Der Besuch nach zwanzig Jahren.

Zwanzig Jahre sind eben so viele Umläufe des Erdballs um die Sonne; regelmäßig ist die Wandlung, auf eine Minute voraus zu berechnen, in welchem Abstand er sich an diesem oder jenem Tage von der Sonne, auch von allen bisher entdeckten Planeten befinden wird. Es kann der Mensch stolz seyn, daß er so erhabner Berechnungen fähig ist; sie unterscheiden ihn von dem sprachlosen Thier. Stets kehren die Jahreszeiten regelmäßig wieder, und die veränderte Witterung hängt an atmosphärischen Ursachen, die genau der Mensch noch nicht ergründen konnte. Im Allgemeinen sind diese Abweichungen aber nicht bedeutend, und man wird doch ziemlich voraussagen können, welch ein Ansehn die Natur an diesem oder jenem Orte, in einem oder dem anderen Monate, haben wird.

Nicht so ist es bei dem Menschen. Er verfolgt auch einen Gang, dem an sich Frühling, Sommer, Herbst und Winter zugetheilt sind; übrigens hat sein Leben aber so wenig Regelmäßigkeit, und die Zukunft läßt sich so ungewiß aus der Gegenwart bestimmen, daß oft eine ganz andere Erscheinung, als die gehoffte, eintreten wird. Nach einem Zeitraum von zwanzig Jahren darf nur – wer so lange denken kann – sich fragen: welche Bekannte hatte ich, als dieser Zeitraum anfing? Was ist aus ihnen geworden; und wie hofften und glaubten sie einst, daß ihrem Wünschen und Streben die Fügung entsprechen würde? Aus den vorhandenen Thatsachen werden nun die Beantwortungen hervorgehn, und nicht wenig in Erstaunen setzen.

Auf die allmähligen Veränderungen, welche in zwanzig Jahren mit unsern Bekannten sich zutragen, achten wir bei dem Allen viel zu wenig, als daß uns die entstandnen Kontraste zwischen Ehedem und Jetzt recht deutlich ins Auge fielen. Wo die Farben nach und nach sich umwandeln, befremdet es endlich kaum noch, wenn aus dem Weiß ein Schwarz sich hervorgebildet hat; doch wer aus dem Mittag jähling in die Mitternacht träte, oder aus dem Julius in den Februar, könnte von auffallenden Gegensätzen der Ansicht reden.

So auch, wenn wir die Bekannten in zwanzig Jahren nicht gesehn, auch während dieser Zeit nicht das Mindeste von ihnen gehört haben. Diese Erfahrung sollte ich machen, und ich entnahm daraus, wie viel merkwürdiger noch es seyn muß, wenn der Zeitabschnitt dreißig oder noch mehr Jahre beträgt.

Ich wurde in einer Stadt mittlern Umfangs in Deutschland geboren. Mein Vater bekleidete das Amt eines Rathsherrn, und stand in ausgezeichnetem Ansehn; theils weil es seine Würde ihm gab, theils, weil er mit einem anerkannt redlichen Sinn eine ungemein scherzhafte Laune verband, die ihn jeden Zirkel, in den er trat, beseelen, und allenthalben Freunde gewinnen ließ. Eben so war meine Mutter, ihres gutmüthigen und feinen Betragens willen, in meiner Heimath geachtet.

Ich hatte noch einen älteren Bruder Otto, welcher die Rechte studierte, wogegen ich auf einer Hochschule der Cameralwissenschaft oblag. Meine Schwester, Wilhelmine, zählte einige Jahre weniger als ich.

Mit Otto stand ich von den Kinderjahren her nicht zum Beßten. Vater und Mutter gaben mir einigen Vorzug; dies machte ihn zu meinem Feind. Unsre Gemüthsweisen hatten eine große Verschiedenheit. Otto war einsilbig, trocken, mißlaunig, galt daher nicht bei den Knabenspielen in unserer Nachbarschaft für einen lustigen Gefährten; ein Lob, das mir hingegen ward, bei meiner natürlichen, in jenen Zeiten oft muthwilligen, Lebhaftigkeit. Man konnte Ottos Fleiß auf Schulen nicht tadeln; er zeigte vielmehr dort guten Eifer, trieb jedoch Alles mechanisch, konnte es nur zu langsamen Fortschritten bringen, und am Ende schien Alles bei ihm nur magres Gedächtnißwerk. Die Mitschüler nannten ihn einen Pinsel; bei den Lehrern aber galt er, weil er ihnen eine ungemein unterworfne Ehrerbietung bewies. Mein Streben war nicht so ernst, allein die Arbeit wurde mir leicht; ich konnte in einer Stunde mehr vor mich bringen, als Otto in einem halben Tage. Daher übertraf ich ihn nicht selten, und erregte oft die Verwunderung meiner Lehrer in Fragen, die von scharfsinnigem Nachdenken und treffendem Urtheil zeugten; oder in Einfällen, die ihnen witzig schienen. Allein ich trieb nebenbei auch manchen kleinen Unfug, war zu leichtsinnig die Gunst der Lehrer auf solchen Wegen zu suchen, wie Otto, an dem ich vielmehr eine kriechende, sklavische Höflichkeit bespöttelte. So gewann ich dort wenig Gunst.

Als wir gemeinschaftlich die Hochschule bezogen hatten, blieb unser Verhältniß zu einander sich ähnlich. Otto galt mehr bei den Professoren, ich mehr bei den aufgeweckten Burschen, war bald in meiner Landsmannschaft, in meinem Orden ein strahlendes Licht. Otto wirthschaftete spärlich; weit mehr kostete ich dem Vater. Bei dem Allen war ich ihm doch lieber, als mein Bruder, nachdem wir von der Hochschule in die Vaterstadt zurückkamen. Meine Außenseite schien ihm vortheilhafter, meine Unterhaltung geistreicher. Unser Wissen dünkte ihm sich ungefähr die Wage zu halten; doch meinte er: ich würde mit meinem Pfund gescheidter zu wuchern verstehn, die Wege, auf denen man sein Glück macht, mit Scharfblick suchen, mit kluger Beharrlichkeit verfolgen, und so bald an einem namhaften Ziele stehn. Otto, pflegte er zu sagen, wird so ein sechs Jahre als Referendarius der Jurisprudenz mitlaufen, und dann sich zum Senator, oder, wenn es hoch kommt, zum Bürgermeister in einem Landstädtchen ernannt sehn, und damit wird seine Laufbahn geschlossen seyn. An Wilhelm denke ich hingegen noch zu erleben, daß er zum Geheimen-Finanz-Rath oder Präsidenten emporsteigt.

Der gute Vater irrte, wie es die Folge zeigen wird. Ueberhaupt gehört es auch zu meinen gesammelten Erfahrungen, daß häufig die Eltern ihrer Kinder wahrscheinliches Loos unrichtig beurtheilen.

Man stellte uns bei den zwei Collegien an, die in meiner Vaterstadt sich befanden. Otto glänzte auf seinem Standpunkt gar nicht; meine Talente wurden bald gepriesen. Doch hatte sich nach zwei Jahren da viel geändert. Otto griff mehr und mehr ein, und hatte die Zuneigung der Obern, in seinem höchst aufmerksamen Betragen, gewonnen. Die meinigen aber fanden an mir dies und das zu erinnern. Ich hätte zwar Talente, hieß es, wäre aber auch voreilig eitel darauf, ließe mir bald Nachlässigkeiten in der gebührenden Achtung gegen Höherstehende, bald in den amtlichen Verrichtungen, zu Schulden kommen, und wäre oft auch absprechend, anmaßend; wollte am Eingang der Laufbahn manches besser verstehen, als Männer, die größtentheils sie schon durchlaufen hätten.

Doch ich will meine nächste Umgebung, in diesen zwei Jahren, beschreiben, um hernach darzuthun, welche seltsame Wechsel zwanzig Jahre in den Schicksalen der Menschen hervorzubringen fähig sind.

Mein Vater hatte ein Einkommen, das für den Ort ansehnlich heißen durfte, und auch meine Mutter hatte ihm einiges Vermögen zugebracht. Dies setzte ihn in den Stand, oft Gäste einzuladen, oder, wie man es nennt, ein Haus zu machen. Es entsprach seinen Neigungen zu heitrer Geselligkeit, und er setzte auch eine Art Stolz in den Ruf: sein Haus könne ein Wohnsitz des guten Geschmacks heißen. Er traf auch deshalb eine sorgsame Auswahl unter den Leuten, mit welchen er vorzüglich umging; wenigstens mußten sie zur feinsten Welt des Ortes gehören, und es lag ihm mehr daran, zu bewirthen, als bewirthet zu werden. Daneben war gute, frohe Laune eine den Hausfreunden gemachte Bedingung. Sie wohnte ihm selbst in hohem Maße bei, und lange Weile floh er.

Er liebte diesen Aufwand jedoch zu viel, erwog nicht genug, daß zwischen seinen Einnahmen und Ausgaben kein richtiges Verhältniß bestände. Wir Söhne hatten ihm auf der Hochschule auch nicht wenig gekostet, und durften in den nächsten Jahren noch keinem Amtsgehalt entgegen sehn. Deshalb war um die Zeit, als wir an den erwähnten Landesstühlen untergeordnete Plätze gefunden hatten, das Vermögen seiner Gattin schon mit aufgezehrt. Nichts destoweniger lebte mein Vater nach alter Weise, zum Theil einmal daran gewöhnt, zum Theil auch aus überdachten Gründen. Er meinte, wenn er die Obern seiner Söhne durch öftere Einladungen sich verbindlich machte, so würden sie um so geneigter seyn, Jenen zu einem besseren Fortkommen zu helfen. Zudem wuchs auch meine Schwester heran; eine glückliche Verheirathung derselben gehörte zu den sehnlichsten Wünschen meiner beiden Eltern. Die Mutter pflegte zu sagen: Ein Mädchen, das nicht gesehn wird, kann auch nicht begehrt werden. Und so munterte sie ihn zu dem noch auf, wovon ihn abzumahnen vielleicht rathsamer gewesen wäre.

In der That mußte aber Wilhelmine nahe gesehn, nach ihren verschiednen Eigenthümlichkeiten beobachtet werden, wenn diese auf Männerherzen Eindruck machen sollten; es konnte dann jedoch ein namhafter seyn. Der Mitgift wegen ließen Freier sich nicht absehn, und Wilhelmine hatte keinen Mangel an Schönheit, zeichnete sich gleichwohl auch daran nicht aus. Sie hatte eine mittlere, feine Gestalt, ein nicht unregelmäßiges, und allerdings auf schönen inneren Sinn deutendes, aber wie gesagt, nicht ausgezeichnetes Gesicht. Es hätte sich daran mehr frische Blüthe, und schärferer Ausdruck in den Zügen wünschen lassen; sonst hingegen war es hold, freundlich und angenehm.

Viel hatten die Eltern an Wilhelminens Erziehung gewandt, und sie war ihren Bemühungen stets mit regem Eifer entgegen getreten. Sie zählte nun achtzehn Jahre, und hatte ihren natürlichen Verstand ungemein durch nützliche Schriften, und vortheilhaft gewählte Freundinnen, ausgebildet. Der französischen und italiänischen Sprache war sie mächtig, und dehnte ihr Urtheil auf mannichfache Gegenstände im Gebiet der Wissenschaften und Künste aus. Vor Allem nannte sie Tonkunst ihr Lieblingsthum, und erregte in der That mit ihrem Gesang die Bewunderung der Kenner. Man sagte von ihr: sie eine die Fertigkeit einer Virtuosin mit dem Gefühl einer Dilettantin; und es war keine Schmeichelei. Sie wußte sich daneben mit einem edel einfachen Geschmack zu kleiden, und trat allenthalben mit Anmuth und feiner Darstellung auf.

So mußte Wilhelminens Gesammtheit allerdings anziehend seyn, und in den Augen sinniger Männer blieben auch schönere, doch weniger gebildete Mädchen ihr weit nachgesetzt. Man feierte die Schwester auf eine ausgezeichnete Weise; namentlich glänzte sie, wo man sie veranlaßte, ihre Meinung über schönwissenschaftliche Gegenstände zu äußern, oder ihren Gesang tönen zu lassen.

Ohne tadelhaft eitel zu seyn, fühlte aber Wilhelmine doch, daß man sie auszeichnete, und daß ihre geistigen und gemüthlichen Vorzüge ihr höhere Ansprüche gäben, als vielen Mädchen. Schon weil sie das Ideal eines sehr vollkommenen Mannes, einer höchst glücklichen Ehe, sich mit vielem Sinn und Geschmack zu entwerfen wußte, hoffte sie auch, einen Bräutigam zu finden, der geeignet wäre, ihre Wünsche – dem größeren Theil nach mindestens – zu erfüllen.

Ich hatte ihr Vertrauen mehr, als Otto; daher theilte sie mir oft ihre Wünsche mit, und ich konnte das, ihr zartes Selbstgefühl Ehrende und Verständige darin, nicht abläugnen.

Ihres Standes sollte der Bräutigam seyn, oder auch höheren; das Letzte würde, eben nicht aus stolzem Sinn, doch in dem Betracht, daß Wilhelmine durch ihre sich angeeigneten Vorzüge sich bereits erhoben hatte, ihr nicht unangemessen gedünckt haben. Reichthum gehörte nicht zu den Bedingungen, welche sie aufstellte; Ueberfluß, meinte sie, wäre unnöthig, doch unerläßlich nöthig auch, vor Nahrungssorgen und Mangel geschirmt zu seyn. Eine mittlere Wohlhabenheit – auf ein darüber Hinausgehn würde sie auch nicht gezürnt haben – stand hier also in Rede. Aber einen schönen jugendlichen Mann wünschte sie vorzüglich; wie hätte sie dem an ihr gerühmten feinen Geschmack sonst entsprechen können! Gleichwohl beschränkte sie noch ihre Forderungen mäßig. Ein Adonis, ein Antinous, sagte sie, thut g'rade nicht Noth, doch eine Gestalt, an der nichts Makelhaftes oder gar Lächerliches heraustritt, die eine wahrhaft männliche zu nennen ist. Nichts stelle ich mir kläglicher vor, als wenn ich an der Seite einer hagern, gebrechlichen, oder sonst verbildeten Mißgestalt einhergehn müßte; ich würde in Aller Augen Bespöttelung, und die Frage lesen: wie konnte sie aber mit einem solchen Mann zum Altar gehn? Geist und Fühlbarkeit, eine gewisse Romantik, Sinn für Poesie und Tonkunst durften in keinem Fall ausgeschlossen seyn: je höher die Gabe von dem Allen, je besser. Am meisten würde mein Fantasiebild jedoch erreicht seyn, fügte Wilhelmine hinzu, wenn der Bräutigam auch mit irgend einem Tonwerkzeug virtuosenhaft auftreten, mein Spiel am Pianoforte begleiten könnte, und wenn er daneben eine wohllautende Baß- oder Tenorstimme ausgebildet hätte. Eine Doppelsonate, ein Duett, müssen doch manche Stunden im langen Eheleben reitzend ausfüllen.

Nun, pflegte sie zu enden, dies Alles heißt doch nicht übertrieben, nicht unbescheiden fordern. Es kann demungeachtet wohl seyn, daß ich es, nach vollem Wunsch, nicht beisammen finden werde. Mag indeß meinem Vorbild auch nur in den Hauptzügen Wort gehalten seyn, der Mehrzahl von meinen Bedingungen nach. Darunter – lasse ich aber mich nicht ein, und werde mich hüten, leicht und voreilig meine Hand wegzugeben.

Der Vater, sehr eingenommen für Wilhelminen, und selbst zum sanguinischen Hoffen geneigt, bestärkte sie in den hochfliegenden Ansprüchen; die Mutter hingegen schüttelte den Kopf, und sagte: einem Mädchen ohne Vermögen stände leider wenig Auswahl zu.

Außer unsern schon genannten Obern lud mein Vater nun, in jener Absicht, häufig einen Baron von Lilienthal in sein Haus. Er hatte Wilhelminen an öffentlichen Versammlungsorten große Aufmerksamkeiten bewiesen; das weckte Aufmerksamkeit für ihn.

Er stand als Offizier bei der Besatzung im Orte, und war in der That ein schöner, einnehmender Mann, von etwa fünf und zwanzig Jahren. Was man ein lustiges Betragen nennt, und an jungen Militärpersonen nicht eben selten findet, ließ sich ihm nicht vorwerfen. Er schien jetzt wenigstens darüber hinaus, mochte es auch früherhin ihm ein wenig eigen gewesen seyn. Er sprach mit Geist und richtigem Urtheil, äußerte ein feines Empfinden; seine Darstellung war höchst gefällig. Ueber seine Glücksumstände war man bei uns nicht unterrichtet, hegte aber glänzende Vermuthungen; denn Lilienthal zeigte sich stets in artiger Eleganz, hielt Reitpferde und Livreebedienten, und fehlte bei keinen Bällen oder anderen Lustfestlichkeiten, welche die sogenannte schöne Welt anordnete. In den Concerten, oder – wenn reisende Mimen eintrafen – im Theater, blieb er noch weniger aus, gab hier den Ton des Urtheils an, und mit sinnigem Geschmack. Er selbst blies die Flöte ziemlich, konnte Wilhelminen allenfalls eine Sonate begleiten.

Es schmeichelte ihr nicht wenig, daß Lilienthal ihren Vorzügen, mit so vielem Sinn dafür, huldigte. Nicht allein, daß er nicht den mindesten Adelstolz in unserm Hause zeigte, auch an öffentlichen Orten achtete er auf keine Schönheit von Geburt mehr, so bald man Wilhelminen sah. Vieler Mädchen Antlitz umwölkte Neid; denn unter allen jungen Männern der hiesigen schönen Welt nahm Lilienthal, nach der gebildeten Schönheiten Anerkennung, eine der obersten Rangstufen ein.

Es wurde auch in der Stadt mancherlei von ihm gesprochen, was die Theilnahme an ihm von Zeit zu Zeit erneute und erhöhte. Bald sagte man: er habe mächtige Gönner am Hofe, die ihm nächstens zu einer einträglichen Hauptmannsstelle helfen würden; bald: er habe einen reichen Oheim beerbt.

Da wären nun die Hauptzüge von meiner Schwester Ideal so ziemlich vorhanden gewesen. Daß Lilienthal mehr für sie empfinde, als eine gewöhnliche Werthachtung ihrer ausgebildeten Talente, stellte sie in keinen Zweifel. Seine Blicke sprachen von heißer Liebe; auch manches hingeflogne Wort ließ diese ahnen. Zu einem unumwundenen Geständniß, einer netten Werbung um ihre Hand, kam es demungeachtet nicht, obschon Wilhelmine oft meinte, beides schwebe auf seinen Lippen. Als Jahr und Tag so entflohen waren, zweifelten die Eltern, ob es hier zum Ernst hingehn würde; die Tochter aber nicht.

Ferner lud man einen jungen Referendarius fleißig ins Haus, der auch zu einem der Landesstühle gehörte, und sich mit uns auf der Hochschule befunden hatte. Es war ein Herr von Soldin, und von ihm bekannt, daß ihm sein Vater einst hunderttausend Thaler nachlassen würde. Seine übrigen Eigenschaften wichen indeß sehr in den Schatten zurück, wo Lilienthal sich zeigte. Soldin hatte eine zwar nicht verkrüppelte, aber doch unscheinbare Gestalt, und trug sie noch krumm und unbeholfen. Sein Gesicht drückte rohen Stumpfsinn aus, seine Gespräche verriethen überall Unwissenheit, seine Kleidung war vernachlässigt. Die Amtslaufbahn, worin er sich schleppend fortbewegte, hatte auch nur den Zweck, ihn seiner dörfischen Linkheit zu entwöhnen, und er empfand einst weder Lust zu den Studien, noch jetzt zur Dienstarbeit. Ist mein Vater todt, sagte er, nehme ich den Abschied, und ziehe auf meine Güter.

Ueber diese Güter allein wußte er mit einiger Sachkenntniß zu sprechen, und zeigte auch hinsichtlich des Geldes und seines Werths richtige Begriffe. Sein Vater unterstützte ihn namhaft; doch übte der Referendarius eine so wirthliche Beschränkung, daß er mehr als die Hälfte davon sparte. Seine einzige Liebhaberei bestand in einem Pudel, den er mit in unser Haus bringen zu dürfen bat, auch dort mit großer Zuneigung streichelte und fütterte.

Wilhelmine urtheilte: es sei ein geschmackloser, in hohem Grad ungebildeter Mensch – häßlich wäre seine Gestalt aber doch nicht zu nennen. Ohne allen Verstand wäre Soldin auch nicht: er bewiese ihn ein seiner klugen Sparsamkeit; auch ein freundliches Gemüth lege er bei dem Pudel an den Tag. Es würde nur eine Schleifung des rohen Diamants bedingen.

Die hunderttausend Thaler milderten wohl ihr Gutachten über ihn so.

Zwei Umstände machten sie aber noch gespannt. Soldin kam oft, auch uneingeladen, zum Besuch; ihn mußte in unserm Hause folglich etwas anziehn. Auch sagte er einmal denkwürdig: bei seiner Heirath wolle er nicht auf Adel, nicht auf Reichthum sehn, vielmehr ganz nach Liebe wählen. Sein Vater ließe ihm darin Freiheit, und könne auch nicht füglich mit Einreden auftreten, weil auch er ein bürgerliches und ganz unbemitteltes Mädchen geehlicht habe.

Wilhelmine fand nicht rathsam, die löblichen Grundsätze zu tadeln, wohl aber, so viel es thunlich sei, die anziehende Kraft zu erhöhen, die uns des jungen Mannes so wiederholten Zuspruch verschaffte. Namentlich wenn sie mit ihm allein sich befand – was die Eltern so eifrig eben nicht hinderten – nahm sie an dem Pianoforte eine idealische Haltung an, und sang nicht wenig schmelzend. Doch seltsam! was Alle hinriß, brachte sein Gefühl nicht aus der Stelle. Soldin gähnte oft, schlief sogar etliche Mal ein; und wenn ihm meine Schwester das freundlich verwies, gestand er freimüthig: daß ihm ein Marsch, oder ein lustiges Stückchen, zum Beispiel, Freut Euch des Lebens, mehr gefallen würde. Sie meinte dann, über den Geschmack sei nicht zu streiten, und gab ihm das Verlangte zum Beßten. Doch wie sie auch Hände und Mund für ihn gefällig bewegte, ließ er Wilhelminen immer noch nicht hören, was sie gern vernommen hätte, zumal als es auch ihr zu scheinen begann: Herr von Lilienthal liebe sie zwar ungemein, habe gleichwohl keine Absichten auf ihre Hand.

Es war, als ob eine Art Furcht ihm die Zunge bei Wilhelminen lähmte. Nicht einmal ein fortlaufendes Gespräch konnte er mit ihr führen. Nicht allenthalben ließ er eine ähnliche Zurückhaltung sehn. Mein Vater liebte Scherz; oft ging Soldin darauf ein, wenn schon auf eine ziemlich derbe Weise. Ueber Haushaltung richtete er oft ein Gespräch an die Mutter. Auch hatten meine Eltern eine junge arme Verwandte ins Haus genommen, die Charlotte hieß. Keinen Unterricht in Gegenständen, welche man zur feinen Bildung zählt, hatte sie bekommen; nur schlicht bürgerlich war sie in einer kleinen Landstadt erzogen. Sie führte meistens unsre häusliche Wirthschaft, kam selten ins Besuchzimmer, und, wenn es geschah, blieb sie entweder gänzlich unbeachtet, oder man blickte auch wohl befremdet und spöttisch auf sie hin; denn sie stand allerdings in einem auffallenden Gegensatz zu der so geistvollen, zarten, niedlichen, abgeglätteten Wilhelmine. Sie konnte nur von den alltäglichsten Hausdingen reden. Ihre Gestalt war lang, rund, derb; und wer noch das Beiwort plump beifügte, konnte es allenfalls verantworten. Nicht einen Zug in dem Gesicht hätte interessant nennen mögen, wer sich auf das Interessante verstand; unbedeutend, fade, selbst gemein, würden Kunstrichter des Schönen es bezeichnet haben. Gleichwohl konnte Soldin bisweilen sich eine gute halbe Stunde zu Charlotten in einen Winkel setzen, und mit ihr ein Gespräch über Nichtiges unterhalten. Wilhelmine, nach ihrer Gutmüthigkeit, legte ihm auch diesen Verstoß gegen ihren, doch so viel höheren, Werth zum beßten aus. Sie äußerte sich: auch dies sei ein Beleg guten Herzens an Soldin. Er fühle bei den Zurücksetzungen, die Charlotten widerführen, Mitleid, und wolle ihr zeigen, daß er keines Stolzes gegen übersehene Personen fähig sei.

Indem sie aber zugleich urtheilte: die Gespräche von gewöhnlichem Stoff hätten für Soldin eine behagliche Seite, weil er die Seelenkräfte dabei nicht so zu spannen brauche, als wenn sie den Regionen der Wissenschaften und Künste entgegen eilte, und ihm dahin zu folgen ansann, – wollte sie es ihm auch bequem machen, und fragte ihn bald um die Hühner, bald um die Gänse auf den väterlichen Gütern. Sie empfing zwar befriedigende Antworten; allein es schien demungeachtet, er könne das rechte Vertrauen zu ihr noch nicht gewinnen. Sie meinte nun, Alles würde mit der Zeit sich finden; auch hernach die allmählige Umbildung des jungen Mannes, welche ihn ihrem Vorbilde näher brächte.

Außer diesen beiden, stellten noch zwei andere junge Leute sich häufig ein. Die Eltern bauten eben keine Entwürfe auf sie; es stand mit der Zeit, wo sie an eine Heirath würden gehn können, zu weit aussehend. Allein sie waren angenehm unterhaltende Gesellschafter, und hatten mit Otto und mir die Schule besucht. Allenfalls konnten Jene auch denken: gesetzt es fände sich für Wilhelminen nicht bald etwas Annehmlicheres und Einem oder dem Anderen glückten feine Absichten, so möchte er als Eidam nicht verwerflich seyn.

Eduard war ein junger Kaufmann, stand jedoch erst im Begriff, sich anzusiedeln. Einige tausend Thaler hatte er zum Anfang; indem er gleichwohl einsah, es würde sich damit nichts von Bedeutung unternehmen lassen, wollte er zuvor nach Hamburg, Amsterdam, Bordeaux, Lion, Triest und anderen berühmten Handelsstädten reisen. Dies sollte ihn eignen, sich die vortheilhafteren Geschäfte auszuwählen, bedeutende Verbindungen anzuknüpfen und gleich im Großen seinen Kredit zu gründen; so ließe auch zur Stelle im Großen sich spekuliren und gewinnen. Eine Fabrikenanlage von Belang gehörte auch zu Eduards hochfliegenden Planen. Die Landesregierung, meinte er, würde ihm gewiß mit den dazu nöthigen Summen beistehn, wenn er ihr deutlich bewiesen hätte: seine Fabrik würde nicht allein Hunderttausende, welche ins Ausland flössen, zurückhalten, sondern noch Hunderttausende aus der Fremde hereinziehn, auch Tausende von Armen nützlich beschäftigen, und was dessen mehr war. Er behauptete: kluge Spekulationen, wie Unternehmungen von weitem Umfange, müßten den Kaufmann nach weniger Zeit reich machen; dies habe eine so einleuchtende Evidenz, wie das Einmaleins. Träfe es bei Vielen nicht ein, so läge es an ihrem Mangel an kühner Regsamkeit; der echte Handelsgeist beseele die Alltagsköpfe nicht. Er wußte auch von gar manchen Grossirern, Wechslern, Rhedern zu erzählen, die mit nichts angefangen, und doch Millionen vor sich gebracht hätten; und er fügte naiv hinzu: In so fern die Wege doch bekannt sind, auf denen es ihnen gelang, sehe ich nicht ein, warum ich sie nicht auch betreten sollte.

Eduard war übrigens eine ganz hübsche Mannsperson, kleidete sich gut, sprach wie Leute von Ton, und ließ sich gern finden, wo Leute von Ton zusammenkamen. Er machte Wilhelminen so ehrerbietig als schmeichelhaft seine Aufwartung, zeigte, daß es ihm so wenig, als Herrn von Lilienthal, an Urtheil und Herz für hohe weibliche Vollkommenheit fehle. Ich zweifle auch gar nicht, daß ihm die Schwester ihre Hand würde gereicht haben, wenn er von seiner ersten Million vor der Hand nur den zwanzigsten Theil aufgewiesen hätte. Er trug einige Mal auf ein vorläufiges Versprechen an, und bewies dadurch wenigstens: er hege doch eine ernste Meinung. Wilhelmine beschied ihn nicht abschlägig, war aber doch zu klug, sich voreilig zu binden. Sie verwies ihn auf den Spruch des weisen Salomo: Jedes Ding hat seine Zeit.

Die Eltern hatten es auch so gewollt. Man hörte, des jungen Mannes ererbtes Vermögen bestehe in drei- bis viertausend Thalern. Seit Vollendung seiner Lehrjahre beschäftigten ihn aber nur die Entwürfe künftiger Plane, und er lebte einstweilen, als ob schon gelungen sei, was erst späterhin gelingen sollte, hatte auch deshalb mit seinem Vormund, der auf eine baldige Ansiedlung in Kleinem drang, manchen Streit. Weil Eduard indeß bald darauf nach Hamburg reis'te, und von dort schrieb: er sei schon auf dem beßten Wege, seinen, gar nicht zu großen merkantilischen Ideen aufgelegten, Vormund zu beschämen, konnte man dem echten Handelsgeist doch auch nicht alles Glück absprechen wollen.

Jetzt komme ich auf den genievollsten unter den vermeinten, und wirklichen, Aspiranten zu Wilhelminens Torus. Es war ein Ex-Kandidat der Theologie, sein Vorname August. Theils aus philosophischem Sinn, noch mehr aber, weil er ausschließlich der Tonkunst leben wollte, hatte er die Gottesgelahrtheit aufgegeben. Für Tonkunst, in Tonkunst lebte, webte und strebte sein Genius; und so verstand es sich von selbst, daß er mit Wilhelminen in eine innigere Wahlverwandtschaft treten konnte, als die Uebrigen. Er spielte Klavier und Geige, sang auch einen recht artigen Bariton. Da kam es folglich zu Doppelsonaten und Duetten, welche Andere mit Vergnügen hörten, wobei die Vollziehenden aber das süßere und erhebendere Vergnügen empfanden. Wilhelminens Notensammlung enthielt auch manches Lied, von Jenem in Töne gesetzt, und sie redete manches von einem darin wehenden Geist, von den neuen, eigenthümlichen Gedanken, welche diese Lieder enthielten.

August wollte bei dem Allen höher hinaus. Es schien auch Noth zu thun, nachdem er auf ein Predigtamt Verzicht geleistet hatte; wozu aber auch – der Sage nach – das Consistorium seinen Genius wenig tüchtig erachtet haben sollte. Es schien, er habe über die Tonleiter die Himmelsleiter vergessen, oder gemeint: die Tonleiter führe auch zu Himmelsgefilden. Er sagte indeß vom hinderlichen Consistorium nichts.

Dem sei wie ihm wolle, – Vermögen, das geniale ausgenommen, besaß er keineswegs, und mußte kümmerlich von musikalischem Unterricht leben. Dagegen beschäftigte ihn seit einiger Zeit die Composition einer großen Oper, und er zweifelte im mindesten nicht, es würde auch dem Kunstwerth nach etwas Großes damit seyn. Denn nie hatte er solche Weihe im Genius empfunden, als bei dieser Arbeit. Es ist auch wahr, daß er sich höheren Aufflug gar sinnig zu bereiten verstand. Draußen in einem Garten der Vorstadt, und zwar in einem Lusthause desselben, das auf einer Höhe lag, und eine anmuthige Aussicht in die Umgegend öffnete, hatte er seine Wohnung aufgeschlagen. Maienblüthe, Jasminduft, Aurora, Sommerabendroth, helles Wintermondlicht übten begeisternde Einflüsse, und die heftig leidenschaftlichen Stellen fertigte August, während Aequinoctialstürme tobten. Nach Vollendung wollte er das geniale Singspiel den vorzüglichsten Bühnen in Deutschland verkaufen, und rechnete – auf dem Papier – die nöthige Summe zu einer Kunstwallfahrt ins gelobte Italien heraus. In Venedig, Mailand, Florenz, Rom, Neapel, Palermo dachte er Opern in Mozarts Styl zu schreiben, dann wie ein neuer Gluck in Paris, später in London wie ein Händel redivivus aufzutreten, und endlich, nach vorangegangener ansehnlichen Bereicherung, bei irgend einem deutschen Fürsten als Kapellmeister zu glänzen.

Der Plan schien so übel nicht, und der Meinung nach, welche die Schwester von dem kunstsinnigen Jüngling hegte, mußte dessen Ausführung schier nothwendig gelingen. Sie bezog sich dabei auf Schillers:

Mit dem Genius steht die Matur im vertraulichsten Bunde;

Was der eine verspricht, leistet die andre gewiß.

Mochten einige Kunstverständige auch sagen: es habe so gar viel mit dem Talent des jungen Mannes nicht auf sich; er sehe es mit überschätzendem, träumerischem Dünkel an, – Wilhelmine sprach dagegen: das sei die Stimme des Neides. Am liebsten würde sie den ihr so kunstverwandten August geheirathet, für die – ihm noch winkenden – Honorare Soldins Reichthum vergessen haben, und lieber auch Frau Kapellmeisterin als Frau von Lilienthal gewesen seyn; weil in jenem Falle auch ihres Mannes berühmter Name in allen europäischen Notenhandlungen glänzen würde. August war nicht schön – Alles ist nun einmal nie beisammen – und Wilhelmine sagte: Eduard gefalle ihr, der Außenseite nach, ungemein, auch noch mehr als Lilienthal; dennoch galt ihr August, der genievollen Herrlichkeit wegen, den höheren Preis. Sie war auch nicht abgeneigt, die ganze Reihe von Jahren zu warten, in denen Italien, Frankreich und England des Geliebten Ruhm krönen sollten, um endlich diesen Ruhm mit ihm zu theilen.

Aber – und das ehrt Wilhelminens Verstand – sie war von Liebe auch nicht so geblendet, daß sie, wenn eine andere anständige Heirath sich dargeboten hätte, sie würde abgelehnt haben. Wilhelmine kannte den Vorzug gewisser vor ungewissen Dingen. Doch – dies stand ganz fest – ihr Ideal sollte meistens erreicht seyn; sonst wollte sie ihre Hand gar nicht vergeben, und müßte sie auch lebelang unvermählt bleiben.

Nach diesem flüchtigen Abbild meiner Schwester wird man gestehn, daß sie, für ihren hellen Geist und ihr schön fühlbares Herz, auch ihr löbliches Streben sich zu bilden, ein gutes Glück verdient hätte.

Ich erwähne noch eines Advokaten, Namens Sauer, den man seltner, aber doch von Zeit zu Zeit, in unserm Familienkreise sah. Mein Vater hatte allerlei Geschäfte mit ihm, weshalb er denn aus Höflichkeit bisweilen eingeladen wurde.

Seinen Namen führte er mit der That: er war ein recht sauertöpfiger Gesell, bei einer unvortheilhaften körperlichen Bildung. Sein Gesicht hatten die Blattern entstellt, daneben war es schwammicht und fahl. Verstand ließ sich ihm nicht absprechen, doch zeugte sein Urtheil von einem lieblosen Gemüth; die satirische Laune, in welche er zuweilen ausbrach, hatte einen finstern und hämischen Styl. Fühlloser gegen das Schöne konnte Niemand seyn. Lief das Gespräch um reitzende Mädchen, so blieb er nicht allein eiskalt, sondern wußte auch viel an den Gestalten zu tadeln, bis er sie völlig herabgewürdigt hatte. Ueber Poesie spottete er wie über eine Narrheit, Musik war ihm unleidlich. Deshalb, und wegen seiner ganzen Sinnesart, war er auch meiner Schwester unleidlich; sie konnte ihr Mißvergnügen nicht hehlen, wenn Sauer ins Zimmer trat, und wich den Unterhaltungen mit ihm gerne aus.

Einst kam Wilhelminen jedoch zu Ohren: der Advokat hätte an einem dritten Orte gesagt: er ginge mit dem Vorhaben um, sie zu heirathen. Liebe, meinten die Hinterbringer, schiene dabei eben nicht sein Antrieb, vielmehr wohl der Umstand, daß man Wilhelminen, ihrer Talente wegen, so erhöbe; nun möchte er stolz mit einer beneideten Frau prunken. Bald, hatte er indeß noch erinnert, solle die Anwerbung nicht geschehn; in einigen Jahren erst, wenn seine Berufsgeschäfte mehr empor gekommen wären. Denn es gehörte noch zu dem Abstoßenden an diesem Ehrenmann, daß er wenig zu thun, und deshalb üble Vermögensumstände, neben manchen Schulden, hatte.

Wilhelmine entsetzte sich zum Theil, als sie das hören mußte, zum Theil lachte sie hell auf. Ich würde vor ihm schaudern, sagte sie, und wenn er eine Tonne Goldes besäße; ja, ich würde ihn, möchte er daneben auch jung und schön seyn, seines verächtlichen Gemüths wegen, doch fliehn. Ha ha ha! so ein Mann wäre für mich! Also nach etlichen Jahren will er obenein erst kommen, und zählt jetzt schon mehr als dreißig. Zu meinen Bedingungen gehört auch ein Abstand von höchstens sechs Jahren, zwischen Mann und Frau. Und hier sollte ich – – Hu hu! Mögen ihm die Freunde sagen: er solle sich den Verdruß eines, nicht einmal zierlich geflochtenen, Korbes sparen. Indeß – wird es auch nicht einmal dahinkommen. Der saubre Freier will ja noch etliche Jahre verziehn.

Allerdings meinte Wilhelmine, sie würde, nach diesem Zeitraum, schon lange angemessen vermählt seyn. Ich theilte diese Hoffnung; auf Soldin oder Eduard rechnete ich am meisten, obwohl ich auch dachte: meiner Schwester nicht alltägliche Vorzüge könnten noch andere zuständige Bewerber finden.

Meine Eltern hatten jedoch Wilhelminens Verheirathung nicht allein im Auge; ihre Söhne kamen daneben mit in Betracht. Keiner von jenen Vorgesetzten, die uns zu guten Aemtern helfen konnten, hatte eine mannbare Tochter; sonst dürften Jene vermuthlich hierauf einen Entwurf gebaut haben. Doch lebte ein gewisser Commerzienrath Hill in unserm Wohnorte, den mein Vater, schon seines aufgeweckten Humors wegen, gern sah. Hill sollte aber auch Reichthum besitzen, und der Aufwand in seinem Hause stritt gegen die allgemeine Sage nicht. Er hatte zwei Töchter, Emma und Minna, eben in der holdesten Blüthenzeit begriffen, und weiterhin noch so angethan, daß sie vor allen übrigen Mädchen in der Stadt glänzten. Beide waren ausgezeichnet schön: sie übertrafen Wilhelminen ohne Zweifel in diesem Betracht; und konnte dasselbe nicht von den ausgebildeten Talenten meiner Schwester gelten, so hatten Jene doch Manches, was, bei der Menge wenigstens, noch mehr in die Augen fiel. Dahin gehörte ein Studium des feineren Welttons, das sich kaum höher getrieben denken ließ. Sie wußten über Vieles zu sprechen, und geschah es nicht immer mit Gründlichkeit, so erwarben ihnen die einnehmende Weise, die lebhaften und treffenden Bemerkungen, der eingemengte und unbefangene Witz, Verehrer genug. Die Huldinnengestalten erschienen nicht bloß in den neusten Moden, sie wählten auch davon mit bewundertem geschmackvollem Sinn, und an reicher Kleidung überschimmerten sie alle Nebenbuhlerinnen, wie man auch in gefälligem, bildlichen Tanz ihnen das Meisterinnenthum zuerkannte. Die jungen artigen Männer umflatterten sie emsig; von Bräutigamen verlautete dagegen noch nichts.

Die Eltern meinten: wir Brüder würden nicht übel thun, wenn wir es auf Eroberung dieser Schönheiten anlegten. Reichen Mitgaben ließe sich bei ihnen entgegen sehn, und ein Mann, der eine schöne Frau habe, komme dadurch oft um so besser fort, weil er um so geachteter sei.

Das ließ sich hören, und ich fühlte mich zudem aufgelegt, den elterlichen Rath zu befolgen, weil Emma, die Schönere mir dünkend, bereits lange einigen Eindruck auf mein Gefühl machte. Otto ging schwerer daran, hatte auch einen gewissen steifen Ernst, und eine nach dem Amtsberuf klingende Sprachweise, die ihm den Eingang zur Frauengunst wenig öffneten. Dennoch versuchte er einige Aufwartung bei Minna. Sie that aber schneidend fremd, und als sie erst seine wahre Absicht zu durchblicken schien, dergestalt hochfahrend, daß Otto wohl ahnen konnte, sie wolle ihm alle Bemühung um sie verleiden. Er stand nun auch gleich um so mehr davon ab, als er noch daneben ausgekundet haben wollte: es stehe mit Hills Vermögensumständen nicht so, wie die Eltern glaubten; Unterrichtete sprächen vielmehr zweideutig davon. Ich meinte dagegen: Otto rede dem Fuchs ähnlich, bei den Trauben, die er nicht erreichen konnte, und setzte meine schon begonnenen Annäherungen bei Emma fort. Zuerst wär' es mir beinahe so schlimm gegangen, wie dem Bruder. Emma trug das griechische Näschen ziemlich hoch, und that schnippisch, wenn ich sie eine bedeutendere Zuneigung wahrnehmen ließ, als die allgemeinen Huldigungen, welche sie erhielt. Der Widerstand entwaffnete meine Liebe jedoch nicht, erhöhte sie vielmehr, und ich strebte bei allen Gelegenheiten, ihr es darzuthun. Nach und nach schien es demungeachtet, als ob ich ihr nicht ganz mißfiele, sie aber noch manches Bedenken trüge. Oft ruhten die schönen tiefblauen Augen mit Theilnahme auf mir, ja, sie blinkten und strahlten dergestalt Gefühl, daß ich die Hieroglyphen der Gegenliebe entzifferte. Bei dem Allen suchte Emma näheren Erklärungen sich zu entziehen. Um desto heller flammte es in meiner Brust: meine Liebe erreichte einen hohen Grad heftiger Leidenschaft; Emma war es, nicht ihre Glücksgüter, um die es in meinem Herzen rief, und ich dachte: wenn ich nur genügendes Vermögen, oder ein Amt mit hinreichendem Einkommen besäße, so würde ich Emma, wäre sie auch eine Bettlerin, mit Entzücken heirathen.

Einmal fügte es sich gleichwohl, daß ich meiner Geliebten dies Alles sagen konnte. Sie zuckte die Achseln. Mein Vater ist eigen, sagte sie, und Bitten ändern seine Grundsätze nicht. Wären Sie Geheimer Rath, so würde er Ja, und ich – nicht Nein sagen.

Geheimer Rath war ich aber nicht, und die Aussicht nach diesem Ziel durchlief eine weite Bahn.

Ich hehlte meinem Vater nichts. Er sagte: Wenn Hill seiner Tochter zwanzigtausend Thaler Mitgift auszahlt, so könnt ihr einander bald heirathen, und die Beförderung zum Geheimen Rath abwarten. Er gab dem Commerzienrath dies zu verstehn; der schnitt jedoch den Faden kurz ab, und besuchte, von der Zeit an, unser Haus mit seinen Töchter nicht mehr. Ich hätte verzweifeln mögen.

Noch manche Verdrießlichkeiten gesellten sich zum Schmerz meiner Liebe. Ich hatte den Präsidenten an meinem Landesstuhl in aufwallender Hitze beleidigt, weil er einen jüngeren Referendarius mir voranstellte. Um so weniger durfte ich nun Beförderung hoffen. Da Otto, um eben dieselbe Zeit, auf eine höhere Stufe in seinem Collegium erhoben ward, so demüthigte mich die Zurücksetzung noch mehr.

Es lebte jedoch ein Oheim in Rußland, der ein wichtiges Amt bekleidete. Er hatte meinem Vater geschrieben: Schicke mir einen von deinen Söhnen; hat er Kenntnisse, so werde ich leicht sein Glück machen. Otto hatte keine Lust, in die Ferne zu gehn; ich hingegen überlegte nun, daß manche Deutsche in Rußland zu einem schnellen Fortkommen gelangt wären, und daß, bei dem mächtigen Einfluß des Oheims, mir eine um so größere Hoffnung winke. Den Ort zu verlassen, wo mir so vieles theuer war, kostete meinem Herzen viel; doch weil es am Ersten auch seine glühenden Wünsche zu stillen vermochte, ermannte ich mich.

Zuvor schrieb ich an Emma, und befragte sie: ob ich hoffen könne, daß sie nach Rußland mir zu folgen geneigt seyn würde, sobald ich dort ein Amt von Bedeutung erlangt hätte. Sie antwortete zur Hälfte zärtlich, zur Hälfte mit kluger Vorsicht. Ihre Gegenliebe wurde so heiß geschildert, daß sie dadurch sich bewogen fühlen müsse, jedem Verlangen, das ich an sie richten würde, zu genügen; in so weit ihr Vater damit einverstanden sei. Wenn gleichwohl, ehe ich meinen Wunsch aussprechen könnte, dieser Vater anderweitig über ihre Hand zu gebieten veranlaßt werden sollte, dürfte sie – freilich nicht ungehorsam seyn.

Ich mußte mich hiermit begnügen, und eilte nach Rußland.

Was mir dort begegnet ist, mag nur flüchtig berührt werden. Ich gelangte durch meinen Oheim in eine Laufbahn, auf der ich vermuthlich eine höhere Ehrenstelle würde erreicht haben, wenn sich nicht gewisse Umstände ereignet hätten. Auch schien es mir hier zu weit aussehend mit einer namhaften Beförderung; ich hoffte schneller emporzusteigen, wenn ich mich in eine geheime Verbindung einließe, deren eigentliches Ziel mir Anfangs nicht bekannt war. Allerdings war es jugendliche Unbesonnenheit, die mich in bedenkliche Umtriebe verwickelte. Es kam an den Tag; ich wurde abgesetzt, und nach Sibirien geschickt.

Hier theilte ich das Loos aller Verwiesenen, hatte Zeit genug, über meine begangene Thorheit nachzudenken, und schleppte, zwischen Reue und Hoffnung, ein elendes Leben hin.

Erst nach beinahe zwanzig Jahren schlug die Befreiungsstunde; ich hatte damals auf weiteres Hoffen bereits Verzicht gethan.

Ich kam zurück nach St. Petersburg; mein Oheim war gestorben, hatte mich aber, auf den Fall, daß meine Verbannung enden sollte, zum Erben eingesetzt. Ein Vermögen von etwa dreißig tausend Rubeln wurde mir ausgehändigt.

Mit diesem Eigenthum beschloß ich wieder in meine Heimath zu gehn. Zwanzig Jahre lang hatte ich nicht die mindeste Nachricht von dort erhalten, um so stärker sehnte sich mein Herz nach Wiedersehn.

Auch die Stimme der Liebe war noch nicht darin verhallt. Auf jenen einsamen Schneegefilden hatte Emma nur zu oft meine Gedanken beschäftigt, und ihr Bild um so lebendiger vor meiner Fantasie gestanden, als mich dort kein Umgang mit anderen Frauenzimmern zerstreuen, oder in mir eine andere Neigung erwachen lassen konnte.

Freilich dachte ich aber auch oft: Sie wird längst verheirathet seyn. Es ist nicht glaublich, daß so viel Liebenswürdigkeit ungesucht verblüht wäre.

Auf dem Heimwege mußte ich zunehmend darauf gespannt seyn, in welchem Verhältniß ich Emma antreffen würde. Bisweilen dachte ich: Ganz unmöglich wäre es bei dem Allen nicht, sie noch ledigen Standes zu finden. Sie könnte mehr gezaudert haben, als ihr Brief es zusagte, und, selbst wenn sie von meinem Unglück Nachrichten bekommen hätte, einer nahen Befreiung davon entgegen gesehn haben. Denn schrieb mein Oheim seinem Bruder von den Ursachen meines Unglücks, so schilderte er mich gewiß auch weniger stafbar, als leichtsinnig, und vertröstete auf eine glückliche Wendung meiner Angelegenheit; die er selbst immer gehofft, und eifrig nachgesucht hatte, wie ich nach meiner Rückkunft aus Sibirien erfuhr. Noch ein Umstand machte es nicht ganz unwahrscheinlich, daß Emma unvermählt geblieben seyn könne, denn noch vor meiner Abreise aus der Vaterstadt gewann Otto's Behauptung, daß es um Hills Vermögen nicht am beßten stehe, Glaubwürdigkeit. So dachte ich denn jetzt: Selbst schöne Mädchen, wenn sie unbemittelt sind, bleiben zuweilen ohne Freier, und es könnte also hier auch so ergangen seyn.

Vielleicht hatte sich Emma aber auch vermählt, und ich fand sie jetzt als Wittwe. In jenem und in diesem Falle wollte ich sie besitzen. Ich träumte mir noch die Reste ihrer ehemaligen Schönheit entzückend, und empfand, nur etwas über vierzig Jahre hinaus, in meiner Brust um so mehr liebende Gluth, als ich sie im nördlichen Asien nicht abgekühlt hatte.

Daneben beschäftigte mich aber oft auch die Frage: Was mag aus den übrigen Lieben in dem langen Zeitraum geworden seyn? Von den Eltern ließ es sich kaum hoffen, daß sie noch lebten, wie heiß ich es auch wünschte; beide standen nahe an den Funfzigen, als ich von ihnen schied. Unmöglich war es demungeachtet nicht. Nächst ihnen lag mir die Schwester am Herzen. Vier junge Männer schienen Wilhelminen zu lieben, als ich mich entfernte. Kurz zuvor hatte es noch das Ansehn, als ob Lilienthal wirklich Ernst machen wollte. Man sprach neuerdings von einem Erbe, das ihm zugefallen sei, und einer ihm bevorstehenden Rangerhöhung. Ich konnte meinen: er habe räthlich gefunden, erst diese Umstände abzuwarten. Wo nicht, so hatte vielleicht Soldin bald nachher Entschlossenheit gewonnen, ihr sein Verlangen darzuthun. Oder fände ich etwa in Eduard oder August meinen Schwager?

Die Letzten sowohl, als jene Beiden, waren übrigens meine vorzüglichsten Jugendfreunde; verwandt mit ihnen oder nicht, regten die Schicksale, welche sie erfahren haben konnten, meine warme Theilnahme an. Ich wünschte Jeden beim Wiedersehn glücklich zu finden, und es mangelte nicht an Gründen, es zu hoffen. Lilienthal, der junge Officier voll Geist und Kraft, dessen einnehmende Außenseite ihm allenthalben Freunde gewann, und der bei meiner Abreise glänzende Aussichten hatte, war vielleicht nun Oberst, vielleicht General; wenn er anders in den Kriegen, welche sich unterdessen ereignet hatten, nicht geblieben war. Soldin lebte vermuthlich als ein wohlbegüterter Landedelmann ruhig, und in wirthlich genossenem Ueberfluß. Eduard konnte leicht mit seinem klugen Unternehmungsgeist viel erworben haben; wenn auch nicht alle Erwartungen seiner jugendlichen Fantasie eingetroffen waren. Ich glaubte mit Ueberzeugung, daß ich ihn wenigstens als einen angesehenen, wohlbemittelten Kaufmann begrüßen würde. August hatte einst Genialität dargethan; ich bezweifelte sie weniger, als einige Andere, bei denen, wie ich meinte, wohl Neid im Spiele seyn konnte. Und mochte einst, dachte ich nun, der junge Mann einen zu hohen Glauben an sich nähren; das spornt den Strebeflug, ohne den nichts gelingen kann. Ich zweifle, daß seine Plane nach ihrem ganzen Umfang gelungen seyn werden; mag es aber auch nur ein bescheidner Kreis seyn, in welchem August mit Erfolg sich bewegt: dann finde ich immer einen berühmten Componisten an ihm, den mindestens auch einige Wohlhabenheit oder ein anständiges Auskommen in einem, seinen Neigungen entsprechenden, Beruf erfreut. Ich dachte noch: Wenn ich schon ein mittelmäßiges Vermögen besitze, werde ich vermuthlich doch gegen die alten Freunde zurückstehn; August hat wenigstens einen berühmten Namen in seinem Kunstgebiet, und ich habe den meinigen eben nicht bekannt gemacht. Ich gestehe, daß ich an Otto weniger hing, als an jenen Freunden, und deshalb sein Schicksal nicht so zum Gegenstand meiner Wünsche und Hoffnungen erhob. Zwar verwies ich mir das aus Pflichtgefühl, als unbrüderlich; allein es war nun einmal so. Unsere verschiedene Gemüthsweise hatte schon in den Knabenjahren ein enges Vertrauen gehindert; und vor meiner Abreise entzweite ich mich noch heftig mit ihm. Denn er gab mir auf eine hochtrabende Weise Lehren, tadelte mein Benehmen im Collegium, und verwies mit Stolz mich auf sein Beispiel und das schon erreichte höhere Amt. Uebles konnte ich indeß meinem Bruder deshalb unmöglich wünschen, und hielt übrigens dafür, Otto würde vermuthlich einigermaaßen seinen Weg gemacht, aber es doch nicht zu etwas Ausgezeichnetem gebracht haben. Seine trockne Engherzigkeit schien für diese Meinung zu sprechen.

Auch unsere Verwandte, Charlotte, überging ich damal nicht, bei diesen, mir so viele Theilnahme erregenden, Betrachtungen. Es war ein unbedeutendes Ding, ohne Verstand und Schönheit, nur im Hauswesen tüchtig. Sicher glaubte ich, die Arme würde ohne Mann geblieben, und, wenn meine Eltern nicht mehr lebten, oder Wilhelmine sich ihrer nicht angenommen hätte, gezwungen gewesen seyn, irgendwo ein Unterkommen als Ausgeberin zu suchen. Denn ich urtheilte: ein Mann von Geschmack, selbst nur mit Charlotten in gleichem Standesverhältniß, hätte wohl eine Person nicht begehren können, die einer gewöhnlichen Magd – die schönen darunter ausgenommen – ähnlich sah. Und einem kleinen Bürgersmann, der platt genug empfunden, auf Schönheit gar nicht zu sehn, wohl aber eine rege Hauswirthin gesucht hätte, dürfte schwerlich auch das Wagstück eingefallen seyn, sich um die Verwandte eines Rathsherrn zu bemühen; und mein Vater dann auch seine Einwilligung versagt haben. Ich beschloß aber, wenn es sich dergestalt verhielte, Charlottens Lage nach meinen Kräften zu verbessern.

Endlich sah ich mit klopfender Brust die Thürme meiner Vaterstadt. Sie waren unverändert geblieben, bis auf den an der Hauptkirche. Seines baufälligen Zustandes wegen hatte man ihn bis zur Hälfte abgetragen, und mit einem kleinen stumpfen Dache versehn. Er prangte einst mit einer stattlichen Kuppel und Spitze; die Physiognomie der Stadt gewann durch ihn etwas heiter Aufstrebendes. Als Knabe hatte ich ihn mit einem erhebenden Wohlgefallen angesehn, und ihn oft bis zur sogenannten Haube erstiegen. Es verdroß mich, den alten Freund als einen Krüppel wiederzufinden; schier ahnte mir darin ein Zeichen übler Vorbedeutung.

Als ich näher kam, lächelte mich eine neue, hoch empor gediehene, Pflanzung von Pappeln an. Es war eine Verschönerung; sie würde mir gleichwohl anderswo besser gefallen haben, als hier. Dem erinnernden Bilde in mir widersprach sie, und machte mir die Gegend vor dem Thore fremd.

Ich stieg aus dem Wagen, mich desto bequemer umzusehn, und ließ den Postillon halten. Es war ein schöner Sommerabend; auf dem neuen Spaziergang lustwandelten Einwohner. Ich mengte mich unter sie, fand aber nicht einen der alten Bekannten hier. Auch das erregte mir Unmuth. Meinem Besuch nach zwanzig Jahren in der Vaterstadt, hob ich bei mir an, scheint wenig Freudiges entgegen treten zu wollen.

Wenn auch nicht gerade schon trübe, war ich doch nicht so heiter, wie ich auf der langen Reise gehofft hatte, daß ich es am Eingange der Heimath seyn würde. Von dem geahnten traulich heiligen Empfinden wehte mich jetzt nichts an, und ich klagte heimlich, daß es so sei. Immer wollte ich einen von den Unbekannten anreden, ihn um meine Eltern, um Wilhelminen, um Emma fragen, hatte gleichwohl nicht den Muth dazu. Ebenso zauderte ich, in die Stadt zu gehn.

Meine Blicke fielen auf die Thür des nahen Kirchhofs. Sie stand offen, und ich fühlte einen schwermüthigen Zug hineinzugehn. O wie viele neue Gräber! Doch auch viele neue Denkmähler, die von zugenommenem Luxus und verfeinertem Geschmack zeugten. Baumanlagen, sonst nicht vorhanden, Gitterwerke, die kleine Gärten umfingen, unter denen Todte ruhten, einzelne Hügel, mit Blumen geschmückt, konnten als liebliche Veredlungen des Anblicks trauernder Stille gelten. Aber sie riefen mir auch sehr lebhaft den Gedanken zu: daß Alles endet, wie schön es einst auch blühen und glänzen mochte.

Ich schlich an den Gräbern hin, und las die mancherlei Inschriften der weißen Steine und Eisenplatten. O, hier traf ich Bekannte genug! Ein Mal über das andere stieß ich auf einen Namen, der mir einst wenigstens nicht ganz gleichgültig ins Ohr tönte. Und nicht bloß ältere Personen, die ich vor Zeiten werth hielt, auch jüngere sah ich nun lange schon der Verwesung übergeben. Es war ein Mädchen darunter, das ich ein wenig geliebt hatte, ehe noch Emma den bleibendern Eindruck auf mein Herz machte. Jene war im ein und zwanzigsten Jahre verstorben, und ein Gespiele meiner frühsten Kinderjahre hatte nur bis zum dreißigsten gelebt.

Nun kann eine wahrhaft melancholische Stimmung über mich, und ich bebte, Namen zu sehn, die mich noch stärker rühren könnten. Des Gottesackers Hinterwand umliefen noch inwendig Begräbnißplätze in Gewölben. Mein Vater hatte sich dort einen erkauft, und den nöthigen Bau daran ordnen lassen. Als ich aus meiner Vaterstadt ging, hatten die Seinigen noch keine Anwendung von der neuen Ruhestätte machen dürfen. Ich gewahrte sie schaudernd, und nahte mich zitternd und wankend. Eine Steinplatte, mit Zeilen versehn, war in die Außenwand gemauert. Schon sah ich sie, eh ich die Zeilen noch lesen konnte. Ein Opfer also, dachte ich seufzend, hat sich der Tod aus unserm Kreis genommen. Mit grauenvoller Neugier eilte ich zu lesen, und vermochte es kaum. Es war die Mutter; sie schlief bereits zwölf Jahre hier. Der Kirchhof warf viel auf meine Brust!

Ich starrte einige Zeit die Tafel an, und ging langsam weg. Es gelang mir nicht, durch die Vorstellungen mich zu trösten: daß es sich kaum anders habe erwarten lassen, und daß ich von Glück sagen dürfe, wenn ich meinen Vater noch unter den Lebenden antreffe. Ich fühlte in dem Augenblick, was die übrigen Verwandten zwölf Jahre früher an diesem Grabe empfanden.

Wieder hinausgetreten, sah ich einen dürren bleichen Mann daher kommen. Er bewegte sich mit kleinen Schritten, und hustete im Gehen oft. Er trug ein schlechtes Oberkleid, und sein ganzer Anzug zeugte nicht von Wohlhabenheit. Mir war, als hätte ich ihn früher gesehn; doch besann ich mich auf Namen und Stand nicht. Es schien mir auch, als hätten Blässe und Falten das Gesicht merklich umgewandelt.

Auch er faßte mich ins Auge, und ich war schon an ihm vorübergegangen, als wir Beide zugleich still standen und nach einander umblickten. Jetzt rief er meinen Namen. Auch die Stimme tönte mir bekannt, doch schwach und hohl. Ich ging zu ihm, und sagte: »Verzeihen Sie, mein Herr; ich soll die Ehre haben, Sie zu kennen, und besinne mich doch nicht gleich ...«

Haben Sie Ihren alten Freund Lilienthal vergessen? Mit diesen Worten unterbrach er mich.

Ich trat staunend zurück, und konnte kein Wort sagen.

Ja, fing er lächelnd wieder an, ich habe mich wohl ziemlich verändert. Sie aber scheinen noch ganz munter. Noch nicht einmal, wie ich sehe, Ein graues Haar. (Das seinige war schon zur Hälfte bleich.)

Ich umarmte ihn nun, und stotterte: »Nein – das hätte ich nicht gedacht – und wie gehts? Mit welchem Titel hat man Sie anzureden?«

Er antwortete: Es geht verdammt schlecht. Ich bin invalider, pensionirter Hauptmann.

»Verwundet im Kriege?«

Nein, die Gicht hat es mir gethan. Da muß ich mich nun mit dem schmalen Gnadengehalt hinstümpern. Und wenn ich ihn noch ganz bekäme! So wird mir aber noch für meine Gläubiger die Hälfte abgezogen.

»Freund – ich beklage unendlich, Sie nicht in einem glücklichern Zustande wiederzusehn.«

So geht es nun schon einmal. Wenn man in der Jugend zu rasch gelebt hat, wird man früh alt.

»Hm – ich dachte, Sie besäßen außerdem ein ansehnliches Vermögen« –

Wo bist Du Sonn' geblieben!

»Ehe ich vor zwanzig Jahren abreis'te, hieß es, Sie hätten eine bedeutende Erbschaft« –

Ach, wie man's denn im Leichtsinn treibt. Ich hatte ein Paar tausend Thaler; in ein Paar Jahren flogen sie aber hin. Einmal gewöhnt, auf einem artigen Fuß zu leben, nahm ich auf, und sprengte, um meinen Kredit zu befestigen, allerhand Mährchen aus. Eigentlich nicht ganz Mährchen. Ich hatte begründete Hoffnung, zu steigen, zu erben, nur kein Glück. Manche lebten wüster in den Tag hinein, als ich, und sind jetzt Obersten, Generale, und haben keine Gicht. Das Glück tut alles auf der Welt.

»Sind Sie verheirathet?«

O! wenn ich noch Frau und Kinder hätte, schösse ich gar mich todt. – Die Abendluft wird kalt, ich muß unter Dach. Wir sehen uns wohl ein ander Mal. Leben Sie wohl!

»Erlauben Sie mir, Sie noch einen Augenblick zu begleiten. Ich bin in zwanzig Jahren nicht hier gewesen, und möchte um Manches fragen.«

Er that mir den Vorschlag, mit nach der Kegelbahn zu gehn, die er besuchen wollte; da könnten wir noch eins mit einander plaudern.

Der öffentliche Garten lag nahe. Ich trat mit Lilienthal hinein, und sah, daß Einrichtungen und Gäste nur ein ziemlich mittelmäßiges Ansehn hatten, so daß ich mich wunderte, wie Lilienthal sich an einen solchen Ort begeben könnte.

Unterweges fragte ich: »Lebt mein Vater noch?«

Kann's wohl nicht recht sagen, hieß die Antwort; hab' ihn in langen Jahren nicht gesehn. –

»Hm – ein Rathsherr ist doch nicht so unbekannt« –

Jetzt besinn' ich mich. Er soll noch leben, ist aber schon lange in den Ruhestand versetzt. Es geht ihm wie mir.

»Wohnt er noch in seinem Hause?«

Das ist schon lange verkauft. Irre ich nicht, so hält er sich bei der Tochter auf.

»Und die?«

Sie lebt, das weiß ich gewiß. Noch vor etlichen Wochen ist sie mir mit ihren Kindern begegnet.

Ich wollte eben mit großer Spannung fragen, an wen sie verheirathet sei, als etwas Anderes dazwischen trat. Der Wirth des Gartens kam, und fragte, was uns beliebe. Ich wollte eine Flasche Wein geben lassen. Den habe ich nicht, sagte er mit Achselzucken. Lilienthal nahm das Wort mit Lachen: Hier giebt es nur diverse Biere und Aquavite.

Ich hatte nach Jenem wenig gesehn; nun fiel mir auf, daß er seinen Mund an Lilienthals Ohr legte, und ihn um etwas fragte, wobei er mich ansah. Der invalide Hauptmann erwiederte: Ja, ja, er ists.

Jetzt nahm ich den Wirth mit seinem Mützchen aus Sammet genauer ins Auge. Wieder ein nicht fremdes, aber ziemlich schmalbäckiges Gesicht. Kaum traute ich meinen Augen, und rief endlich: Eduard?

Er gab mir die Hand. Ei, ei! Lange nicht gesehn. Eine dicke Stimme aus der Kegelgesellschaft rief jedoch: Herr Wirth, noch ein Glas Breslauer! Da eilte mein Jugendfreund schnell seinem Beruf nach.

»Um Gottes willen, hob ich mit fast erstickter Rede zu Lilienthal an: der in einem Kegelgarten?«

Der arme Teufel hat ihn gepachtet, wird aber auch nicht sonderlich bestehn; es kommen nur wenig Gäste.

»Er war doch Kaufmann« ...

Hat einen kleinen Bankrott gemacht. Und was sollte er dann thun? Frau und Kinder wollen ernährt seyn.

Eduard hatte sein Geschäft besorgt. Ich nahm ihn bei der Hand, und führte ihn aus der Kegelbahn in einen Gang. »Freund, sagte ich, wie geht es zu? Dein spekulativer Sinn, Dein Unternehmungsgeist von ehedem! Ich dachte ... ich hoffte ...«

Die Stimme, von der ich Bescheid bekam, tönte nicht mehr so leicht und hochfliegend; sie hatte etwas Schweres, neben dem Kleinlauten. Eduard schob die Sammtmütze, um sich hinterm Ohr zu kratzen, und sagte nun: Wer kann für Unglück! Ja hätte der Vormund mich nur in Hamburg gelassen, ich glaube immer noch ... er schickte mir aber kein Geld; ich mußte zurück, und hier meine Handlung mit Spezerei- und Materialwaaren antreten. Nun, ich habe mich viele Jahre dabei hingestümpert. Aber rechts und links etablirten sich Andere, verkauften um Spottpreis, die Consumption nahm in den schlechten Zeiten ab, Einquartierung und andere Kriegslasten dazu – so ward ich endlich ruinirt.

»Du wolltest ja eine große Fabrik anlegen.«

Jung will man viel. Ohne große Mittel läßt sich aber nichts Großes anfangen.

»Du wolltest Dich um Summen an die Regierung wenden.«

Das will mächtige Fürsprache. Ich habe geschrieben, da- und dorthin. Rund abgeschlagen.

»Armer Eduard!«

Wären die Paar Tausend Thaler meiner guten Frau nur nicht mit darauf gegangen!

»Wen hast Du denn geheirathet?«

Die Tochter meines Vorgängers in der Handlung. Der Vormund wollte es so, hatte auch im Grunde nicht unrecht. Ich mochte mich in den ersten Jahren wohl nicht genug nach der Decke strecken, nicht genug um meine Handlung bekümmern; wie das so geht, wenn man denkt, es kann nicht fehlen. Man bereut es hernach, doch zu spät. – Und der Herr Bruder? Ich hörte von Sibirien. Doch also wieder frei! Gratulire. Wie geht es sonst?

»Schon darum übel, weil ich zwei alte Freunde nicht glücklich wiedersehe!«

Was hilft's? Geschehene Dinge sind nicht zu ändern. Hier ist ja noch ein Jugendfreund. He, Cantor, lieber Cantor!

Ich sah den Mann herwatscheln, der mit einer dicken Stimme Breslauer Likör verlangt hatte. Die weitere Gestalt entsprach dem. Keine schmale Wange; ein ächtes Abend-Vollmondgesicht, denn es war mit Kupfer bestreut.

Eduard nannte ihm meinen Namen. Ei, ei! rief er; lange nicht gesehn und doch noch gekannt. Er schloß mich so weit in die feisten Arme, als der Schmeerwanst es nicht hinderte, und sagte jovial: Darauf müssen wir gleich eins trinken. Cantores amant humores!

Verlegen erkundigte ich mich: von wem ich die Ehre hätte, mich umarmt zu sehn?

Karl! rief die fette Gestalt; und Du willst Deinen August nicht mehr kennen?

Ich wand mich los, und starrte aufs höchste betroffen in das faunische Gesicht. In der That, es war August!

Er kicherte: Nicht wahr, ich habe mir da einen runden Bauch angeschafft? Er kostet mir aber auch manchen runden Thaler. Ha ha ha!

»Freut mich, Dich wenigstens vergnügt zu sehn. Ich hoffte indeß gerade nicht den Bauch zu finden ...«

O, den laß mir in Ehren!

»Bist Du nicht in Italien gewesen?«

Was sollte ich da gethan haben! Und wo Geld hernehmen zur Reise!

»Du hattest vor zwanzig Jahren doch gewisse geniale Ideen ...«

Ja, Brüderchen, es gibt nur so vielen Widerstand.

»Ich meinte, Du würdest gegen ihn ankämpfen, ihn besiegen.«

Brüderchen, man wird denn ärgerlich, ist mitunter auch ein wenig faul ...

»Du hattest damal die Composition einer Oper in Arbeit. Was ich davon hörte, fand ich ungemein ...«

Erinnre mich nicht daran. Ich hatte Aerger die Menge dabei, und Schaden. Ließ zehn Abschriften machen, und schickte sie an deutsche Theater. Die meisten remittirten, unter höflichen Ausflüchten. Einige nahmen sie; nur von Einem bekam ich aber Geld, und das ersetzte mir die Kosten noch nicht. Kabalen steckten auch dahinter, Kunstneid, Hudelei. Wo man die Oper aufgeführt hatte, erschienen böse Kritiken, sprachen von entlehnten Gedanken, veraltetem Styl. Ich hätte die Hunde von Recensenten todt prügeln mögen. Hernach verschwor ich's mit den Opern. Aber ein Heft geistlicher Oden und vierstimmiger Motetten habe ich noch herausgegeben; die wurden ziemlich gut recensirt.

»Darum kamst Du nicht nach Italien?«

Italien, Italien! Tempi passati, sagen sie dort.

»Und nach Frankreich, das einen Gluck redivivus in Dir sehn sollte?«

Brüderchen, es taugt im Grunde den Teufel nicht, wenn man in der Jugend Genie hat, und sitzt nicht auch an der Quelle, und weiß die Kabalen nicht todtzumachen. Das Brotstudium wird darüber versäumt, man treibt Allotria, und macht Plänchen, die wie Seifenblasen an der Luft zerplatzen. Jetzt habe ich mir die angenehmen Träumereien abgewöhnt. Non sum qualis eram. Weißt Du, was ich thun würde, wenn ich etliche und zwanzig Jahre zurück hätte, oder was ich hätte thun sollen? Meine Theologie tüchtig treiben, mir Freunde machen, eine gute Pfarre verschaffen, und hernach das liebe Minchen heirathen. O, Minchen war mir gut, besonders am Klavier. Man schwärmte auch ein bischen mit Klopstock, Göthe und Schiller. Alles vorbei! Ich frage auch den Teufel mehr nach Amor; Vater Bacchus ist mein Mann.

»Ei, ei! Und wie lebst Du denn sonst?«

Nun, hier auf der Kegelbahn befinde ich mich ganz wohl, und dann geh ich zum Duchstein*). Die Composition hab' ich an den Nagel gehängt; es kommt nichts dabei heraus. Und, die Wahrheit zu sagen, ich bin auch zu faul, und habe mit meiner Singschule, meiner Kirchenmusik ohnehin so viel zu thun. Brüderchen, so viel kann ich Dir aber noch sagen: aus meinem Bariton ist, ohne Ruhm zu melden, ein Bierbaß geworden, der sich gewaschen hat. Komm nur den Sonntag in die Frühpredigt, Du wirst hören, daß alle Kirchenfenster klingen.

*) Ein Weißbier, das in Königslutter gebraut wird.

Herr Cantor! rief man drinnen; Sie schieben.

Eilig watschelte August davon, und ließ den Freund stehn. Eduard zuckte die Achseln, und sagte: Er ist nun einmal nicht anders, und muß schon so verbraucht werden.

Lilienthal kam wieder zu mir. Es soll, nahm er das Wort, dem Cantor nicht an Geschicklichkeit fehlen; nur betrübt, daß er sich dem Trunk so leidenschaftlich ergeben hat! Es hieß schon einmal: er würde seine Stelle deshalb verlieren.

Ich fragte: »Ist er verheirathet?«

Gewesen, erwiederte Eduard; aber von seiner Frau geschieden. Sie war die Tochter des Rektors. Durch ihn kam er noch endlich zu dem Amt, das er sonst wohl nicht erlangt hätte.

Ich empfahl mich den alten Bekannten, ohne weitere Fragen zu thun, weil ich vor der Hand genug hatte. Schwermüthig über Zeit und Menschenloos nachsinnend, ging ich nach meinem Wagen, und fuhr in die Stadt.

Es sah artiger darin aus, als vordem. Einige neue, einige verschönerte Häuser, mehr Aufwand im Anzug der Bürgersleute, die mir auf der Straße zu Gesicht kamen, zeugten von vermehrter Wohlhabenheit. Doch späterhin erfuhr ich: es wäre nur mehr als sonst üblich, um schimmernde Außenseiten bemüht zu seyn; den alten ächteren Wohlstand habe der Krieg zerstört.

Ich ließ vor einem Gasthof halten. Als ich aus dem Wagen stieg, kam der Advokat Sauer aus der Thür. Er hatte am wenigsten gealtert, auch sich sonst eben nicht verändert; nur noch etwas grämlicher war das stets düstre schwammichte Gesicht geworden. Augenblicklich erkannte ich ihn, sagte ihm indeß nur eine flüchtige, kühle Höflichkeit; weil er mir ehedem nicht gefallen hatte.

Schwager, fiel er mir ins Wort; Schwager, kommt Ihr einmal wieder zu uns? Willkommen aus Sibirien.

Ich stutzte über die Anrede und den vertraulichen Ton. Nach einem betroffenen Schweigen erwiederte ich: »Schwager?«

Mein Gott, rief er, wißt Ihr denn nicht einmal, daß ich Eure Schwester geheirathet habe?

Mit dürrem Staunen sagte ich: »Das ist mir ganz neu!«

Schon vor funfzehn Jahren. Wir haben drei Jungen und zwei Mädchen. Also gar keine Nachricht von den Verwandten gehabt? Nun, in Sibirien, da wundert's mich nicht. Und meines Schwiegervaters Bruder in Rußland ist ja auch schon vor langer Zeit gestorben. Ihr wollt doch nicht im Gasthof logiren? Kommt zu mir. Es ist wohl enge da; doch wir müssen sehn, wie man sich behilft. Der Alte ist ja auch bei uns. Nur wieder in den Wagen; ich steige mit ein.

Dies konnte ich nicht wohl ablehnen. Im Wagen fragte ich: Nun, wie lebt Ihr denn mit Wilhelminen?

Je nun, war die Antwort, so so. In der Ehe giebt es nun einmal viel Aprilwetter. Anfangs hatte sie immer noch die eleganten Herrchen, die Genies, im Kopf; da stand es um unsere Eintracht nicht am beßten. Ich sagte: Das waren nichtige Courmacher, luftige Projektanten; ich bin ein solider Geschäftsmann, und habe es doch ernst gemeint. Also ziemt es sich, daß Madame so gütig ist, und mich liebt. Eine ätherische Liebe verlange ich gleichwohl nicht; bloß eine irdische, wie sie eine deutsche vernünftige Hausfrau kleidet. Wenn ich aber doch sah, daß Madame nicht so gütig seyn wollte, und aus dem angenommenen Schein nur Verstellung hervorblickte, ja dann hielt ich bisweilen eine Gardinenpredigt, und hatte Recht dazu. Mit der ewigen Musik, und den Musenalmanachen hatte ich erst auch meinen Verdruß, und ich gestehe, daß ich bisweilen ein Notenheft, oder ein Bändchen Poesien ins Feuer geworfen habe. Indeß hat es sich gegeben. Sind erst fünf Kinder im Hause, dann geht es prosaisch genug zu, und das liebe Fortepiano wird in Monaten nicht berührt. Im Anfang überlief mich auch der liederliche Cantor oft. Ich wies ihm die Thür; nun paßte er die Zeit ab, wo ich Geschäfte außer dem Hause hatte. Es wurde mir aber gesteckt; ich kam unvermuthet, und dies Mal warf ich ihn zur Thür hinaus. Ich kann's nicht leugnen, daß ich – und wer an meiner Stelle hätte es nicht auch gethan? – daß ich in der Hitze meinem Minchen eine kleine Ohrfeige gab. Nun, das hat mich auch bei kaltem Blute nicht gereut; denn seitdem hat sich Minchen um vieles gebessert.

Diese Mittheilung empörte mich so, daß ich eben ausholen und meinem Schwager eine große Ohrfeige appliziren wollte, als mir noch zur rechten Zeit einfiel, daß meine Schwester davon am meisten zu leiden haben würde. Fünf Kinder hatte sie zudem mit dem Unhold! So knirschte ich denn bloß mit den Zähnen.

Gott, dachte ich heimlich, wäre mir in dem langen Zeitraum all dies Unheil nach und nach zu Ohren gekommen! Aber nun so auf Einmal! Und was mag mir noch bevorstehn!

Wir langten in Sauers Wohnung an. Wilhelmine stieß vor Freude einen heftigen Schrei aus; ich hätte ihn vor Schrecken erwiedern mögen! O Himmel! wie bleich, abgezehrt, und daneben wie alltäglich, zeigte sich jetzt die einst so holde, einnehmende Schwester! Weder ihre Kleidung, noch der sie umgebende Hausrath, deuteten auf eine vortheilhafte Lage. Die Kinder, welche sie rief, den Oheim zu begrüßen, waren reinlich, aber ziemlich dürftig gekleidet. Mich befiel ein Kummer ohne Gleichen.

Sauer holte meinen Vater aus seinem Zimmer. Fast Entsetzen erregte mir sein Anblick. Schneeweißes Haar, nichts als Runzeln, Kopf und Hände bebend. Und so erkaltet war ihm das Gemüth, daß er kaum noch einige Freude über den nach zwanzig Jahren wiedererscheinenden Sohn äußerte. Keine Spur mehr von jener alten Herzlichkeit und dem heitern, aufgeweckten Sinn.

Wir setzten uns zum Abendessen. Ich mußte von meinen Schicksalen im Norden erzählen, wobei die Anderen meistens schwiegen, und ich so zu keinen Fragen gelangte. Ich mochte deren auch keine mehr thun. Hatte ich nicht schon freudenlose Antworten genug bekommen?

Nachher schien es, als habe der Wein den Greis ein wenig aufgethaut, oder als habe er in dem schwach gewordenen Kopfe nun überdacht, was sich zugetragen hatte. Er schloß mich in die zitternden Arme, und weinte. Gott sei Dank, sagte er, daß Du noch kamst. Etwas später, so hättest Du mich nicht mehr gefunden. Ich werde bald zu Deiner Mutter gehn.

O Gott! sagte ich, aufs Neue erschüttert; ich habe bereits an ihrem Grabe gestanden.

Mein Vater ging zu Bette, der Schwager sammt den Kindern auch; Wilhelmine fragte mich: ob wir nicht noch ein halbes Stündchen plaudern wollten?

Ich that das gern. Sie schilderte mir nun ihren häuslichen Zustand. Das Betragen ihres Mannes umging sie zart; außerdem hatte sie aber von nichts als Noth und Kummer zu erzählen. Sauer hatte wenig Freunde; nur Leute, die einen Erzrabulisten suchten, wendeten sich an ihn. Das Einkommen reichte bei fünf Kindern nicht zu; man steckte in peinlichen Schulden, und eben so der alte Vater noch. Die Kreuzträgerin endete: Was ist zu thun? Ich muß mich in Geduld fassen. Noch ein Glück für mein Mutterherz, daß meine Kinder gesund, auch sonst ziemlich wohlgeartet sind. Vielleicht erlebe ich an ihnen noch Freude.

»Gute Schwester, erwiederte ich, einigermaaßen werde ich Deine Lage verbessern können. Doch sage mir: wie hast Du Dich entschließen können, Sauer'n zu heirathen?«

Seufzend erklärte sie: Ja – es ward mit den übrigen Aussichten nichts.

»Ich dachte, Herr von Soldin ...«

Schnell unterbrach sie mich: Auch nichts! und fuhr fort: Die Zeit ging hin; ich war schon drei und zwanzig Jahr. Die Eltern fühlten sich immer mehr bedrängt, und wollten mich versorgt sehn. Da kam mein Mann – Es währte lange, eh ich mich überwinden konnte; doch – was blieb mir ...

»O Gott! sagte ich; Du hast so vielen Fleiß auf die Bildung Deiner schönen Talente gewandt! Was nützt es Dir nun!«

Laß uns nicht mehr über das Vergangene reden, seufzte sie. Hin ist hin! Jetzt lebe ich nur in meinen Kindern.

Ich ging stumm auf und nieder, warf mich dann in das Sopha, und stützte den Kopf auf die Hand; die Unruhe in meiner Brust war unbeschreiblich. Ich dachte an die Worte eines Dichters, welche mir auf der Reise von St. Petersburg hieher, mit einem süßen Anklang, oft einfielen:

Froh werd' ich die Altäre

Der heimatlichen Höh'n,

Und froh die Wonnezähre

Der Jugendfreunde sehn.

Und sie, die einst im Lenze

Der schönen Minnezeit,

Sich bis zur dunkeln Gränze

Des Lebens mir geweiht –

Ach, so fand ich es nicht! – Noch hatte ich nach Emma nicht gefragt. Was ich bis jetzt gehört, ließ mich die Geliebte vergessen, indeß nur auf eine kurze Zeit. Die Frage schwebte mir wieder auf der Zunge, doch immer gewann ich keinen Muth dazu; mein Herz fürchtete hier zu viel von einer niederwerfenden Botschaft.

Endlich hob ich doch zu Wilhelminen stockend an:

»Was ist denn aus dem Commerzienrath Hell geworden?«

Schon zehn Jahre todt.

»Das glaubte ich nicht; wenigstens fand ich seinen Namen auf keinem Leichenstein.«

Er ist in der größten Dürftigkeit gestorben. Aufwand und mißlungene Spekulationen ...

»Hm – und Minna, seine Tochter?«

Die hat schmählich geendet.

»Geendet?«

Nach des Vaters Tode waren die Mädchen noch unverheirathet –

»Unverheirathet? Beide?«

Ja! Minna wurde Gesellschafterin im Hause des Präsidenten Wernbach, ließ sich aber in einen sträflichen Umgang mit ihm ein – es ward ruchtbar. – Noch ein Glück, daß sie mit dem Kinde im Wochenbette starb. Die Präsidentin ließ sich scheiden.

»Das herrliche Mädchen und so ehrvergessen! In Gärten kann man aus der Blüthe die Frucht voraussehn, bei den Menschen nicht – Und ... und ...?«

Guter Bruder, ich ahne, was Du noch fragen willst.

»Du hast mein ganzes Vertrauen. Und Emma?«

Frage mich nicht. Die hast Du geliebt –

»Ich liebe sie noch, gute Wilhelmine! Hat sie keinen Mann – wie auch ihre Schönheit verblüht seyn mag, ich gebe ihr meine Hand!«

Dies – kannst Du nicht!

»Warum nicht? Ihre Armuth soll mich nicht zurückstoßen. Sie hat einst mein Herz reich an schönen Empfindungen gemacht, die im Zeitstrom nicht untergegangen sind. Ich habe kein andres Hoffen mehr, als Emma noch mein zu nennen.«

Dies kannst Du ... nein, frage mich nicht. Erkundige Dich bei Andern.

»Auch hier also warten entsetzliche Nachrichten auf mich? So gieb Du sie mir. Wen an Einem Tage schon so viele Dolche trafen, der ist auf Alles gefaßt.«

Ich möchte nicht gern ... mache Dich frei von dieser unglücklichen Neigung!

»Diese Neigung ist mein Glück. Ich will Emma mein nennen!«

Dies kannst Du – wenn Du es denn durchaus hören willst – um einen mäßigen Preis –

»Was sagst Du, Schwester! Ich hoffe doch nicht ...«

Ihr blieb nach dem Tode ihres Vaters weiter nichts übrig, als sich mit Putzarbeiten zu ernähren. Doch, an Hochleben und Müßiggang gewöhnt, wollte sie sich in Spärlichkeit und Fleiß nicht fügen. – Ihr Ruf ward zweideutig.

»Gott!«

Nach und nach sank Emma tiefer, und wurde zuletzt als öffentliche Buhlerin bekannt. Da zog sie den Sohn eines reichen Kaufmanns an sich, plünderte ihn aus, und verführte ihn, die Kasse seines Vaters um nahmhafte Summen zu bestehlen ...

»Höre auf. Doch nein – nein – ende!«

Es kam an den Tag. Emma wurde auf vier Jahre ins Zuchthaus geschickt –

»Zu viel! zu viel!«

Diese Strafe ist überstanden. Emma wurde wieder frei. Sie fing das alte Treiben aufs Neue an; doch – wie man hört, und es ihre Jahre vermuthen lassen – für sich mit schlechtem Erfolg. Dagegen hat sie eine Art von Pflanzschule um sich –

»Genug! Beim Himmel, genug!« – Ich riß mich von Wilhelminen weg, und eilte zu meinem Lager, wo ich aber die ganze Nacht keine Ruhe fand. Eine mehrtägige Krankheit folgte den Gemüthsbewegungen an dem schrecklichen Tag.

Dann ergriff ich meinen Entschluß, und sagte der Schwester: »Meine Liebe ist dahin! Ohne Liebe noch zu heirathen, wäre Thorheit. – Wie hoch belaufen sich die Schulden des Vaters und Deines Mannes?«

Seufzend erwiederte sie: Wohl auf viertausend Thaler.

»Die bezahle ich.«

Bruder! – O Bruder!

»Von den Zinsen meines übrigen Vermögens will ich Deine Kinder erziehen helfen, sie mögen einst meine Erben seyn. Ich will mich auch um ein Amt hier bewerben, so kann ich desto mehr thun, und finde Zerstreuung in den Geschäften.«

Wilhelmine umarmte mich mit Freudenthränen. Es wurde mir doch etwas leicht, daß ich solche Thränen fließen sah. Gott, rief ich, so frommen also Schönheit, Talente, Bildung und andre beneidete Vorzüge nicht, wenn das Glück nicht auch lächelt! O Jugend, auf das Unglück schicke Dich an, und wahrlich am meisten, wenn Dir solche Vorzüge eigen sind!

Mit einer edlen Fühlbarkeit sagte Wilhelmine nach einigem Schweigen:

Und – Emma?

»O die Verworfne!«

Auch die am tiefsten gefallen sind – bleiben Menschen.

»O gute Schwester!«

Du hast sie geliebt.

»Ich gebe ihr ein kleines Jahrgeld.«

Auf Eine Bedingung –

»Versteht sich: daß sie dem ruchlosen Wandel entsagt, und sogleich diese Stadt verläßt.«

Dies macht Deinem Herzen Ehre.

Bei diesem Gespräch kam erst noch zur Aufhellung, woran zeither noch niemand gedacht hatte. Ich sagte: »Aber ist denn die ganze Menschheit in späteren Jahren zum Unheil verdammt? Die Jugendfreunde, die Verwandten, Alles muß ich unglücklich wiederfinden, und ...« Nicht Alles, fiel Wilhelmine ein. Seltsam, daß Du nach unserm Bruder Otto noch nicht gefragt hast. Zum Theil ist wohl Deine Krankheit Schuld daran, daß wir vergessen haben, von ihm zu reden; zum Theil auch – wird bei den Seinigen nicht eben viel über ihn geredet –

Ich begreife selbst nicht, fiel ich ein, wie es zugegangen ist, daß ich an Otto nicht gedacht habe. Von den übrigen bösen Zeitungen war mein Gedächtniß so vollgepfropft, daß ... nun, was macht Otto? Ich wünsche ihm alles Gute.

Die Schwester antwortete: Er ist Minister des Herzogs.

Es war sicherlich keine Mißgunst, was ich empfand; ich staunte nur, faltete die Hände, und schüttelte den Kopf ein wenig.

Jene fuhr fort: Er ist zugleich in den Adelstand erhoben.

»Ist es möglich! Aber ist es möglich!«

Einige Jahre nach Deiner Abreise wurde er Rath, und nicht lange darauf Präsident eines anderen Collegiums; dann wurde er weiter empfohlen, und dem Herzoge näher bekannt. Schon manches Jahr bekleidet er die erste Stelle im Lande.

Immer noch höchlich verwundert sagte ich: »Otto der trockne, engherzige Otto, Minister des Herzogs?«

Lächelnd erwiederte meine Schwester: Wenn nun der Herzog trockne, engherzige Minister liebt? Ueber den Geschmack ist nicht zu streiten. – Dem Bruder gelang es auch noch weiter. Seine Würde verschaffte ihm Gelegenheit, sich mit einem Fräulein aus einem reichen Hause zu verbinden.

»Nun – ich gönne ihm Alles; er ist mein Bruder. So höre ich doch nicht lauter schlimme Nachrichten. Ei, ei! Es scheint also, als müßte eine Anweisung, hier Glück zu machen, so lauten: Fleiß, tüchtigen Geschäftsfleiß, wenn auch mehr dem Schein als der Wirklichkeit nach, und den Fleiß so geregelt, wie ihn jeder alltägliche Kopf zu zeigen vermag; das heißt: trocknen Schlendrian, immer Schlendrian, nie über das Gewöhnliche hinaus. Zweitens Kriecherei, ächte, wahre Kriecherei vor allem Rang. Endlich die so beliebte Engherzigkeit. Nun meinetwegen denn! Ich kann es nicht ändern. Aber sage mir nur, wie es zugeht, daß unser Vater nach so langjährigen, treuen Diensten eine so kärgliche Pension hat! Konnte sie Otto nicht billig erhöhen? Konnte er Deinem Mann nicht eine gute Bedienung verschaffen? Dein Mann mußte allenfalls ja auch sein Mann seyn.«

Wilhelmine erwiederte: O, Se. Excellenz geruhen jetzt, sich Dero armer Verwandten zu schämen. Als wir uns im Anfang von Otto's Erhebung an ihn wandten, fertigte er uns mit kleinen demüthigenden Geschenken ab. Auf wiederholte Bitten, etwas für den Vater, und für meinen Mann zu thun, gab er zur Antwort: »Unmöglich könne er, auf seinem viel beobachteten Platze, sich Nepotismus vorwerfen lassen; vielmehr habe er, aus Consequenz, allenthalben zu vermeiden, daß er nicht für Angehörige und ältere Bekannte eintrete. Der Pensionsfond sei zudem erschöpft, und Sauer habe nur genügende Thätigkeit auf das Advociren zu verwenden, um bestehn zu können.« Nun machte ich selbst eine Reise zu ihm. Es währte lange, ehe ich vorgelassen wurde; und, als es endlich geschah, währte die gnädige Audienz, überhäufter Geschäfte wegen, nur kurze Zeit. Otto blieb auch jetzt unzugänglich, und sagte mir daneben: der Vater sowohl, als ich, hätten ihn immer dem Bruder nachgesetzt, und an diesem ein höheres Talent und manche andere Vorzüge erhoben. Nun, fügte er hinzu, das höhere Talent half ihm nach Sibirien. Mag er von da seinen Lieben Zobelpelze schicken! – Empfindlich, daß er über Dein Unglück noch spotten konnte, verwies ich ihm das, und sagte hernach: eben auch des unglücklichen Bruders wegen käme ich. Glaube er, dem Vater und meinem Manne keine Gunst erzeigen zu dürfen, so möchte er wenigstens den Herzog bewegen, sich am russischen Hofe mit einer Bitte für Dich zu verwenden. O, sagten Se. Excellenz, da würde ich bei Sr. Durchlaucht eine Fehlbitte thun, und noch Höchstihre Ungnade auf mich laden. Mit dem Hofe in St. Petersburg steht der hiesige nicht am beßten. Ich kann weiter nichts als den Unglücklichen bedauern. Seinem unbesonnenen Leichtsinn muß er übrigens sein Schicksal zuschreiben. – Nun folgte ein stolz freundliches Entlassungszeichen. In den Gasthof schickte Otto mir noch ein trocknes Billet, mit einer Summe, die meine Reisekosten vergüten sollte. Ich sandte sie ihm, mit einem Briefchen in seinem eignen Styl, zurück. Seit dieser Zeit haben wir uns so wenig um ihn bekümmert, wie er sich um seine Verwandten.

»Pfui,« rief ich aus; »pfui! – Doch laß ihn! Er kann bei diesem unholden Sinn, trotz allem Ansehn und Vermögen, sich nicht glücklich fühlen. Ich danke um so mehr für Deine schwesterliche Liebe, die, so viel es anging, doch zu handeln versuchte. Aber – damit nicht auch ich keine Theilnahme für arme Verwandten zeige – ich habe noch nicht nach Charlotten gefragt. Lebt sie noch und in welchen Verhältnissen?«

Wilhelmine biß sich ein wenig in die Lippen; es fiel ihr schwer, eine Antwort zu geben. Neid war nicht im Spiel; eines so gehässigen Charakterzuges war sie nicht fähig. Aber einige Spuren von verwundeter, weiblicher Eitelkeit las ich in ihren Augen, als sie über diesen Gegenstand reden sollte. Ihre widrige Empfindung unter einem Lächeln zu verbergen bemüht, hob sie endlich an: Charlotte ist lange verheirathet.

»So hat sie doch einen Mann gefunden? Das freut, und – wundert mich.«

Glücklich verheirathet, wenigstens reich – nein, in der That auch glücklich; die Gemüthsart ihres Mannes paßt zu der ihrigen.

»Reich obenein? Das Mädchenglück hat auch seine Launen.«

Und oft gar seltsame.

»Wer ist denn Charlottens Mann? Habe ich ihn gekannt?«

O ja! Du wirst Dich bei seinem Namen wundern. Herr von Soldin.

»Ist das Scherz oder Ernst?«

Warum sollte ich Scherz treiben!

»Ich meinte – es hatte so ein Ansehn, und man konnte es unmöglich anders deuten – er habe Absichten auf Dich ...«

Die häufigen Besuche galten Charlotten. Um sie bemühte er sich, als wir glaubten ....

»Wie konnte – fast möcht' ich sagen, das platte Geschöpf ihn anziehn!«

Ueber den Geschmack ist nicht zu streiten.

»Hm! – Du nanntest ihn immer geschmacklos. Er hat diesen Ausspruch bestätigt.«

Unbedeutende Mädchen finden oft leichter eine Heirath, als gebildete.

»Wie geht das zu? Etwa, weil es so wenig gebildete Männer giebt? Das ist wohl gewiß nicht die Ursache. Der gebildeten Männer müssen ja viel mehr seyn, als der gebildeten Mädchen; denn die Männer haben mehr Gelegenheit sich zu bilden. Oder sollte Mädchenbildung mehr bewundert, als geliebt seyn, ernste Neigung mehr verscheuchen, als befördern? Dies kann ich auch nicht glauben.«

Einen Grund findet man hier nicht leicht heraus; es bleibt nur dabei, daß nichts verschiedner als der Geschmack, und – daß die Liebe blind ist.

»Ach – meine Liebe war nicht blind. Emma hatte Schönheit, Verstand, und ihrem Herzen ließ sich kein Vorwurf machen. Oder – wäre meine Liebe in so fern doch blind gewesen, daß sie eine heimliche Anlage zur Verworfenheit nicht entdeckte? Hier fragt es sich gleichwohl immer noch: ob eine solche Anlage in der That vorhanden war, oder ob nur die Einflüsse eines dürftigen Zustands Emma zu dem hingezogen, was ihre Grundsätze einst verdammten. Zwar sollte man fast schließen, eine Anlage müsse vorhanden gewesen seyn; sonst wäre Emma nicht durch Armuth gefallen. Wohnen sonst doch Armuth und Tugend oft zusammen. Zwar vielleicht öfter, wenn Tugend zeitig an Armuth gewöhnt ist, als wenn sie sich erst dazu bequemen soll. Im letzten Falle wird Armuth auch oft eine gefährliche Klippe für die Tugend.«

Desto edler ist sie aber auch, wenn sie, wie ein Fels, dem Drange der Armuth widersteht.

»Freilich wohl. Will man indeß Entschuldigungen aufsuchen, so kann man es vorzüglich beredt, wo die Armuth zu nennen ist.«

Dann aber auch standhaft gebliebne Tugend um so beredter loben.

»Allerdings! O Emma, wärst Du tugendhaft geblieben!«

Dann würde sie noch einen späten Lohn in Deiner Hand empfangen haben.

»Die Thörin noch, bei ihrer Verworfenheit! Was soll man übrigens zu einer Anlage sagen, wie ich vorhin sie erwähnte? Ist sie natürlich, und können die Grundsätze, welche eine sorgsame Erziehung einflößt, sie nicht verdrängen, so entschuldigt das Verbrechen sich ja beinahe ganz.«

Nein, da stimme ich Dir nicht bei.

»Und eine Tugend, die nur in der Abwesenheit gewisser schlimmen Neigungen besteht, folglich nicht kämpfen darf, hat keinen Werth.«

Freilich wird die Tugend erst edel, wenn sie, vom edlen Grundsatz begeistert, diesen in sich zu solcher Kraft erhebt, daß er die schlimme Anlage niederzuhalten vermag. Dies aber soll und muß die Tugend. Gänzliche Abwesenheit böser Neigungen ist wohl auch selten; die Umstände wecken sie, wenn sie auch schlummern.

»Die Heftigkeit des Temperaments, welche den Umständen entgegen tritt, ist aber auch verschieden.«

Wohl kein Phlegma ist so tief, daß nicht manche Lüste daraus hervorgerufen werden könnten.

»Es kommt aber in jedem Fall noch auf die Umstände an, ob sie mehr oder weniger auf den Menschen eindringen. Die physische Gemüthsanlage bekommen wir aus den Händen der Natur, über ihre Entwickelung vermögen die Außendinge mehr, als wir. Manche sind glücklich genug, bei einem ruhigen Sinn noch solchen Umständen fern zu bleiben, die verlockend auf sie eindringen könnten.«

Die Gemüthsanlage muß sich durch kräftigen Tugendwillen veredeln lassen. Umstände, welche uns zu verlocken geeignet sind, nahen sich uns so leicht nicht, wenn wir selbst vorsichtig davon entfernt bleiben.

»Zum Theil gebe ich das zu, doch nur zum Theil. Immer wird auf dem ungestümen Lebensmeere das Glück einen weiten Spielraum behalten.«

Tugend bleibt dennoch auf diesem Meere der sicherste Pilot. Und umfängt sie das Glück nicht, so wird sie doch am kräftigsten über das Entbehren desselben trösten und beruhigen.

»Ja, diesen Satz muß ich ohne Einschränkung unterschreiben. – Doch Schwester, ein Wort in Vertrauen. Dein Mann klagte über die öfteren Besuche, die August Dir gemacht hat. Jetzt wirst Du ihn ohne Zweifel verachten. Es geschah auch nur im Anfang Deiner Ehe, wo er noch nicht zum Trinker herabgesunken war. Offen – hatte Dein Mann gerechte Ursache, zu fürchten?«

Nein! Nur Wahlverwandtschaft unserer Ideen und Gefühle vereinigte mich mit August.

»Es scheint mir – Du hast ihn einst wirklich geliebt, so gut wie ich Emma, Und ihn so wenig richtig beurtheilt, wie ich die Geliebte.«

Wenn ich das einräumte, so könnte ich getrost auch hinzufügen: daß ich diese Liebe doch nie über meine Vernunft und Pflicht Herrin werden ließ.

»Hätte sie es aber – durch Zeit und nähere Gelegenheit als im Vaterhause – nicht werden können?«

Ich – glaube nicht.

»Du liebtest Deinen Mann nicht, und empfandest doch ein mächtiges Bedürfniß zu lieben.«

Eins will ich Dir gestehn. Als August sich nicht mehr bei mir einfand, schmerzte es mich tief; späterhin war es mir aber äußerst lieb, daß ihn mein Mann entfernt hatte.

»Deine Tugend, gute Wilhelmine, hatte folglich – Glück. O nicht allein andere Menschen bleiben uns Räthsel, auch das eigne Herz bleibt es. Laß uns aber nicht zu weit ins Feld der Moralphilosophie dringen. Erzähle mir von Charlotten das Nähere.«

Eigentlich – möcht' ich es doch nicht blinde Liebe nennen, was Herrn von Soldin an sie zog. Im Punkte der Schönheit empfand er einmal nicht wie Andere. Charlottens runde, derbe Formen – mochten anders Urtheilende sie auch plump nennen – hatten Reitz für ihn.

»Ha ha ha! Er hatte den Geschmack der Algierer, welche ihre Mädchen zu mästen pflegen. Auf das Gesicht kömmt es nicht an; Schönheit wird durch die Fettigkeit bestimmt.«

Soldin suchte eine wirthliche, anspruchlose, einfache Hausfrau; und weil er sie fand – ließ, nach seinem Sinn, die Wahl sich auch klug nennen. Und soll man fremden oder eignem Sinn folgen? Bereuen durfte er seine Wahl auch nicht. Sein Vater ist lange todt; beide Eheleute wirthschaften gut; die Heimsuchung des Kriegs ist überstanden, und Soldin noch immer ein Mann von hunderttausend Thalern.

»So finde ich wenigstens Einen der Jugendfreunde nicht unglücklich.«

Charlotten muß ich nachrühmen, daß sie weder stolz, noch fremd gegen uns geworden ist. Sie schickt mir manches in Küche und Keller, und wenn die Noth hier zuweilen hoch stieg, suchte ich bei ihr auch anderweitige Hülfe nicht vergebens, ob sie gleich, wie ich, fünf Kinder hat.

»Brav! ... Fortan sollst Du mit ähnlichen Bitten ihr nicht lästig werden.« –

Ich that nun alles, was ich mir vorgenommen hatte, und fühlte mich im Kreise der geliebten Schwester und ihrer Kinder, die ich bald, als wären sie die meinigen, liebte, so glücklich als man es, über vierzig Jahre hinaus, und – in diesem Leben, seyn kann. Die erlittene Sklaverei in Sibirien ließ mich das Glück der Freiheit um so höher achten und genießen.

Auch Wilhelminens Ehe gewann nun, nach dem Verschwinden der Nahrungssorgen, mehr Eintracht, und meine Gegenwart nöthigte ihren Mann zu einem sanfteren Betragen. Auch Menschen von tadelhaftem Charakter bessern sich nach Umständen.

Möchten junge Leser durch meine Erzählung sich bewogen fühlen, zeitig über die Veränderungen nachzudenken, welche die Zeit hervorbringt! Möchten sie, was ihnen das Glück gab, fest halten, da es launenhaft ist! Möchten sie ihre Ansprüche nicht übertreiben, da diese oft betriegen! Möchten sie im Schönheits-, im Talentgefühl, weniger Aufmunterungen zum Hoffen, als Warnungen vor Mißbrauch sehn! Und endlich, möchten sie an Wilhelminens Satz glauben: »Tugend ist der beßte Pilot auf dem Lebensmeer, und erhebt über ein feindliches Schicksal.«

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