festlande setzen die Blitzzüge einen gewissen Stolz darein, zuweilen zur festgesetzten Zeit abzufahren. Meine Angehörigen waren die einzigen Leute, die noch im Wartesaale saßen; alle anderen waren schon hinausgegangen und hatten ›den Zug bestiegen‹, wie man dortzulande sagt. Sie waren ganz erschöpft vor Aufregung und Aerger, aber ich tröstete und munterte sie auf, und wir stürmten hinaus.

Aber nein – wir hatten wiederum Pech. Der Türsteher war nicht mit den Fahrkarten einverstanden. Er prüfte sie vorsichtig, bedächtig, mißtrauisch, sah mich eine Weile an und winkte hierauf einen anderen Beamten heran. Die beiden untersuchten die Fahrkarten und riefen einen dritten. Die drei riefen andere und diese Ratsversammlung hielt Reden und Reden und gestikulierte und redete immerzu, bis ich sie bat, sie möchten bedenken, wie flüchtig die Zeit ist, möchten daher schnell ein paar Beschlüsse fassen und uns gehen lassen. Hierauf sagten sie sehr höflich, es sei an den Fahrkarten etwas nicht in Ordnung; wo ich dieselben gekauft hätte?

»Aha!« dachte ich, »nun weiß ich, was da los ist!« Ich hatte ja die Fahrkarten in einem Zigarrenladen gekauft und natürlich haftete ihnen der Geruch des Tabaks an; ohne Zweifel beabsichtigten sie die Fahrkarten erst der Zollbehörde vorzulegen, um die Steuer für den Geruch zu erheben. Ich beschloß daher, recht frank und frei zu sprechen; das ist zuweilen das beste. Ich sagte also:

»Meine Herren, ich will Sie nicht länger hintergehen. Diese Eisenbahnfahrkarten …«

»Ah, Pardon, Monsieur. Das hier sind keine Eisenbahnfahrkarten.«

»O,« sagte ich. »Sitzt da der Haken?«

»Ganz gewiß, mein Herr. Dies sind Lotterielose, jawohl; und zwar Lose von einer Lotterie, die vor zwei Jahren gezogen wurde.«

Ich heuchelte große Heiterkeit. Weiter kann man unter solchen Umständen nichts tun, und dabei nützt es noch nicht mal was. Keiner fällt darauf herein, und man sieht, wie jeder in der Runde einen bedauert und bemitleidet. Ich glaube, es gehört zu den peinlichsten Lebenslagen, wenn man sich ob der kläglichen Rolle, die man selber spielt, ärgern und schämen muß und dabei äußerlich den Verschmitzten und Lustigen zu spielen hat, während neben einem die eigene Expedition steht, die geliebten teuren Wesen, auf deren Liebe und Verehrung man nach dem Herkommen zivilisierter Völker Anspruch hat, und wenn man weiß, daß sie vor Scham vergehen möchten vor all diesen fremden Menschen, deren Mitgefühl ein Brandmal, ein Schandmal ist – ein Brandmal, das einen kennzeichnet als einen – o, ich kann’s nicht aussprechen, aber es ist etwas, woran menschliche Gemüter nur mit Schauder denken können.

Ich sagte lustig, es sei schon recht, nur so ein kleines Versehen, wie es wohl jedem mal passieren könne. Ich würde binnen zwei Minuten die richtigen Fahrkarten haben, und wir kämen immer noch zur rechten Zeit in den Zug und hätten außerdem was, worüber wir unterwegs lachen könnten. Ich bekam auch die Fahrkarten rechtzeitig, schön abgestempelt und vollzählig, aber dann stellte sich’s heraus, daß ich sie nicht nehmen konnte. Ich hatte mir nämlich mit dem Abholen der beiden fehlenden Mitglieder so viel Mühe gegeben, daß ich darüber die Bank völlig verschwitzt hatte. Ich hatte also kein Geld. So fuhr denn der Zug ab, und es war augenscheinlich nichts andres zu machen, als nach dem Hotel zurückzugehen. Das taten wir denn auch, aber es herrschte sozusagen eine melancholische Stimmung, und es wurde nicht viel gesprochen. Ich versuchte ein paarmal eine Unterhaltung in Gang zu bringen, über die schöne Gegend und über Seelenwanderung und dergleichen, aber ich schien damit keinen Anklang zu finden.

Unsere guten Zimmer hatten wir verloren, doch bekamen wir einige andere, die zwar ein bißchen weit auseinander lagen, aber immerhin leidlich waren. Ich dachte, das Wetter würde sich jetzt aufheitern, aber das Haupt der Expedition sagte: »Schicke die Koffer herauf!«

Es lief mir kalt über den Rücken. An dieser Koffergeschichte war irgend etwas zweifelhaft. Darauf hätte ich beinahe schwören mögen. Ich wollte einen Vorschlag machen.

Aber ein Wink mit der Hand genügte, um mich zum Schweigen zu bringen, und ich erhielt den Bescheid, wir würden jetzt für drei Tage unser Zelt in Genf aufschlagen und versuchen, ob die Ruhe uns wieder frische Kräfte gäbe.

Ich sagte, mir wär’s recht, sie möchten sich nicht die Mühe machen, erst zu klingeln; ich würde hinuntergehen und selber nach den Koffern sehen. Ich nahm eine Droschke und fuhr stracks zu Herrn Carl Natürlich und fragte, was für einen Auftrag ich dort hinterlassen hätte.

»Sieben Koffer ins Hotel zu schicken.«

»Und sollten Sie nicht welche wieder mitnehmen?«

»Nein.«

»Sie sind sicher, daß ich Ihnen nicht gesagt habe, Sie sollten sieben abholen, die Sie in der Vorhalle aufgestapelt finden würden?«

»Ganz gewiß haben Sie kein Wort davon gesagt.«

»Dann sind sie alle vierzehn nach Zürich oder nach Jericho oder sonst wohin gegangen, und es werden sich in der Umgebung des Hotels noch mehr Bruchstücke vorfinden, wenn die Expedition …«

Ich sprach den Satz nicht zu Ende. In meinem Gehirn begann nämlich alles rund umzugehen, und wenn es so weit mit einem ist, so denkt man immer, man habe einen Satz zu Ende gesprochen, während man es in Wirklichkeit nicht getan hat. Grübelnd und sinnend geht man weg und kommt erst wieder zum Bewußtsein, wenn ein Droschkengaul oder eine Kuh oder sonstwas einen umrennt.

Ich ließ die Droschke vor Natürlichs Geschäft – ich vergaß sie nämlich – und überlegte mir auf dem Rückweg noch einmal die ganzen Ereignisse und beschloß, meinen Rücktritt vom Amt zu erklären; es schien mir nämlich sonst ziemlich sicher zu sein, daß man mich absetzen würde. Indessen schien es mir nicht das Richtige zu sein, mein Entlassungsgesuch in eigener Person einzureichen; ich konnte das auch durch einen Boten besorgen. Ich ließ mir daher Herrn Lüdy kommen und setzte ihm auseinander, ein Reisemarschall sähe sich wegen Unerträglichkeit oder Ermüdung oder dergleichen in die Notwendigkeit versetzt, zurückzutreten, und da er, wie ich gehört, auf vier oder fünf Tage frei wäre, so möchte ich gern, wenn er den offenen Posten annehme – falls er dächte, er könnte ihn ausfüllen. Als alles abgemacht war, veranlaßte ich ihn, nach oben zu gehen und der Expedition zu sagen, daß wir infolge eines Versehens von Herrn Natürlichs Leuten keine Koffer hier hätten, in Zürich aber einen ganzen Haufen vorfinden würden, und daß es besser wäre, wir nehmen den ersten besten Schnell-, Bummel- oder Güterzug und machten uns auf die Reise.

Er besorgte das und brachte mir von oben eine Einladung mit herunter, ich möchte mal hinaufkommen.

»Ja gewiß,« sagte ich.

Während wir dann nach der Bank gingen, um Geld zu holen und meine Zigarren nebst dem Tabak zu uns zu nehmen, und nach dem Zigarrenladen, um uns das Geld für die Lotterielose zurückgeben zu lassen und meinen Schirm zu holen, und nach Herrn Natürlichs Geschäft, um die Droschke zu bezahlen und wegzuschicken, und nach dem Kantonsgefängnis, um meine Gummischuhe in Empfang zu nehmen und für den Bürgermeister und die Herren vom Höchsten Gerichtshof Karten mit p. p. c. zu hinterlassen – während dieser ganzen Zeit beschrieb er mir das Wetter, das in den höheren Regionen bei der Expedition herrschte, und ich sah, daß ich mich da, wo ich war, sehr wohl befand.

Bis vier Uhr nachmittags wanderte ich draußen vor der Stadt in den Wäldern umher; dann begab ich mich nach dem Bahnhof und kam mit meiner Expedition gerade zur rechten Zeit zum Züricher Drei-Uhr-Expreß. Die Expedition befand sich jetzt unter der Obhut des Herrn Lüdy, der ihre verwickelten Geschäfte anscheinend mit geringer Anstrengung und in aller Bequemlichkeit zu erledigen wußte.

So!! Ich hatte also wie ein Sklave gearbeitet, so lange ich im Amte war, und hatte mir die allergrößte Mühe gegeben. Und trotzdem sprachen sie alle nur von den Fehlern meiner Leitung, nicht von den guten Eigenschaften derselben; diese letzteren schienen in ihrem Gedächtnis gar nicht mehr zu existieren. Tausend gute Eigenschaften übersprangen sie einfach und redeten und redeten immer wieder von einem Umstand, bis ich dachte, nun müßten sie doch endlich müde sein, davon zu sprechen. Und was war das für ein Umstand? – nichts weiter, als daß ich mich in Genf selber zum Reisemarschall aufgeworfen und eine Betriebsamkeit entwickelt hätte, womit ich einen Zirkus nach Jerusalem hätte bringen können – und daß ich damit nicht einmal meine kleine Schar aus der Stadt herausgebracht hätte. Schließlich sagte ich ihnen, ich wünschte von dem Gegenstand nichts mehr zu hören, ich bekäme Kopfschmerzen davon. Und ich sagte ihnen ins Gesicht, ich würde niemals wieder Reisemarschall sein, und wenn ich damit einem Menschen das Leben retten könnte. Und wenn ich lange genug am Leben bleibe, so will ich das beweisen. Meiner Meinung nach ist es ein heikliges, hirnermüdendes, nervenzerrüttendes, ganz und gar undankbares Amt, und der Hauptlohn, den man davon hat, ist: ein verärgertes Herz und ein wirbliger Kopf.

Dekoration

Share on Twitter Share on Facebook