7. Letzte Lebensjahre.

Und der letzte Schritt auf Erden

Macht den letzten Fehler gut.

Grillparzer.

„Ich suchte in einer alten Geographie nach Notizen über Düsseldorf und fand da unter den Merkwürdigkeiten angeführt: drei Nonnenklöster und eine Irrenanstalt. Die ersteren lasse ich mir gefallen allenfalls, aber das letztere war mir unangenehm zu lesen. Ich will dir sagen, wie das zusammenhängt. Vor einigen Jahren wohnten wir in Maxen, da entdeckte ich denn, daß die Hauptansicht aus meinem[S. 75] Fenster nach dem Sonnenstein[8] zuging. Dieser Anblick wurde mir zuletzt ganz fatal; ja, er verleidete mir den Aufenthalt. So, dachte ich denn, könne es auch in Düsseldorf sein. Ich muß mich sehr vor allen melancholischen Eindrücken der Art in acht nehmen.“

Ahnte der arme Meister, als er diese Zeilen an Hiller schrieb, das ihm drohende Verhängnis? Stieg das düstere Bild der Zukunft schreckhaft vor seiner Seele auf? Fast scheint es so. Denn er mußte doch zuweilen die allmähliche Ermattung seines Geistes fühlen, fühlen, wie die Phantasie, ja zuletzt die klare Denkkraft ihn verließ; o furchtbare Erkenntnis! Aber immer wieder, als sei er einem Fluche verfallen, trieb ihn der unselige Ehrgeiz und alte Gewohnheit zu neuem Schaffen an, zermarterte er sein müdes, brennendes Hirn und beschleunigte so seinen Untergang. Als er im besten Mannesalter, im sechsundvierzigsten Lebensjahre starb, da hatte die deutsche Kunst keinen wertvollen Entgang mehr zu beklagen, es war ein völlig Erschöpfter, den sie zur ewigen, wohlverdienten Ruhe in die Grube senkten.

Zu Anfang der Düsseldorfer Periode hätte das allerdings niemand vermuten können. Der neue Wirkungskreis, die Ortsveränderung, die reizvolle Gegend und der ehrenvolle Empfang – alles das übte zunächst einen belebenden Einfluß auf Schumann aus. Man merkt es an den sogleich nach der Ankunft begonnenen Kompositionen, dem Cellokonzert (op. 129) und besonders an der fünften, der „rheinischen“ Symphonie Es-Dur (op. 97), welche den symphonischen Stil in mancher Hinsicht besser trifft als ihre älteren Schwestern, wohl darum, weil sich Schumann diesmal sein Ziel nicht so hoch gesteckt hatte. Frische musikalische „Bilder des Lebens am Rheine“ ziehen an uns vorüber und der vierte Satz, der „im Charakter einer feierlichen Ceremonie“ gehalten werden soll, weist sogar auf eine bestimmte Be[S. 76]gebenheit, die Erhebung des Erzbischofs von Köln (Geissel) zum Kardinal, welcher Schumann beigewohnt hatte.

Mit der neuen Stellung war er sehr zufrieden, obwohl ihm zum Dirigenten viele wichtige Eigenschaften fehlten: die körperliche Geübtheit, die Geistesgegenwart und vor allem die so notwendige Mitteilungsgabe. Belehrungen über die Vortragsweise erwartete man von ihm vergebens, sondern er ließ das Stück durchspielen und wenn es noch nicht ging, wiederholen. Oft sagte er seinen Musikern, er habe sich dies oder jenes ganz anders gedacht, ohne sie über die eigentümliche Art seiner Auffassung weiter aufklären zu können. Zum Glück war das Düsseldorfer Orchester durch Hiller, Rietz und Mendelssohn so weit geschult, daß die Unzulänglichkeit Schumanns, den man auf den Händen trug, dem Publikum nicht weiter bekannt wurde. Nebst den Abonnementskonzerten hatte er nur noch die wöchentlichen Übungen des Singvereines und die an gewissen Festtagen stattfindenden Musikaufführungen in der katholischen Kirche zu leiten, so daß ihm genug freie Zeit übrig blieb, um seinen eigenen Studien nachzugehen. Im Sommer war er gar nicht beschäftigt. Er benützte die Konzertferien zu kleineren oder größeren Ausflügen, reiste zum Beispiel im Juli 1851 in die Schweiz und im August dieses Jahres zum Musikfeste nach Antwerpen, wo er zum Schiedsrichter beim Wettsingen gewählt worden war. Sonst verfloß sein Leben in Düsseldorf zumeist recht einförmig. Um zwölf Uhr mittags ging er mit Klara und irgend einem Bekannten spazieren, von sechs bis acht besuchte er ein Gasthaus, um Zeitungen zu lesen und ein Glas Bier zu trinken – die übrigen Stunden des Tages waren der Arbeit gewidmet. Da saß er in seinem traulichen, langgestreckten, mit Bücher- und Musikalienschränken verstellten Zimmer am Flügel und komponierte.

Über die Werke dieser Periode sei zusammenfassend bemerkt, daß sie dem Hörer im allgemeinen nur wenig Genuß[S. 77] gewähren. Nicht als ob, wie in den letzten Gaben der Beethovenschen Muse der allzu hohe Ideenflug das unmittelbare Verständnis erschwerte – im Gegenteil, die Unkraft der schaffenden Phantasie ist es, die es zu keiner künstlerischen Wirkung kommen läßt und bloß Mitgefühl für den armen Meister hervorrufen kann. Er hat, wie Dräsecke sagt, als Genie begonnen und als Talent aufgehört; schon seit jener Erkrankung um die Mitte der vierziger Jahre ist das allmähliche Herabsinken seines Geistesfluges, die Atrophie seines Genius zu beobachten. Mit fiebrischer Hast, zu welcher die äußere, fast apathische Ruhe unheimlich kontrastiert, springt er von einem musikalischen Gebiet auf das andere, schreibt bald Lieder (op. 107, 117, 119, 125, 135) und begeistert sich für die Gedichte der Elisabeth Kulmann (op. 103, 104), „einer wahren, seligen Insel, die im Chaos der Gegenwart emporgetaucht;“ bald Violinsonaten (op. 105, op. 121 D-moll); bald wieder kleinere Klavierstücke (op. 109, 111), bald ein Trio (G-moll, op. 110), bald Märchenbilder für Viola (op. 113), bald eine Messe (op. 147) oder ein Requiem (op. 148). Richard Pohl, der nachmals berühmte Kritiker, und Moritz Horn müssen ihm Opern- und Oratorientexte herstellen; Projekte, wie die Braut von Messina und Hermann und Dorothea giebt er gleich wieder auf, komponiert aber wenigstens Ouvertüren dazu (op. 100 und 136). Auch Shakespeares Julius Cäsar erhält eine Ouvertüre (op. 128). Sehr lange beschäftigt ihn dann der Gedanke an ein Oratorium „Luther“, über das sich ein reger Briefwechsel mit Pohl entspinnt. Einige Stellen daraus seien hier angeführt, als Beispiel, bis zu welchem Grade Schumann seine „Dichter“ beeinflußte und wie er sich das Ideal eines Oratoriums ersonnen hatte: „Das Oratorium müßte ein durchaus volkstümliches werden, das Bürger und Bauer verstände – dem Helden gleich, der ein so großer Volksmann war. Und in diesem Sinne würde ich mich auch be[S. 78]streben, meine Musik zu halten, also am allerwenigsten künstlich, kompliziert, kontrapunktisch, sondern einfach, eindringlich, durch Rhythmus und Melodie vorzugsweise wirkend. Im übrigen stimme ich mit allem, was Sie wegen Behandlung des Textes in metrischer Hinsicht sagen, wie über die volkstümlich altdeutsche Haltung, die dem Gedichte zu geben wäre, durchaus überein. – Das Oratorium müßte für Kirche und Konzertsaal passen. Es dürfte mit Einschluß der Pausen zwischen den verschiedenen Abteilungen nicht über zweieinhalb Stunden dauern. – Alles bloß Erzählende und Reflektierende wäre möglichst zu vermeiden, überall die dramatische Form vorzuziehen. – Möglichst historische Treue, namentlich die Wiedergabe der bekannten Kraftsprüche Luthers. Sein Verhältnis zur Musik überhaupt, seine Liebe für sie, in hundert schönen Sprüchen von ihm ausgesprochen, dürfte gleichfalls nicht unerwähnt bleiben. – Hutten, Sickingen, Hans Sachs, Lucas Kranach, die Kurfürsten Friedrich und Johann von Hessen müssen wir wohl aufgeben – leider! Erzählungsweise mögen sie aber alle vorkommen. Ich glaube, wir müssen den Stoff auf die einfachsten Züge zurückführen, oder nur wenige der großen Begebenheiten aus Luthers Leben herausnehmen. Auch glaube ich, dürfen wir dem Eingreifen übersinnlicher Wesen nicht zu großen Platz einräumen, es will mir nicht zu des Reformators ganzem Charakter passen, wie wir ihn nun einmal recht als einen geraden, männlichen und auf sich selbst gegründeten kennen. – Gelegenheit zu Chören geben Sie mir, wo Sie können. Händels ‚Israel in Egypten‘ gilt mir als das Ideal eines Chorwerks und eine so bedeutende Rolle wünschte ich dem Chor auch im ‚Luther‘ zugeteilt. Der Choral ‚Ein’ feste Burg‘ dürfte als höchste Steigerung nicht eher als zum Schluß erscheinen, als Schlußchor. – Lassen Sie uns das große Werk mit aller Kraft ergreifen und daran festhalten.“ Doch kam es trotz der in den letzten Worten gegebenen Versicherung zur Ausführung des so wohl bedachten Planes[S. 79] nicht. Andere, wichtiger dünkende Projekte drängten sich in den Vordergrund. Denn im verzweifelten Streben ja nur Originelles, Bahnbrechendes zu produzieren, sann Schumann endlich gar auf die Einführung neuer Kunstgattungen, nahm das „weltliche Oratorium“ wieder auf und erfand das unerfreuliche, zwitterhafte Genre der „Chorballade“.

Der Rose Pilgerfahrt (op. 112) heißt das bis zur Abgeschmacktheit sentimentale Carmen Horns, welches jetzt ein – sehr untergeordnetes – Seitenstück zu der sinnigen „Peri“ abgeben sollte, ein Carmen, dessen Heldin eine menschgewordene Blume ist, welche liebt, heiratet und endlich, man weiß nicht recht warum, von der Elfenkönigin unter die Engel aufgenommen wird. Kaum begreifen wir, wie Schumann dies fade Produkt gezierter Goldschnittlitteratur anziehen konnte, ihn, der einige Jahre vorher sich geäußert: „Schwache Worte zu komponieren ist mir ein Greuel; ich verlange keinen großen Dichter, aber eine gesunde Sprache und Gesinnung.“ Horn war thöricht und eingebildet zu glauben, an dem geringen Erfolg, den das Werk bei den ersten Aufführungen davontrug, sei die „in der Auffassung verfehlte“ Musik des Meisters schuld. Diese gehört nun freilich nicht zu seinen besten Leistungen, enthält aber immerhin gar manche reizvolle Nummer. Derselbe Dichter richtete ihm auch die Uhlandsche Ballade: Der Königssohn (op. 116) für seine Experimente her, Pohl im folgenden Jahre Des Sängers Fluch (op. 139). Darnach kommt der Geibelsche Romanzenkranz Vom Pagen und der Königstochter (op. 140) an die Reihe und schließlich 1853 das Glück von Edenhall (op. 143) von seinem Hausarzte Dr. Hasenclever bearbeitet. Das Prinzip dieser zwischen Epos und Drama schwankenden Gattung, wie es in op. 139 am deutlichsten ausgeprägt erscheint, besteht darin, daß der erzählende Teil des Gedichtes einer gewissen Stimme übertragen, alles Übrige jedoch, nötigenfalls mit Hilfe von beträchtlichen Texterweiterungen, zu[S. 80] Sologesang, Duett, Terzett oder Chor umgestaltet wird, je nachdem es die Situation erfordert. So entwarf Schumann zu „des Sängers Fluch“ folgendes Schema:

Nr. 1. Chor mit Solis.
Es stand in alten Zeiten – blühender Genoß.

Nr. 2. Duettform (etwa zehn Zeilen).
Alter und Jüngling.
Nun sei bereit – steinern Herz.

Nr. 3. Recitativ (Sopran).
Schon stehen – zum Ohre schwoll.

Ensemble.
Alter, Jüngling, König, Königin, Chor.
(Breit auszuführen).

Nr. 4. Recitativ.
Und wie vom Sturm zerstoben – Gärten gellt.

Nr. 5. Harfner.
Weh euch!

Nr. 6. Chor.
Der Alte hat’s gerufen – Das ist des Sängers Fluch.

Pohl legt nun den beiden Sängern ganze Uhlandsche Lieder in den Mund und der Chor drückt seine Ergriffenheit mit dem, zu diesem Zwecke veränderten Verse: „Wie schlägt der Greis die Saiten, so wundervoll und mild“ aus. Ferner wird der Königin ein früheres, zärtliches Verhältnis zum Jünglinge insinuiert. Die beiden sind so unvorsichtig, im Angesichte des ganzen Hofes ein langes Liebesduett anzustimmen, worauf der König in begreiflicher Entrüstung den kecken Troubadour mit den Worten: „Stirb feiger Sklavensohn!“ niedersticht. Daß Schumann die poetischen Sünden eines unerfahrenen Kunstnovizen für gut befinden, ja sogar[S. 81] veranlassen konnte, zeugt gewiß von einer bedeutenden Trübung seines einst so klaren, richtigen Blickes.

Im März 1852 gab das Schumannsche Ehepaar unter großem Zulauf auswärtiger Musiker (Liszt, Robert Franz, Joachim, Meinardus u. a.) eine Anzahl von Konzerten in Leipzig, doch vermochten selbst vor diesem wohlgesinnten Publikum gerade die letzten Werke keinen rechten Erfolg zu erringen. Denn selten nur erhellt in ihnen ein Blitz, manchmal wohl ein fernes Wetterleuchten des Genies das lastende Dunkel. Müde und abgespannt kehrte der Meister nach Düsseldorf zurück, an dem Männergesangsfest (im August) beteiligte er sich nur wenig und eine Kur in Scheveningen, wo er mit seinem alten Freunde Verhulst das Wiedersehen feierte, brachte nur vorübergehende Besserung. Von seinem sonderbaren Zustand giebt eine Erinnerung des Malers Bendemann an eine Abendgesellschaft, bei welcher auch Schumann zugegen war, interessanten Bericht: „Nach dem Essen trug Klara einige Klavierstücke vor. Schumann hatte sich unterdes seiner Gewohnheit nach in ein Nebenzimmer zurückgezogen. Seine Frau, die immer sehr besorgt um ihn war, ging nach Beendigung ihrer Vorträge zu ihm hin. Ich begleitete sie. Als wir eintraten, schrak er aus seinem träumerischen Versunkensein empor und fragte: Wer hat da gespielt? Ich merkte, wie die Frage Frau Schumann ins Herz schnitt. Aber Robert, ich habe ja gespielt, erwiderte sie mit bebender Stimme. So warst du das!? gab Schumann gleichgültig zurück und versank wieder in seine Meditationen. Die sonderbaren Worte hatten die liebe Frau so angegriffen, daß sie förmlich unwohl wurde und den Wunsch aussprach, nach Hause zu gehen. Schumann hatte darnach nur ein kurzes: Warum denn? Es ist ja ganz nett hier! – Aber bester Schumann, wenn Ihre Frau unwohl ist, müssen Sie sie doch nicht zurückhalten, sagte ich, mich ins Mittel legend. Da brach er denn auf. Am andern Morgen aber empfing ich einen Brief von ihm,[S. 82] worin er sich ziemlich beleidigt über meine Einmischung aussprach.“ (Schrattenholz, E. Bendemann). Über seinen damaligen Geisterglauben erzählt ein anderer Freund, Wasiliewski, Folgendes: „Als ich im Mai 1853 eines Tages in Schumanns Zimmer eintrat, lag er auf dem Sofa und las in einem Buche. Auf mein Befragen, was der Inhalt des letzteren sei, erwiderte er mit gehobener Stimme: ‚O! Wissen Sie noch nichts vom Tischrücken?‘ ‚Wohl!‘ sagte ich in scherzendem Tone. Hierauf öffneten sich weit seine für gewöhnlich halbgeschlossenen Augen. Die Pupille dehnte sich krampfhaft auseinander und mit eigentümlich geisterhaftem Ausdrucke sagte er langsam: ‚die Tische wissen alles.‘ Als ich diesen drohenden Ernst sah, ging ich, um ihn nicht zu reizen, auf seine Meinung ein, infolge dessen er sich beruhigte. Dann rief er seine zweite Tochter herbei und fing an mit ihr und einem kleinen Tische zu experimentieren, wobei er ihn auch den Anfang der C-mollsymphonie von Beethoven markieren ließ.“ Doch konnte Schumann zu gewissen Zeiten auch recht umgänglich, ja wohl aufgeräumt sein. Beim großen niederrheinischen Musikfest (Pfingsten 1853) that er sich als Dirigent sogar wieder hervor und brachte nebst der umgearbeiteten D-mollsymphonie auch eine neu komponierte Festouvertüre über das Rheinweinlied mit Gesang (Soli und Chor) unter vielem Beifall zur Aufführung. Denkwürdig ist sodann sein Verhältnis zu Johannes Brahms, der an ihn durch Joachim empfohlen war. Schumann, die außergewöhnliche Begabung des zwanzigjährigen Künstlers erkennend, griff anerkennungsfreudig wie immer, noch einmal zur Feder und proklamierte ihn in der Brendelschen Zeitschrift – nicht als vielverheißenden Jünger, sondern als „starken Streiter“ und Meister, der berufen sei, „den höchsten Ausdruck unserer Zeit in idealer Weise auszusprechen.“ Brieflich bezeichnet er ihn als den, „der kommen mußte“, als „einen jungen Aar“, welcher „die größte Bewegung in der musikalischen Welt hervorrufen[S. 83] werde“. Selbst wer diesem enthusiastischen Preise nicht in ganzem Umfange beipflichten kann, muß zugeben, daß Brahms unter den absoluten Musikern der letzten Zeit entschieden und verdientermaßen den ersten Platz sich erobert hat. Kurz, der „blonde Johannes“ war Schumanns erklärter Liebling von Stund an. Oft gedachten die beiden Künstler bei ihrem Beisammensein auch des fern weilenden, aber zum Konzerte erwarteten Freundes Joachim, ja, der stille, schweigsame Robert schwang sich gar einmal zu folgendem Toast in Charadenform auf: „Drei Silben; die erste liebte ein Gott, die zwei anderen lieben viele Leser, das Ganze lieben wir alle; das Ganze und der Ganze sollen leben!“ (Jo-achim). Auch existiert eine Violinsonate, welche er, Brahms und der junge Musiker Albert Dietrich dem berühmten Geigenvirtuosen zu Ehren geschrieben haben. Sie wurde ihm nach seiner Ankunft in Düsseldorf vorgespielt und richtig erkannte er den Verfasser jedes einzelnen Satzes. Später ersetzte Schumann die zwei fremden Sätze durch eigene Musik und gab die Komposition als (op. 131) heraus.

Leider zählten solche Perioden geistiger Frische nur nach Tagen. In demselben Monate (Oktober), in welchen der Verkehr mit Brahms fällt, nahmen auch die Abonnementskonzerte ihren Anfang und schon beim ersten zeigte es sich deutlich, daß Schumann seiner Aufgabe als Dirigent nicht mehr gewachsen sei. Man bat ihn, das Dirigieren zur Schonung seiner Gesundheit wenigstens vorläufig dem zweiten Kapellmeister zu überlassen, beleidigte aber durch dieses vielleicht nicht genug schonend vorgebrachte Ansinnen den reizbaren Meister derart, daß er seine Stelle ohne Verzug niederlegte.

Er wandte Düsseldorf den Rücken und begab sich mit Klara auf eine Konzerttour nach Holland. Da durfte er denn, mit Ehren überhäuft, die ihm vermeintlich zugefügten Kränkungen vergessen. „Das holländische Publikum,“ schreibt er frohbewegt, „ist das enthusiastischste, die Bildung im[S. 84] ganzen dem Besten zugewendet. Überall hört man neben den alten Meistern auch die neuen. So fand ich in Hauptstädten Aufführungen meiner Kompositionen vorbereitet (der dritten Symphonie in Rotterdam und Utrecht, der zweiten in Haag und Amsterdam, auch der Rose in Haag), daß ich mich nur hinzustellen brauchte, um sie zu dirigieren. Ich habe zu meiner Verwunderung gesehen, daß meine Musik hier beinahe heimischer ist als im Vaterlande.“

Am 22. Dezember traf das Künstlerpaar wieder zu Hause ein, mit dem Vorsatz, die leidige Stadt im Laufe des kommenden Frühlings für immer zu verlassen. Zwei litterarische Pläne beschäftigten den Meister fortan: Zuerst die Herausgabe seiner gesammelten Aufsätze in Buchform,[9] wobei es ihm eine Freude war zu bemerken, daß er in der langen Zeit, seit über zwanzig Jahren, von den damals ausgesprochenen Ansichten fast gar nicht abgewichen sei; dann eine Zusammenstellung aller Dichtersprüche über Musik von den ältesten Zeiten an, unter dem Titel „Dichtergarten“. An der Vollendung dieser Arbeit verhinderte ihn jedoch sein neuerdings ausbrechendes Leiden.

Becker erzählt, daß Schumann einmal im Gasthause plötzlich die Zeitung weggelegt habe mit den Worten: „Ich kann nicht mehr lesen; ich höre fortwährend A.“ Solche Sinnestäuschungen kehrten jetzt mit doppelter Stärke wieder. Des Nachts erscheinen ihm Schubert und sein lieber Mendelssohn und singen ihm eine rührende Melodie vor, bis er vom Lager springt und sie aufzeichnet.[10] Geisterstimmen tönen ihm entgegen, bald mild und freundlich, bald drohend und vorwurfsvoll. Eine furchtbare Angst ergreift den Be[S. 85]unruhigten, während Klara durch vierzehn bange Nächte und Tage alles aufbietet, um die quälenden Gedanken des Gatten zu zerstreuen. Umsonst! Am Fastnachtsmontag, am 17. Februar 1854, entfernt er sich heimlich aus dem Hause, eilt auf die Rheinbrücke und springt, seinen peinlichen Zustand zu enden, in den eisigen Strom. Aber anwesende Schifferknechte fischen ihn noch lebendig wieder heraus: einen Wahnsinnigen. Man brachte ihn am 4. März in die Privatheilanstalt des Dr. Richarz zu Endenich bei Bonn.

Ererbte Disposition und übermäßige Anstrengung des Geistes – das gaben die Ärzte als Ursache der Krankheit an. Allein sie erklären damit nicht alles. Schumann war ein großer, kräftiger, gesund aussehender Mann, dessen Leben im ganzen glücklich genannt werden darf. Alles, was er wünschte, hatte er errungen, Freundschaft, Liebe, Künstlerschaft; nie hatte ihm die Sorge ums tägliche Brot ihr bleiches Antlitz gewiesen. Bedenkt man, wie andere Künstler schwach an Körper, bettelarm, mit wundem Herzen durch die Welt gewandelt sind, ebenso produktiv, vielleicht noch produktiver als unser Meister, ohne dabei dem Wahnsinn verfallen zu sein, so muß man einräumen, daß es hier eine besondere Bewandtnis gehabt habe. Fragen wir darum nicht weiter die Medizin, sondern lieber einen mitfühlend verstehenden Genius – Grillparzer. Und dieser sagt uns mit ausdrücklichem Bezug auf Schumann: „Ich meine immer, ein Künstler, der wahnsinnig wird, sei im Kampfe gegen seine Natur gelegen.“ Herrlicher Tiefblick des Dichters! Wie beschämt er die Instrumente des secierenden Gelehrten, welche nur über Gehirnentartung, Gefäßerweiterung und dergleichen Aufschluß zu geben wußten. Grillparzer, der Schumann bloß einmal flüchtig gesehen, löst uns durch einen scharfen Hieb seines Intellekts den gordischen Knoten der Schumannfrage und führt uns zur Erkenntnis, daß nicht das Übermaß des Schaffens, sondern das Schaffen gegen seine Natur und Eigenart diesen Geist erschöpft und zer[S. 86]rüttet habe. Im Verlaufe unserer Darstellung wurde dieses Moment schon mehrmals hervorgehoben.

Zu Endenich lebte Schumann meist in einem Zustande tiefster melancholischer Depression. Manchmal trat wieder eine so bedeutende Besserung ein, daß man sogar auf völlige Genesung hoffen zu können glaubte: dann verschwand der irre Blick aus seinen Augen, er musizierte und schrieb an Familie und Verleger. Doch am Beginn des Sommers 1856 ging es mit ihm merklich zu Ende. Seine Freunde, die in treuer Anhänglichkeit oft zum Krankenhaus wanderten, um Nachrichten einzuholen, kamen mit immer traurigerer Botschaft heim. Die einzige Beschäftigung dieses einst so bedeutenden Geistes bestände darin, sich in einem, von Brahms geschenkten Atlas eingebildete Reisen zusammenzusuchen. Am 29. Juli um vier Uhr nachmittags verschied er sanft in den Armen seiner Gattin. Sie und alle, die Schumann liebten, fühlten sich erleichtert: er war ja befreit von schwerem Leiden.

Die Nachricht von Schumanns Tode durcheilte Bonn und die anderen rheinischen Städte in wenigen Stunden. Auf Straßen und Plätzen wurde man darauf angeredet, ob man die Trauerkunde schon vernommen. Von fern und nah eilten die Verehrer des Meisters zu seinem Begräbnis, Brahms, Joachim, Dietrich gingen barhaupt hinter dem Sarge, Hiller sprach die Grabrede und die Bevölkerung Bonns war in Scharen herbeigeströmt, um den Leichenzug zu sehen, als würde ein König beerdigt. Auf dem Bonner Kirchhof vor dem Sternenthor, nicht weit von Vater Arndt, ruht jetzt der müde Sänger. Dort hat ihm im Mai 1880 die Liebe seiner Freunde ein würdiges Denkmal errichtet.

[8] Bekannte Irrenanstalt.

[9] Erschienen bei Wigand, 1854. Später ging das Verlagsrecht an Breitkopf und Härtel über. Neue Ausgabe: Universal-Bibliothek Nr. 2472/73. 2561/62. 2621/22.

[10] Johannes Brahms hat über dieses im Nachlasse des Meisters vorgefundene Thema sehr schöne Variationen geschrieben (op. 23).

[S. 87]

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