5. Die Lieder.

Lenzes Gebot, die süße Not,

Die legten’s ihm in die Brust,

Nun sang er, wie er mußt.

Wagner.

„Ich schreibe jetzt nur Gesangssachen, großes und kleines, auch Männerquartette. Kaum kann ich Ihnen sagen, welcher Genuß es ist, für die Stimmen zu schreiben, im Verhältnis zur Instrumentalkomposition und wie das in mir wogt und[S. 46] tobt, wenn ich in der Arbeit sitze. Da sind mir ganz neue Dinge aufgegangen,“ berichtet ein Brief vom 19. Februar 1840 an Keferstein. Wirklich hat Schumann in diesem Jahre, das man darum auch das „Liederjahr“ zu nennen pflegt, ausschließlich Vokalwerke geschaffen, und zwar so schöne, so vollendete, daß sie noch gegenwärtig als unübertroffene Muster dastehen und den Gipfelpunkt der ganzen Kunstform in Deutschland bedeuten. Gleichwie einst Beethoven im Schlußsatze der neunten Symphonie das Wort zu Hilfe nehmen mußte, um jene Deutlichkeit des Ausdruckes zu erzielen, welche der Instrumentalmusik allein versagt ist, so drängte, si licet parva componere magnis, unseren Meister, nachdem er in seinen scharf charakterisierenden Klavierstücken die äußerste Grenze rein musikalischen Ausdrucksvermögens berührt hatte, die Kraft des Empfindens, welche durch das reiche Liebesglück dieses Jahres zu höchster Gewalt gesteigert worden war, am Ende auch zur menschlichen Sprache hin. Der äußere Anlaß, der Schumann bewog, von dem bisher kultivierten Felde der Klavierkomposition auf das vokale Gebiet überzutreten, ist nicht recht bekannt. Noch im Sommer 1839 schrieb er an Hirschbach: „Komponieren Sie doch mehr für Gesang, oder sind Sie vielleicht wie ich, der ich Gesangskompositionen, so lange ich lebe, unter die Instrumentalmusik gesetzt habe und nie für eine große Kunst gehalten? Doch sagen Sie niemandem davon.“ Vielleicht hat der rege Briefwechsel mit dem Liederkomponisten Koßmaly die erste Anregung gegeben.

Damit wir Schumanns hohe Verdienste um das deutsche Lied nicht unrichtig bemessen, dürfen wir bei ihrer Würdigung sein künstlerisches Verhältnis zu Schubert nie aus dem Auge verlieren. Daß der Fortschritt des Schöpfers der „Winterreise“ seinen Vorgängern gegenüber größer sei, als der Fortschritt von ihm zu Schumann, wird kein Einsichtiger bestreiten wollen. Auch entspringen manche Vorzüge des Schumannschen Liedes nicht etwa einer – in diesen Punkten wenigstens überlegenen Begabung, als[S. 47] vielmehr äußeren, zufälligen Umständen. Nirgends erwachte z. B. der Sinn für Sprachreinheit und Sprachrichtigkeit so spät wie in Österreich. Nicht lange vor Mozarts Tode gestand der österreichische Dichter Alxinger, daß er mit eiserner Geduld fast jedes Wort in einem Lexikon nachschlagen müsse, ehe er es niederzuschreiben wage und bewunderungswürdig erscheinen unter solchen Verhältnissen die so häufigen Offenbarungen feineren Sprachgefühls bei ungebildeten Musikern wie Mozart oder Schubert. Man darf nicht zweifeln, daß diese Meister, durch irgend einen Zufall in frühester Kindheit aus der Heimat etwa nach Sachsen verschlagen und daselbst an einem Gymnasium erzogen, den Neueren an sorgfältiger Beachtung des Sprachaccentes und an packender Wahrheit des Ausdrucks keineswegs nachstehen würden und ähnlich verhält es sich mit der Wahl der Gedichte. Schubert mußte noch komponieren, was ihm gerade zu Händen kam; Schumann hingegen vermochte, dank seinen ausgebreiteten litterarischen Kenntnissen frei aus dem unerschöpflichen Born deutscher Lyrik zu wählen, was ihm der Komposition würdig und fähig schien. „Weshalb nach mittelmäßigen Gedichten greifen, was sich dann immer an der Musik rächen muß? Einen Kranz von Musik um ein wahres Dichterhaupt schlingen – nichts Schöneres. Aber ihn an ein Alltagsgesicht verschwenden, wozu die Mühe?“ Am häufigsten hat Schumann Rückert und Heine komponiert, welche durch mehr als vierzig Stücke vertreten sind; dann folgen Goethe (24), Eichendorff (22), Burns (19), Justinus Kerner (17), A. v. Chamisso (14), E. Geibel, Elisabeth Kulmann, Hoffmann von Fallersleben (11), Uhland, Robert Reinick (10), Nikolaus Lenau, Möricke (9), Lord Byron (6), Friedrich Hebbel, Andersen (5). Vereinzelt erscheinen Moore, Mosen, Platen, Zedtlitz, Schiller, Halm, Anastasius Grün, Klopstock, Shakespeare, Immermann u. a. Das ergiebt, wenn noch einige Texte altdeutscher oder spanischer Herkunft mit eingerechnet werden, an dreihundert Gesangsstücke, von welchen die Hälfte[S. 48] allein auf das Jahr 1840 fällt; vier Hefte mehrstimmiger Gesänge (op. 29, 33, 34, 43) und die doppelte Anzahl mit Sololiedern, nämlich: Liederkreis von Heine (op. 24), Myrthen (op. 25).[3] Zwölf Gedichte von Justinus Kerner (op. 35). Sechs Gedichte von Robert Reinick (op. 36). Liederkreis von Eichendorff (op. 39). Frauenliebe und Leben von Chamisso (op. 42). Zwölf Gedichte aus Rückerts Liebesfrühling (op. 37). Fünf Lieder (Andersen zugeeignet, op. 40) und Dichterliebe von Heine (op. 48). Das ist viel, sehr viel und reicht doch nicht heran an Schuberts erstaunliche Fruchtbarkeit, zumal, wenn man die kurze Lebenszeit dieses Meisters mit in Betracht zieht.

Schon die obigen Daten lassen erkennen, daß Schumanns Lied auf der romantischen Lyrik beruht, während Schubert sich, wie man weiß, von Goethes Muse angezogen fühlte. Zwar hat Schumann auch und öfter Goethesche Gedichte in Musik gesetzt, doch bezeichnenderweise meist solche aus dem Divan (Myrthen) und Wilhelm Meister (op. 98), die eine Neigung zur Romantik zeigen. Übrigens gehören sie nicht zu seinen vorzüglichsten Leistungen, vielmehr wird uns die ganze Innigkeit seines Herzens gerade bei der Komposition jüngerer Liederblüten enthüllt. Ein Übel freilich haftet diesen modernen „Vertonungen“ immer an. Gedichte, die fast kaum für den laut gesprochenen Vortrag, sondern bloß für die stumme Lektüre bestimmt sind, werden in einer Weise in Musik gesetzt, daß sie, gesungen, dem eigenen Dichter als etwas ihm Wildfremdes vorkommen müssen. Bei einem Gedichte, welches als Litteraturgedicht bereits vollkommen der Absicht des Poeten genügte und somit eine musikalische Ausführung gar nicht aus sich bedang, kann die musikalische Komposition natürlich auch bloß wiederum ein besonderes[S. 49] Gedicht des Musikers sein, das mit dem Wortgedichte einen oft ganz willkürlichen oder nur allgemeinen Gefühlszusammenhang hat. (Wagner.) Die Fälle, in denen es thatsächlich zur vollen Übereinstimmung zwischen Text und Komposition kommt, sind ziemlich selten, sogar bei den Meistern dieser Kunstform. Auch Schumann gelang sie nur einigemale, am schönsten wohl in dem herrlichen Cyklus „Frauenliebe und Leben“; sonst, z. B. bei den – im übrigen entzückend gesetzten – Eichendorffschen Liedern, kann er bloß einzelnen hervorstechenden Eigentümlichkeiten, dem Verschwimmenden, in Duft sich Auflösenden gerecht werden, indessen manch feiner Zug dieser Poesien verloren geht. Wieder anders verhält es sich mit Fr. Rückert. Seine Verse gewinnen im Schlepptau einer schönen Melodie („Du meine Seele, du mein Herz“), welche über die häufigen trivialen Wendungen hinwegtäuscht; bei sorgfältiger Deklamation aber treten die Mängel seiner bunt schillernden, stimmungsarmen Lieder deutlich zu Tage. Bei Kerner, Burns, Reinick trifft Schumann sehr glücklich den Volkston (Wohlauf noch getrunken, Erstes Grün; – Das Hochlandsmädchen, Mich zieht es nach dem Dörfchen hin; – O Sonnenschein, Ständchen), oft aber sucht er, wie insbesondere bei Reinick, diese anspruchslosen Gedichte tiefer aufzufassen, wodurch ein fühlbares Mißverhältnis zwischen dem naiven Text und der reflektierenden musikalischen Wiedergabe entstanden ist.

Mit Heinrich Heine hat’s eine eigene Bewandtnis. Sangen einst die Romantiker gern von wandernden Musikanten, die mit lustigem Spiel alles Volk zu Tanz und Freude bewegen, während schneidendes Weh in ihrem Herzen haust, so macht sich der ungezogene Liebling der Grazien den Spaß, das ganze Verhältnis einfach umzukehren. Er thut, als sei er unsagbar traurig, an Leib und Seele elend aus Liebesgram, bis dem vertrauensseligen Leser die Thränen der Rührung über die Backen laufen, indessen der Schalk sein heimlich Gaudium hat. Unter der ungeheueren Schar[S. 50] der Angeführten sieht man neben sehr vielen Ästhetikprofessoren und Litteraturhistorikern auch unsere harmlosen Liederkomponisten der Reihe nach figurieren. Sie merkten den Ulk nur stellenweise, da wo Heine selbst den täuschenden Schleier mit einem plötzlichen Witze zerschleißt: daß ja die ganze Dichtung ein genial durchgeführter Witz sei, ist keinem aufgegangen. Damit soll der Wert z. B. der Schumannschen Heinelieder nicht geschmälert sein, sondern bloß dem verbreiteten Irrtum begegnet werden, als habe Schumann den Geist der Heineschen Lyrik mit großer Treue bewahrt. Das ist ganz unmöglich, denn die Musik, die wahrste von allen Künsten, wäre gar nicht imstande, ironische Stimmungen auszudrücken. Unser Meister nahm also diese Lügenpoesie gläubig hin als das, was sie schien, strebte ihren (absichtlich) übertriebenen Klagen durch Erschöpfung des musikalischen Ausdrucksvermögens zu entsprechen, so daß sie schließlich gar, gleichsam wiedergeboren aus dem Schoße der Tonkunst, als echte und edle Gebilde jedes Herz bezaubern und entzücken.

Mit der Verschiedenheit der Texte hängt es auch zusammen, daß dem Klavierpart bei Schumann eine viel bedeutendere Rolle zugeteilt ist, als bei Schubert. Die pointenreiche, komplizierte, moderne Lyrik läßt sich in all ihren feinen Details durch die Singstimme gar nicht erschöpfen; hier tritt unterstützend und ergänzend der Klavierpart hinzu und verschmilzt mit der Gesangsmelodie, welche ohne ihn oft gar nicht als Melodie verstanden werden könnte, zu einem unauflöslichen Ganzen. Bald weckt er vor dem Eintritt des Gesanges im Hörer die erwünschte Stimmung, bald spinnt er die, in den letzten Worten des Gedichtes angeregten Gedanken weiter fort, nicht selten führt er sogar die Gesangsmelodie, die manchmal gar nicht über dem Dreiklang der Tonart endigt und gleichsam abgebrochen scheint, erst zum befriedigenden Abschluß. In diesen Nachspielen liegt nicht zum mindesten die Schönheit Schumannscher Lieder. Wie sinnig schlägt er, um nur ein berühmt gewordenes[S. 51] Beispiel anzuführen, am Ende des Cyklus „Frauenliebe und Leben“, die Töne des ersten Liedes „Seit ich ihn gesehen“, wieder an, als verliere sich die Witwe in Erinnerung an ihr zerronnenes Liebesglück!

Daß die reich ausgestattete Klavierbegleitung die Singstimme beeinträchtigt, ist ein nur teilweise berechtigter Vorwurf. Es ist wahr, scharfgezeichnete melodische Linien finden sich bei ihm nicht so häufig wie z. B. bei Schubert. Soll eine traumhaft schwankende Empfindung dargestellt werden, so kommt der Gesang über einzelne Melodienknospen, deren volles Erblühen man vergebens erwartet, nicht hinaus, er bleibt zuweilen bloß musikalische Deklamation, und die Begleitung wird die eigentliche Trägerin des poetischen Gedankens. Anderseits aber weiß Schumann, wo die Singstimme den einfachen Gehalt eines Liedes erschöpfen kann, mit der Begleitung auch zu sparen und sich mit wenigen charakteristischen Accorden zu begnügen. Wenn er den Sänger oft in unbequeme Lagen, zu weiten Sprüngen und dergleichen zwingt, so muß man das seinem Streben nach möglichst prägnantem Ausdruck schon zu gute halten. Ein Kunstwerk ist eben keine Schuletüde, es fordert vom Ausführenden gesteigerte, nicht bloß gewohnhafte Bethätigung des erworbenen Könnens. Sehr richtig bemerkt da Ehlert,[4] daß es sich nicht darum handle, „für die Stimme möglichst bequem zu schreiben, sondern darum, eine poetische Empfindung musikalisch auszudrücken, natürlich nur so weit, als dies ohne offene Verletzung der gesanglichen Rücksichten möglich ist...“ Wer beim Komponieren eines Liedes ans Atemholen denkt, der kann alles sein, nur kein Poet. Das Schumannsche Lied nimmt eine ganz besondere Stellung ein. Die Vertiefung in den poetischen Lokalton des Gedichtes durch Schubert schon in hohem Maße ausgebildet, wird von[S. 52] ihm bis zur erstaunlichen Gewißheit des Selbsterlebten geführt. Wie wenig Mittel oft dazu gehören, ersehe man aus „In der Fremde“ (op. 39, Nr. 1), wo die scheinbar einfachste, accordliche Bewegung die „schöne Waldeinsamkeit,“ in der den Sänger „keiner mehr kennt,“ mit bebender Handgreiflichkeit zeichnet, oder aus der „Mondnacht“ (ebenda Nr. 5), wo wenige Stimmen der Begleitung das „es war als hätte der Himmel die Erde still geküßt“, so – ich kann nur wiederholen – erlebt malen, daß jeder es fühlt, hier spannt ein Dichter im Mondlicht und Blütenschimmer „weit seine Flügel aus.“ Namentlich alles Träumerische, Weiche, Verschämte hat niemals durch einen anderen Musiker einen treffenderen Ausdruck erfahren. Nie vielleicht wohnte in einem Manne so viel dichterisches Erröten über die Rätsel seiner Bestimmung wie in ihm. Sein eigentlicher Ausdruck in dieser Liederzeit war das Jünglingshafte mit seinem dunkelscheuen Kraftgefühl, seinem morgenrötlichen Schimmer und seiner Frühlingsschwermut.

Es erübrigt nur noch zu erwähnen, daß sich Schumann 1840 auch in der Ballade versuchte und darin mit ihrem unübertrefflichen Meister, Carl Löwe,[5] nicht unrühmlich um den Preis rang. Belsazar von Heine (op. 57), je drei balladenmäßige Gesänge von Geibel und Chamisso (op. 30 der Hidalgo, op. 31 die Löwenbraut, op. 32 die Kartenlegerin) und drei Hefte Balladen und Romanzen (op. 45, 49 die beiden Grenadiere), die feindlichen Brüder; (op. 53 der arme Peter), denen später noch ein viertes (op. 64 Tragödie) folgte, stammen noch aus dem Liederjahr; op. 87, der Handschuh von Schiller, aus 1849. Doch[S. 53] liegt die Bedeutung Schumanns als Vokalkomponist nicht gerade in diesen, wenn auch wertvollen Werken, sondern vor allem in seinen Liedern, welche bei ihrem Erscheinen freilich mißachtet und verkannt worden sind. Um so mehr freute Schumann das Dankgedicht Friedrich Rückerts für die Komposition des „Liebesfrühlings“, an welcher auch Klara mit drei Liedern (2, 4, 11) beteiligt war. Es lautet:

An Robert und Klara Schumann.

Lang ist’s, lang

Seit ich meinen Liebesfrühling sang;

Aus Herzensdrang,

Wie er entsprang,

Verklang in Einsamkeit der Klang.

Zwanzig Jahr

Wurden’s, da hört ich hier und dar

Der Vogelschar

Einen, der klar

Pfiff einen Ton, der dorther war.

Und nun gar

Kommt im einundzwanzigsten Jahr

Ein Vogelpaar,

Macht erst mir klar,

Daß nicht ein Ton verloren war.

Meine Lieder

Singt ihr wieder,

Mein Empfinden

Klingt ihr wieder,

Mein Gefühl

Beschwingt ihr wieder,

Meinen Frühling

Bringt ihr wieder;

Mich, wie schön

Verjüngt ihr wieder;

Nehmt meinen Dank, wenn auch die Welt

Wie mir einst, ihren vorenthält.

[S. 54]

Heutzutage ist ganz Deutschland über den Wert der Schumannschen Lieder, dieser echten Kinder des Frühlings und des Glückes einig geworden und schätzt sie als Perlen musikalischer Lyrik, von welchen ihr Schöpfer mit Recht behaupten durfte: „Ich getraue mir nicht mehr leisten zu können und bin auch zufrieden damit.“ Jawohl, zufrieden!

[3] Enthält Gedichte verschiedener Poeten: Byron, Moore, Burns, Rückert, Heine, Mosen und Goethe.

[4] Aus der Tonwelt. (Essays, Berlin 1882, 2. Aufl.) R. Schumann und seine Schule, S. 221 ff.

[5] Von Schumanns Wertschätzung Löwes giebt die folgende Stelle aus einem Aufsatz im Leipziger Tageblatt (1835) ein schönes Zeugnis: „Sollten wir irgend einen lebenden Komponisten anführen, der vom Beginne seiner künstlerischen Laufbahn bis zum jetzigen Augenblicke deutschen Geist und deutsches Gemüt beurkundet und es im Zartesten wie im Wildesten, in der Sprache der ersten Liebe, wie im Ausbruche des tiefsten Zornes ausgesprochen hätte, so müßten wir Löwe nennen.“

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