ARNE

Erstes Kapitel

Dort unten zwischen zwei Felsen war eine tiefe Schlucht; durch diese Schlucht wand sich schwerfällig über Geröll und Steine ein wasserreicher Fluß. Hoch und steil stieg es zu beiden Seiten an, und die eine Felswand war ganz nackt; unten aber, so nahe am Fluß, daß im Frühling und im Herbst das Wasser ihn benetzte, drängte sich ein prächtiger Wald zusammen, schaute in die Höhe und schaute vor sich und konnte weder hierhin, noch dahin.

"Wie wär's, wenn wir den Felsen bekleideten?" sagte eines Tages der Wacholder zu einer fremdländischen Eiche, der er näher stand als allen andern. Die Eiche blickte nach unten, um dahinterzukommen, wer da eigentlich spreche; dann sah sie wieder empor und schwieg. Der Fluß ging so schwer, daß er schäumte; der Nordwind fegte durch die Schlucht und heulte in den Klüften; der nackte Felsen neigte sich schwer nach vorn und fror;—"wie wär's, wenn wir den Felsen bekleideten?" sagte der Wacholder zu der Fichte an seiner andern Seite. "Wenn einer es tun soll, müßten wir es wohl sein", sagte die Fichte; sie faßte sich in den Bart und sah zu der Birke hinüber; "was meinst Du dazu?"—Die Birke aber lugte bedächtig zu dem Felsen empor; so schwer neigte er sich über sie, daß sie kaum atmen zu können meinte; "wir wollen uns in Gottes Namen ans Werk machen", sagte die Birke, und wenn sie auch nicht mehr als drei waren, so übernahmen sie doch die Aufgabe, den Felsen zu bekleiden. Der Wacholder ging voran.

Als sie ein Stück gegangen waren, begegneten sie dem Heidekraut. Der Wacholder wollte gerade dran vorbei. "Nein, laß das Heidekraut mitgehen", sagte die Fichte. Und das Heidekraut voran. Bald fing der Wacholder an abzurutschen. "Halt Dich an mir fest", sagte das Heidekraut. Das tat der Wacholder, und wo nur ein winziger Riß war, steckte das Heidekraut den Finger hinein, und wo es erst den Finger fest hatte, bekam der Wacholder die ganze Hand hinein. So krochen und krabbelten sie hinan, die Fichte mühselig hinterher, und die Birke auch. "Es ist ein herrliches Werk", sagte die Birke.

Der Felsen aber begann zu überlegen, was das wohl für Kruppzeug sein mochte, das an ihm in die Höhe kletterte. Und als er ein paar hundert Jahre darüber nachgedacht hatte, schickte er einen kleinen Bach hinunter, der es sich ansehen sollte. Es war noch im Vorfrühling und der Bach noch schmal, als er an das Heidekraut kam. "Liebes gutes Heidekraut, willst Du mich nicht durchlassen; ich bin so klein", sagte der Bach. Das Heidekraut hatte es sehr eilig, hob sich nur ein bißchen und arbeitete weiter. Der Bach drunter durch und vorwärts. "Lieber guter Wacholder, willst Du mich nicht durchlassen? Ich bin so klein." Der Wacholder sah ihn scharf an, aber wenn das Heidekraut ihn durchgelassen hatte, konnte er es ja auch tun. Der Bach drunter durch und vorwärts; er kam jetzt an die Stelle, wo die Fichte schnaufend die Höhe hinanstieg. "Liebe gute Fichte, willst Du mich nicht durchlassen? Ich bin so klein", sagte der Bach, küßte der Fichte die Füße und schmeichelte sich bei ihr ein. Da wurde die Fichte verlegen und ließ ihn durch. Die Birke aber machte Platz, noch ehe der Bach etwas sagte. "Hihihi", kicherte der Bach und schwoll an. "Hahaha", lachte der Bach und schwoll noch mehr an. "Hohoho", brüllte der Bach und warf Heidekraut und Wacholder und Fichte und Birke auf die Nase und trug sie auf seinem Rücken durch die hohen Berge. Der Felsen stand viel hundert Jahre und dachte nach, ob er an diesem Tage wohl gelächelt hatte.

Es war klar: der Felsen wollte nicht bekleidet sein. Das Heidekraut ärgerte sich so, daß es ganz grün wurde, und dann zog es von dannen. "Nur guten Mut!" sagte das Heidekraut.

Der Wacholder kauerte an der Erde und sah auf das Heidekraut; und er kauerte so lange da, bis er ganz aufrecht saß. Er kraute sich die Haare, machte sich auf den Weg und biß sich so fest, daß er meinte, der Felsen müsse es fühlen. "Willst Du mich nicht, so will ich Dich." Die Fichte krümmte ihre Zehen, um zu fühlen, ob sie wohl heil seien, dann hob sie den einen Fuß hoch, der war heil, besah dann den andern, der war auch heil, dann alle beide. Sie untersuchte erst, wo sie gegangen war, dann wo sie gelegen hatte, und schließlich wo sie jetzt gehen mußte. Dann schlenderte sie los und tat, als wäre sie ihr Lebtag nicht gefallen. Die Birke hatte sich gräßlich schmutzig gemacht; sie stand jetzt auf und putzte sich. Und dann ging's weiter, schneller und schneller, vorwärts und seitwärts, in Sonnenschein und Regenwetter. "Was ist denn da nur los?" sagte der Felsen, wenn die Sommersonne ihn beschien, wenn der Tau glitzerte und die Vögel sangen, wenn die Waldmaus piepte und der Hase sprang und das Wiesel sich kreischend versteckte.

Dann kam der Tag, da das Heidekraut mit einem Auge über den Bergrand sehen konnte. "Aber nein, nein, nein!" sagte das Heidekraut,—und weg war es. "Meine Güte, was mag das Heidekraut bloß sehen?" sagte der Wacholder und kam so weit heran, daß er hinüberschauen konnte. "Aber nein, nein!" rief er und war weg. "Was hat denn der Wacholder heute?" sagte die Fichte und machte ganz lange Schritte in der Sonnenhitze. Bald konnte sie sich denn auch auf die Zehen stellen und hinüberlugen. "Nein, so was!" Zweige und Nadeln sträubten sich ihr vor Verwunderung. Sie kletterte weiter, kam oben an und weg war sie. "Was mögen all die andern da sehen, bloß ich nicht?" sagte die Birke, hob ihr Kleid sorglich hoch und trippelte hinterher. Sie tauchte gleich mit dem ganzen Kopf über dem Bergrand auf. "A—a—ah!—da steht ja wohl ein ganzer Wald von Fichten und Heidekraut und Wacholder und Birken oben auf der Höhe und wartet auf uns", sagte die Birke, und ihre Blätter zitterten im Sonnenschein, daß der Tau sprühte. "Ja, so geht's, wenn man ans Ziel kommt", sagte der Wacholder.

Zweites Kapitel

Oben in Kampen wurde Arne geboren. Seine Mutter hieß Margit und war das einzige Kind auf dem Pachthof Kampen. In ihrem achtzehnten Jahr blieb sie einmal auf einem Tanz zurück; ihre Begleiter waren schon fort, und da dachte Margit, der Nachhauseweg würde nicht länger werden, wenn sie noch einen Tanz abwarte. Und so geschah es, daß Margit so lange dablieb, bis der Spielmann, Schneider Nils, plötzlich die Geige weglegte, wie er immer tat, wenn er betrunken war, die andern trällern ließ, sich das schönste Mädel holte, die Füße so sicher aufsetzte wie die Takte in einem Lied, und mit dem Stiefelabsatz dem Längsten, der da war, den Hut vom Kopf herunterholte.—"Ho!" schrie er dabei.—

Als Margit an diesem Abend nach Hause ging, spielte der Mond so wunderbar schön auf dem Schnee. Als sie in die Kammer kam, wo sie schlief, mußte sie noch einmal aus dem Fenster sehen. Sie zog das Mieder aus und blieb noch eine Weile so stehen. Da merkte sie, daß sie fror, zog sich schnell aus und kroch tief unter ihre Felldecke. In dieser Nacht träumte Margit von einer großen roten Kuh, die sich auf ihr Feld verlaufen hatte. Sie sollte sie hinausjagen, aber wie sie sich auch abmühte, sie konnte nicht vom Fleck kommen. Die Kuh stand ganz ruhig da und fraß so lange, bis sie satt und rund war, und inzwischen schaute sie immer einmal aus großen, schweren Augen zu ihr hin.

Als das nächste Mal wieder Tanz im Dorf war, war auch Margit wieder da. Sie mochte den Abend nicht tanzen; sie saß also und lauschte dem Spiel, und es schien ihr ganz merkwürdig, daß auch die andern nicht mehr Lust dazu hatten. Aber als es später wurde, stand der Spielmann auf, um zu tanzen. Er ging plötzlich geradenwegs auf Margit Kampen zu. Sie wußte kaum, wie ihr geschah, aber sie tanzte mit Schneider Nils.

Bald wurde das Wetter wärmer, und man tanzte nicht mehr. In diesem Frühjahr nahm Margit sich so sehr eines kleinen Lammes an, das ihnen krank geworden war, daß die Mutter es beinahe übertrieben fand. "Es ist doch bloß ein Lamm", sagte die Mutter. "Ja, aber es ist krank", sagte Margit.

Sie war lange nicht in der Kirche gewesen; sie gönne es lieber der Mutter, sagte sie, und einer müsse doch zu Hause bleiben. Eines Sonntags im Sommer, als das Wetter so schön war, daß das Heu sehr gut einen Tag draußen bleiben konnte, sagte die Mutter, jetzt könnten sie ruhig beide gehen. Margit konnte nicht viel darauf sagen und zog sich an, aber als sie so weit kamen, daß sie die Kirchenglocken hören konnten, fing sie zu weinen an. Die Mutter wurde leichenblaß; sie gingen weiter, die Mutter voran, sie hinterher, hörten die Predigt, sangen die Choräle bis zu Ende mit, hörten das Gebet mit an und ließen es ausläuten, bis sie gingen. Aber als sie wieder zu Hause waren, nahm die Mutter Margits Kopf zwischen beide Hände und sagte: "Verbirg mir nichts, mein Kind!"

Wieder kam der Winter, und Margit tanzte nicht. Aber Schneider Nils spielte auf, trank mehr als je und schwenkte immer zum Schluß das schönste Mädel in der Runde. Es wurde als Tatsache erzählt, daß er kriegen könne, welche er wolle von den stattlichsten Bauerntöchtern im Kirchspiel; einige fügten hinzu, Eli Böen habe selbst den Freiwerber für ihre Tochter Birgit gemacht, die sich in Liebe zu ihm verzehrte.

Eben zu dieser Zeit war's, als die Hausmannstochter von Kampen ein Kind über die Taufe hob; es bekam den Namen Arne, Schneider Nils aber sollte der Vater sein.

Am Abend dieses selben Tages war Nils auf einer großen Hochzeit; da trank er sich voll. Er weigerte sich, zu spielen, und tanzte immerzu und litt beinahe keinen andern auf dem Tanzboden. Als er aber zu Birgit Böen trat und sie aufforderte, schlug sie es ihm ab. Er lachte kurz auf, drehte sich auf dem Absatz herum und bekam die erste beste zu packen. Sie sträubte sich. Er blickte zu ihr hinunter; es war eine kleine Dunkle, die lange dagesessen und zu ihm hingeglotzt hatte und jetzt ganz blaß war. Er bog sich ein wenig zu ihr hinunter und flüsterte: "Magst Du mit mir nicht tanzen, Karen?" Sie antwortete nicht. Er fragte noch einmal. Da antwortete sie ebenso leise, wie er fragte: "Der Tanz könnte weiter gehen, als mir lieb wäre."—Er trat langsam von ihr zurück, aber als er mitten im Saal stand, machte er einen Luftsprung und tanzte allein den Halling. Keiner außer ihm tanzte; alle standen schweigend da und sahen zu.

Dann ging er hinaus auf die Scheunendiele, warf sich auf die Erde und weinte.

Margit saß mit ihrem kleinen Jungen zu Hause. Sie hörte von Nils, er jage von Tanz zu Tanz, schaute den Jungen an und weinte, schaute ihn wieder an und war froh. Das erste, was sie dem Knaben beibrachte, war Papa zu sagen; aber das sagte sie nur, wenn die Mutter, oder vielmehr die Großmutter, wie sie fortan hieß, nicht in der Nähe war. Die Folge davon war, daß das Kind zu seiner Großmutter Papa sagte. Es kostete Margit viel Mühe, ihm das wieder abzugewöhnen, und sie trug hierdurch dazu bei, frühzeitig sein Begriffsvermögen zu bilden. Er war noch ziemlich klein, als er schon wußte, daß Schneider Nils sein Vater sei,—und als er in das Alter kam, wo alles Abenteuerliche einen Reiz hat, erfuhr er auch, was für ein Kerl Schneider Nils eigentlich sei. Die Großmutter hatte streng verboten, auch nur seinen Namen zu nennen; ihr Hauptehrgeiz war, aus Kampen einen Bauernhof zu machen, damit die Tochter und der Junge keine Sorgen hätten. Sie nutzte die bedrängte Lage des Besitzers aus, erwarb die Wirtschaft, bezahlte jedes Jahr ab und stand der Arbeit wie ein Mann vor, war sie doch seit vierzehn Jahren Witwe. Kampen war ein großer Hof und wurde noch immer erweitert, so daß er jetzt schon vier Kühe und sechzehn Schafe ernährte und halben Anteil an einem Pferd hatte.

Schneider Nils trieb sich unterdes in der Gegend herum; seine Einnahmen hatten abgenommen, teils weil er weniger darauf ausging, teils auch, weil er nicht mehr so war wie früher. Er legte sich immer mehr aufs Geigenspiel, und die Gelage und damit die Schlägereien und schlimmen Tage wurden häufiger. Es gab Leute, die ihn klagen gehört haben wollten.

Arne war vielleicht sechs Jahr alt, als er eines Tags im Winter im Bett herumrutschte; die Bettdecke war das Segel, und er steuerte mit einer großen Kelle. Die Großmutter saß in der Stube und spann, hatte so ihre Gedanken und nickte manchmal vor sich hin, als stünde das fest, was sie dachte. Da merkte der Junge, daß er unbeobachtet war, und da sang er die Weise vom Schneider Nils, so wie er sie gelernt hatte, in ihrer ganzen Roheit und Wildheit:

    So du nicht gestern erst kommen bist,
    Hast du vom Schneider Nils wohl gehört, und wie stark er ist.

    So du nicht bloß über Nacht her verschlagen,
    Ward dir wohl kund, wie er warf den Knut Storedragen.

    Den Ola-Per hat er auf sein Scheundach gehoben,—
    "'s nächste Mal bleibst du drei Wochen droben!"

    Hans Bugge war ein Mann, von Ansehn nicht gering,
    Land und Strand war nicht sicher, wo sein Fuß ging.

    "Hallo, Schneider Nils, wo pflögst du gern der Ruh?
    So spuck' ich auf den Fleck und leg' dich selber dazu!"

    "Du komm nur erst heran, so werd' ich dir's sagen!
    Meinst, es langt schon dein Maul, einen Mann zu erschlagen!"

    Beim ersten Gang war noch nichts gebrochen.
    Beide Kerle standen noch fest in den Knochen.

    Beim zweiten Gang strauchelte Bugge-Hans.
    "Wirst müd', Bugge? He, 's ist ein harter Tanz!"

    Beim dritten Gang stürzt' er, spie Blut auf die Diel'—
    "Hast wacker gespuckt, Kerl!"—"Verdammt! Wie ich fiel!"

Weiter sang der Junge nicht; es gab noch zwei Verse, die die Mutter ihn wohl nicht gelehrt hatte:

    Sahst du je eines Baums Schatten auf jungem Schnee?
    Sahst du je, wie Nils eine Jungfrau anlacht, he?

    Hast du je Schneider Nils den Halling tanzen sehn?
    Bist du ein Mädel, so geh;—sonst ist's um dich geschehn.

Diese beiden Verse kannte aber die Großmutter und sie fielen ihr ein, zumal weil sie nicht gesungen wurden. Zu dem Knaben sagte sie nichts, zur Mutter aber sagte sie: "Bringe dem Jungen Deine eigene Schande nur gut bei,—vergiß die beiden letzten Verse nicht!"—

Schneider Nils war durch das Trinken so heruntergekommen, daß er nicht mehr der alte war. Die Leute meinten, es gehe mit ihm zu Ende.

Da geschah es, daß zwei Amerikaner ins Dorf kamen, und als sie hörten, in der Nähe sei eine Hochzeit, da wollten sie gleich hin, um Sitten und Gebräuche kennen zu lernen. Hier spielte Nils. Sie gaben jeder einen Taler für die Spielkasse und baten um den Halling. Niemand wollte den tanzen, so sehr auch darum gebeten wurde. Jeder einzelne bat Nils, ihn selbst zu tanzen; "er könne es doch am besten." Er weigerte sich, aber nur um so hartnäckiger wurde die Aufforderung, zuletzt wurde sie einstimmig, und das gerade hatte er gewollt. Er gab die Fiedel einem andern, zog den Rock aus, nahm die Mütze ab, trat in den Kreis und lächelte. Jetzt folgte ihm die alte Aufmerksamkeit, und das gab ihm auch die alte Kraft. Die Zuschauer drängten sich so dicht wie möglich zusammen, die hintersten kletterten auf Tische und Bänke, ein paar Mädchen standen höher als alle andern,—und die vorderste von ihnen,—die Große mit dem hellen, bräunlichschimmernden Haar und den blauen, tiefliegenden Augen unter der kräftigen Stirn und mit einem breiten Munde, der oft lächelte und sich dann immer nach einer Seite verzog,—war Birgit Böen. Nils gewahrte sie, als er zu den Deckenbalken emporsah. Die Geige setzte ein, tiefe Stille entstand, und er trat zum Tanz an. Er warf sich auf den Boden, schob sich im Takt der Musik halb auf der Seite an der Erde hin, schlenkerte mit den Beinen, warf sie ab und zu kreuzweis unter sich, sprang wieder auf, stellte sich wie zum Wurf bereit und ging dann wieder schräg wie vorhin. Die Fiedel wurde von tüchtiger Hand gestrichen. Die Weise wurde immer feuriger. Nils bog den Kopf immer weiter zurück, und plötzlich lag der Stiefelabsatz am Deckenbalken, daß der Staub herunterrieselte. Alle lachten und kreischten um ihn herum, die Mädchen hielten den Atem an. Die Melodie jauchzte dazwischen und trieb zu immer tolleren Sprüngen an. Er widerstand ihr auch nicht, bog den Körper vornüber, hüpfte im Takt, richtete sich wie zum Wurf auf, hielt sie aber nur zum Narren, kam wieder ins Schlendern, und wie es aussah, als denke er gar nicht an Springen, da donnerte sein Stiefelabsatz gegen den Deckenbalken, und noch einmal, dann ein Purzelbaum vornüber, hintenüber—und immer stand er wieder kerzengrade auf den Füßen. Jetzt mochte er nicht mehr. Die Fiedel machte ein paar kecke Läufe, ging in einen tieferen Ton über, in dem sie zitternd verhallte, und erstarb in einem einzelnen langen Strich auf der Baßsaite. Die Gruppen zerstreuten sich; lebhaftes Gespräch, in das sich Rufe und Gekreisch mischten, löste die Stille ab. Nils lehnte sich gegen die Wand; da kamen die Amerikaner mit ihrem Dolmetscher hin zu ihm und gaben ihm jeder fünf Taler. Wieder Stille.

Die Amerikaner sprachen ein paar Worte mit ihrem Dolmetscher; darauf fragte dieser, ob Nils als ihr Diener mit ihnen gehen wolle; er solle bekommen, was er verlange. "Wohin?" fragte Nils; die andern drängten sich so nahe wie möglich heran. "Hinaus in die Welt", war die Antwort. "Wann?" fragte Nils, blickte mit strahlendem Gesicht umher, begegnete Birgit Böens Augen und ließ sie nicht mehr los.—"In einer Woche, wenn wir zurückkommen", war die Antwort.—"Es kann schon sein, daß ich bis dahin bereit bin", sagte Nils und wog seine beiden Fünftalerstücke in der Hand.—Er hatte einen Arm auf die Schulter eines Mannes gestützt, der neben ihm stand, und er zitterte so, daß der Mann ihn auf die Bank setzen wollte.

"Es hat nichts auf sich", sagte Nils, machte ein paar unsichere Schritte über die Diele, trat dann fest auf, drehte sich um und bestellte einen Hoppser.

Die Mädchen standen vorn, er schaute sich lange und prüfend um, und ging dann geradenwegs auf Eine im dunklen Rock zu, und das war Birgit Böen. Er streckte ihr die Hand hin und sie gab ihm beide; da lachte er, wich zurück, nahm Eine neben ihr und tanzte übermütig mit der davon. Das Blut schoß Birgit in Hals und Gesicht. Ein großer Mann mit einem gütigen Gesicht stand hinter ihr; er nahm sie bei der Hand und tanzte mit ihr—dicht hinter Nils her. Der sah es, und es geschah vielleicht aus Versehen, daß er so heftig gegen sie antanzte, daß der Mann und Birgit mit großem Gepolter zu Fall kamen. Gelächter und Gejohle erhob sich ringsum. Birgit stand mühsam auf, ging beiseite und weinte bitterlich.

Der Mann mit dem gutmütigen Gesicht kam langsamer in die Höhe, ging aber dann gleich auf Nils zu, der immer noch tanzte. "Hör' mal einen Augenblick auf", sagte der Mann. Nils achtete dessen nicht, und da packte ihn der Mann am Arm. Nils riß sich los und sah ihn groß an. "Ich kenne Dich nicht", sagte er lächelnd. "Nein, aber jetzt wirst Du mich kennen lernen", sagte der Mann mit dem gütigen Gesicht und versetzte ihm einen Schlag gegen das eine Auge. Nils, der darauf nicht gefaßt gewesen war, stürzte mit hartem, schwerem Fall gerade auf die scharfe Kante vom Feuerherd; er wollte sich gleich wieder aufrichten, vermochte es aber nicht; ihm war das Rückgrat gebrochen.

Auf Kampen war eine große Veränderung vor sich gegangen. Die Großmutter hatte in der letzten Zeit gekränkelt; als das anfing, hatte sie emsiger als je gespart, um den Hof von Schulden frei zu machen. "Dann hast Du und der Junge soviel, wie Ihr braucht. Und läßt Du einen herein, der es Euch durchbringt, dann drehe ich mich im Grabe um." Gegen den Herbst zu hatte sie auch die Freude, daß sie mit dem letzten Rest der Schuld zum ehemaligen Haupthof hinaufhumpeln konnte, und froh war sie, als sie wieder daheim auf der Bank saß und sagen konnte: "Jetzt hab' ich's erreicht." Aber in der gleichen Stunde kam auch die Krankheit bei ihr zum Ausbruch; sie mußte ins Bett und stand nicht mehr auf. Ihre Tochter ließ sie an einem freien Platz auf dem Kirchhof begraben; sie bekam einen schönen Grabstein, auf dem ihr Name und ihr Alter standen und ein Gesangbuchvers aus dem Kingo. Zwei Wochen, nachdem sie unter der Erde lag, war aus ihrem schwarzen Sonntagskleid ein Anzug für den Knaben gemacht, und als er den anhatte, wurde ihm so feierlich zumut, als wäre die Großmutter wiedergekommen. Aus eigenem Antrieb setzte er sich vor das großgedruckte Gesangbuch, aus dem die Großmutter jeden Sonntag vorgelesen und gesungen hatte; er schlug es auf; ihre Brille lag darin. Die hatte der Junge zu ihren Lebzeiten nie anrühren dürfen; jetzt nahm er sie ängstlich in die Hand, setzte sie sich auf die Nase und sah wieder ins Buch. Es war ihm wie Nebel vor den Augen. Das ist doch merkwürdig, dachte der Junge; damit konnte die Großmutter Gottes Wort lesen. Er hielt sie hoch gegen das Licht, um zu sehen, woran es liegen könne, und—da lag die Brille in Scherben auf der Erde!

Ihm wurde angst und bange, und als im selben Augenblick die Tür aufging, meinte er, nun werde die Großmutter hereinkommen; es war aber seine Mutter, und hinter ihr her kamen sechs Männer, die unter großem Lärm und Getrampel eine Tragbahre trugen und sie mitten im Zimmer auf den Boden hinsetzten. Die Tür blieb weit hinter ihnen offen stehen, so daß es kalt in der Stube wurde.

Auf der Bahre lag ein Mann mit dunklem Haar und bleichem Gesicht; die Mutter ging weinend umher. "Legt ihn behutsam aufs Bett", bat sie und griff selbst mit zu. Wie aber die Männer ihn hineintrugen, knirschte etwas unter ihren Füßen. "Ach, das ist bloß Großmutters Brille", dachte der Junge, sagte es aber nicht.

Drittes Kapitel

Das war, wie gesagt, im Herbst. Acht Tage, nachdem Schneider Nils zu Margit Kampen gebracht war, kam von den Amerikanern die Nachricht, er möge sich bereit halten. Er wand sich gerade in furchtbaren Schmerzen und schrie, indem er die Zähne zusammenbiß: "Laß sie zur Hölle fahren!" Margit stand, als habe sie keine Antwort bekommen. Er bemerkte das, und nach einer Weile wiederholte er langsam und matt: "Laß sie—reisen!"

Zum Winter war er so weit, daß er aufrecht sitzen konnte, wenn auch seine Gesundheit für immer zerrüttet war. Als er das erstemal auf war, holte er seine Geige hervor und stimmte sie, wurde aber so aufgeregt, daß er wieder ins Bett mußte. Er war sehr wortkarg, doch umgänglich, und nach einiger Zeit fing er an, den Knaben zu unterrichten und Arbeit ins Haus zu nehmen. Hinaus kam er nicht, und mit denen, die ihn besuchten, sprach er nicht. In der ersten Zeit trug Margit ihm die Dorfneuigkeiten zu, aber er war immer verstimmt hinterher; da ließ sie es sein.

Gegen den Frühling saßen er und Margit länger als gewöhnlich nach dem Abendbrot zusammen und besprachen etwas. Der Junge wurde ins Bett geschickt. Anfang des Frühlings wurden sie von der Kanzel aufgeboten und dann in aller Stille getraut.

Er arbeitete auf dem Felde mit und machte alles verständig und
ordentlich. Margit sagte zu dem Jungen: "Wir haben Nutzen von ihm und
Freude. Nun mußt Du aber auch artig und gehorsam sein und ihm alles zu
Liebe tun."

Margit war bei ihrem Kummer doch immer recht blühend gewesen; sie hatte ein rosiges Gesicht und sehr große Augen, die noch größer aussahen, weil sie in einem dunklen Ringe lagen. Sie hatte volle Lippen, ein rundliches Gesicht und sah frisch und stark aus, obwohl sie gar nicht so große Kräfte hatte. In dieser Zeit sah sie hübscher aus als je und sang nach ihrer Art in einemfort bei der Arbeit.

Da kam ein Sonntagnachmittag, an dem Vater und Sohn fortgingen, um zu sehen, wie dies Jahr die Äcker ständen. Arne sprang um seinen Vater herum und schoß mit einem Flitzbogen; Nils hatte ihn dem Jungen selbst gemacht. So ging es bergan auf den Weg zu, der von Kirche und Pfarrhaus in das sogenannte Breite Dorf hinunterführte. Nils setzte sich auf einen Stein am Wegrand und versank in Gedanken, sein Junge schoß den Weg entlang und sprang dem Pfeil nach, in der Richtung auf die Kirche zu. "Nicht zu weit", sagte der Vater. Wie der Knabe mitten im besten Spiel war, blieb er lauschend stehen. "Vater, ich höre Musik." Der lauschte auch; man hörte Geigenklänge, zuweilen übertönt von Rufen und wildem Lärm, dabei beständig Wagengerassel und Hufschlag; es war ein Brautzug, der von der Kirche heimkehrte. "Komm her, Junge", rief der Vater, und Arne hörte am Ton, daß er schnell kommen müsse. Der Vater war eilig aufgestanden und versteckte sich hinter einem dicken Baum. Der Junge hinterher;—"nicht hierher, dahin!" Der Junge hinter einen Erlenbusch.—Schon bog die Wagenreihe um den Birkenwald, sie kamen in rasender Fahrt, die Pferde schäumten, die betrunkenen Menschen kreischten und johlten. Vater und Sohn zählten die Wagen; es waren im ganzen vierzehn. Im ersten saßen zwei Spielleute, und der Brautmarsch klang durch die klare Luft; ein Bursch stand hinten und lenkte die Pferde. Dann kam die Braut mit der hohen Krone, die in der Sonne schimmerte; sie lächelte, und dabei verzog sich der Mund nach der einen Seite; neben ihr saß ein Mann im blauen Anzug mit einem gütigen Gesicht. Dann kam das Gefolge, die Männer saßen den Frauen auf dem Schoß, hintenauf saßen Kinder, Betrunkene fuhren zu Sechsen in einem Einspänner, der Marketender saß im letzten Wagen und hatte ein Faß mit Branntwein auf dem Schoß. Sie zogen unter Gesang und Gejohle vorbei und jagten in gewaltiger Eile die Anhöhe hinunter; das Geigenspiel, das Gekreisch und das Wagengerassel klang aus der Staubwolke hinter ihnen heraus; dann trug der Wind einen vereinzelten Aufschrei herüber, dann nur noch ein dumpfes Dröhnen und dann nichts mehr. Nils stand noch immer unbeweglich; der Junge kam zuerst wieder zum Vorschein.

"Wer war das, Vater?" Aber der Junge fuhr zusammen, denn sein Vater machte ein so böses Gesicht. Arne stand ganz still und wartete auf die Antwort; dann stand er immer noch still, weil er keine bekam. Schließlich, schließlich wurde ihm die Zeit lang, und er wagte ein: "Wollen wir jetzt gehen?" Nils stand noch immer, als blicke er dem Brautzuge nach, raffte sich jetzt zusammen und ging; Arne hinterher. Er legte einen Pfeil auf den Bogen, schoß ihn ab und lief hinterdrein. "Tritt das Gras nicht 'runter", sagte Nils kurz. Der Junge ließ den Pfeil liegen und kehrte um. Nach einer Weile hatte er das wieder vergessen, und als sein Vater einmal still stand, legte er sich hin und schlug Rad. "Tritt mir das Gras nicht 'runter, hab' ich gesagt"; dabei wurde er am Arm gepackt und in die Höhe gerissen, als solle der Arm aus dem Gelenk gehen. Fortan ging er ganz still hinterher.

In der Tür wartete Margit auf sie; sie kam gerade aus dem Kuhstall, wo sie tüchtige Arbeit gehabt haben mußte, denn ihr Haar war zerzaust, ihr Hemd nicht sauber und ihr Kleid auch nicht; aber sie stand in der Tür und lachte: "Ein paar Kühe hatten sich losgerissen und trieben allerhand Unfug; jetzt sind sie wieder fest."—"Du könntest Dich Sonntags auch wohl ein bißchen ordentlich anziehen", sagte Nils, indem er an ihr vorbei in die Stube ging. "Ja, jetzt habe ich Zeit, mich anzuziehen, wo meine Arbeit getan ist", sagte Margit und ging hinterher. Sie fing auch gleich damit an und sang, während sie sich putzte. Nun sang Margit recht hübsch, aber bisweilen war ihre Stimme ein bißchen hart. "Hör' mit dem Gegröhle auf", sagte Nils; er hatte sich der Länge nach aufs Bett geworfen. Margit hielt inne. Da kam der Junge hereingestürmt: "Hier ist ein großer schwarzer Hund auf dem Hof, ein häßlicher Köter—!"—"Halt's Maul, Junge", sagte Nils vom Bett her und streckte einen Fuß hervor, um damit auf den Boden zu stampfen: "Den Bengel muß der Teufel reiten", brummte er dann und zog den Fuß wieder in die Höhe. Die Mutter drohte dem Knaben. "Du siehst doch, daß Vater nicht gut aufgelegt ist", meinte sie. "Möchtest Du etwas starken Kaffee mit Sirup haben?" fragte sie; sie wollte ihn gern wieder versöhnen. Das war ein Getränk, das die Großmutter sehr geliebt hatte und die andern auch. Nils mochte es gar nicht, aber er hatte es doch getrunken, weil die andern es auch taten. "Möchtest Du nicht etwas starken Kaffee mit Sirup haben?" wiederholte Margit, weil er das erstemal nicht geantwortet hatte. Nils stützte sich auf die Ellbogen und brüllte: "Meinst Du, ich will dies Gemantsch hinunterwürgen?"—Margit war höchlichst erstaunt, nahm ihren Jungen mit und ging hinaus.

Sie hatten verschiedenes draußen zu tun und kamen erst zum Abendbrot wieder hinein. Da war Nils verschwunden. Arne wurde aufs Feld geschickt, um ihn zu rufen, fand ihn aber nirgends. Sie warteten, bis das Essen beinahe kalt geworden war, aßen dann, und noch immer war Nils nicht da. Margit wurde unruhig, schickte den Jungen ins Bett und wartete. Kurz nach Mitternacht kam Nils. "Wo bist Du denn gewesen, Schatz?" fragte sie. "Was geht Dich das an?" antwortete er und ließ sich langsam auf der Bank nieder. Er war betrunken.

In der nächsten Zeit war Nils oft im Dorf, und beständig kam er bezecht heim. "Ich halt' es hier zu Hause bei Dir nicht aus", sagte er einmal, als er kam. Sie versuchte, sich mit Sanftheit zu verteidigen; da stampfte er mit den Füßen auf und hieß sie schweigen; wenn er betrunken sei, so sei es ihre Schuld; wenn er schlecht sei, so sei es auch ihre Schuld; wenn er für sein ganzes Leben ein Krüppel und ein unglücklicher Mensch sei, so sei auch das ihre Schuld, ihre und ihres verfluchten Bengels Schuld. "Warum bist Du mir beständig nachgelaufen?" sagte er schluchzend. "Was hatte ich Dir getan, daß Du mich nicht in Frieden lassen konntest?"—"Gott soll mich behüten und bewahren," sagte Margit, "ich wäre Dir nachgelaufen?"—"Ja, das bist Du!" schrie er und stand auf, und weinend fuhr er fort: "Jetzt hast Du es ja, wie Du es haben wolltest. Ich wanke jetzt hier von Baum zu Baum und sehe Tag für Tag mein eigen Grab vor Augen. Aber ich hätte in Herrlichkeit und Freuden mit der schönsten Bauerntochter im ganzen Dorf leben können; ich hätte reisen können, soweit die Sonne reicht,—hättest Du mit Deinem verdammten Bengel mir nicht den Weg versperrt." Sie versuchte wieder, sich zu verteidigen; "es sei doch auf keinen Fall die Schuld des Jungen." "Bist Du nicht still, dann kriegst Du eins!" und er schlug sie.

Wenn er am andern Tage seinen Rausch ausgeschlafen hatte, schämte er sich und war, besonders zu dem Jungen, sehr freundlich. Aber bald war er von neuem betrunken, und dann schlug er sie wieder; schließlich schlug er die Mutter beinahe jedesmal, wenn er betrunken war; der Junge weinte und jammerte, da schlug er ihn auch. Zuweilen wurde seine Reue so groß, daß er aus dem Hause mußte. In dieser Zeit lockte ihn das Tanzen wieder; wie früher spielte er dazu auf und nahm den Jungen mit, daß er ihm den Kasten trage. Da sah der Junge mancherlei. Die Mutter weinte, daß er mit mußte, wagte es aber nicht zum Vater zu sagen. "Denk an den lieben Gott und lerne nichts Schlechtes", flehte sie und liebkoste ihn. Beim Tanz aber war es sehr lustig, und zu Haus bei der Mutter war es gar nicht lustig. Er wandte sich immer mehr von ihr ab und dem Vater zu. Sie sah es und schwieg. Beim Tanz lernte er manche Weise, und die sang er nachher dem Vater vor. Dem machte es Spaß, und zuweilen brachte der Junge ihn zum Lachen. Das schmeichelte dem Jungen so, daß er sich fortan Mühe gab, soviele Lieder wie möglich zu lernen; bald merkte er sich auch, welche Art von Liedern der Vater am liebsten mochte, und bei welchen Stellen er lachte. Wenn so etwas nicht in den Liedern war, dann legte der Junge es, so gut er konnte, hinein; das gab ihm frühzeitig Übung, Worte nach einer Melodie zusammenzusetzen. Spottlieder und häßliche Dinge über Leute, die zu Ansehen und Wohlstand gekommen, waren dem Vater die liebsten, und der Junge sang sie.

Die Mutter wollte ihn abends immer gern mit in den Kuhstall nehmen; allerhand Vorwände fand er, um dem zu entgehen; wenn aber alles nichts nützte und er mit mußte, dann sprach sie gar erbaulich mit ihm von Gott und allem Guten und schloß meistens damit, daß sie ihn unter heißen Tränen in die Arme nahm und ihn bat, ihn anflehte, kein schlechter Mensch zu werden.

Die Mutter unterrichtete ihn, und der Junge war außerordentlich gelehrig. Sein Vater war ungeheuer stolz darauf und sagte ihm—besonders wenn er betrunken war—, er habe seinen Kopf.

Beim Tanz pflegte nun der Vater, wenn der Rausch ihn unterkriegte, Arne aufzufordern, den Leuten etwas vorzusingen. Er tat es und sang, unter Gelächter und Beifall, ein Lied nach dem andern; der Beifall machte dem Sohn beinahe noch mehr Spaß als dem Vater, und schließlich wollten die Lieder, die er singen konnte, gar kein Ende mehr nehmen. Besorgte Mütter, die es mitanhörten, gingen selbst zu seiner Mutter und sprachen mit ihr darüber, weil der Inhalt der Lieder nicht so war, wie er sein sollte. Die Mutter nahm sich ihren Jungen vor und verbot ihm bei Gott und allem Guten, solche Lieder zu singen, und da war es dem Jungen, als ob alles, was ihm Spaß mache, der Mutter nicht recht sei. Er erzählte zum erstenmal seinem Vater, was die Mutter gesagt hatte. Das mußte sie schwer büßen, als der Vater wieder einmal betrunken war; er sparte immer alles bis dahin auf. Da aber wurde es dem Knaben klar, was er getan hatte, und in seiner Seele bat er Gott und sie um Verzeihung, da er sich nicht überwinden konnte, es offenkundig zu tun. Die Mutter war gütig wie immer gegen ihn, und das schnitt ihm ins Herz.

Einmal vergaß er es aber. Er hatte die Gabe, alle Leute nachmachen zu können; besonders konnte er ihre Sprache und ihren Gesang nachmachen. Die Mutter kam eines Abends in die Stube, als der Junge seinen Vater damit unterhielt, und als sie wieder draußen war, kam der Vater auf den Einfall, er solle den Gesang der Mutter nachmachen. Er weigerte sich anfangs; sein Vater aber, der im Bett lag und sich vor Lachen schüttelte, bestand darauf, daß er auch nachmachen sollte, wie die Mutter sang. "Sie ist ja nicht da," dachte der Junge, "und kann es nicht hören", und er machte ihr nach, wie ihre Stimme manchmal klang, wenn sie heiser und tränenerstickt war. Der Vater lachte, daß es dem Jungen fast unheimlich wurde, und er hörte von selbst auf. Da kam die Mutter von der Küche herein, sah den Jungen lange und traurig an, holte eine Milchschüssel vom Brett und trug sie hinaus.

Ihn überlief es siedend heiß; sie hatte alles gehört. Er sprang vom Tisch, auf dem er gesessen hatte, herunter, ging hinaus, warf sich auf die Erde und hätte sich am liebsten darin begraben. Es ließ ihm keine Ruh, er stand auf und wollte weiter fort. Er ging an der Scheune vorbei, und dahinter saß die Mutter und nähte gerade an einem schönen neuen Hemd für ihn. Sie pflegte sonst, wenn sie so dasaß, ein Kirchenlied bei der Arbeit zu singen; jetzt aber sang sie nicht. Sie weinte auch nicht, sie saß nur und nähte. Da konnte Arne es nicht länger aushalten; er warf sich vor ihr ins Gras nieder, blickte zu ihr auf und schluchzte, daß er am ganzen Körper bebte. Die Mutter ließ die Arbeit sinken und nahm seinen Kopf zwischen ihre Hände. "Armer Arne", sagte sie und legte ihren Kopf an seinen. Er machte nicht den Versuch, ein Wort zu sagen, sondern weinte, wie er nie zuvor geweint hatte. "Ich wußte ja, Du bist im Grunde gut", sagte seine Mutter und strich ihm übers Haar. "Mutter, Du darfst nicht nein sagen, wenn ich Dich um etwas bitte", war das erste, was er sagen konnte. "Du weißt, das tue ich auch nicht", antwortete sie. Er versuchte, seiner Tränen Herr zu werden und dann stieß er, den Kopf in ihrem Schoß, heraus: "Mutter—sing mir etwas vor!"—"Ich kann ja nicht, mein Junge", sagte sie leise.—"Mutter, sing' mir etwas vor," flehte der Junge, "oder ich glaube, ich darf Dir nie mehr in die Augen sehen." Sie strich ihm übers Haar, schwieg aber. "Mutter, sing doch, sing, hörst Du! Sing doch!" bettelte er, "oder ich gehe so weit weg, daß ich nie mehr nach Hause kommen kann." Und während der große vierzehnjährige Junge so dalag, den Kopf in der Mutter Schoß, fing sie, über ihn gebeugt, zu singen an:

    Der du, Herr, um mein Sorgen weißt,
    Schütze mir meinen Jungen!
    Schick ihm deinen Heiligen Geist,
    Kommt er zum Strande gesprungen!
    Glatt ist der Sand, das Wasser bewegt;
    Aber wenn er den Arm um ihn legt,
    Tut ihm die Welle nicht Schaden,
    Bis du ihn rettest voll Gnaden.
    Bange sitzt die Mutter zu Haus:
    Ob ihm ein Unglück geschehen?
    Tritt in die Türe, ruft hinaus…
    Nichts ist zu hören, zu sehen.
    Tröstet sich endlich: ob hier, ob da
    Du und er, ihr seid ihm ja nah;
    Jesulein, ihm zur Seiten,
    Wird ihn nach Haus geleiten.

Sie sang mehrere Verse; Arne lag ganz still; ein wohltuender Frieden kam über ihn, und er fühlte eine erquickende Müdigkeit. Das letzte, was er deutlich hörte, war von Jesus; da tat sich eine helle Welt vor ihm auf, und ihm war, als singe da ein Chor von zwölf oder dreizehn Stimmen; die Stimme seiner Mutter hörte er aber aus allen heraus. Schönere Töne hatte er nie gehört; er bat, man solle ihn so singen lehren. Er meinte es zu können, wenn er ganz leise singe, und so sang er denn ganz leise, sang noch einmal ganz leise und immer noch leiser, und es klang schon ganz holdselig, als er vor Freude darüber mit kräftiger Stimme einsetzte, und weg war es. Er wachte auf, sah sich um und lauschte, hörte aber nichts als das ewige Rauschen des Wassers und den kleinen Bach, der mit leisem stetigen Plätschern dicht an der Scheune vorbeifloß. Die Mutter war fort; sie hatte das halbfertige Hemd und ihre Jacke ihm unter den Kopf geschoben.

Viertes Kapitel

Als nun die Zeit gekommen war, da das Vieh in den Wald auf die Weide getrieben werden sollte, wollte er es hüten. Sein Vater war dagegen; er habe bis jetzt doch noch nie das Vieh gehütet und sei jetzt schon im fünfzehnten Jahr. Er wußte aber so schön zu bitten, daß er zuletzt seinen Willen bekam, und den ganzen Frühling, Sommer und Herbst über war er nur zum Schlafen zu Hause, sonst aber den lieben langen Tag allein im Walde.

In seine Einsamkeit da oben nahm er seine Bücher mit; er las und schnitt Buchstaben in die Baumrinden; er ging sinnend und sehnsüchtig einher und sang; aber wenn er abends nach Hause kam, war der Vater häufig betrunken, mißhandelte die Mutter, verwünschte sie und das ganze Dorf, und sprach davon, daß er einmal die weite, weite Welt hätte sehen können. Da kam auch über den Jungen die Sehnsucht, in die Welt zu ziehen. Zu Hause war es schrecklich, und seine Bücher lockten ihn hinaus, und manchmal war's ihm, als locke ihn auch die Luft über den hohen Bergen.

Da geschah es, daß er im Mittsommer mit Kristian, dem ältesten Sohn des Kapitäns zusammentraf, der mit dem Knecht in den Wald gekommen war, um die Pferde nach Hause zu reiten. Er war ein paar Jahr älter als Arne, leichtherzig und lustig, unbeständig in seinen Gedanken, aber trotz allem stark an Willen. Er sprach hastig und abgerissen, am liebsten von zwei Dingen zu gleicher Zeit, ritt ungesattelte Pferde, schoß die Vögel im Fluge, fischte mit Fliegen und kam Arne wie der Inbegriff aller Vollkommenheit vor. Er hatte auch die Wanderlust und erzählte Arne von fremden Ländern, daß ringsum alles Glanz war; er bemerkte Arnes Freude am Lesen, und da brachte er ihm die Bücher mit, die er selbst gelesen hatte; wenn Arne sie aus hatte, bekam er neue; des Sonntags saß er selbst neben ihm und zeigte ihm, wie er Erdkunde und Landkarten zu studieren habe, und den ganzen Sommer und Herbst lernte Arne soviel, daß er ganz blaß und mager wurde.

Im Winter durfte er zu Hause weiter lernen, weil er im nächsten Jahr konfirmiert werden sollte, außerdem aber auch mit dem Vater gut umzugehen verstand. Er ging jetzt wohl in die Schule, aber in der Schule machte er am liebsten die Augen zu und träumte sich nach Hause zu seinen Büchern; er hatte ja auch unter den Bauernjungen keinen Kameraden mehr.

Mit den Jahren schlug der Vater die Mutter immer mehr, und auch seine Trunksucht und seine körperlichen Schmerzen nahmen zu. Und weil Arne trotzdem bei ihm sitzen und ihn unterhalten mußte, um der Mutter für eine Stunde Frieden zu schaffen, und oft Dinge sagen mußte, die er jetzt aus tiefstem Herzen verabscheute, so bekam er einen Haß auf seinen Vater. Den verschloß er ebenso tief in sich wie die Liebe zu seiner Mutter. Kam er mit Kristian zusammen, so war viel von großen Reisen und von den Büchern die Rede; selbst dem Freunde verschwieg er, wie es bei ihm zu Hause zuging. Aber manches Mal, wenn er von diesen weitgreifenden Gesprächen allein heimwärts zog und daran dachte, was ihm nun wieder bevorstehen mochte, weinte er und betete zu dem Gott über den Sternen, er möge es fügen, daß er bald in die Ferne ziehen dürfe.

Im Sommer wurden Kristian und er konfirmiert. Kurz darauf setzte
Kristian seinen Plan durch. Sein Vater mußte ihn fortlassen, damit er
Seemann werden konnte; er schenkte Arne seine Bücher, versprach fleißig
zu schreiben—und reiste ab.

Nun stand Arne allein.

In dieser Zeit bekam er wieder Lust, Verse zu machen. Er flickte nicht mehr an alten herum, er machte neue und legte all sein Leid hinein.

Aber ihm war schließlich das Herz zu schwer, und der Kummer verleidete ihm die Lieder. In langen schlaflosen Nächten wurde es ihm jetzt zur Gewißheit, daß er es nicht länger ertragen konnte, sondern weit, weit fort wandern wollte und Kristian suchen—und keinem Menschen ein Wort davon sagen. Er dachte an die Mutter und was aus ihr werden würde, und er konnte ihr kaum in die Augen sehen.

Da saß er eines Abends spät auf und las. Wenn es ihm wie ein Alb auf der Brust lag, nahm er seine Zuflucht zu den Büchern und merkte nicht, daß sie das Gift noch schärfer machten. Der Vater war auf einer Hochzeit, wurde aber noch diesen Abend zurückerwartet; die Mutter war müde und hatte Angst vor ihm, deshalb hatte sie sich schlafen gelegt. Arne fuhr bei einem schweren Fall auf der Diele und bei dem Gepolter von etwas Hartem an der Tür zusammen. Da kam sein Vater nach Hause.

Arne machte die Tür auf und sah ihn an. "Du bist es, mein kluger Junge!
Komm, hilf Deinem Vater auf!" Arne hob ihn auf und führte ihn zur Bank.
Er nahm den Geigenkasten, trug ihn auch hinein und machte die Tür zu.
"Ja, schau' mich nur an, Du kluger Junge; schön sehe ich jetzt nicht
aus; das ist Schneider Nils nicht mehr. Das sag'—ich Dir,—damit
Du—nie Schnaps trinkst; das ist—der Satan, die Welt und unser eigen
Fleisch——, er widersteht den Hoffärtigen, den Demütigen aber schenkt
er Gnade.——O je, o je!—Wie weit ist es mit mir gekommen!"

Er saß eine Weile ganz still, dann sang er schluchzend:

    "Herr, mein Erlöser, Jesus Christ,
    Hilf mir, wenn mir zu helfen ist;
    Lieg' ich auch tief im Sündenschlamm,
    Bin ich Dein Kind doch, Du Gotteslamm!"

"Herr, ich bin nicht wert, daß Du unter mein Dach kommst, aber sprich nur ein Wort."—Er warf sich vornüber, verbarg das Gesicht in den Händen und weinte wie im Krampf. Lange lag er so, und dann sagte er wortgetreu aus der Bibel her, wie er es vor mehr als zwanzig Jahren gelernt hatte: "Sie aber kam und fiel vor ihm nieder und sagte: Herr, hilf mir!—Er aber antwortete und sprach: 'Es ist nicht recht, daß man den Kindern das Brot nehme und werfe es vor die Hunde.'—Sie aber sprach: 'Ja Herr, essen doch aber die Hündlein von den Brosamen, die von ihres Herrn Tische fallen.'"

Er schwieg, doch sein Weinen war jetzt befreiter und ruhiger.

Die Mutter war schon lange wach geworden, hatte aber nicht hinzusehen gewagt. Jetzt, da er wie ein Erlöster weinte, stützte sie sich auf die Ellbogen und sah ihn an.

Kaum aber wurde Nils sie gewahr, als er ihr zubrüllte: "Na, was guckst Du?—Du willst wohl sehen, was Du aus mir gemacht hast. Ja, so sehe ich jetzt aus, so und nicht anders!"—Er stand auf, und sie kroch unter die Decke. "Na, kriech nur nicht weg, ich finde Dich doch", sagte er und hielt die rechte Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger tastend vor sich.—"Kille, kille!" sagte er, zog ihr die Decke weg und drückte ihr den Zeigefinger auf die Gurgel.

"Vater!" sagte Arne.

"Nein, wie verschrumpft und klapprig Du geworden bist. Da ist nicht viel dran. Kille, kille!" Die Mutter umspannte mit ihren beiden Händen krampfhaft seine, konnte sich nicht losmachen und krümmte sich in einen Knäuel zusammen.

"Vater!" sagte Arne.

"Na, jetzt kommt Leben in Dich. Wie sie sich windet, das alte Gespenst!
Kille, kille!"

"Vater!" sagte Arne, und die Stube fing an, sich um ihn zu drehen.

"Kille, kille, sag' ich!"—Sie ließ seine Hände los und ergab sich.

"Vater!" rief Arne. Er rannte in die Ecke, wo eine Axt stand.

"Du schreist wohl aus Trotz nicht? Nimm Dich aber in acht; ich hab' solche schreckliche Lust bekommen. Kille, kille!"

"Vater!" schrie Arne und packte die Axt, blieb aber wie angewurzelt stehen; denn in demselben Augenblick richtete der Vater sich auf, stieß einen gellenden Schrei aus, griff sich nach der Brust und sank um; "Jesus Christus!" sagte er und lag ganz still.

Arne wußte nicht mehr, wo er eigentlich war; er erwartete, die Stube müsse auseinanderbersten und ein helles Licht irgendwo hineinfallen. Die Mutter atmete schwer, als wälzte sie eine Last von sich ab. Schließlich richtete sie sich halb auf und sah den Vater lang ausgestreckt auf dem Fußboden liegen und den Sohn mit einer Axt daneben stehen.

"Gott Du Barmherziger, was hast Du getan?"—schrie sie und sprang aus dem Bett, warf sich einen Rock über und kam heran. Da war ihm, als löste sich seine Zunge. "Er ist von selbst umgefallen", sagte er leise.—"Arne, Arne, das glaube ich Dir nicht," sagte die Mutter laut und strafend, "jetzt sei Gott mit Dir!" und sie warf sich jammernd über die Leiche. Der Junge aber erwachte aus seiner Betäubung und fiel auch auf die Knie: "So wahr ich der Gnade Gottes teilhaftig werden will, er ist auf der Stelle umgefallen."——"So ist Gott der Herr selbst hier gewesen", sagte sie leise, kauerte sich zusammen und starrte vor sich hin.

Nils lag noch unverändert und steif da; Mund und Augen waren offen. Die Hände hatten sich einander genähert, als wollten sie sich falten, waren aber dazu nicht mehr imstande gewesen. "Faß Deinen Vater an, Du bist kräftig; hilf mir ihn aufs Bett legen." Und sie nahmen ihn und betteten ihn; sie drückte ihm Augen und Mund zu, streckte ihn aus und faltete ihm die Hände.

Dann standen sie beide da und schauten ihn an. Nichts von dem, was sie bis jetzt erlebt hatten, war so bedeutungsvoll und so inhaltsschwer wie diese Stunde. Wenn der Böse leibhaftig da gewesen war, so hatte doch auch Gott der Herr hier gestanden; es war nur eine kurze Begegnung gewesen. Alles Vorangegangene war nun abgetan.

Es war kurz nach Mitternacht, und sie wollten bei dem Toten wachen, bis der Tag kam. Arne zündete auf dem Herde ein helles Feuer an, die Mutter setzte sich daneben. Und wie sie so dasaß, ging ihr durch den Sinn, wieviele böse Tage sie mit Nils gehabt hatte, und da dankte sie Gott in heißem, inbrünstigem Gebet für das, was er getan. "Ich habe doch aber auch manchen guten Tag gehabt", sagte sie und weinte, als bereue sie ihr Dankgebet, und schließlich war sie so weit, die größte Schuld auf sich zu nehmen, die sie aus Liebe zu dem Toten gegen Gottes Gebot gehandelt hatte, ihrer Mutter ungehorsam gewesen und deshalb durch diese ihre sündige Liebe gestraft worden war.

Arne setzte sich ihr gegenüber. Die Mutter blickte zum Bett hinüber:—"Arne, Du darfst nicht vergessen, daß ich um Deinetwillen das alles erduldet habe", schluchzte sie und hungerte nach einem lieben Wort, das ihr in ihren Selbstanklagen Stütze und ein Trost in der kommenden Zeit sein sollte. Der Junge bebte und konnte nicht antworten. "Du darfst mich nie verlassen", schluchzte sie.—Da wurde ihm mit einem Male klar, was sie in dieser ganzen Zeit des Jammers gewesen war, und wie grenzenlos verlassen sie wäre, wenn er zum Lohn für ihre große Treue jetzt von ihr ginge. "Nie, nie", flüsterte er und wollte hin zu ihr, hatte aber nicht die Kraft dazu. So saßen sie, und ihr heftiges Weinen floß ineinander. Sie betete laut, bald für den Toten, bald für sich und den Jungen, und sie weinten, und sie betete wieder, und dann weinten sie wieder. Dann sagte sie: "Arne, Du hast solch schöne Stimme; setz' Dich zu Deinem Vater und sing ihm was vor."

Und es war, als komme neue Kraft über ihn. Er stand auf und holte das Gesangbuch, zündete einen Kienspan an und setzte sich, den Span in der einen Hand, das Gesangbuch in der andern, ans Kopfende des Bettes und sang mit klarer Stimme den 127. Choral des Kingo:

    "Herr, o laß deinen Zorn jetzt fahren,
    Wolle die blutige Zuchtrute sparen,
    Die deines Grimmes Wucht uns kündigt,
    Weil wir gesündigt!"

Fünftes Kapitel

Arne wurde wortkarg und menschenscheu; er hütete das Vieh und machte
Verse. Er ging ins zwanzigste Jahr, und noch immer hütete er das Vieh.
Er lieh sich vom Pfarrer Bücher und las; aber das war auch das einzige,
was er tat.

Der Pfarrer ließ ihn auffordern, die Lehrerstelle anzunehmen, "denn das
Kirchspiel müsse Nutzen aus seinen Fähigkeiten und Kenntnissen ziehen".
Arne antwortete nicht; am andern Tage aber, während er die Schafherde
vor sich her trieb, machte er ein Lied:

    Böcklein junges, Lämmlein mein,
    Geht's auch oft über Stock und Stein
    Hoch auf schroffe Fjelle,—
    Folg' du nur brav deiner Schelle!

    Böcklein junges, Lämmlein mein,
    Halt dein Fell mir hell und rein!
    Mutter will vom Böcklein,
    Wenn es schneit, sein Röcklein.

    Böcklein junges, Lämmlein mein,
    Pfleg' mir auch dein Bäuchlein fein!
    Siehst nicht, kleiner Töffel,
    Mutters Suppenlöffel?

In seinem zwanzigsten Jahr wurde er eines Tages zufällig Zeuge eines Gesprächs zwischen seiner Mutter und der Frau des früheren Hofbesitzers; sie waren im Streit über das Pferd, das ihnen gemeinsam gehörte. "Ich will abwarten, was Arne dazu sagt", meinte seine Mutter. "Ach, der Faulpelz," antwortete die andre, "der möchte wohl, das Pferd triebe sich im Walde 'rum, gerade wie er." Da schwieg die Mutter, so beredt sie vorhin gewesen war.

Arne wurde feuerrot. Daß die Mutter um seinetwillen spöttische Worte hören mußte, hatte er noch nie bedacht, und vielleicht hatte sie schon gar viele hören müssen. Warum hatte sie ihm das nicht gesagt?

Er dachte lange darüber nach, und da fiel ihm ein, daß die Mutter fast nie mit ihm sprach; er aber auch nicht mit ihr. Mit wem sprach er überhaupt?

An manchem Sonntag, wenn er still zu Hause saß, hätte er gern seiner Mutter die Predigt vorgelesen, weil ihre Augen nicht mehr gut waren; sie hatte all ihr Lebtag zu viel geweint. Aber es war nichts draus geworden. Manch liebes Mal hatte er ihr aus seinen eigenen Büchern vorlesen wollen, wenn es so still im Hause war, und er dachte, sie müsse sich langweilen. Aber es war nichts draus geworden.

"Ja, dann ist's nicht anders. Ich lasse das Hüten sein und gehe zu
Mutter hinunter." Er wartete ein paar Tage und befestigte sich in seinem
Entschluß; die Herde ließ er weit in den Wald hineingehen und dichtete
ein Lied:

    Im Dorfe, da ist Unruh, im Walde läßt sich's ruhn,
    Es pfändet hier kein Amtmann, dort pfänden zweie nun.
    Hier dreht nicht um die Kirche wie dort sich steter Zwist;
    Doch kommt's vielleicht daher, daß hier noch keine Kirche ist.

    Wie ruhig ist's im Walde; nur gründlich rupft allhier
    Der Habicht einen Spatzen aus reiner Wißbegier,
    Und nur der Adler würgt hier ein arm Geschöpf zu Tod,
    Weil arge Langeweile sonst ihn umzubringen droht.

    Ein Baum wird umgehauen, beim andern fault der Stamm;
    Dem Rotfuchs fiel gen Abend anheim das weiße Lamm.
    Der ward vom Wolf zerrissen, und beide wurden zahm;
    Denn Arne schoß das Wölflein tot, bevor der Morgen kam.

    Soviel kann sich ereignen im Wald und auf der Au;
    Da gilt's nur aufzupassen, daß man nichts Falsches schau'.
    'nen Burschen, der den Vater erschlug, sah ich im Traum;
    Ich weiß nicht wo, doch denk' ich mir, es war im Höllenraum.

Er kam nach Hause und sagte seiner Mutter, sie möge sich im Dorf nach einem andern Hütejungen umsehn; er selbst wolle sich jetzt lieber um den Hof bekümmern. So geschah es; aber seine Mutter kam immer mit Ermahnungen; er solle sich nicht bei der Arbeit überanstrengen. Sie setzte ihm in dieser Zeit auch so gutes Essen vor, daß er oft ganz beschämt war; aber er sagte nichts.

Er trug sich mit einem Liede, dessen Kehrreim war: "Über die hohen Berge." Er wurde aber nie damit fertig, und das lag hauptsächlich daran, daß er den Kehrreim in jeder zweiten Zeile haben wollte; zuletzt gab er es auf.

Mehrere der Lieder aber, die er gedichtet hatte, kamen unter die Leute und fanden Beifall; manche hätten gern mit ihm geredet, zumal sie ihn noch als Knaben gekannt hatten. Arne aber hatte Angst vor allen, die er nicht kannte, und dachte schlecht von ihnen, vor allem weil er glaubte, sie dächten schlecht von ihm.

Bei allen Feldarbeiten stand ihm ein Mann in mittleren Jahren zur Seite, Knut vom Oberland, der die Angewohnheit hatte, mitunter zu singen, aber immer dasselbe Lied. Als das ein paar Monate so fortgegangen war, dachte Arne, er müsse ihn doch mal fragen, ob er nicht noch andere Weisen könne. "Nein", sagte der Mann. So gingen einige Tage hin, und als der Mann wieder einmal sein Lied sang, fragte Arne: "Wie ist es gekommen, daß Du dies eine gelernt hast?"—"Ach, das kam so", sagte der Mann.

Gleich darauf ging Arne ins Haus; da aber saß die Mutter und weinte, was er seit des Vaters Tode nicht mehr gesehen hatte. Er tat, als bemerke er's nicht, und ging wieder auf die Tür zu; aber er fühlte, wie die Mutter ihm schwermütig nachsah, und mußte stehen bleiben.—"Warum weinst Du, Mutter?"—für eine Weile blieben seine Worte der einzige Laut in der Stube, und deshalb stellte sich die Frage ihm immer wieder, so daß er schließlich fühlte, sie habe nicht zart genug geklungen. Er fragte also noch einmal: "Warum weinst Du, Mutter?"

"Ach, ich weiß auch nicht"; aber nun weinte sie noch mehr. Er stand eine ganze Zeit da, und dann sagte er so mutig, wie er konnte: "Du weinst über was Bestimmtes." Wieder blieb es still. Er fühlte sich sehr schuldig, obwohl sie nichts gesagt hatte und er nichts Bestimmtes wußte. "Es kam so über mich", sagte die Mutter. Nach einer Weile fügte sie hinzu: "Ich bin ja im Grunde so glücklich", und dann weinte sie wieder.

Arne aber ging schnell hinaus; es zog ihn zu der Felswand hin. Er setzte sich so, daß er hinunterschauen konnte, und wie er dasaß, kamen ihm auch die Tränen. "Wenn ich nur wüßte, worüber ich weine", sagte Arne.

Über ihm auf dem umgepflügten Acker aber saß Knut und sang sein Lied:

    "Ingerid Sletten von Sillegjord
    Hatte weder Silber noch Gold,
    Nur ein bunt Häubchen, drin bräutlich hold
    Einst Mutter zur Kirche fuhr.

    Nur dies Vermächtnis von Elternhand,—
    Hatte sonst nichts in Keller noch Schrein;
    Doch ihr arm Häubchen vom Mütterlein
    Wog schwerer als aller Tand.

    Sie barg es zwanzig Jahre fromm
    Vor Licht und Tageslaut.
    —Ich trag' es wohl noch einmal als Braut
    Wann ich zum Herrgott komm'!

    Sie barg es dreißig Jahre lang
    Im Truhendämmer traut.
    —Ich trag' es doch noch als frohe Braut,
    Auf meinem Ehrengang.

    Und vierzig Jahre gingen ins Land,
    Sie hat noch der Mutter gedacht.
    —Mein Häubchen alt, nun glaub' ich sacht,
    Die Zeit für uns entschwand.

    Sie geht es holen, dem Tode nah,
    Ihr Herz schlug so stark dazu;
    Sie hastet sich hin nach der alten Truh',—
    Da war kein Fädchen mehr da."

Arne saß, als kämen die Töne fern von den Halden her. Er stieg zu Knut hinauf. "Hast Du noch eine Mutter?" fragte er.—"Nein."—"Hast Du noch einen Vater?"—"Ach nein, keinen Vater."—"Sind sie schon lange tot?"—"O ja, schon lange."

"Du hast wohl nicht viele, die Dich lieb haben?"—"O nein, nicht viele."—"Hast Du hier jemand?"—"Nein, hier nicht."—"Aber fern in Deiner Heimat?"—"O nein, dort auch nicht."—"Hast Du denn gar keinen, der Dich lieb hat?"—"Nein, keinen."

Aber Arne verließ ihn, und so lieb hatte er seine Mutter, als solle ihm das Herz springen, und er hatte das Gefühl, als werde es hell über ihm. Himmlischer Vater, dachte er, Du hast mir sie gegeben und durch sie so unsäglich viel Liebe, und ich gehe achtlos an ihr vorüber—und wenn ich sie einmal haben möchte, dann ist sie vielleicht nicht mehr da. Er wollte hin zu ihr, bloß um sie zu sehen. Unterwegs aber fiel ihm plötzlich ein: "Weil Du sie gering geachtet hast, wirst Du vielleicht bald damit gestraft weiden, daß Du sie verlierst!"—Er blieb auf dem Fleck stehen. "Allmächtiger Gott, was soll dann aus mir werden?"

Ihm war's, als geschehe jetzt ein Unglück zu Haus; er setzte in großen Sprüngen auf das Haus zu, der kalte Schweiß stand ihm auf der Stirn, und die Füße berührten kaum die Erde. Er riß die Stubentür auf. Die Mutter hatte sich schlafen gelegt, der Mond fiel ihr gerade auf das Gesicht; sie lag und schlummerte wie ein Kind.

Sechstes Kapitel

Einige Tage darauf beschlossen Mutter und Sohn, die sich seitdem inniger aneinander angeschlossen hatten, bei Verwandten auf einem Nachbarhof eine Hochzeit mitzumachen. Die Mutter war seit ihrer Mädchenzeit auf keinem Fest mehr gewesen.

Die beiden kannten fast alle Gäste nur dem Namen nach, und Arne kam es besonders sehr merkwürdig vor, daß ihn alle ansahen, wo er sich blicken ließ.

Auf der Diele fiel hinter ihm ein Wort,—bestimmt wußte er es nicht, aber er glaubte es gehört zu haben, und jeder Blutstropfen siedete in ihm, wenn er daran dachte.

Dem Mann, der es gesagt hatte, ging er nun unaufhörlich nach und schließlich setzte er sich neben ihn. Aber als er an den Tisch trat, schien es ihm, als nehme das Gespräch schnell eine andere Wendung.

"Na, jetzt will ich mal 'ne Geschichte erzählen, an der man sieht, daß nichts so fein gesponnen ist, es kommt schließlich doch an die Sonnen", sagte der Mann, und Arne hatte das Gefühl, er sehe ihn dabei an. Es war ein häßlicher Mensch mit dünnem roten Haar über einer hohen runden Stirn. Darunter lagen ein Paar sehr kleine Augen und eine kleine Kartoffelnase; der Mund aber war sehr groß und hatte wulstige Lippen von weißlicher Farbe. Wenn er lachte, sah man die beiden Gaumen. Seine Hände lagen auf dem Tisch: sie waren sehr grob und plump, das Handgelenk aber war dünn. Er hatte einen stechenden Blick und sprach schnell, aber es kostete ihn Anstrengung. Man nannte ihn den Maulhelden, und Arne wußte, daß Schneider Nils ihm in alten Tagen übel mitgespielt hatte.

"Ja, es gibt viel Sünde in dieser Welt; sie ist uns näher, als wir glauben——. Aber das ist gleich. Jetzt sollt Ihr etwas sehr Häßliches hören. Die Älteren unter Euch werden sich wohl noch an Alf, an den Ranzen-Alf erinnern. 'Werd' schon wiederkommen!' sagt Alf; die Redensart stammt von ihm; denn wenn er einen Handel abgeschlossen hatte—und handeln konnte der Kerl!—dann schwang er seinen Ranzen auf den Rücken; 'werd' schon wiederkommen!' sagt Alf. Teufel, war das ein Kerl, ein Prachtkerl, ein Hauptkerl war der Alf, der Ranzen-Alf!——Ja, und dann kam die Sache mit ihm und dem großen Faulpelz. Der Faulpelz,—ja, Ihr kennt den Faulpelz doch?—groß war er, und faul war er auch. Er vergaffte sich in ein rabenschwarzes Pferd, mit dem der Ranzen-Alf einherkam und das wie ein Frosch hüpfte. Und eh' es dem Faulpelz noch recht zum Bewußtsein kam, hatte er fünfzig Taler für die Mähre bezahlt. Der Faulpelz, so lang wie er war, auf einen Wagen 'rauf, um mit dem Fünfzigtalerpferd Parade zu fahren; aber er mochte peitschen und fluchen, daß der Hof in einer Staubwolke lag,—das Pferd lief seelenruhig auf jede Tür und jede Mauer los, die irgend da war;—denn es hatte den Star.—Von Stund an lagen sich diese beiden überall in den Haaren wie zwei Kampfhähne. Der Faulpelz wollte sein Geld wieder haben; aber keinen roten Heller bekam er. Der Ranzen-Alf prügelte ihn durch, daß die Borsten stoben. 'Werd' schon wiederkommen', sagte Alf. Teufel, war das ein Kerl, ein Prachtkerl, ein Hauptkerl war der Alf, der Ranzen-Alf.—Na, dann gingen ein paar Jahre hin, wo er sich nicht mehr sehen ließ.—Es mochte wohl so zehn Jahre später sein, als er auf dem Kirchberg ausgerufen wurde, weil ihm eine große Erbschaft zugefallen war. Der Faulpelz hörte es mit an. 'Das konnte ich mir denken,' sagte er, 'daß das Geld den Ranzen-Alf suche und nicht die Leute.'—Nun sprach man hin und her über Alf; und soviel wurde geschwatzt, daß man schließlich heraus hatte, er wäre zuletzt diesseits des Rörenbergs gewesen, aber nicht drüben. Ja, Ihr kennt doch den Weg über den Rören noch, den alten Weg?

"Der Faulpelz aber war seit einiger Zeit zu großer Macht und Herrlichkeit gelangt sowohl was seinen Hof betraf, wie überhaupt. Außerdem hatte er sich auf die Frömmigkeit verlegt, und alle waren überzeugt, er werde nicht auf einmal um nichts und wieder nichts fromm,—frommer als die andern. Man fing an, allerlei über ihn zu munkeln.—Es war zu der Zeit, als die Straße über den Rören verlegt werden sollte; die Alten hatten immer geradeaus gewollt, deshalb führte der Weg direkt über den Rören; wir dagegen wollen alles hübsch eben haben, und deshalb geht jetzt der Weg unten am Fluß entlang. Da gab es eine Sprengerei und eine Wirtschaft, daß man meinte, der ganze Rören fiele herunter. Allerhand Wegebaumeister kamen, am häufigsten aber der Amtmann, weil er ja doppelte Freifahrt hat. Und als sie nun eines Tages da in dem Geröll schaufelten, wollte einer einen Stein wegnehmen, bekam aber statt dessen eine Hand zu fassen, die aus dem Steinhaufen heraussah, und so stark war diese Hand, daß der, der sie gefaßt hatte, mit ihr zurücktaumelte. Der sie aber gefaßt hatte, war der Faulpelz.—Der Amtsvorsteher war in der Nähe; er wurde geholt, und dann grub man die ganzen Gebeine eines Menschen aus. Ein Arzt wurde auch geholt! Der setzte alles so kunstgerecht zusammen, daß bloß noch das Fleisch fehlte. Die Leute behaupteten aber, das Gerippe müsse genau so groß sein wie der Ranzen-Alf. 'Ich werd' schon wiederkommen', sagt Alf. Jedwedem einzelnen kam es merkwürdig vor, daß eine tote Hand einen Kerl wie den Faulpelz so einfach umwerfen konnte, wo sie gar nicht einmal ausschlug. Der Amts Vorsteher sagte ihm das auf den Kopf zu,—natürlich daß keiner es hörte. Da fing aber der Faulpelz zu fluchen an, daß es dem Amtsvorsteher ganz schwarz vor den Augen wurde. 'Ja, ja', sagte der Amtsvorsteher, 'wenn Du es nicht gewesen bist, so bist Du wohl der rechte Mann, heute nacht bei dem Gerippe zu schlafen, ja?'—'Das will ich meinen', antwortete der Faulpelz. Und nun band der Doktor das Gerippe in den Gelenken zusammen und legte es auf das eine Bett in der Baracke. In das andere sollte sich der Faulpelz legen; der Amtsvorsteher aber lag, in seinen Mantel gehüllt, draußen dicht an der Wand.—Als es dunkel wurde und der Faulpelz zu seinem Schlafkameraden hineinmußte, war es gerade, als wenn die Tür sich von selbst hinter ihm schlösse, und er stand im Dunkeln. Da fing der Faulpelz an, Choräle zu singen, denn er hatte eine mächtige Stimme. 'Warum singst Du Choräle?' fragte der Amtsvorsteher draußen an der Wand. 'Wer weiß, ob für ihn geläutet worden ist, antwortete der Faulpelz. Dann fing er zu beten an, so laut er konnte. 'Warum betest Du?' fragte der Amtsvorsteher draußen an der Wand. 'Er ist doch sicher ein großer Sünder gewesen', antwortete der Faulpelz. Dann blieb es eine lange Zeit still, und der Amtsvorsteher war nahe am Einschlafen. Da brüllte es drinnen, daß die Hütte bebte: 'Ich werd' schon wiederkommen!'—Ein Höllenlärm erhob sich; 'her mit meinen fünfzig Talern', brüllte der Faulpelz, dann ein Aufschrei und ein Gekrach; der Amtsvorsteher hin zur Tür, die Leute kamen mit Stangen und Fackeln, und da lag der Faulpelz mitten auf dem Boden, und das Gerippe lag über ihm—."

Es war totenstill am Tisch. Schließlich sagte einer, indem er sich seine Wasserpfeife ansteckte: "Er ist ja wohl an dem Tage verrückt geworden."—"Ja, das stimmt."

Arne fühlte, daß alle ihn ansahen, und deshalb konnte er die Augen nicht aufschlagen. "Wie ich gesagt habe," warf der erste hin, "es ist nichts so fein gesponnen, es kommt doch an die Sonnen."—"Na, jetzt will ich mal von einem erzählen, der seinen eignen Vater schlug", sagte ein blonder, dicker Mann mit einem runden Gesicht. Arne wußte kaum noch, wo er hinsollte.

"Es war einmal in einer angesehenen Familie in Hardanger ein Raufbold; der hatte schon manchen untergekriegt. Sein Vater und er waren uneins über das Altenteil, und es kam so weit, daß der Mann in seinem Hause und außerhalb keinen Frieden mehr hatte.—Dadurch wurde er immer schlimmer, und sein Vater überwachte ihn. 'Ich lasse mir von keinem was sagen', sagte der Sohn. 'Aber von mir, so lange ich lebe', sagte der Vater.—'Bist Du nicht gleich still, dann schlag' ich Dich', sagte der Sohn und stand auf.—'Ja, wag' es nur, und es wird Dir nie gut gehen in der Welt', antwortete der Vater und stand auch auf.—'Meinst Du?'—und der Sohn drang auf ihn ein und schlug ihn nieder. Der Vater aber wehrte sich nicht, verschränkte die Arme und ließ ihn machen, was er wollte.—Der Sohn mißhandelte ihn, packte ihn und schleppte ihn zur Tür: 'Ich will Frieden im Hause haben!'—Aber als sie an die Tür kamen, richtete der Vater sich auf. 'Nicht weiter als bis zur Tür,' sagte er, 'so weit habe ich meinen Vater auch geschleppt.' Der Sohn achtete nicht darauf, sondern zerrte den Kopf über die Türschwelle. 'Nicht weiter als bis zur Tür, sag' ich!' Der Alte sprang auf, warf den Sohn vor seine Füße und züchtigte ihn wie ein Kind."—"Das war häßlich", sagten Verschiedene. "Seinen eignen Vater schlägt man doch nicht!" glaubte Arne einen sagen zu hören, aber er wußte es nicht genau.

"Jetzt will ich Euch etwas erzählen", sagte Arne; er stand mit leichenblassem Gesicht auf und wußte noch nicht, was er sagen wollte. Er sah nur die Worte wie große Schneeflocken um sich herum stieben; "es geht aufs Geratewohl!" und er fing an.

"Ein Zwerg begegnete einmal einem Burschen, der weinend seines Weges ging. 'Vor wem hast Du am meisten Angst,' fragte der Zwerg, 'vor Dir selbst oder vor andern?' Der Bursch aber weinte, weil ihm in der Nacht geträumt hatte, er habe seinen bösen Vater erschlagen müssen, und deshalb antwortete er: 'Ich habe am meisten Angst vor mir selbst.'—'So sollst Du vor Dir selbst Ruhe haben und nie mehr weinen, denn fortan sollst Du nur mit den andern im Krieg liegen.' Und der Zwerg ging seines Weges. Der erste aber, den der Bursch traf, lachte ihn aus, und deshalb mußte der Bursch ihn wieder auslachen. Der zweite, den er traf, schlug ihn; der Bursch mußte sich verteidigen und schlug ihn wieder. Der dritte, den er traf, wollte ihn töten, und deshalb mußte er ihn selbst umbringen. Alle Leute aber redeten Böses von ihm, darum konnte er von allen Menschen auch nur Böses reden. Sie riegelten Schränke und Türen vor ihm zu, so daß er sich stehlen mußte, was er brauchte, sogar seine Nachtruhe mußte er sich stehlen. Weil er nun nie etwas Gutes tun konnte, mußte er eben Böses tun. Da sagte das ganze Dorf: 'Den Burschen müssen wir uns vom Halse schaffen; er ist zu schlecht', und eines schönen Tags schafften sie ihn aus dem Wege. Der Bursch wußte aber gar nicht, daß er etwas Böses getan hatte; deshalb kam er nach seinem Tode geradenwegs zum lieben Gott. Da saß auf einer Bank sein Vater, den er gar nicht totgeschlagen hatte, und gegenüber auf einer andern Bank saßen alle, die ihn gezwungen hatten, Böses zu tun. 'Vor welcher Bank hast Du Angst?' fragte der liebe Gott, und der Bursch zeigte auf die lange. 'So setz' Dich neben Deinen Vater', sagte der liebe Gott, und der Bursch wollte es tun. Da stürzte sein Vater von der Bank herunter und hatte eine klaffende Wunde im Nacken. Auf seinem Platz aber stand ein Phantom des Burschen selbst, nur mit leichenblassem Gesicht und von Reue verzerrten Mienen; und ein anderes mit dem Gesicht eines Säufers und schlotternden Gliedern, und noch eins mit irren Augen, zerrissenen Kleidern und einem grauenvollen Lachen. 'So hätte es Dir auch gehen können', sagte der liebe Gott.—'Ja, wäre das möglich?' sagte der Bursch und griff nach dem Saum von Gottes Gewand. Da fielen beide Bänke vom Himmel hinunter, und der Bursch stand vor dem lieben Gott und lachte. 'Denke dran, wenn Du aufwachst', sagte der liebe Gott,—und im selben Augenblick wachte der Bursch auf. Der Bursch aber, der all das geträumt hat, bin ich, und die ihn in Versuchung führen, weil sie schlecht von ihm denken, seid Ihr. Vor mir selbst habe ich keine Angst mehr; aber ich habe vor Euch Angst. Hetzt nicht das Böse in meine Seele, denn ich weiß nicht, ob auch ich einst den Saum von Gottes Gewand fassen kann."

Er stürzte hinaus, und die Männer blickten einander an.

Siebentes Kapitel

Es war am nächsten Tag auf demselben Hof in der Scheune; Arne hatte sich zum erstenmal in seinem Leben betrunken, war krank davon geworden und hatte nun bald vierundzwanzig Stunden in der Scheune gelegen. Jetzt richtete er sich empor, stützte sich auf die Ellbogen und hielt ein Selbstgespräch: "——Alles, was ich anfasse, wird Feigheit. Daß ich als Junge nicht davonlief, war Feigheit; daß ich auf den Vater mehr hörte als auf die Mutter, war Feigheit; daß ich ihm die häßlichen Lieder vorsang, war Feigheit. Ich fing das Viehhüten an; aus Feigheit;—und das Lesen—nun ja, auch aus Feigheit: ich wollte mich nur vor mir selber verstecken. Als erwachsener Bursch stand ich der Mutter nicht gegen den Vater bei—Feigheit; daß ich ihn in jener Nacht nicht—hu!—Feigheit! Ich hätte wohl gewartet, bis sie tot gewesen wäre;——ich konnte es hinterher zu Hause nicht aushalten—Feigheit; ich zog aber auch nicht meiner Wege—Feigheit; ich tat nichts, ich hütete das Vieh,—Feigheit. Ich hatte freilich der Mutter versprochen, zu bleiben, aber ich wäre schon feig genug gewesen, den Schwur zu brechen, wenn ich nicht Angst gehabt hätte, unter fremde Menschen zu müssen. Denn ich habe Angst vor den Menschen, hauptsächlich wohl, weil ich glaube, sie sehen, wie garstig ich bin. Weil ich aber Angst vor ihnen habe, rede ich Böses von ihnen—verfluchte Feigheit! Ich mache Verse aus Feigheit. Ich wage nicht über meine eigenen Angelegenheiten nachzudenken und mische mich deshalb in die Sachen andrer Leute,—und das nennt man Dichten!—Ich hätte mich hinsetzen sollen und weinen, daß die Berge zu Wasser werden, ja, das hätte ich; aber ich sage nur: Seht, seht! und wiege mich in Nichtstun ein. Und selbst meine Lieder sind feig; denn wären sie mutig, so würden sie besser sein. Ich habe Angst vor starken Gedanken wie vor allem Starken überhaupt; schwinge ich mich einmal dazu auf, so ist es aus Wut, und Wut ist Feigheit. Ich bin klüger, tüchtiger, belesener, als ich aussehe; ich bin besser als mein Geschwätz; aber aus Feigheit wage ich mich nicht so zu geben wie ich bin. Pfui, sogar Schnaps habe ich aus Feigheit getrunken; ich wollte den Schmerz betäuben! Pfui, es schmeckte schrecklich, aber ich trank doch, trank doch; trank meines Vaters Herzblut, und doch trank ich! Meine Feigheit hat keine Grenzen; das allerfeigste aber ist doch, daß ich hier sitze und mir selbst das alles sagen kann.— … Mich töten? Prost Mahlzeit! Dazu bin ich zu feig. Und dann glaube ich doch auch an Gott,—ja, ich glaube an Gott. Ich möchte gern hin zu ihm; aber die Feigheit hält mich von ihm zurück. Eine große Veränderung, die scheut ein Feigling. Aber wenn ich's versuchte, so gut ich's vermag? Allmächtiger Gott! Wenn ich's versuchte? Müßte mich kurieren, so gut mein Milchsuppenleben es vertrüge; denn Knochen habe ich ja nicht mehr im Leibe, nicht mal Knorpeln, bloß etwas Flüssiges, Weichliches.—Wenn ich es versuchte—mit guten, milden Büchern,—hab' Angst vor den starken—; mit schönen Märchen und Sagen und allem, was sanft ist,—und dann jeden Sonntag eine Predigt und jeden Abend ein Gebet. Und tüchtige Arbeit, damit die Religion Ackerland hat; in die Trägheit kann man nichts säen. Wenn ich's versuchte; Du lieber, guter Gott meiner Kindheit, wenn ich's versuchte!"

Da öffnete jemand die Scheunentür, stürzte auf die Diele mit leichenblassem Gesicht, obwohl ihr der Schweiß heruntertropfte,—es war seine Mutter. Schon den zweiten Tag suchte sie ihren Sohn. Sie rief seinen Namen, stand aber nicht still um zu lauschen, sondern rief nur und lief in alle Ecken, bis er hinten von dem Heuschober her, wo er lag, Antwort gab. Da stieß sie einen lauten Schrei aus, sprang leichtfüßiger als ein Junge in den Heuhaufen hinein und beugte sich über ihn:—"Arne, Arne, bist Du hier! So hab' ich Dich doch gefunden; ich hab' seit gestern gesucht; ich hab' die ganze Nacht durch gesucht! Armer lieber Arne! Ich hab' gesehen, daß sie Dir weh getan haben! Ich hätte so gern mit Dir gesprochen und Dich getröstet; aber ich darf ja nie mit Dir sprechen!——Arne, ich sah, daß Du trankst! Ach, Du allmächtiger Gott! Laß mich das nie wieder sehen!"—Es dauerte eine ganze Weile, bis sie weiterreden konnte. "Gott schütze Dich, mein Kind, ich habe gesehen, daß Du getrunken hast!—Plötzlich warst Du mir weg, betrunken und so vernichtet vom Schmerz,—und ich rannte in alle Häuser; ich war weit draußen auf dem Felde; ich fand Dich nicht; ich habe in jedem Gebüsch gesucht; ich habe alle Leute gefragt; hier bin ich auch gewesen, aber Du hast mir nicht geantwortet——Arne, Arne! Ich ging am Fluß entlang, aber er schien mir nirgends tief genug—" sie schmiegte sich enger an ihn.—"Da wurde es mir so leicht ums Herz: Du wärest sicher nach Hause gegangen, und ich brauchte kaum eine Viertelstunde zu dem Weg; ich machte die Tür auf und suchte in jedem Raum, und dann erst fiel mir ein, daß ich ja selbst den Schlüssel hatte; Du konntest ja nicht hineingeschlüpft sein.—Arne! heut nacht habe ich den ganzen Weg an beiden Seiten abgesucht; bis zur Kampenschlucht wagte ich gar nicht zu gehen!—Wie ich hierhergekommen bin, weiß ich nicht; keiner hat mir's gesagt, aber der liebe Gott hat mir eingegeben, Du müßtest hier sein!"

Er versuchte sie zu beruhigen. "Arne, Du wirst doch nie wieder Schnaps trinken?"—"Nein, da kannst Du ganz ruhig sein."—"Sie sind wohl schlecht zu Dir gewesen? Waren sie schlecht zu Dir?"—"Ach nein, nur—ich war so feig." Er legte einen Nachdruck auf dies Wort.—"Ich kann das gar nicht verstehen, daß sie schlecht zu Dir waren. Aber was haben sie Dir denn getan? Du sagst mir nie etwas", und sie fing wieder zu weinen an.—"Du sagst mir ja auch nie etwas", sagte Arne sanft.—"Daran bist Du schuld, Arne. Ich bin von Deinem Vater das Stillschweigen so gewohnt gewesen,—Du hättest mir ein bißchen auf den Weg helfen müssen!—Herrgott, wir haben doch weiter nichts als uns; und wir haben soviel zusammen ausgestanden."—"Wir wollen versuchen, ob es nicht besser werden kann", flüsterte der Bursch.———"Nächsten Sonntag will ich Dir die Predigt vorlesen."—"Da segne Dich Gott für!"

"Du, Arne!"—"Ja?"—"Ich muß Dir etwas sagen."—"Sag' es, Mutter."—"Ich habe gesündigt an Dir; ich habe etwas Unrechtes getan."—"Du, Mutter?" und es rührte ihn so, daß seine seelensgute, geduldige Mutter sich anklagte, sie habe gesündigt an ihm, der nie etwas wirklich Gutes für sie getan hatte, daß er den Arm um sie legte, sie streichelte und in Tränen ausbrach.—"Ja, ganz bestimmt, aber ich konnte eben nicht anders."—"Ach, Du hast mir nie ein Unrecht getan."—"O doch;—aber Gott weiß: ich tat es nur aus Liebe zu Dir. Aber Du wirst es mir verzeihen, ja?"—"Ja, ich werde es Dir verzeihen."—"So will ich es Dir ein andermal erzählen;—aber Du mußt es mir verzeihen!"—"Ja, ja, Mutter!"—"Siehst Du, daher kam es wohl, daß es mir so schwer wurde, mit Dir zu reden; ich hatte gesündigt an Dir."—"Herrgott, sprich nicht so, Mutter!"—"Ich bin froh, daß ich wenigstens soviel gesagt habe."—"Wir beiden wollen mehr zusammen reden, Mutter!"—"Ja, das wollen wir,—und dann liest Du mir doch auch die Predigt vor?"—"Ja, das tue ich."—"Armer Arne! Gott segne Dich!"—"Ich glaube, das beste ist, wir gehen nach Hause."—"Ja, gehen wir nach Hause."—"Du siehst Dich ja so um, Mutter."—"Ja, in dieser selben Scheune hat Dein Vater auch gelegen und hat geweint."—"Der Vater?" fragte Arne und wurde ganz blaß.—"Der arme Nils! Es war an dem Tage, als Deine Taufe war.——

Du siehst Dich ja so um, Arne."

Achtes Kapitel

Von dem Tag an, da Arne sich aufrichtigen Herzens bemühte, inniger mit seiner Mutter zu verkehren, wurde auch sein Verhältnis zu den andern Menschen besser. Er sah sie mehr mit den sanften Augen seiner Mutter an. Aber es wurde ihm oft schwer, seinem Vorsatz treu zu bleiben; denn seine tiefsten Gedanken verstand die Mutter nicht immer,—hier ist ein Lied aus jener Zeit:

    "Es war ein so schöner, sonniger Tag,
    Es litt mich nicht länger drinnen;
    Ich schlenderte waldwärts und lag und lag
    Und ließ die Gedanken spinnen.
    Doch die Emse kroch und die Mücke stach
    Und die Brems' und die Wespe taten's ihr nach."

"Lieber Junge, willst Du denn bei dem Prachtwetter nicht draußen bleiben?"—sagte Mutter, saß dabei auf dem Altan und sang:

    "Es war ein so schöner, sonniger Tag,
    Es litt mich nicht lange drinnen;
    Ich ging auf die Wiese und lag und lag
    Und summte so recht in Sinnen.
    Da kamen Nattern, drei Ellen lang,
    Und wollten sich sonnen—doch ich entsprang."

"Bei solch einem Gotteswetter können wir barfuß laufen",—sagte Mutter und zog die Socken aus.

    "Es war ein so schöner, sonniger Tag,
    Es litt mich nicht lange drinnen;
    Ich sprang in ein Boot und lag und lag
    Und lauschte dem Raunen und Rinnen.
    Da hat mir die Sonne die Nase zerbrannt.
    Immer alles mit Maß! Und ich ging an Land."

"Jetzt werden wir 's Heu wohl trocken hereinbringen",—sagte Mutter und warf's mit dem Rechen durcheinander.

    "Es war ein so schöner, sonniger Tag,
    Es litt mich nicht lange drinnen;
    Ich klomm auf 'nen Baum; potz Donnerschlag,
    Hier treibt ihr mich nicht von hinnen!
    Da rutscht' eine Raupe mir vorn in die Brust,—
    Ich hüpfte und schrie; das war eine Lust!"

"Na, wenn die Kuh heut den Koller nicht kriegt, so kriegt sie ihn nie", sagte Mutter und blinzelte hinauf in die Glut.

    "Es war ein so schöner, sonniger Tag,
    Es litt mich nun einmal nicht drinnen;
    So ruht' ich nicht, bis ich im Wasserfall lag:
    Da war wohl nun Ruh zu gewinnen.
    Die Sonne schien weiter, indes ich versank,—
    Und ist dies Lied deines,—bist du's, der ertrank."

"Bloß drei solche sonnige Tage, und alles ist unter Dach",—sagte Mutter und ging mein Bett machen.

Trotzdem wurde das Zusammenleben mit der Mutter mit jedem Tage ein größeres Glück für ihn. Was sie nicht verstand, schlug ebensogut eine Brücke zu ihm wie das, was sie verstand. Denn über alles, was sie nicht verstand, dachte er nur um so eingehender nach, und sie wurde ihm nur lieber dadurch, daß er nach allen Seiten die Grenzen in ihr erkannte. Ja, sie wurde ihm unendlich teuer!

Arne hatte sich als Kind nichts aus Märchen gemacht. Jetzt als erwachsener Mensch bekam er Sehnsucht nach Märchen, und sie hatten Volkssagen und Heldenlieder im Gefolge. In sein Herz kam eine seltsame Sehnsucht; er ging viel allein, und manches, worauf er zuvor gar nicht geachtet hatte, erschien ihm wunderbar schön. Zu der Zeit, als er mit seinen Altersgenossen zum Konfirmandenunterricht gegangen war, hatten sie häufig an einem großen See vor dem Pfarrhaus gespielt, dem sogenannten schwarzen See, weil er gar so tief und schwarz dalag. Dieser See kam ihm jetzt in den Sinn, und eines Abends stieg er da hinauf.

Er setzte sich unter einen Busch dicht neben dem Pfarrhof; der lag an einem sehr steilen Abhang, der schließlich zu einer hohen Felswand anstieg; genau so war es am andern Ufer, so daß von beiden Seiten lange Schlagschatten über den See fielen: in der Mitte aber war ein schöner silbriger Wasserstreifen geblieben. Alles lag in tiefer Ruhe; die Sonne war im Sinken; leises Glockenläuten klang vom andern Ufer herüber,—sonst aber war es ganz still. Arne schaute nicht geradeaus, sondern hinunter auf den Grund des Sees, weil die Sonne vorm Untergehen eine zittrige Röte drüber hinausgesandt hatte. Unten traten die Felsen etwas zur Seite, so daß ein langgestrecktes, niederes Tal entstand, gegen das das Wasser schlug. Aber es sah aus, als neigten sich die Felsen langsam zueinander, um das zwischen ihnen liegende Tal gewissermaßen zu schaukeln. Ein Gehöft lag in dem Tal neben dem andern; Rauchwölkchen stiegen empor und verteilten sich; die grünen Felder dampften; Boote, mit Heu beladen, kamen an Land. Er sah viele Menschen hin und her gehen, hörte aber kein Geräusch. Seine Augen wandten sich von diesem Bilde zum Strand hinüber, wo nur Gottes düsterer Wald sich erhob. Durch den Wald und am See entlang hatten die Menschen sich wie mit einem Finger einen Weg gemacht, denn man sah einen Staubstreifen sich gleichmäßig hindurchschlängeln. Den verfolgte er mit den Augen bis genau der Stelle gegenüber, wo er saß; da hörte der Wald auf; die Felsen traten mehr zurück, und gleich lag wieder ein Gehöft neben dem andern. Da standen noch größere Häuser als unten im Grunde, rot angestrichen, mit größeren Fenstern, die in der Sonne brannten. Helles Sonnenlicht lag auf den Höhen; auch das kleinste Kind, das da spielte, war deutlich zu sehen; blendend weißer Sand lag hart am See; da sprangen Kinder mit ein paar Hunden herum. Aber auf einmal war alles sonnenverlassen und schwer, die Häuser waren dunkelrot, die Wiese schwarzgrün, der Sand grauweiß, die Kinder wie kleine Klümpchen; eine Nebelwand war über den Bergen aufgestiegen und hatte die Sonne verdeckt. Arnes Auge flüchtete aufs neue zum Wasser hinunter; da aber fand er das Ganze wieder. Die Felder wogten, der Wald zog sich schweigend hin, hoch oben lagen die Häuser und schauten hernieder, die Türen standen offen, und die Kinder liefen aus und ein. Märchen und Kinderträume kamen wie kleine Fische nach der Angel, stoben auseinander, kamen wieder, spielten herum, bissen aber nicht an.

"Wir wollen uns hier hinsetzen, bis Deine Mutter nachkommt; die Frau Pfarrer wird ja auch mal fertig werden."—Arne schrak zusammen; es hatte sich jemand dicht hinter ihn gesetzt. "Aber ich könnte doch ganz gut bloß noch diese eine Nacht hier bleiben", sagte flehend eine tränenerstickte Stimme; sie mochte einem nicht ganz erwachsenen Mädchen gehören. "Hör' jetzt auf zu weinen; es ist recht häßlich, daß Du weinst, weil Du nach Hause zu Deiner Mutter sollst." Es war eine sanfte Stimme, die langsam sprach und einem Manne gehörte. "Darüber weine ich ja nicht."—"Worüber weinst Du denn sonst?"—"Weil ich nicht mehr mit Mathilde zusammen sein kann."

So hieß die einzige Tochter des Pfarrers, und es fiel Arne ein, daß ein Bauernmädchen mit ihr zusammen erzogen war. "Das konnte ja doch nicht ewig dauern."—"Ja, aber einen Tag doch noch, Vater!" und sie schluchzte bitterlich.—"Es ist das beste, Du fährst gleich mit nach Hause;—vielleicht ist es schon zu spät."—"Zu spät? Warum? Wie meinst Du das?"—"Du bist als Bauernmädchen geboren, und ein Bauernmädchen sollst Du bleiben; 'ne Zierpuppe können wir uns nicht leisten."—"Ich könnte doch auch ein Bauernmädchen sein, wenn ich hier bliebe."—"Das verstehst Du nicht."—"Ich habe doch immer Bauerntracht angehabt."—"Das allein macht's nicht."—"Ich habe doch auch gesponnen und gewebt und kochen gelernt."—"Das ist es auch nicht."—"Ich kann doch genau so sprechen wie Du und die Mutter."—"Auch das ist's nicht."—"Ja, dann weiß ich nicht, was es sein kann", sagte das Mädchen und lachte.—"Das wird sich ja herausstellen;—ich habe bloß Angst, Du denkst jetzt schon zuviel."—"Denkst, denkst! Das sagst Du immer; ich denke überhaupt nicht", sie fing wieder zu weinen an.—"Ach, Du bist ein Windbeutel!"—"Das hat der Herr Pfarrer nie zu mir gesagt."—"Nein, aber ich sage es jetzt."—"Windbeutel? Ist so was erhört? Ich will aber kein Windbeutel sein!"—"Was willst Du denn sonst sein?"—"Was ich sein möchte? Ist so 'was erhört? Nichts möchte ich sein."—"Nun, so sei doch ein Nichts!" Da lachte das Mädchen. Nach einer Weile sagte sie ernsthaft: "Es ist gräßlich von Dir, daß Du sagst, ich bin ein Nichts."—"Herrgott, wenn Du es doch selbst sein möchtest!"—"Nein, ich möchte kein Nichts sein."—"Gut, so sei alles!"—Das Mädchen lachte. Nach einer Weile sagte sie mit betrübter Stimme: "So hat mich der Herr Pfarrer nie zum Narren gehabt."—"Nein, er hat bloß einen Narren aus Dir gemacht."—"Der Herr Pfarrer? So nett bist Du nie zu mir gewesen wie der Herr Pfarrer."—"Das wäre ja auch noch schöner."—"Saure Milch kann nie süß werden."—"Doch, wenn man Käse davon macht."—Da lachte das Mädchen laut auf. "Da kommt Deine Mutter!" Gleich wurde sie wieder ernst.

"So ein redseliges Frauenzimmer wie die Frau Pfarrer hab' ich mein Lebtag nicht gesehen", gellte jetzt eine scharfe, hastige Stimme dazwischen. "Schnell, Baard, steh auf und mach' das Boot klar! Wir kommen sonst heut abend nicht mehr nach Hause.—Die Frau hat gesagt, ich soll aufpassen, daß Eli immer trockne Füße hat. Mußt schon selbst drauf passen! Und jeden Morgen spazieren laufen wegen der Bleichsucht! Bleichsucht hin, Bleichsucht her!—Steh doch auf, Baard, und mach' das Boot klar; ich muß heut abend noch den Teig anrühren!"—"Der Koffer ist noch nicht da", sagte er und blieb ruhig liegen. "Der Koffer soll auch gar nicht mit; der soll bis zum nächsten Sonntag hier bleiben. Hörst Du, Eli, steh auf; nimm Dein Bündel und komm! Steh doch auf, Baard!"—Sie fort, das Mädchen hinter ihr her. "Komm doch; aber so komm doch!" klang es von unten herauf. "Hast Du nachgesehen, ob der Zapfen im Boot steckt?" fragte Baard und blieb ruhig liegen. "Ja, der steckt drin", und Arne hörte, wie sie ihn mit einer Schöpfkelle festklopfte. "Aber so steh doch auf, Baard! Wir können doch nicht die Nacht über hier liegen bleiben?"—"Ich warte auf den Koffer."—"Aber Du meine Güte, ich habe Dir doch gesagt, er soll bis zum nächsten Sonntag hier bleiben."—"Da kommt er schon", sagte Baard. Und sie hörten Wagengerassel. "Aber ich habe doch gesagt, er soll bis zum nächsten Sonntag hier bleiben."—"Ich habe aber gesagt, er soll gleich mit."—Ohne weiteres lief die Frau nun zum Wagen und trug Bündel, Korb und sonst ein paar Kleinigkeiten ins Boot hinunter. Da erhob Baard sich auch, stieg hinauf und lud sich den Koffer auf.

Hinter dem Wagen aber kam ein Mädel hergelaufen im Strohhut und mit flatternden Haaren; das war das Pfarrerstöchterlein. "Eli, Eli!" rief sie schon von weitem. "Mathilde, Mathilde!" antwortete ihr die andere, lief hinauf und ihr entgegen. Sie trafen oben auf dem Hügel zusammen, fielen sich in die Arme und weinten. Dann nahm Mathilde etwas auf, was sie so lange ins Gras gesetzt hatte; es war ein Vogelbauer. "Du sollst den Narrifas haben, wirklich, Mutter will's auch. Du sollst jetzt den Narrifas haben, ja, wirklich—und: denk auch mal an mich—und komm … komm … komm oft herübergerudert zu mir"; und sie weinten beide bitterlich. "Eli! komm doch, Eli! Du kannst da doch nicht stehen bleiben!" klang es von unten herauf.—"Aber ich will mit," sagte Mathilde, "ich will mit Dir hinüber und heut nacht bei Dir schlafen!"—"Ja, ja, ja!"—und eng umschlungen liefen sie an die Landungsstelle hinunter. Nach einer Weile gewahrte Arne das Boot auf dem See; Eli stand mit dem Vogelbauer aufrecht hinten am Steuer und winkte; Mathilde saß am Steg und weinte.

Da blieb sie sitzen, solange das Boot auf dem Wasser war; bis zu den roten Häusern war's, wie gesagt, nicht weit, und Arne blieb auch sitzen. Auch er verfolgte das Boot mit den Augen. Es kam bald in den Schatten hinein, und er wartete, bis es anlegte; dann sah er sie im Wasser, und hier folgte er ihnen zu den Häusern hin, bis zu dem allerschönsten. Er sah die Mutter zuerst hineingehen, sah den Vater mit dem Koffer und schließlich die Tochter, soweit er sie an der Größe unterscheiden konnte. Nach einer Weile kam die Tochter wieder heraus und setzte sich vor die Tür, wahrscheinlich um in dem letzten Sonnenstrahl noch einmal herüberzuschauen. Das Pfarrerstöchterlein aber war schon fort, und nur er saß noch und sah ihr Bild im Wasser. "Ob sie mich wohl sieht?"——

Er stand auf und ging; die Sonne war hinunter, der Himmel aber war so hell und klarblau, wie er in Sommernächten ist. Von Wasser und Land stieg der Dunst zu beiden Seiten an den Felsen hoch; die Gipfel aber blieben frei und schauten zueinander hinüber. Er klomm höher hinauf; das Wasser wurde schwärzer und tiefer und gewissermaßen dichter. Das Tal unten im Grunde wurde kürzer und schob sich weiter ans Wasser heran; die Felsen rückten dem Auge näher und verschwammen in einen Klumpen, denn das Sonnenlicht zieht Grenzen. Selbst der Himmel kam tiefer hernieder, und alles wurde freundlich und traulich.

Neuntes Kapitel

Liebe und Frauen begannen in seinen Gedanken eine Rolle zu spielen; die Heldenlieder und die alten Geschichten ließen sie ihm in einem Zauberspiegel sehen—wie das Bild des Mädchens im Wasser. Er starrte beständig hinein, und nach jenem Abend kam die Lust über ihn, es zu besingen; denn es war ihm näher gerückt. Aber der Gedanke entschlüpfte ihm und kam zurück mit einem Liede, von dem er selbst nichts wußte; es war, als habe ein anderer es für ihn gedichtet:

    Jung Venevil hüpfte auf leichtem Schuh
      Ihrem Liebsten zu.
    Da klang's ihr entgegen wie Lerchenschlag:
      "Guten Tag! guten Tag!"

    Und all die kleinen Vöglein sangen lustig mit im Hag:
      "Zum Fest Sankt Johanns
      Da gibt's Lachen und Tanz;
    Doch nicht aus jedem Kränzlein wird ein hochzeitlicher Kranz!"

    Sie flocht ihm eins aus den Veiglein der Au:
      "Meine Äuglein blau!"
    Hoch warf er's empor in den Lenzsonnenschein:
      "Leb' wohl, Freundin mein!"
    Und jubelte und stürmte wie ein Füllen feldein:
      "Zum Fest Sankt Johanns…"

    Sie flocht ihm eines aus ihrem hellen Haar:
      "Du nimmst es, nicht wahr?"
    Sie flocht, sie bot ihm zum seligen Bund
      Ihren roten Mund:
    Er nahm und bekam ihn—und ihr Herz in Flammen stund.

    Sie flocht eines weiß in ein Lilienband:
      "Meine rechte Hand."
    Und eines, zu dem sie Blutrosen schnitt:
      "Meine linke mit."
    Er nahm sie alle beide,—doch sein Blick zur Seite glitt.

    Sie flocht eins aus Blumen überallher:
      "Ich fand nicht mehr!"
    Sank weinend zu Boden, flocht weiter ohne Ruh:
      "Nimm die, alle, du!"
    Er sagte nichts und nahm sie nur—und floh den Bergen zu.

    Sie flocht ihm eins ohne Farben ganz:
      "Meinen Hochzeitskranz!"
    Sie flocht, bis sie nichts mehr vor Tränen sah:
      "Setz' dir den auf, ja?"
    Doch da sie sich tat wenden, stand niemand mehr da.

    Und weiter flocht sie, versunken ganz
      An dem Hochzeitskranz.
    Doch jetzt war es längst übers Fest Sankt Johanns,
      Weit der Lenz und sein Glanz:
    Noch aus Eisblumen flocht sie—doch im Flechten zerrann's…
      "Zum Fest Sankt Johanns—
      Da gibt's Lachen und Tanz;
    Doch nicht aus jedem Kränzlein wird ein hochzeitlicher Kranz!"

Es war die Wehmut in ihm, die auf das erste Liebesbild, das durch seine Seele zog, ihre tiefen Schatten warf. Eine doppelte Sehnsucht: jemanden lieb zu haben und etwas Großes zu werden, die beiden Wünsche verschmolzen in eins. In dieser Zeit arbeitete er wieder an dem Gedicht "Über die hohen Berge", änderte dran herum, sang und dachte bei sich selbst: "Es wird schon noch glücken; ich singe solange, bis ich den Mut finde." Er vergaß die Mutter in diesen seinen Wandergedanken nicht; er tröstete sich nämlich mit dem Vorsatz: sobald er festen Fuß in der Fremde gefaßt habe, würde er sie holen und ihr ein Los bereiten, wie er es daheim nimmermehr sich oder ihr schaffen könne. Mitten in diese große Sehnsucht hinein aber stahl sich etwas Stilles, Frisches, Feines, huschte weg und kam wieder, tauchte auf und verschwand, und da er zum Träumer geworden war, hatten diese unwillkürlichen Gedanken weit mehr Macht über ihn, als ihm selber bewußt war.

Im Dorf lebte ein vergnüglicher alter Mann, Ejnar Aasen mit Namen. Als Zwanzigjähriger hatte er sich das Bein gebrochen; seit der Zeit ging er am Stock; aber wo er mit seinem Stock angehumpelt kam, ging es lustig zu. Der Mann war reich; ein großes Gehölz von Nußsträuchern lag auf seinem Grund und Boden, und an einem recht schönen, sonnigen Tag im Herbst pflegte eine ganze Schar fröhlicher Mädchen bei ihm zum Nußpflücken versammelt zu sein. Tags war große Bewirtung und abends Tanz. Bei den meisten Mädchen hatte er Gevatter gestanden; denn er stand beim halben Dorf Gevatter; alle Kinder nannten ihn Pate, und alt und jung sprach es nach.

Der Pate war mit Arne sehr gut bekannt und mochte ihn um seiner Lieder willen gern leiden. Jetzt lud er ihn zur Nußernte ein. Arne errötete und machte Ausflüchte; er sei es nicht gewöhnt, mit Frauenzimmern zusammen zu sein, sagte er. "So mußt Du Dich dran gewöhnen", antwortete der Pate.

Arne konnte nachts bei dem Gedanken nicht schlafen; Furcht und Sehnsucht stritten in ihm: aber das Ende vom Lied war: er ging hin und war der einzige Bursch unter all den Frauenzimmern. Er konnte sich eine Enttäuschung nicht verhehlen; das waren nicht solche, wie er sie besungen hatte, auch nicht solche, vor denen er Angst gehabt hatte. Sie machten eine Wirtschaft, wie er sein Lebtag nicht gesehen hatte, und am meisten wunderte er sich darüber, daß sie über nichts und wieder nichts lachen konnten; und wenn drei lachten, dann lachten die andern fünf auch, bloß weil die drei lachten. Alle benahmen sich, als lebten sie Tag für Tag zusammen, und viele hatten sich bis jetzt noch nie gesehen. Wenn sie den Zweig erhaschten, nach dem sie in die Höhe sprangen, lachten sie drüber, und wenn sie ihn nicht erhaschten, lachten sie auch. Sie balgten sich um den Nußhaken; die ihn eroberten, lachten, und die ihn nicht eroberten, lachten auch. Der Pate humpelte am Stock hinter ihnen her und trieb allen möglichen Schabernack mit ihnen. Die er haschte, lachten, weil er sie haschte; und die er nicht haschte, lachten, weil er sie nicht haschte. Alle miteinander aber lachten sie über Arne, weil er solch ein ernstes Gesicht machte, und als er dann lachen mußte, lachten sie, weil er endlich lachte.

Schließlich setzten sie sich auf eine Anhöhe, der Pate in die Mitte und die Mädchen alle um ihn herum. Da hatte man einen weiten Blick; die Sonne stach, aber sie kümmerten sich nicht drum, bewarfen sich mit den Nußschalen und den Hülsen und gaben dem Paten die Kerne. Der Pate versuchte sie zum Schweigen zu bringen und schlug mit seinem Stock um sich, soweit er reichte, denn er wünschte, jetzt solle etwas erzählt werden, etwas recht Lustiges. Aber sie zum Geschichtenerzählen zu bewegen, schien schwieriger zu sein, als einen bergab sausenden Wagen aufzuhalten. Der Pate fing an; manche wollten nichts hören, denn seine Geschichten kannten sie schon; aber schließlich hörte doch alles zu. Und ehe sie sich's versahen, waren sie mitten drin im besten Erzählen. Da wunderte sich Arne wieder über eins: so lebhaft sie vorhin gewesen waren, so ernst waren jetzt ihre Geschichten. Sie handelten meistens von Liebe.

"Aber Du, Aase, kennst eine hübsche; das weiß ich noch vom vorigen Jahr", sagte der Pate und wandte sich an ein stattliches Mädel mit einem gutmütigen, rundlichen Gesicht; sie saß und flocht ihrer jüngeren Schwester, die den Kopf in ihren Schoß gelegt hatte, das Haar. "Die kennen aber wohl viele", antwortete sie. "Erzähl' sie doch", baten alle. "Ich will mich nicht lange nötigen lassen", sagte sie und erzählte und sang, während sie immer weiter flocht:

"Es war einmal ein Bursch, der hütete das Vieh, und er trieb die Herde am liebsten an einem breiten Fluß entlang. Wenn er höher hinaufkam, war da ein Felsen, der soweit in den Fluß hinausragte, daß der Bursch nach der andern Seite hinüberrufen konnte. Denn drüben auf der andern Seite war ein Hirtenmädchen, das er den ganzen Tag über vor Augen hatte, ohne zu ihr kommen zu können.

    Dei' Blas'n, des geht mir
    Ganz sakrisch in's Bluet.
    Geh, Deandl, wie hoaßt denn?
    Du g'fallst mer so guet!

Ein paar Tage lang wiederholte er dieselbe Frage und schließlich bekam er Antwort:

    Mit der Liab' in dein' Herz'n
    Und dein' Bockshuet a'm Kopf—
    Schwimm 'rüber, wenns d'Schneid hast,
    Du damischer Tropf!

Da war der Bursch so klug wie vorher und nahm sich vor, sich nicht weiter um sie zu kümmern. Das ging aber nicht so einfach; denn er mochte die Herde treiben, wohin er wollte, immer zog es ihn wieder zum Felsen hin. Da wurde dem Burschen bange, und er rief:

    Wo hat denn dei' Vota
    Sei' Hütt'n hi'baut,
    Daß koaner am Kirchgang
    Di nie net derschaut?

Der Bursch glaubte nämlich halb und halb, sie müsse eine Waldhexe sein.

    Mei' Vota is tot
    Und die Hütt'n verbrennt—
    I hab' no' mei' Lebtag
    Koan' Pfarrer net 'kennt.

Hieraus wurde der Bursch ebensowenig klug. Den Tag über war er auf dem Felsen; des Nachts träumte er, sie tanze um ihn herum, und jedes Mal, wenn er sie haschen wollte, schlage sie mit einem langen Kuhschweif nach ihm. Er fand kaum noch Schlaf; arbeiten konnte er auch nicht mehr, und es war um den Burschen übel bestellt.

    Wenns d'a Trud bist, na mog i
    Nix wissn vo' dir,
    Aber bist nur a Deandl,
    Na ko'st red'n mit mir.

Aber es kam keine Antwort, und da stand es bei ihm fest, sie müsse eine Waldhexe sein. Er gab das Viehhüten auf, aber da wurde es auch nicht besser; denn wo er ging und stand, und was er auch tat, immer dachte er an die schöne Waldhexe, die das Horn blies.

Als er eines Tages stand und Holz hackte, kam ein Mädchen über den Hof gegangen, das leibhaftig wie die Waldhexe aussah. Aber als sie näher herankam, war sie es doch nicht. Das ging ihm im Kopf herum; da kam das Mädchen zurück, und von weitem war es die Waldhexe, und er lief ihr entgegen. Aber sowie sie näher herankam, war sie es doch nicht.

Fortan mochte der Bursch sein, wo er wollte, in der Kirche, beim Tanz oder bei andrer Geselligkeit,—das Mädchen war auch da; von weitem sah sie aus wie die Waldhexe, in der Nähe war sie eine andere; er fragte sie dann, ob sie es sei oder ob sie es nicht sei; sie aber lachte ihn aus. Man kann gerade so gut hineinspringen wie hineinkriechen, dachte der Bursch, und also heiratete er das Mädchen.

Als das aber geschehen war, mochte er das Mädel nicht mehr leiden. War er fern von ihr, so sehnte er sich nach ihr; war er bei ihr, so sehnte er sich nach einer, die er nicht sah. Deshalb behandelte der Bursch seine Frau schlecht; sie ertrug es und schwieg.

Eines Tages aber, als er die Pferde holen wollte, kam der Bursch an den
Felsen, setzte sich nieder und rief:

    Der Mond und die Sterndln
    Und 's Wasser derzua—
    Es rihrt si weitum nix—
    Nur i hob koan Ruah.

Es tat dem Burschen wohl, da zu sitzen, und von nun an ging er immer hin, wenn es ihm zu Haus nicht gefiel. Seine Frau weinte, wenn er fort war.

Eines Tages aber, als er so dasaß, da saß auch die Waldhexe leibhaftig am andern Ufer und blies ihr Horn!

    Da bist ja, da hockst ja
    Und blas't wie net g'scheit!
    Und i mueß grod woana—
    Tuet jed's, wos eahm g'freit.

Da antwortete sie:

    Deine Äugerln mach zue,
    Über d' Ohr'n ziag dein' Huet!
    Schau mi net an, hör' mi net an—
    'S tuet d'r net guet!

Da wurde aber dem Burschen bange, und er ging wieder nach Hause. Doch es dauerte nicht lange, da war er seiner Frau so überdrüssig, daß er wieder in den Wald zu seinem Platz am Felsen mußte. Da klang es ihm entgegen:

    Mir hat's alleweil traamt:
    Es fangt mi no wer!—
    Ja, Gernhab'n is leicht,
    Aber Fanga is schwer…

Der Bursch fuhr in die Höhe und schaute sich um, und da schlüpfte ein grüner Rock zwischen den Büschen hin. Er hinterher. Nun ging die Jagd durch den ganzen Wald. So leichtfüßig, wie die Waldhexe war, konnte kein Menschenkind sein; er warf einmal ums andere die Schlinge nach ihr; sie lief immer gleich schnell weiter. Aber endlich begann sie müde zu werden, das sah der Bursch an den Fußspuren; doch er sah auch an ihrer ganzen Gestalt, daß sie wirklich die Waldhexe war und keine andere. Jetzt hab' ich Dich', dachte der Bursch, und stürzte mit einem Mal so ungestüm auf sie zu, daß er und die Waldhexe ein ganzes Stück den Abhang hinunterkugelten, bis sie liegen blieben. Da lachte die Waldhexe, daß es in den Bergen klang, wie dem Burschen schien; er nahm sie auf den Schoß, und sie war genau so schön, wie er sich seine eigne Frau gewünscht hatte. 'O sag', wer bist Du nur, Du Süße?' fragte der Bursch und streichelte sie, und ihr glühten die Backen. 'Aber mein Gott, ich bin doch Deine eigene Frau', sagte sie."

Die Mädchen lachten und machten sich über den Burschen lustig. Der Pate aber fragte Arne, ob er auch gut zugehört habe.

——"Na, jetzt will ich mal was erzählen", sagte eine Kleine mit einem runden Gesichtchen und einer winzig kleinen Nase.

"Es war einmal ein sehr kleiner Bursch; der wollte gern ein kleines Mädel heiraten. Erwachsen waren sie alle beide, aber sie waren gar klein von Gestalt. Und der Bursch konnte mit der Werbung nicht ins reine kommen. Er war in der Kirche an ihrer Seite, aber dann wurde immer vom Wetter gesprochen; er war beim Tanz mit ihr zusammen und tanzte sie fast kaputt; aber sagen tat er nichts. 'Du mußt schreiben lernen, dann geht's leichter', sagte er sich,—und der Bursch machte sich ans Schreiben; er dachte immer, es sei nicht schön genug, und deshalb übte er ein halbes Jahr, bis er an einen Brief denken konnte. Nun galt es, ihn ihr so zuzustecken, daß keiner es sah, und einmal hinter der Kirche traf es sich so, daß sie allein standen. 'Ich hab' einen Brief für Dich', sagte der Bursch. 'Aber ich kann kein Geschriebenes lesen', antwortete das Mädchen.—Na, da stand der Bursch da.—Er zog nun bei dem Vater des Mädchens in Dienst und wich ihr den lieben langen Tag nicht von der Seite. Einmal war er nahe daran zu reden; er tat schon den Mund auf, aber da flog ihm eine große Fliege hinein.—'Wenn bloß keiner kommt und sie mir wegschnappt', dachte der Bursch. Aber es kam keiner und schnappte sie ihm weg, denn sie war gar so klein.—Aber schließlich kam doch einer; denn der war auch nur so klein. Der Bursch merkte recht gut, was er wollte, und als die beiden zusammen auf die Altane gingen, setzte der Bursch sich vors Schlüsselloch. Jetzt warb der da drinnen um sie. 'Herrjeh, ich Dummkopf, daß ich mich nicht beeilt habe!' dachte der Bursch. Der da drinnen küßte das Mädel mitten auf den Mund.—'Das schmeckt gewiß gut', dachte der Bursch. Der da drinnen aber nahm das Mädel auf den Schoß. 'Ist das 'ne Welt!' sagte der Bursch und fing zu weinen an. Das hörte das Mädchen und ging an die Tür: 'Was willst Du eigentlich von mir, Du dummer Bengel; kannst Du mich nicht in Ruh lassen'—'Ich?—ich möchte bloß bitten, daß ich Dein Brautführer sein darf.'—'Nein, das sollen meine Brüder sein', antwortete das Mädchen und warf die Tür zu.—Na, da hatte der Bursch das Nachsehen"

Die Mädchen lachten sehr über diese Geschichte und warfen sich dann wieder mit Nußschalen.

Der Pate wünschte, Eli Böen solle etwas erzählen. Was denn aber?! Ja, sie solle erzählen, was sie ihm auf der Anhöhe erzählt hatte, als er das letztemal bei ihnen war, damals als sie ihm die neuen Strumpfbänder geschenkt hatte. Es dauerte eine Weile, bis Eli sich entschloß, denn sie lachte fürchterlich; aber dann erzählte sie:

"Ein Mädchen und ein Bursch gingen zusammen spazieren. 'O sieh bloß die Drossel, die hinter uns herfliegt', sagte das Mädchen. 'Die fliegt hinter mir her', sagte der Bursch.—'Kann ebensogut hinter mir sein', antwortete das Mädchen.—'Das werden wir bald sehen', meinte der Bursch; Jetzt gehst Du den unteren Weg und ich den oberen, und da hinten treffen wir wieder zusammen.' Das taten sie. 'Ist sie etwa nicht mit mir geflogen?' fragte der Bursch, als sie wieder zusammenkamen. 'Nein, sie ist ja hinter mir hergeflogen', antwortete das Mädchen.—'Dann müssen hier zwei sein.' Sie gingen zusammen ein Stück weiter; aber es war doch bloß eine; der Bursch behauptete, sie fliege auf seiner Seite, das Mädchen dagegen behauptete, sie fliege auf ihrer. 'Ich schere mich den Teufel um die Drossel', sagte der Bursch. 'Na, ich auch', antwortete das Mädchen.—Sowie sie das aber gesagt hatten, war auch die Drossel verschwunden. 'Das war auf Deiner Seite', sagte der Bursch. 'Na, ich danke schön! ich hab' genau gesehen, daß es auf Deiner war.——Aber da!—da ist sie ja wieder!' rief das Mädchen. 'Ja, auf meiner Seite!' rief der Bursch. Nun wurde aber das Mädchen böse. 'Ich verdiente ja den Strick, wenn ich noch weiter mit Dir ginge!' und damit ging sie ihren eignen Weg.—Da verließ die Drossel den Burschen, und es wurde ihm so langweilig, daß er zu rufen anfing. Sie antwortete. 'Ist die Drossel bei Dir?' rief der Bursch. 'Nein, aber ist sie bei Dir?'—'Ach nein! Du mußt wieder herkommen, dann fliegt sie vielleicht auch wieder mit,' Und das Mädchen kam. Sie faßten sich an der Hand und gingen zusammen weiter. 'Kiwitt, kiwitt, kiwitt, kiwitt!' klang es neben dem Mädchen. 'Kiwitt, kiwitt, kiwitt, kiwitt!' klang es neben dem Burschen. 'Kiwitt, kiwitt, kiwitt, kiwitt, kiwitt, kiwitt, kiwitt, kiwitt', rief es an allen Seiten, und als sie hinsahen, flogen hunderttausend Millionen Drosseln um sie herum. 'Nein, wie seltsam!' sagte das Mädchen und blickte zu dem Burschen auf. 'Gott schütze Dich!' sagte der Bursch und strich dem Mädchen über die Wange."

Diese Geschichte fanden alle Mädchen sehr schön.

Dann schlug der Pate vor, sie sollten erzählen, was sie diese Nacht geträumt hätten, und dann wollte er entscheiden, wer den schönsten Traum gehabt habe. Nein, erzählen zu sollen, was sie geträumt hatten! Nein, so was! Und es entstand ein Gelächter und Getuschle ohne Ende. Dann aber sagte eine nach der andern, sie habe solchen schönen Traum heut nacht gehabt; so schön wie der, den sie gehabt hätten, könnt' er aber auf keinen Fall gewesen sein, sagten wieder andere. Und schließlich wollten sie alle gern ihre Träume erzählen. Aber es durfte nicht laut sein; nur einer sollte es hören, aber nicht der Pate. Arne saß still ein Stückchen abseits,—dem konnte man sie erzählen.

Arne setzte sich unter eine Hasel, und dann kam die zu ihm hin, die zuerst erzählt hatte. Sie besann sich eine ganze Zeit, dann aber erzählte sie: "Mir träumte, ich stände an einem großen Wasser. Da sah ich einen über das Wasser gehen; wer's war, sag' ich nicht. Er setzte sich in eine große Seerose hinein und sang. Ich aber stieg auf eins der großen Blätter, die die Seerose hat, und die auf dem Wasser schwimmen; auf dem wollte ich zu ihm hinüberrudern. Aber kaum stand ich auf dem Blatt, als es mit mir zu sinken begann, so daß ich Angst bekam und weinte. Da ruderte er in der Seerose heran, zog mich zu sich in die Blume hinein und fuhr mit mir über das ganze Wasser.—War das nicht ein schöner Traum?"

Nun kam die Kleine, die vorhin die Geschichte von den Kleinen erzählt hatte: "Mir träumte, ich hätte einen kleinen Vogel gefangen, und ich freute mich so, und wollte ihn auch nicht loslassen, bis ich zu Haus in der Stube sei. Aber da konnte ich ihn nicht los lassen, weil sonst die Eltern mir gesagt hätten, ich solle ihn wieder hinausbringen. So ging ich mit ihm auf den Boden; aber da schlich lauernd die Katze umher, und so konnte ich ihn hier doch auch nicht loslassen. Da wußte ich meiner Seele keinen Rat und ging in die Scheune. Gott, da waren so viele Ritzen, wie leicht hätte er durchschlüpfen können. Na, da ging ich wieder auf den Hof hinunter, und da stand einer, wer, sag' ich nicht. Er spielte mit einem ganz großen Hund. 'Ich möchte lieber mit Deinem Vogel spielen', sagte er und kam ganz nahe heran. Ich lief fort, und er und der große Hund hinterher, und ich lief über den ganzen Hof; da aber machte Mutter die Tür auf, zog mich hinein und warf die Tür zu. Draußen aber stand der Bursch mit dem Gesicht an den Scheiben und lachte. 'Guck', hier ist der Vogel!' sagte er—und denk nur, da hatte er den Vogel.—War das nicht ein hübscher Traum?"

Dann kam die, die von den Drosseln erzählt hatte. Eli hatten sie zu ihr gesagt. Das war dieselbe Eli, die er an jenem Abend im Boot und im Wasser gesehen hatte. Es war dieselbe und auch wieder nicht dieselbe; so groß und schön saß sie da mit dem feinen Gesicht und der schlanken Gestalt. Sie wollte sich halb totlachen, und so dauerte es eine ganze Zeit, bis sie soweit war; dann aber erzählte sie: "Ich hatte mich so sehr drauf gefreut, heute ins Nußholz zu kommen, und da träumte mir heut nacht, ich säße hier auf dem Hügel. Die Sonne schien, und ich hatte den ganzen Schoß voll Nüsse. Aber da war auf einmal ein kleines Eichhörnchen mitten unter den Nüssen; es hockte auf meinem Schoß und aß die ganzen Nüsse auf.—War das nicht ein komischer Traum?"

Und noch mehr Träume wurden ihm erzählt; dann aber sollte er sagen, welcher der schönste sei. Er bat sich Bedenkzeit aus, und unterdes zog der Pate mit der ganzen Schar zum Gehöft hinunter, und Arne sollte nachkommen. Sie sprangen die Anhöhe hinab, stellten sich, als sie in die Ebene gekommen waren, in Reihen auf und wanderten singend heimwärts.

Er saß allein und lauschte dem Gesang; die Sonne fiel gerade auf die Mädchenschar, so daß ihre weißen Hemdärmel schimmerten. Dann und wann faßte die eine die andre um; sie tanzten über die Wiese hin, der Pate mit dem Stock hinterher, weil sie ihm das Grummet niedertraten. Arne dachte nicht mehr an die Träume; er sah bald überhaupt nicht mehr zu den Mädchen hin; seine Gedanken zogen sich wie feine Sonnenfäden über das Tal, und er saß allein auf dem Hügel und spann. Ehe er's recht wußte, war er mitten in einem dichten Gewebe von Schwermut; er sehnte sich hinaus in die Welt, wie noch nie. Er nahm sich das feste Versprechen ab, sowie er nach Hause komme, mit der Mutter drüber zu reden; es mochte gehen, wie es wolle.

Seine Gedanken wurden immer mächtiger und strömten in das Lied aus: "Über die hohen Berge." So schnell waren ihm nie die Worte gekommen und nie hatten sie sich so sicher aneinandergefügt; sie waren fast wie die Mädchen, die im Kreise auf dem Hügel saßen. Er hatte ein Stück Papier bei sich und schrieb auf seinen Knien, und als er das Lied zu Ende geschrieben hatte, stand er wie erlöst auf, mochte nicht unter Menschen, sondern ging den Waldweg heimwärts, obschon er wußte, er werde dann die Nacht mit zu Hilfe nehmen müssen. Als er unterwegs zum erstenmal Rast machte, wollte er das Lied herausholen und es weithin schmettern; aber da hatte er es liegen lassen, wo er es gemacht hatte.

—Eins der Mädchen suchte ihn auf dem Hügel und fand ihn nicht, wohl aber das Lied.

Zehntes Kapitel

Mit der Mutter zu reden, war leichter gedacht als getan. Er machte Anspielungen auf Kristian und die Briefe, die nicht kamen; aber die Mutter wandte ihm den Rücken, und tagelang hinterher war ihm, als habe sie rotgeweinte Augen. Er hatte auch noch ein anderes Merkmal dafür, wie es stand,—nämlich, daß er besonders gutes Essen bekam.

Eines Tages mußte er hinauf in den Wald und Holz holen. Der Weg führte mitten durch den Forst, und gerade an der Stelle, wo er Holz fällen wollte, wurden im Herbst immer Preißelbeeren gepflückt. Arne hatte die Axt aus der Hand gelegt, um die Jacke auszuziehen, und wollte gerade an die Arbeit gehen, als zwei Mädchen mit ihren Beerentöpfen des Wegs kamen. Er versteckte sich lieber, als mit Mädchen zusammenzutreffen, und das tat er jetzt auch.

"Nein, aber nein, die vielen Beeren! Eli, Eli!"—"Ja, ja, ich sehe schon!"—"Aber so geh doch nicht weiter! hier sind ja Eimervoll!"—"Raschelt es da nicht im Busch?"—"Ach, wirklich!" und die Mädchen drängten sich aneinander und faßten sich um. Sie standen eine lange Zeit so still, daß sie kaum atmeten. "Es ist doch wohl nichts; wir wollen ruhig pflücken."—"Ja, ich glaub' auch, wir pflücken ruhig."—Und nun pflückten sie.—"Es war nett von Dir, Eli, daß Du heut ins Pfarrhaus kamst.—Hast Du mir denn auch was zu erzählen?"—"Ich bin bei dem Paten gewesen."——"Ja, das hast Du mir gesagt;—aber hast Du mir nichts von dem Bewußten zu erzählen?"—"O doch!"—"Ach wirklich? Eli, ist das wahr? Schnell, so erzähl' doch!"—"Er ist wieder bei uns gewesen!"—"Ist nicht möglich!"—"Doch, ganz gewiß; die Eltern taten, als sähen sie es nicht; ich aber lief auf den Boden und versteckte mich."—"Weiter, weiter! Kam er dann nach?"—"Ich glaube, Vater hatte ihm gesagt, wo ich war; Vater ist doch immer so!"—"Und dann kam er? Setz' Dich, setz' Dich hier zu mir!—Also, dann kam er?"—"Ja, aber gesagt hat er nicht viel; er war so schüchtern."—"Jedes Wort muß ich wissen, hörst Du, jedes Wort!"—"Hast Du Angst vor mir?" sagte er. "Warum sollt' ich Angst haben?" sagte ich. "Du weißt, was ich von Dir will", sagte er und setzte sich neben mich auf die Truhe.—"Neben Dich!"—"Und dann faßte er mich um die Taille."—"Um die Taille, ist's möglich?"—"Ich wollte mich gern wieder frei machen, aber er wollte mich nicht loslassen. Liebe Eli, sagte er—", sie lachte und die andere lachte auch.—"Nun? Nun?"—"Willst Du meine Frau sein?"—"Ha, ha, ha!"—"Ha, ha, ha."—Und dann beide: "Ha, ha, ha, ha, ha, ha, ha!—"

Endlich mußte das Lachen doch ein Ende nehmen, und dann blieb es lange still; da fragte die erste ganz leise: "Du,—war das nicht komisch, als er Dich um die Taille faßte?"

Entweder antwortete die andere hierauf nicht oder doch so leise, daß man es nicht hören konnte, vielleicht auch nur mit einem Lächeln. Nach einer Weile fragte die erste: "Haben Deine Eltern nachher was gesagt?"—"Vater kam herauf und sah mich an, aber ich verkroch mich immer; denn er lachte, wenn er mich ansah."—"Aber Deine Mutter?"—"Nein, die sagte nichts; aber sie war nicht so streng wie sonst."—"Ja, Du hast ihn also ausgeschlagen?"—"Natürlich."—Dann blieb es wieder lange still.

"Du?"—"Ja—?"—"Glaubst Du, zu mir kommt auch mal so einer?"—"Ja, natürlich!"—"Wär's möglich!—Haha!—Du, Eli!—Und wenn der mich nun um die Taille faßte?"—Sie steckte den Kopf weg.

Da gab es ein Lachen und Flüstern und Tuscheln.

Bald brachen die Mädchen auf; sie hatten weder Arne, noch die Axt, noch die Jacke gesehen, und er war recht froh darüber.

Einige Tage darauf nahm er Knut als Pächter zu sich nach Kampen. "Du sollst nicht mehr so allein sein", sagte Arne.

Arne selbst hatte seinen festen Plan. Er hatte früh mit der Säge umgehen gelernt; denn er hatte manches bei sich zu Hause gezimmert. Nun wollte er dies Handwerk betreiben; denn er hatte das Gefühl, es sei gut, eine bestimmte Arbeit zu haben. Es war auch gut für ihn, daß er unter Leute kam, und er veränderte sich allmählich so, daß ihn Sehnsucht danach faßte, wenn er einmal eine Stunde allein war. Es machte sich, daß er den Winter über in der Pfarre zu tischlern bekam, und dort waren die beiden Mädchen oft zusammen. Wenn er sie sah, überlegte Arne, wer es wohl sein möge, der um Eli Böen warb.

Es traf sich, daß er einmal die Pfarrerstochter und Eli spazieren fahren mußte; er hatte gute Ohren, konnte aber doch nicht hören, worüber sie sprachen; ab und zu redete Mathilde mit ihm; dann lachte Eli und steckte den Kopf weg. Schließlich fragte Mathilde, ob es wahr sei, daß er dichten könne. "Nein", sagte er schnell; da lachten die beiden, schwatzten und lachten wieder. Fortan war er nicht mehr gut auf sie zu sprechen und tat, als seien sie Luft.

Einmal saß er in der Gesindestube, wo die Leute tanzten; Mathilde und Eli kamen beide, um zuzusehen. In ihrer Ecke, wo sie standen, stritten sie sich über irgend etwas; Eli wollte nicht, Mathilde wollte aber, und sie siegte. Da kamen sie beide auf ihn zu, verbeugten sich und fragten, ob er tanzen könne. Er sagte nein, und da drehten sie sich um, lachten und liefen weg. Dies ewige Gelache, dachte Arne und wurde ganz ernst. Aber der Pfarrer hatte einen kleinen Pflegesohn von zehn, zwölf Jahren, den Arne sehr gern hatte; bei dem Jungen lernte Arne tanzen, wenn's keiner sah.

Eli hatte einen kleinen Bruder im selben Alter wie der Pflegesohn des Pfarrers. Die beiden waren Spielkameraden, und Arne machte ihnen Schlitten und Schneeschuhe und Schlingen, und sprach viel mit ihnen von ihren Schwestern, besonders von Eli. Eines Tages richtete ihm Elis Bruder aus, er solle sein Haar nicht so lottrig tragen. "Wer hat das gesagt?"—"Das hat Eli gesagt; aber ich soll nicht sagen, daß sie's gesagt hat."—Kurze Zeit drauf ließ er bestellen, Eli möge ein bißchen weniger lachen. Der Junge kam zurück mit der Bestellung, Arne möge endlich ein bißchen mehr lachen.

Einmal wollte der Junge etwas haben, was Arne geschrieben hatte. Arne ließ es ihm und dachte nicht weiter an die Sache. Nach einiger Zeit wollte der Junge Arne mit der Nachricht erfreuen, die beiden Mädchen fänden seine Schrift sehr schön. "Haben sie sie denn gesehen?"—"Ja, ich habe doch für sie drum gebeten."—Arne ersuchte die Jungens, ihm etwas zu bringen, was ihre Schwestern geschrieben hatten; sie taten es auch; Arne strich alle Schreibfehler mit einem Zimmermannsbleistift an und bat die Jungens, es so hinzulegen, daß es leicht zu finden sei. Nachher fand er das Papier in seiner Rocktasche wieder; darunter aber stand: "Verbessert von einem eingebildeten Gecken."

Tags drauf war Arnes Arbeit in der Pfarre zu Ende, und er begab sich nach Hause. So sanft wie diesen Winter hatte die Mutter ihn seit jener traurigen Zeit kurz nach dem Tode des Vaters nicht mehr gesehen. Er las ihr die Predigt vor, ging mit ihr in die Kirche und war sehr gut gegen sie. Aber sie wußte recht wohl, es geschah hauptsächlich, um ihre Zustimmung zu erlangen, daß er im Frühling auf Reisen gehen dürfe. Da kam eines Tages von Böen ein Bote mit der Anfrage, ob er nicht zum Tischlern hinkommen könne.

Arne wurde ganz beklommen zumut, und er sagte ja, als ob er sich es nicht weiter überlege. Sowie der Bote fort war, sagte die Mutter: "Du kannst Dich freilich wundern! Von Böen!"—"Ist denn das so merkwürdig?" fragte Arne, sah sie aber nicht an. "Von Böen!" rief die Mutter noch einmal.—"Na, warum nicht daher gerade so gut wie von einem andern Hof?" Er blickte ein wenig auf.—"Von Böen und Birgit Böen!—Wo doch Baard um Birgits willen Deinen Vater zum Krüppel geschlagen hat!"—-"Was sagst Du?" rief jetzt der Bursch. "Das war Baard Böen?"

Mutter und Sohn standen da und sahen sich an. Ein ganzes Leben zog an ihnen vorüber, und einen Augenblick lang sahen sie den schwarzen Faden, der sich durch alle Ereignisse hindurchzog. Nachher erzählten sie sich von jener Glanzzeit des Vaters, da die alte Eli Böen selbst um ihn für ihre Tochter Birgit geworben und einen Korb bekommen hatte; sie vergegenwärtigten sich alles bis zu dem Augenblick, da Nils zusammenbrach, und sie fanden beide, Baards Schuld sei die kleinere gewesen. Aber der den Vater zum Krüppel geschlagen hatte, war eben doch er gewesen.

"Bin ich noch immer mit dem Vater nicht fertig?" dachte Arne da und beschloß, sofort hinzugehen.

Als Arne mit der Handsäge auf der Schulter über das Eis auf Böen zuging, fand er das Gehöft sehr schön. Das Haus sah immer aus, als sei es neugestrichen; ihn fror ein bißchen, und deshalb kam das Haus ihm wohl so traulich vor. Er trat nicht gleich ein, sondern ging oben herum, wo der Kuhstall lag; da stand eine Schar langhaariger Ziegen im Schnee und knabberte die Rinde von Tannenzweigen; ein Schäferhund lief auf der Scheunenbrücke hin und her und bellte, als käme der Böse auf den Hof, aber sowie Arne stillstand, wedelte er mit dem Schwanz und ließ sich streicheln. Die Küchentür an der hinteren Seite des Hauses ging häufig auf, und Arne schaute jedesmal hin; aber entweder war es die Kuhmagd mit ihren Eimern oder die Schaffnerin, die den Ziegen etwas hinwarf. Drinnen in der Scheune wurde emsig gedroschen, und vorm Holzschauer zur Linken stand ein Knecht und hackte Holz; hinter ihm waren viele Haufen aufgeschichtet.—Arne stellte seine Säge hin und ging in die Küche; weißer Sand lag auf dem Fußboden und feinzerpflückter Wacholder war darüber gestreut; an den Wänden blitzten die Kupferkessel, und allerhand Krüge standen in Reih und Glied. Das Mittagessen wurde gekocht, und er fragte, ob Baard zu sprechen sei. "Geh nur in die Stube!" sagte eine Magd und wies nach der Tür; er ging; an der Tür war keine Klinke, sondern ein Messinggriff; drinnen war es hell und freundlich, die Decke mit vielen Rosen bemalt, die Schränke rot, mit dem Namen des Besitzers in schwarz darauf, das Bett genau so, nur mit blauen Streifen am Rande. Hinten am Ofen saß ein breitschultriger Mann mit einem gütigen Gesicht und langem gelben Haar und legte Reifen um einige Eimer; an dem langen Tisch saß eine Frau mit einer Haube auf dem Kopf, in einem enganschließenden Kleid, hoch und schlank. Sie teilte einen Haufen Korn in zwei Hälften. Sonst war weiter niemand in der Stube.

"Guten Tag und gute Verrichtung!" sagte Arne und nahm die Mütze ab. Beide blickten auf; der Mann lächelte und fragte, wer er sei. "Der hier tischlern soll."—Der Mann lächelte weiter und sagte, indem er den Kopf senkte und seine Arbeit wieder aufnahm: "Ach, Arne Kampen."—"Arne Kampen?" rief die Frau und starrte ihn an. Der Mann blickte kurz auf und lächelte wieder: "Der Sohn von Schneider Nils"; damit machte er sich wieder an die Arbeit.

Eine Weile drauf stand die Frau auf, ging an das Gesims, drehte sich um, ging an den Schrank, kehrte wieder um, und während sie im Tischkasten kramte, fragte sie ohne aufzusehen: "Soll der hier arbeiten?"—"Ja, das soll er", sagte der Mann, auch ohne aufzusehen. "Dir bietet wohl keiner einen Stuhl an", wandte er sich zu Arne. Der setzte sich dicht an die Tür; die Frau ging hinaus, der Mann arbeitete; deshalb fragte Arne, ob er auch anfangen könne. "Wir wollen erst Mittag essen."

Die Frau kam nicht wieder herein; aber als wieder die Küchentür aufging, kam Eli. Sie tat erst, als sähe sie ihn nicht; als er aufstand und auf sie zugehen wollte, blieb sie stehen und drehte sich um, um ihm die Hand zu geben; aber sie sah ihn dabei nicht an. Sie wechselten ein paar Worte; der Vater arbeitete.—Sie trug das Haar in Flechten, hatte ein Kleid mit engen Ärmeln an, war zierlich und schlank mit runden Handgelenken und kleinen Händen. Sie deckte den Tisch; das Gesinde aß in der andern Stube, Arne mit der Familie in dieser Stube; zufällig wurde heute getrennt gegessen, sonst aßen alle in der großen hellen Küche am selben Tisch.—"Kommt Mutter nicht?" fragte der Mann.—"Nein, sie ist auf dem Boden und wiegt Wolle."—"Hast Du sie gerufen?"—"Ja, aber sie sagt, sie mag nicht essen."—Eine Weile war's still. "Es ist doch kalt auf dem Boden."—"Sie wollte nicht, daß ich einheize."

Nach dem Mittagessen arbeitete Arne; am Abend war er wieder bei ihnen in der Stube. Jetzt war die Frau auch da. Die Frauen nähten; der Mann bastelte an allerlei kleineren Sachen herum; Arne half ihm; es blieb stundenlang still, denn Eli, die sonst wohl das Wort führte, sagte jetzt auch nichts. Mit Entsetzen dachte Arne, so sei es auch wohl oft zu Hause bei ihm; aber es war, als komme ihm das jetzt erst zum Bewußtsein. Eli seufzte einmal tief auf, als habe sie es jetzt lange genug ausgehalten, und dann fing sie zu lachen an. Da lachte der Vater auch, und Arne fand es ebenfalls komisch und stimmte mit ein; fortan sprachen sie allerhand; schließlich bloß er und Eli, und der Vater warf ab und zu ein Wort dazwischen. Als aber Arne einmal eine ganze Zeitlang geredet hatte, blickte er zufällig auf; da begegnete er Mutter Birgits Augen; sie hatte die Arbeit sinken lassen und saß und stierte ihn an. Jetzt nahm sie die Arbeit schnell auf, aber beim ersten Wort, das er sagte, blickte sie wieder in die Luft.

Es wurde Schlafenszeit, und jeder begab sich in seine Kammer. Arne wollte sich den Traum merken, den er die erste Nacht auf einer neuen Stelle hätte; aber es war kein Sinn darin. Tagsüber hatte er wenig oder nichts mit dem Bauer selbst gesprochen; in der Nacht aber träumte er einzig und allein von ihm. Das letzte war, daß Baard am Tisch saß und mit Schneider Nils Karten spielte. Der machte ein wütendes Gesicht und war ganz blaß; Baard aber lächelte und zog die Karten zu sich herüber.

Arne war nun mehrere Tage da, während deren so gut wie nichts gesprochen, wohl aber sehr viel gearbeitet wurde. Nicht bloß in der Wohnstube war es still, auch das Gesinde und die Tagelöhner, sogar die Mägde sagten nichts. Auf dem Hof war ein alter Hund, der bellte jedesmal, wenn Fremde kamen; nie aber hörten die Leute den Hund bellen, ohne daß einer sagte: "Kusch!" und dann schlich er knurrend beiseite und legte sich wieder hin. Daheim in Kampen war eine große Wetterfahne auf dem Dach, die sich im Winde drehte; hier war eine noch größere Fahne, die Arne auffiel, weil sie sich nicht drehte. Wenn nun der Wind heftig wehte, mühte sich die Fahne loszukommen, und Arne sah solange hin, bis es ihn aufs Dach trieb, die Fahne loszumachen. Sie war nicht festgefroren, wie er dachte, aber ein Pflock war eingeschlagen, daß die Fahne stillstehen sollte; den zog Arne heraus und warf ihn hinunter. Der Pflock traf Baard, der gerade des Wegs kam. Er blickte nach oben. "Was machst Du da?"—"Ich mache die Fahne los."—"Tu's nicht; sie kreischt, wenn sie geht." Arne saß rittlings auf dem Dachfirst: "Das ist doch besser, als wenn sie stillschweigt." Baard sah zu Arne hinauf und Arne zu Baard hinunter; da lächelte Baard: "Wer kreischen muß, wenn er sprechen will, tut doch wohl besser zu schweigen, mein' ich."

Nun kann es vorkommen, daß irgend ein Wort lange, nachdem es gesprochen ist, noch nachhallt, zumal wenn es das letzte war. Dies Wort folgte Arne, wie er in der Kälte vom Dach herunterkletterte, und es war ihm noch gegenwärtig, als er abends in die Stube trat. Da stand Eli im Abenddämmer am Fenster und schaute über das Eis hin, das im Mondschein blinkte. Er ging an das andre Fenster und schaute gleich ihr hinaus. Drinnen war es warm und still, draußen war es kalt; ein scharfer Abendwind strich durch das Tal und rüttelte an den Bäumen, daß die Schatten, die sie im Mondschein warfen, nicht still lagen, sondern auf dem Schnee hin- und herhuschten und schlichen. Vom Pfarrhaus herüber drang ein Lichtschein, glomm auf und verwehte oder nahm mancherlei Gestalten und Farben an, wie es einem immer vorkommt, wenn man zu lange hinstarrt. Darüber stand der Felsen, an seinem Grunde finster und geheimnisvoll, mondhell aber auf den höheren Schneefeldern. Der Himmel oben war ausgestirnt und fern an einer Seite ein zittriges Nordlicht, das sich aber nicht vorwagte. Ein Stück vom Fenster entfernt, unten am Wasser, standen Bäume, und ihre Schatten stahlen sich zueinander hin; eine große Esche aber stand einsam und zeichnete Figuren auf den Schnee.

Es war sehr still; nur manchmal inzwischen kreischte und heulte es in langgezogenen klagenden Lauten. "Was ist das?" fragte Arne.—"Das ist die Wetterfahne", sagte Eli, und dann fügte sie leise wie für sich selbst hinzu: "Sie muß losgegangen sein." Arne aber war wie einer, der etwas sagen wollte und es doch nicht konnte. Jetzt sagte er: "Weißt Du noch das Märchen von den Drosseln, die sangen?"—"Ja."—"Ach, richtig—Du hast es ja selbst erzählt.——Es war ein schönes Märchen."—Sie sagte mit so sanfter Stimme, daß er sie gewissermaßen zum erstenmal zu hören meinte: "Mir ist so oft, als singt etwas, wenn es ganz still ist."—"Das ist das Gute in uns." Sie blickte ihn an, als liege ein Zuviel in der Antwort; sie schwiegen hinterher auch beide. Dann fragte sie, während sie mit dem Finger auf den Scheiben malte: "Hast Du kürzlich ein Gedicht gemacht?" Da wurde er rot, das sah sie aber nicht. Deshalb fragte sie noch einmal: "Wie machst Du es, wenn Du dichtest?"—"Möchtest Du es gern wissen?"—"O ja."—"Ich achte auf die Gedanken, die die andern sich entschlüpfen lassen", antwortete er ausweichend.—Sie schwieg lange, denn sie machte wohl die Probe auf dieses Lied oder jenes, ob sie den Gedanken gehabt und sich hatte entschlüpfen lassen.—"Das ist doch seltsam", sagte sie wie zu sich selbst und fing wieder an, auf den Scheiben zu malen.—"Ich habe ein Gedicht gemacht, als ich Dich zum erstenmal sah".—"Wo war das?"—"Drüben beim Pfarrhof an dem Abend, als Du den Hof verließest;—ich hab' Dich im Wasser gesehen."—Sie lachte und stand eine Weile still: "Laß mich das Lied hören."—Arne hatte nie zuvor so etwas getan; jetzt aber versuchte er, ihr das Lied vorzusingen.

    "Jung Venevil hüpfte auf leichtem Schuh
    Ihrem Liebsten zu" usw.

Eli war ganz Ohr; sie stand noch so, als es schon lange zu Ende war. Schließlich rief sie: "Nein, wie schade um sie!"—"Mir ist beinahe, als hätt' ich es gar nicht selbst gemacht", sagte er: denn er war nun verlegen, weil er es hergesagt hatte. Er konnte auch nicht begreifen, wie er auf den Gedanken gekommen war. Er stand und sann dem Liede nach. Da sagte sie: "Aber mir soll's doch wohl nicht so gehen?"—"Nein, nein, nein;—ich habe eigentlich an mich selbst dabei gedacht."—"Soll es Dir denn so ergehen?"—"Ich weiß nicht;—aber damals empfand ich so;—ja, ich begreife es gar nicht; aber mir war damals so schwer ums Herz."—"Das ist doch seltsam"; sie malte wieder auf den Scheiben.

Das nächste Mal, als Arne zum Mittagessen erschien, ging er zuerst ans Fenster. Draußen war es grau und trüb, drinnen warm und gut; an die Scheibe aber war mit dem Finger geschrieben: "Arne, Arne, Arne" und immerzu "Arne"; das war das Fenster, wo Eli am Abend vorher gestanden hatte.

Am Tage darauf aber kam Eli nicht hinunter; sie war krank. Sie war überhaupt die ganze Zeit über nicht recht munter; sie sagte es selbst, und man konnte es ihr auch ansehen.

Elftes Kapitel

Den nächsten Tag kam Arne herein und erzählte, was er eben auf dem Hof erfahren hatte: nämlich daß Mathilde, die Tochter des Pfarrers, in die Stadt gefahren sei; sie selbst glaube, nur für ein paar Tage,—tatsächlich aber solle sie ein Jahr oder zwei dort bleiben. Eli hatte bis jetzt keine Ahnung davon; sie wurde ohnmächtig und sank um.

Arne hatte so etwas nie vorher gesehen, und geriet in große Angst; er rannte nach den Mägden, die nach den Eltern, und die aus dem Hause; der ganze Hof geriet in Aufregung; der Schäferhund kläffte auf der Scheunenbrücke. Als Arne später wieder hineinkam, lag die Mutter vorm Bett auf den Knien; der Vater stützte der Kranken den Kopf. Die Mägde liefen hin und her, eine nach Wasser, eine andere nach Tropfen, die im Schrank standen, eine dritte knöpfte der Kranken die Jacke am Hals auf. "Gott sei Dir gnädig!" sagte die Mutter; "es war doch nicht richtig, daß wir nichts gesagt haben Du wolltest es ja so haben, Baard. O, Gott sei Dir gnädig!" Baard antwortete nicht. "Ich hab' es ja gleich gesagt, aber nichts geschieht nach meinem Willen. Gott helfe Dir! Immer bist Du so häßlich zu ihr, Baard. Du weißt eben nicht, wie ihr zumut ist; Du weißt ja nicht, wie's ist, wenn man einen lieb hat!" Baard antwortete nicht. "Sie ist nicht so wie die andern, die einen Kummer schon vertragen können; sie wirft er um, die Ärmste, so schmächtig wie sie ist. Und überhaupt jetzt, da sie sowieso schon nicht ganz gesund ist. Wach' doch auf, mein Kind, wir wollen auch immer gut zu Dir sein! Wach' doch auf, Eli, mein Kind und mach uns nicht solche Sorge!" Da sagte Baard: "Entweder schweigst Du zuviel oder Du redest zuviel"; er sah zu Arne hin, als möchte er nicht, daß der alles mitanhöre, und als solle er lieber gehen. Weil aber die Mägde in der Stube blieben, so blieb Arne auch da, doch er ging ans Fenster. Jetzt kam die Kranke soweit zu sich, daß sie um sich schauen konnte und die Anwesenden erkannte; aber da kam ihr auch die Erinnerung wieder, und sie schrie auf: "Mathilde!" und brach in ein krampfhaftes Weinen und Schluchzen aus, daß es schrecklich mitanzuhören war. Da suchte die Mutter sie zu beruhigen; der Vater stellte sich so, daß sie ihn sehen konnte, aber die Kranke stieß sie weg. "Weg!" rief sie; "ich habe Euch nicht lieb, weg!"—"Jesus Christus, Du hast Deine Eltern nicht lieb?" sagte die Mutter.—"Nein! Ihr seid hart gegen mich und nehmt mir die einzige Freude, die ich habe!"—"Eli, Eli! sei nicht so heftig", bat die Mutter herzlich.—"Doch, Mutter!" schrie sie, "einmal muß ich es sagen! Doch, Mutter! Ihr wollt mich mit dem schrecklichen Menschen verheiraten, und ich will ihn nicht. Ihr sperrt mich hier ein, wo ich jedes Mal froh bin, wenn ich herauskann. Und Ihr nehmt mir Mathilde, die einzige auf der Welt, die ich lieb habe, und nach der ich mich sehne. O Gott, was soll aus mir werden, wenn Mathilde nicht mehr hier ist,—besonders jetzt, da ich soviel, soviel auf dem Herzen habe, daß ich mir keinen Rat weiß, wenn ich nicht mit einem darüber reden kann!"—"Aber Du warst ja doch jetzt seltner bei ihr", sagte Baard.—"Was tut das, wenn ich sie drüben am Fenster weiß!" erwiderte die Kranke und weinte wie ein Kind, so daß es Arne war, als habe er bis zu diesem Tage noch keinen Menschen weinen hören.—"Du konntest sie aber doch von hier aus nicht sehen", sagte Baard.—"Ich sah aber das Haus", sagte sie, und die Mutter fügte erregt hinzu: "So was verstehst Du eben nicht." Da sagte Baard nichts mehr. "Jetzt kann ich nie mehr ans Fenster!" sagte Eli. "Morgens, wenn ich aufstand, ging ich hin; abends saß ich da im Mondschein, und dahin ging ich, wenn ich weiter keinen hatte, zu dem ich gehen konnte. Mathilde, Mathilde!" Sie wand sich im Bett und bekam wieder einen Weinkrampf. Baard setzte sich auf einen Schemel und blickte sie an.

Eli wurde aber nicht so schnell besser, wie man wohl angenommen hatte. Gegen Abend gewahrten sie erst, daß eine langwierige Krankheit im Anzug war, die ihr sicher schon lange in den Gliedern gelegen hatte, und Arne wurde hereingerufen, um sie in ihre Kammer tragen zu helfen. Sie war ohne Bewußtsein, war sehr bleich und lag ganz still; die Mutter setzte sich zu ihr, der Vater stand am Fußende des Bettes und sah sie lange an; nachher ging er hinunter an seine Arbeit. Arne ging auch; aber abends beim Schlafengehen betete er für sie, betete, daß sie, die so jung und schön war, es gut im Leben haben, und daß keiner sie um ihr Glück bringen möge.

Tags drauf saßen die Eltern beisammen und besprachen etwas, als Arne hineinkam; die Mutter hatte geweint. Arne fragte, wie es gehe; beide dachten, der andere werde antworten, und deshalb dauerte es eine ganze Zeit, bis Antwort kam; schließlich aber sagte der Vater: "Es geht recht schlecht."—Später erfuhr Arne, Eli sei die ganze Nacht ohne Bewußtsein gewesen oder habe dummes Zeug geredet, wie der Vater sagte. Jetzt lag sie in heftigem Fieber, erkannte niemand, wollte keine Speise zu sich nehmen und die Eltern saßen eben und berieten, ob sie den Doktor holen sollten. Als sie nachher nach oben gingen und bei der Kranken blieben und Arne wieder allein war, hatte er die Empfindung, da oben sei Leben und Tod zugleich; er aber sei ausgeschlossen.

Nach einigen Tagen wurde es etwas besser. Als der Vater einmal bei ihr wachte, hatte sie den Einfall: Narrifas, der Vogel, den Mathilde ihr geschenkt hatte, solle bei ihr vorm Bett stehen. Da sagte Baard der Wahrheit gemäß, in all dem Wirrwarr habe man den Vogel vergessen, und er sei gestorben. Die Mutter kam gerade in die Tür, als Baard das erzählte, und sie schrie auf: "Herrjeh, was bist Du für ein rücksichtsloser Mensch, Baard, dem kranken Kind so was zu erzählen! Siehst Du, da wird sie uns wieder ohnmächtig; Gott verzeih Dir die Sünde!" Immer, wenn die Kranke zu sich kam, rief sie nach dem Vogel, sagte, es könne Mathilde unmöglich gut gehen, da der Vogel gestorben sei, wollte hin zu ihr und fiel von neuem in Ohnmacht. Baard stand da und sah es mit an, bis es ihm zu bunt wurde. Da wollte er auch helfen; die Mutter aber schob ihn beiseite und sagte, sie werde schon allein auf die Kranke acht geben. Da sah Baard sie beide lang an, schob dann mit beiden Händen seine Mütze zurecht, drehte sich um und ging.

Später kamen der Pfarrer und seine Frau herüber, denn die Krankheit hatte Eli mit neuer Macht gepackt, und es wurde so schlimm, daß keiner wußte, ob es zum Leben oder zum Tode gehe.

Der Pfarrer wie auch seine Frau machten Baard Vorwürfe, er sei zu hart gegen das Kind; sie erfuhren die Geschichte mit dem Vogel, und da sagte ihm der Pfarrer rund heraus, das sei eine Roheit; er wolle das Kind zu sich ins Haus nehmen, sagte er, sobald sie hinübergeschafft werden könne; die Frau Pfarrer wollte ihn zuletzt gar nicht mehr sehen, sie weinte und saß bei der Kranken, ließ den Doktor holen, nahm selbst seine Anordnungen entgegen und kam dann täglich einigemal herüber, um Eli vorschriftsgemäß zu pflegen. Baard ging draußen auf dem Hof von einer Stelle zur andern, am liebsten so, daß er allein war, stand oft lange, lange auf einem Fleck, schob dann mit beiden Händen seine Mütze zurecht und nahm irgend eine Arbeit vor.

Die Mutter sprach nicht mehr mit ihm. Sie sahen sich kaum. Ein paarmal am Tage ging er zu der Kranken hinauf; dann zog er unten auf der Treppe die Schuhe aus, legte die Mütze draußen hin und öffnete behutsam die Tür. Sowie er hereinkam, drehte Birgit sich um, als habe sie ihn nicht gesehen, saß zusammengekauert da, den Kopf in die Hände gestützt und starrte vor sich hin auf die Kranke. Die lag still und bleich und wußte nicht, was um sie her vorging. Baard stand eine Weile am Fußende des Bettes, sah sie beide an und sagte nichts. Wenn die Kranke sich einmal bewegte, als wolle sie aufwachen, dann stahl er sich ebenso leise, wieder aus der Stube, wie er gekommen war.

Oft dachte Arne, wie jetzt zwischen Mann und Frau und zwischen Kind und Eltern Worte gefallen seien, die lange sich angesammelt hatten und schwer wieder vergessen werden konnten. Er sehnte sich fort von hier, obwohl er gern vorher gewußt hätte, wie es Eli gehe. Das werde er ja aber auch wohl erfahren, dachte er, ging also zu Baard und sagte, er wolle nach Hause. Die Arbeit, um derentwillen er gekommen war, sei fertig. Baard saß draußen auf dem Hauklotz, als Arne kam und ihm das sagte. Er saß da, ganz gebückt, und scharrte mit einem Pflock im Schnee; den Pflock kannte Arne; es war derselbe, der die Wetterfahne gehemmt hatte. Baard blickte nicht auf; er sagte: "Es ist hier wohl augenblicklich nicht gut sein,—aber mir ist, als möcht' ich Dich nicht fortlassen." Weiter sagte Baard nichts, und Arne auch nicht. Er blieb eine Weile stehen, ging dann weg und nahm eine Arbeit vor, als sei es abgemacht, daß er bleiben solle.

Später, als Arne zum Essen hineingerufen wurde, saß Baard noch immer auf dem Hauklotz. Da ging Arne zu ihm und fragte, wie es Eli heut gehe. "Es ist wohl heute sehr schlimm," sagte Baard, "ich sah, daß ihre Mutter weint." Arne war's, als heiße ihn einer sich hinsetzen, und er setzte sich Baard gegenüber auf einen Baumstamm. "Ich habe in diesen Tagen viel an Deinen Vater gedacht", sagte Baard so unvermittelt, daß Arne nichts darauf erwidern konnte. "Du weißt wohl, was zwischen uns vorgefallen ist?"—"Ich weiß es."—"Ja, Du weißt aber vermutlich nur die eine Hälfte und schreibst mir die ganze Schuld zu." Arne antwortete nach einer Weile: "Du hast doch gewiß Deinem Gott Rechenschaft darüber gegeben, wie mein Vater jetzt auch."—"Ach ja, wie man's nehmen will", versetzte Baard. "Als ich vorhin diesen Pflock wiederfand, kam es mir so merkwürdig vor, daß Du hierherkommen mußtest und die Fahne losmachen. Je eher, je besser, dachte ich." Er hatte die Mütze abgenommen und saß und sah in sie hinein.

Arne begriff noch nicht, daß er hiermit meinte, er wolle jetzt mit ihm über seinen Vater reden. Ja, er begriff es auch noch nicht, als Baard schon im besten Zuge war, so wenig sah das Baard ähnlich. Aber was in seinem Herzen voraufgegangen sein mochte, merkte er, je weiter die Erzählung vorschritt, und hatte er vorher vor diesem schwerfälligen, aber grundehrlichen Menschen Achtung gehabt, so wurde sie nicht kleiner hierdurch.

"Ich mochte wohl so vierzehn Jahr sein", sagte Baard und hielt inne, wie bei der ganzen Erzählung ab und zu, sagte ein paar Worte, hielt wieder inne, aber so, daß seine Erzählung ein Gepräge bekam, als sei jedes Wort wohlerwogen. "Ich mochte wohl so vierzehn Jahr sein, als ich Deinen Vater, der im selben Alter war, kennen lernte.—Er war sehr wild und duldete keinen über sich. Und er hat es mir nie vergessen können, daß ich bei der Konfirmation der erste war und er der zweite.—Oft wollte er mit mir anbinden, aber es kam nie soweit, wahrscheinlich war keiner von uns seiner selbst sicher.—Aber merkwürdig ist, daß er jeden Tag eine Prügelei hatte und nie ein Unglück daraus entstand; nur das eine Mal, wo ich dazwischen kommen mußte, ging es so schlimm ab, wie es nur gehen konnte;—aber freilich: ich hatte auch sehr lange gewartet.——

Nils lief allen Mädchen nach und sie ihm. Eine bloß wollte ich haben, aber die nahm er mir bei jedem Tanz weg, bei jeder Hochzeit, bei jedem Fest; das war die, mit der ich jetzt verheiratet bin.———Mich packte oft die Lust, wenn ich so dasaß, mich um dieser Sache willen mit ihm zu messen; aber ich hatte Angst, ich könne verlieren, und wußte, daß ich damit auch sie verlieren würde. Wenn alle andern fort waren, machte ich dieselben Kraftproben, die er gemacht hatte, schnellte gegen den Balken, gegen den er geschnellt war; aber wenn er das nächste Mal mir das Mädchen wieder vor der Nase wegschnappte, wagte ich mich doch nicht mit ihm einzulassen,—obgleich—einmal geschah es doch, als er nämlich gerade vor meinen Augen mit dem Mädchen schön tat—da nahm ich einen ausgewachsenen Burschen und legte ihn, als sei's Kinderspiel, über den Dachbalken. Damals ist er auch ganz blaß geworden———

Wenn er noch gut zu ihr gewesen wäre; aber er betrog sie, und das Abend für Abend. Ich glaube, sie hatte ihn nach jedem Mal bloß noch lieber.—So stand es, als das letzte geschah. Ich dachte, jetzt mag es biegen oder brechen. Unser Herrgott hat wohl nicht gewollt, daß er es so weitertreiben sollte, deshalb fiel er härter, als ich gewollt hatte.—Ich habe ihn nachher nie wiedergesehen."

Sie schwiegen eine ganze Zeit, schließlich fuhr Baard fort:

"Ich warb wieder um sie. Sie sagte nicht ja, nicht nein, und da dachte ich, es würde später besser werden. Wir heirateten uns; die Hochzeit war unten im Tal bei einer Base, die sie beerbte. Wir fingen groß an, und unser Hab und Gut hat sich noch weiter vermehrt. Unsere Höfe lagen nebeneinander, und nun wurden sie vereinigt, wie es von klein auf mein Wunsch gewesen war.—Aber vieles andere ging nicht nach meinem Wunsch."—Er saß lange wortlos da; Arne dachte eine Weile, er weine; das war aber nicht der Fall. Nur seine Stimme war noch sanfter denn gewöhnlich, als er nun fortfuhr:

"Anfangs war sie still und sehr traurig. Ich konnte ihr nichts zum Troste sagen, und so schwieg ich. Später nahm sie manchmal dies unstete Wesen an, das Du vielleicht auch bemerkt hast; es war doch wenigstens eine Veränderung, und so schwieg ich auch dazu.—Aber einen wirklich frohen Tag habe ich nicht gehabt, seit ich verheiratet bin, und das sind jetzt an die zwanzig Jahre."———

Hier brach er den Pflock in zwei Stücke; dann saß er eine ganze Zeit und sah die Stücke an.

"——Als Eli heranwuchs, dachte ich, sie habe mehr Freude als hier, wenn sie unter Fremden wäre. Ich habe nur selten etwas gewollt; das meiste ist aber schief gegangen,—und dies auch. Die Mutter saß und sehnte sich nach dem Kinde, wenn auch nur das bißchen Wasser zwischen ihnen lag, und schließlich merkte ich: da drüben die Pfarre ist auch nicht das richtige, denn die Pfarrersleute sind so recht gutmütige Hanswurste; aber ich merkte es zu spät. Sie ist jetzt wohl weder Vater noch Mutter zugetan!"

Die Mütze hatte er wieder abgenommen; jetzt fielen ihm die langen Haare in die Augen; er strich sie weg und setzte sich mit beiden Händen die Mütze auf, als wolle er gehen; aber als er sich zum Haus umwandte, um aufzustehen, blieb er noch und fügte mit einem Blick nach dem Fenster der Bodenkammer hinzu:

"Ich hielt es für das beste, Mathilde und sie nähmen nicht Abschied voneinander;—aber das war verkehrt. Ich sagte ihr, der kleine Vogel sei tot, denn meine Schuld war es doch, und da hielt ich es für richtiger, es einzugestehen; aber das war auch verkehrt. Und so ist es mit allem. Ich habe immer das beste gewollt, aber immer ist es zum Unsegen geworden, und jetzt ist es soweit gekommen, daß Frau und Tochter schlecht von mir reden und ich hier allein und verlassen herumlaufe."

Eine Magd rief zu ihnen hinauf, das Essen werde kalt. Baard stand auf. "Ich höre die Pferde wiehern", sagte er; "sie müssen wohl vergessen sein"; damit ging er in den Stall, um ihnen Heu zu geben.

Zwölftes Kapitel

Eli war sehr schwach nach ihrer Krankheit; die Mutter saß Tag und Nacht bei ihr und kam niemals nach unten; der Vater machte oben seine gewohnten Besuche auf Socken und legte die Mütze draußen vor der Tür ab. Arne war noch immer auf dem Hof; er und der Vater saßen abends zusammen; er hatte Baard sehr liebgewonnen; Baard war ein belesener, scharf denkender Mensch, hatte aber sozusagen Angst vor dem, was er wußte. Wenn nun Arne ihm zurechthalf und ihm manches erzählte, was er noch nicht gewußt hatte, dann war Baard sehr dankbar.

Eli durfte nun schon zuweilen auf sein, und je mehr es mit ihr vorwärts ging, desto mehr Einfalle hatte sie. So auch eines Abends, als Arne in der Stube unter Elis Kammer saß und mit lauter Stimme sang: da kam die Mutter hinunter und bestellte von Eli, er möge doch hinauf kommen und singen, damit sie die Worte besser verstehen könne. Arne hatte vielleicht schon hier unten Eli zuliebe gesungen, denn als die Mutter dies sagte, wurde er rot und stand auf, als wolle er sein Tun ableugnen, wiewohl keiner es behauptet hatte. Er faßte sich aber schnell und sagte ausweichend, er könne nur so wenig singen. Die Mutter aber meinte, wenn er allein sei, schiene das gar nicht der Fall zu sein.

Arne gab nach und ging. Er hatte Eli seit dem Tage nicht gesehen, da er sie hatte hinauftragen helfen; er dachte, sie müsse sich jetzt sehr verändert haben, und das machte ihn ein bißchen ängstlich. Aber als er leise die Tür öffnete und eintrat, war es stockfinster im Zimmer, und er konnte nichts sehen. Er blieb an der Tür stehen. "Wer ist da?" fragte Eli leise und deutlich. "Arne Kampen", entgegnete er behutsam, damit die Worte recht weich klängen.—"Es ist nett, daß Du kommst."—"Wie geht es Dir, Eli?"—"Danke, jetzt geht es besser."

"Setz' Dich doch, Arne", sagte sie eine Weile drauf, und Arne tastete sich zu einem Stuhl hin, der am Fußende des Bettes stand. "Es tat mir wohl, Dich singen zu hören, Du mußt mir hier oben etwas vorsingen."—"Wenn ich nur etwas könnte, was hierherpaßte."—Es blieb eine Zeitlang still; dann sagte sie: "Sing einen Choral!" und das tat er, und zwar ein Stück aus einem Konfirmationslied. Als er zu Ende war, hörte er sie weinen, und deshalb wagte er nicht weiter zu singen; nach einer Weile aber sagte sie: "Sing' noch so eins", und er sang noch eins, diesmal ein sehr bekanntes Kirchenlied. "Über wievieles hab' ich nicht nachgedacht, als ich hier so lag", sagte Eli. Er wußte nicht, was er darauf sagen solle, und hörte ihr leises Weinen in der Dunkelheit. Eine Uhr tickte hinten an der Wand, holte zum Schlage aus und schlug dann. Eli atmete ein paarmal tief auf, als wolle sie ihre Brust erleichtern, und dann sagte sie: "Man weiß so wenig, kennt weder Vater noch Mutter.—Ich bin nicht lieb zu ihnen gewesen,—und deshalb war's mir so eigen, jetzt das Konfirmationslied zu hören."

Wenn man im Dunkeln miteinander redet, ist man viel aufrichtiger, als wenn einer des andern Gesicht sieht; man sagt auch wohl mehr.

"Das war ein gutes Wort", sagte Arne; er mußte daran denken, was sie damals gesagt hatte, als sie krank wurde. Das wußte sie, und deshalb sagte sie: "Wäre dies alles mir nun nicht geschehen, so hätt' es Gott weiß wie lange gedauert, bis ich mich zu Mutter hingefunden hätte."—"Sie hat jetzt mit Dir gesprochen?"—"Jeden Tag; weiter hat sie nichts getan."—"Da hast Du wohl manches gehört."—"Das kannst Du glauben."—"Sie hat wohl auch von meinem Vater gesprochen."—"Ja."——"Denkt sie noch an ihn?"—"Sie denkt an ihn."—"Er ist nicht gut zu ihr gewesen."—"Arme Mutter!"—"Aber am schlechtesten war er gegen sich selbst."

Jeder dachte etwas, was er dem andern nicht sagen mochte. Eli fand zuerst Worte: "Du sollst Deinem Vater gleichen."—"Man sagt es", antwortete er ausweichend; ihr fiel der Ton nicht auf, und deshalb fing sie nach einer Weile wieder an: "Konnte er auch dichten?"—"Nein."

"Sing mir ein Lied,——eins, das Du selbst gemacht hast." Aber Arne pflegte nicht gern zuzugeben, daß die Lieder, die er sang, von ihm selbst waren. "Ich habe keins", sagte er. "Doch hast Du das, und Du singst mir auch eins vor, wenn ich Dich drum bitte."—Was er für keinen andern je getan hätte, das tat er nun für sie. Er sang nämlich folgendes Lied:

    Mit Blatt und Knospen stand fertig der Baum.
    "Soll ich—?" blies der Frühfrost aus dem eisigen Raum.
      "Nein, Liebster, sei lind,
      Bis wir Blüten worden sind!"
    So baten die Knospen tief in ihrem Traum.

    Der Baum trug Blüten, die Nachtigall sang,
    "Soll ich—?" rief der Wind und schüttelte sie lang'.
      "Nein, laß, lieber Wind,
      Bis wir Früchte worden sind!"
    So baten all die Blüten und zitterten bang.

    Und der Baum reifte Früchte in der Sommersonnenglut.
    "Soll ich——?" fragte lächelnd das junge schöne Blut.
      "Ja, du darfst, lieb Kind!
      Nimm so viele, wie da sind!"
    Sprach der Baum und beugte sein schwellendes Gut.

Das Lied benahm ihr fast den Atem. Er saß nachher auch da, als habe er mehr gesungen, als er eigentlich wahr haben wollte.

Das Dunkel liegt schwer über denen, die beisammen sitzen und nicht sprechen mögen; sie sind sich niemals näher als gerade dann. Er hörte es, wenn sie sich nur regte, wenn sie nur mit der Hand über die Decke strich, wenn sie nur einmal etwas tiefer atmete als gewöhnlich.

"Arne—, könntest Du mich nicht dichten lehren?"—"Hast Du es nie versucht?"—"Doch, jetzt in den letzten Tagen; aber ich bringe kein Lied zustande."—"Was hast Du denn darin sagen wollen?"—"Etwas von Mutter, die Deinen Vater so lieb hatte."—"Das ist ein schwieriger Stoff."—"Mir sind auch darüber die Tränen gekommen."—"Du mußt nicht nach Stoffen suchen; sie kommen von selbst."—"Wie denn?"—"Wie alles Liebe: wenn Du es am wenigsten erwartest."—Sie schwiegen beide. "Mich wundert, Arne, daß Du Dich von hier fortsehnst, wo Du doch soviel Schönes in Dir hast."—"Weißt Du denn, daß ich mich fortsehne?"—Sie antwortete nicht; sie lag ganz still wie in Gedanken. "Arne, Du darfst nicht fort!" sagte sie, und das ging ihm warm zu Herzen.—"Manchmal hab' ich auch weniger Lust dazu."—"Deine Mutter muß Dich sehr lieb haben. Ich möchte Deine Mutter einmal sehen!"—"Komm doch mal nach Kampen, wenn Du erst wieder gesund bist." Und da stellte er sie sich auf einmal vor, wie sie in Kampen in der hellen Stube saß und auf die Berge schaute; sein Herz fing zu klopfen an, und das Blut schoß ihm ins Gesicht. "Es ist warm hier drinnen", sagte er und stand auf.

Sie hörte es. "Willst Du schon gehen?" sagte sie, und er setzte sich wieder.

"——Du mußt öfter zu uns kommen;—Mutter hat Dich so lieb."—"Ich selbst möchte auch gern;—aber ich muß doch ein Gewerbe treiben."—Eli schwieg eine Weile, als denke sie nach. "Ich glaube," sagte sie, "Mutter wollte Dich um etwas bitten——"

Er hörte, wie sie sich im Bett aufrichtete. Kein Laut war in der Kammer zu hören und auch unten nicht, außer der Uhr, die an der Wand tickte. Da stieß sie heraus:

"Wollte Gott, es wäre Sommer!"

"Es wäre Sommer!" Und vor seiner Phantasie erstanden Bilder von feuchtem Laub und Herdengeläut, von Jodeln auf Bergeshöhen und Gesang in den Tälern. Der Schwarze See lag und schimmerte in der Sonne und die Gehöfte wiegten sich drin. Eli kam heraus und setzte sich draußen hin wie an jenem Abend. "Wenn es Sommer wäre," sagte sie, "und ich auf dem Hügel säße, glaube ich ganz bestimmt, ich könnte ein Lied dichten!"

Er lachte und fragte: "Wovon sollte es denn handeln?"—"Von etwas
Leichtem, von—ja, ich weiß selbst nicht."

"Sag' es, Eli!" er stand vor Freude auf, überlegte aber und setzte sich wieder.

"Das sag' ich Dir um keinen Preis der Welt!"—lachte sie.—"Ich habe Dir doch was vorgesungen, als Du mich drum batest."—"Das ist wahr;—aber nein, nein!"—"Eli, glaubst Du, ich mache mich über den kleinen Vers lustig, den Du gedichtet hast?"—"Nein, das glaube ich nicht, Arne; aber ich hab' ihn nicht selbst gemacht."—"Ist er von einem andern?"—"Ja, es ist mir so zugeweht."—"So kannst Du es mir doch sagen."—"Nein, nein, so ist es ja auch nicht, Arne; quäl' mich nicht länger." Sie barg wohl den Kopf im Kissen, denn das letzte war kaum zu hören. "Eli, jetzt bist Du nicht so nett zu mir, wie ich zu Dir gewesen bin!" er stand auf. "Arne, das ist doch etwas ganz anderes!—Du verstehst mich nicht!—aber es war—ich weiß selbst nicht—ein andermal—sei mir nicht böse, Arne! geh nicht fort!" sie fing zu weinen an.

"Eli, was ist Dir?" er lauschte. "Bist Du krank?" das glaubte er selbst nicht. Sie weinte noch immer; ihm war, er müsse jetzt entweder vorwärts oder zurück. "Eli!"—"Ja"; sie flüsterten beide. "Gib mir die Hand!" Sie antwortete nicht; er lauschte angestrengt, gespannt,—tastete über die Decke und faßte eine kleine, warme Hand, die frei lag.

Da knarrte die Treppe, und sie ließen sich los. Es war die Mutter mit Licht. "Ihr sitzt auch zu lange im Dunkeln", sagte sie und stellte den Leuchter auf den Tisch. Aber weder Eli noch er konnten das Licht vertragen; sie vergrub das Gesicht in den Kissen, er hielt sich die Hand vor die Augen. "Ach ja, es tut zuerst ein bißchen weh", sagte die Mutter, "aber das geht vorüber."

Arne suchte auf dem Fußboden nach seiner Mütze, die er gar nicht bei sich gehabt hatte, und dann ging er.

Tags darauf hörte er, Eli werde am Nachmittag ein bißchen herunterkommen. Er packte sein Handwerkszeug zusammen und verabschiedete sich. Als sie nach unten kam, war er fort.

Dreizehntes Kapitel

Spät kommt der Frühling in die Berge. Die Post, die den Winter dreimal in der Woche den Königsweg entlang fährt, geht schon im April nur noch einmal, und dann fühlen die Bergbewohner, daß draußen der Schnee fort und das Eis gebrochen ist, daß die Dampfer verkehren und der Pflug die Erde aufwühlt. Hier liegt der Schnee noch drei Ellen hoch; das Vieh brüllt in den Ställen, und die Vögel kommen geflogen, verkriechen sich aber und frieren. Ab und zu erzählt ein Wanderer, er habe seinen Wagen unten im Tal gelassen, und er hat Blumen mit und zeigt sie; die hat er am Wegrand gepflückt. Da fährt eine Unruhe in die Leute dort oben; sie gehen umher und plaudern, schauen nach der Sonne aus und über das Land hin, wieviel sie wohl täglich schaffe. Sie streuen Asche auf den Schnee und denken an die Menschen, die jetzt Blumen pflücken.

In solcher Zeit war's, als die alte Margit Kampen zur Pfarre gegangen kam und den Herrn Pfarrer sprechen wollte. Und sie wurde in sein Arbeitszimmer hinaufgeführt, wo der Pfarrer, ein schmächtiger, hellblonder Mann, die großen Augen hinter einer Brille, sie freundlich empfing, sie gleich erkannte und sie bat, Platz zu nehmen. "Ist es wieder was mit Arne?" fragte er, als hätten sie schon häufiger über diesen Fall gesprochen. "Ja, Gott helfe mir," sagte Margit, "ich kann ja nie was andres als gutes von ihm sagen, und doch ist es so schwer"; sie sah sehr sorgenvoll aus. "Ist denn wieder die alte Sehnsucht über ihn gekommen?" fragte der Pfarrer. "Schlimmer als je", sagte die Mutter. "Ich glaube nimmer, daß er bei mir bleibt, wenn der Frühling kommt."—"Er hat doch versprochen, Dich nie zu verlassen."—"Freilich; aber Herrgott,—er weiß sich ja selbst keinen Rat; wenn ihm der Sinn in die Welt steht, muß er eben gehen. Was soll dann aber aus mir werden?"

"Ich glaube, schließlich wird er Dich doch nicht allein lassen", sagte der Pfarrer. "Nein, natürlich; aber wenn er es nun zu Hause nicht aushalten kann? Soll ich es da auf mein Gewissen laden, ihm im Wege zu stehen; manchmal denke ich, ich müsse ihn selbst bitten zu reisen."

"Woher weißt Du, daß er jetzt noch größere Sehnsucht hat als früher?"—"Ach,—aus vielen Dingen. Seit dem Mittwinter hat er keinen einzigen Tag mehr im Dorf gearbeitet. Dagegen ist er dreimal nach der Stadt gefahren und jedesmal lange weggeblieben. Er spricht fast nie, wenn er arbeitet, und das hat er doch sonst oft getan. Er kann stundenlang allein oben an dem kleinen Bodenfenster sitzen und nach den Bergen schauen, dorthin, wo die Kampenschlucht ist; da kann er Sonntags den ganzen Nachmittag sitzen, und oft, wenn es mondhell ist, bleibt er dort bis tief in die Nacht hinein."—"Liest er Dir nie etwas vor?"—"Natürlich, jeden Sonntag liest er mir vor und singt, aber immer so ein bißchen in Eile, außer wenn er beinahe zu viel des Guten tut."—"Spricht er dann nie mit Dir?"—"Oft macht er so lange Pausen, daß ich heimlich vor mich hinweine. Das sieht er dann und fängt zu reden an, aber immer von den leichten Dingen, nie von den schwereren." Der Pfarrer ging auf und ab, dann blieb er stehen und fragte: "Warum sagst Du ihm das nicht?"—Es dauerte lange, bis sie hierauf etwas antwortete; sie seufzte ein paarmal, schaute zu Boden und zur Seite und faltete ihr Taschentuch zusammen. "Ich bin heute hergekommen, um mit dem Herrn Pfarrer über etwas zu reden, was mir schwer auf der Seele liegt."—"Sprich frei heraus; es wird Dich erleichtern."—"Ja, es wird mich erleichtern; denn ich habe es jetzt viele Jahre lang allein mit mir herumgeschleppt, und es wird mit jedem Jahre schwerer."—"Was ist es, liebe Frau?"—Sie zögerte eine Weile, dann sagte sie: "Ich habe eine große Sünde an meinem Sohn begangen", sie fing zu weinen an. Der Pfarrer trat dicht vor sie hin: "Gesteh' sie mir, dann wollen wir zusammen zu Gott beten, daß sie Dir vergeben werde."

Margit schluchzte und wischte sich die Tränen ab, sie fing aber wieder zu weinen an, als sie sprechen wollte, und so geschah es noch ein paarmal. Der Pfarrer tröstete sie und sagte, es könne doch gewiß keine so große Schuld sein, sie sei wohl zu streng gegen sich usw. Margit aber weinte und hatte nicht den Mut, zu beginnen, bis der Pfarrer sich neben sie setzte und ihr gut zuredete. Da kam es denn allmählich aus ihr heraus: "Der Junge hat es als Kind schlecht gehabt, und da hat er die Wanderlust bekommen. Dann kam er mit Kristian zusammen, mit dem, der jetzt drüben beim Goldgraben schwer reich geworden ist. Kristian gab Arne so viele Bücher, daß er anders wurde als wir; sie saßen nächtelang zusammen, und als Kristian fortging, wollte der Junge ihm nach. Zu der Zeit aber kam sein Vater ums Leben, und der Junge versprach, mich nie zu verlassen. Mir war zumut wie einer Henne, die ein Entenei ausgebrütet hat; als das Junge Luft gekriegt hatte, wollte es fort aufs große Wasser, und ich lief schreiend am Ufer hin und her. Konnte er auch selbst nicht fort, so konnten es doch seine Lieder, so daß ich jeden Morgen glaubte, sein Bett müsse leer sein.

Da geschah es, daß ein Brief aus sehr weiter Ferne für ihn eintraf, und der mußte von Kristian sein. Gott verzeihe mir, daß ich ihn an mich nahm und ihn versteckte. Ich dachte, hiermit habe es sein Bewenden, aber da kam noch einer, und hatte ich den ersten versteckt, so mußte ich auch den andern verstecken. Aber war es nicht, als wollten die Briefe ein Loch in die Truhe brennen, in der sie lagen,—denn denken mußte ich dran, sowie ich die Augen aufschlug, bis ich sie wieder zumachte. Was Verkehrteres gab es auf der Welt nicht wieder,—es kam noch ein dritter! Den habe ich wohl eine Viertelstunde in der Hand gehalten; ich trug ihn drei Tage lang auf der Brust und überlegte hin und her, ob ich ihm wohl den Brief geben oder ob ich ihn zu den andern legen solle; aber vielleicht war er mächtig genug, den Jungen von mir fortzulocken,——ich konnte nichts dafür, aber ich legte ihn zu den andern. Jetzt ging ich täglich angstvoll um die Truhe herum und dachte an die Briefe, die noch kommen konnten. Vor jedem Menschen, der auf den Hof kam, hatte ich Angst; saßen wir in der Stube, und einer faßte an die Türklinke, dann zitterte ich; denn es konnte doch ein Brief sein, und dann würde er ihn bekommen. Wenn er im Dorf war, lief ich zu Hause herum und dachte, jetzt kriegt er da draußen vielleicht einen Brief, und darin steht von denen, die schon vorher angelangt sind! Wenn er nach Hause kam, forschte ich schon von weitem in seinem Gesicht, und Herrgott, wie war ich froh, wenn er lächelte, weil er ja dann nichts bekommen hatte! Er war jetzt auch so hübsch geworden wie sein Vater, nur blonder und sanfter. Und dann hatte er eine so schöne Stimme;—wenn er draußen vor der Tür in der Abendsonne saß, zu den Halden hinaufsang und auf die Antwort lauschte, dann fühlte ich, daß ich ihn nicht entbehren konnte!—Wenn ich ihn bloß sah oder doch wußte, er war irgendwo in der Nähe und freute sich über irgend etwas, und er hatte nur manchmal inzwischen ein gutes Wort für mich, dann wünschte ich mir nichts mehr auf der Welt und ich bereute keine Träne, die ich geweint hatte.

Aber gerade als es schien, er fühlte sich wohler und ginge lieber unter Menschen, da kam ein Bote von der Posthalterei, jetzt sei der vierte Brief gekommen, und darin seien zweihundert Taler!—Ich dachte, ich sollte auf der Stelle umsinken: Was sollte ich jetzt tun? Den Brief konnte ich ja beiseite schaffen, aber das Geld? Ich fand ein paar Nächte keinen Schlaf wegen dieses Geldes; ich hatte es manchmal auf dem Boden, manchmal im Keller hinter einer Tonne, und einmal war ich so verzweifelt, daß ich es vors Fenster legte, wo er es finden konnte. Als ich ihn kommen hörte, nahm ich es doch wieder fort. Schließlich aber fand ich einen Ausweg: ich gab ihm das Geld und sagte, es habe von Mutters Lebzeiten her noch ausgestanden. Er vergrub es in die Erde, wie ich mir gedacht hatte, und da kam es nicht weg. Aber dann mußte es geschehen, daß er gerade in dem Herbst eines Abends dasaß und sich wunderte, daß Kristian ihn so ganz vergessen habe!

Da brach die Wunde wieder auf, und das Geld brannte mir auf der Seele;
Sünde war es, und genützt hatte die Sünde nichts!

Eine Mutter, die sich an ihrem Kind versündigt, ist die unglücklichste aller Mütter;—und doch hab' ich es nur aus Liebe getan.—So soll ich wohl auch damit gestraft werden, daß ich mein Liebstes verliere. Denn seit dem Mittwinter hat er die Weise wiedergefunden, die er singt, wenn er sich hinaussehnt; die hat er von Kind an gesungen, und ich kann sie nicht hören, ohne zu erbleichen. Dann bin ich zu allem möglichen imstande, und hier sollst Du sehen,"—sie holte ein Stück Papier aus ihrem Mieder, faltete es auseinander und gab es dem Pfarrer, "hier ist etwas, woran er zuweilen schreibt; das geht gewiß nach der Melodie. Ich habe es mitgebracht, weil ich solch feine Schrift nicht lesen kann; sieh doch zu, ob da etwas vom Wandern drin steht.—"

Es stand nur eine Strophe auf dem Papier. Von der zweiten Strophe hier eine ganze und dort eine halbe Zeile, als sei es eine Weise, die er vergessen hatte, und die ihm jetzt Vers für Vers wieder einfiel. Der erste Vers aber lautete:

    Könnt', o könnt' ich hinüber schaun
      Über die hohen Berge!
    Seh' nur immer den Gletscher blaun,
    Rings die Wälder empor sich baun.
      Ob sie die Gipfel stürmen,
      Die sich wie Burgen türmen?

"Steht was vom Wandern drin?" fragte Margit und hing an den Augen des Pfarrers. "Ja, vom Wandern ist es", antwortete er und ließ das Blatt sinken. "Wußt' ich's doch! O Gott, ich kannte die Melodie ja!" Mit gefalteten Händen saß sie da und schaute den Pfarrer an, bang und gespannt, während eine Träne nach der andern ihr über die Backen lief.

Aber hier wußte der Pfarrer ebensowenig Rat wie sie. "Das muß der Bursch mit sich allein abmachen", sagte er. "Das Leben wird um seinetwillen nicht anders; es kommt nur darauf an, ob er selbst einmal mehr darin sehen kann. Jetzt scheint er es draußen erjagen zu wollen."—"Aber, Herr Pfarrer, das ist ja gerade wie mit der Frau", sagte Margit.—"Mit welcher Frau?" fragte der Pfarrer.—"Ja, die sich den Sonnenschein einfangen wollte, statt sich ein Fenster in die Wand zu machen."—Der Pfarrer war erstaunt über ihren Scharfsinn; aber es war nicht das erstemal, wenn sie auf diesen Gegenstand kam. Margit hatte ja sieben, acht Jahre lang an weiter nichts gedacht. "Meinst Du, daß er fortgeht? Was soll ich tun? Und das Geld? Und die Briefe?" Das alles stürmte zu gleicher Zeit auf sie ein. "Ja, die Sache mit den Briefen war nicht recht. Daß Du ihm etwas vorenthalten hast, was ihm gehört, ist schwer zu entschuldigen. Schlimmer aber ist noch, daß Du einen Mitchristen Deinem Sohn gegenüber in ein schlechtes Licht gesetzt hast, einen, der es nicht verdient hat, und besonders einen, den er sehr lieb hatte, und der ihm auch herzlich zugetan war. Wir wollen Gott bitten, daß er Dir verzeiht; wir wollen ihn beide bitten." Margit senkte den Kopf; sie hatte noch immer die Hände gefaltet: "Wie wollte ich ihn um Verzeihung bitten, wenn ich nur erst wüßte, ob er bleibt!"—Sie verwechselte wohl den lieben Gott mit Arne. Der Pfarrer tat, als merke er es nicht. "Möchtest Du es ihm jetzt gleich eingestehen?" fragte er. Sie schaute unverwandt zu Boden und sagte leise: "Wenn ich noch ein wenig warten könnte, täte ich es gern." Sie sah nicht, wie der Pfarrer lächelte; er fragte: "Glaubst Du nicht, Deine Sünde wird größer, je länger Du mit dem Eingeständnis zögerst?"—Sie hatte mit beiden Händen an ihrem Taschentuch zu tun, legte es in ein ganz kleines Viereck zusammen und versuchte, es noch kleiner zu machen; aber es wollte nicht gehen: "Ich habe Angst, wenn ich die Geschichte mit den Briefen eingestehe, dann zieht er fort."—"Du vertraust also nicht auf Gott?"—"Doch, natürlich", sagte sie schnell; dann fügte sie leise hinzu: "Aber wenn er mich nun doch verließe?"—"Du hast also mehr Angst davor, daß er fortgeht, als davor, in Deiner Sünde zu verharren?" Margit hatte ihr Taschentuch wieder auseinandergenommen; sie führte es jetzt an die Augen, denn ihr kamen die Tränen. Der Pfarrer aber saß eine Weile und betrachtete sie; dann sprach er weiter: "Warum hast Du mir denn die ganze Geschichte erzählt, wenn Du nicht irgendeinen Zweck damit verbinden wolltest?" Er wartete eine ziemliche Weile, aber sie antwortete nicht. "Hattest Du vielleicht geglaubt, Deine Sünde würde kleiner, nachdem Du sie gebeichtet?"—"Das glaubte ich", sagte sie leise, den Kopf noch tiefer auf die Brust gesenkt. Der Pfarrer lächelte und stand auf. "Ja, ja, meine gute Margit, Du mußt so handeln, daß Du auf Deine alten Tage Freude davon hast."—"Könnte ich nur die Freude behalten, die ich habe", sagte sie, und der Pfarrer dachte, sie könne sich kein größeres Glück denken, als in dieser beständigen Angst zu leben. Er lächelte, während er sich seine Pfeife stopfte. "Wenn hier doch ein kleines Mädchen wäre, das sich ihn eroberte; dann solltest Du sehen, er bliebe!"—Sie sah rasch auf und folgte dem Pfarrer mit den Augen, bis er vor ihr stehen blieb: "Eli Böen—? Was?" Sie wurde rot und blickte wieder zu Boden; aber sie antwortete nicht. Der Pfarrer stand da und wartete und sagte schließlich, diesmal aber ganz leise: "Wenn wir es so einrichteten, daß sie öfter hier im Pfarrhaus zusammenkämen?" Sie blinzelte zu dem Pfarrer hinauf, um zu sehen, ob es ihm auch voller Ernst sei. Aber sie wagte nicht so recht, daran zu glauben. Der Pfarrer setzte sich wieder in Bewegung, stand dann aber still: "Hör' mal, Margit! Wenn man's bei Licht besieht, war das am Ende Dein ganzes Anliegen heute?"—Sie sah zu Boden, steckte ein paar Finger in das zusammengefaltete Taschentuch und holte einen Zipfel hervor: "Nun ja, Gott verzeih mir's: das wollte ich ja gerade."—Der Pfarrer brach in ein herzliches Lachen aus und rieb sich die Hände: "Vielleicht wolltest Du das schon, als Du das letztemal hier warst?"—Sie zog den Zipfel weiter heraus, zerrte und zupfte daran: "Da Du es nun doch mal sagst,—ja, das war es."—"Haha, haha! O Margit, Margit!——Na, wir wollen sehen, was sich machen läßt; denn, daß ich's nur gestehe, meine Frau und meine Tochter haben schon längst denselben Gedanken gehabt wie Du."—"Ist es möglich?" Sie blickte so glücklich und so verschämt zugleich auf, daß der Pfarrer so recht seine Freude an ihrem offnen, hübschen Gesicht hatte, auf dem sich in allem Leid und aller Angst das Kind erhalten hatte. "Ja, ja, Margit, Dir, die soviel Liebe in sich hat, wird auch von Deinem Gott und Deinem Sohn um Deiner Liebe willen vergeben werden, was Du getan hast. Du bist ja auch genug gestraft durch die ständige große Angst, in der Du gelebt hast; wir werden jetzt sehen, ob Gott ihr ein schnelles Ende bereiten will, denn will er das, dann hilft er uns jetzt auch ein wenig." Sie stieß einen langen Seufzer aus und noch einen und noch einen, bedankte sich, knixte und ging und knixte an der Tür noch einmal. Aber sie war kaum draußen, als sie ganz verändert war. Sie sah mit einem schnellen, vor Dankbarkeit strahlenden Blick zum Himmel auf und stieg eilig die Treppe hinunter; immer mehr beeilte sie sich, je weiter sie sich von den Menschen entfernte, und so leichtfüßig, wie sie an diesem Tage auf Kampen zuschritt, war sie seit vielen, vielen Jahren den Weg nicht mehr gegangen. Als sie so nahe gekommen war, daß sie sehen konnte, wie der Rauch dicht und lustig aus dem Schornstein aufstieg, segnete sie das Haus und den ganzen Hof und den Pfarrer und Arne, und dann fiel ihr ein, daß es ja Rauchfleisch zu Mittag gab, ihr Lieblingsessen.

Vierzehntes Kapitel

Kampen war ein schöner Hof; er lag mitten in der Ebene, die unten von der Kampenschlucht, oben von der Dorfstraße begrenzt wurde; jenseits vom Wege war dichter Wald, weiter oben erhob sich die Bergwand, und dahinter standen schneebedeckt die blauen Höhen. Auf der andern Seite der Kampenschlucht war ebenfalls ein breiter Höhenzug, der im Anfang sich um den ganzen Schwarzen See an der Seite hinzog, wo Böen lag, nach Kampen zu höher wurde, aber gleichzeitig beiseite trat vor der breiten Talsenkung, dem Niederdorf, das hier unten anfing; denn Kampen war der letzte Hof im Oberdorf.

Die Haupttür des Wohnhauses ging auf den Weg hinaus; von ihr bis zur Straße mochten ein paar tausend Schritt sein; ein Fußsteig mit dichten Birken zu beiden Seiten führte hinauf. Rechts und links von dem Rodeland lag Wald; Äcker und Wiesen des Hofes konnten nach Belieben vergrößert werden; es war in jeder Hinsicht eine vorzügliche Ackerwirtschaft. Vorm Hause lag ein kleiner Garten. Arne bestellte ihn nach der Anleitung seiner Bücher; links vom Hause befanden sich die Viehställe und die andern Wirtschaftsgebäude; sie waren fast alle neu errichtet und bildeten mit dem Wohnhaus ein Viereck. Das Wohnhaus war rotgestrichen, mit weißen Fensterrahmen und Türen, hatte zwei Stockwerke, war mit Torf gedeckt, und auf dem Dach wuchs allerlei Buschwerk; der eine Giebel trug eine Stange, auf der sich ein eiserner Hahn mit hohem Schweif drehte.

Der Frühling war in die Gebirgsdörfer gekommen; es war ein Sonntagmorgen, die Luft etwas trüb, aber ruhig und nicht kalt; der Nebel hing dicht über dem Walde, aber Margit meinte, er werde sich im Lauf des Tages lichten. Arne hatte seiner Mutter die Predigt vorgelesen und Choräle gesungen, und das hatte ihm gut getan; jetzt war er in vollem Staat, um nach dem Pfarrhaus hinaufzugehen. Er machte die Tür auf, der frische Laubgeruch schlug ihm entgegen, der Garten war taufrisch und beugte sich unter dem Morgennebel, von der Kampenschlucht her aber brauste es mit starkem, stoßweisem Donnern, daß einem Hören und Sehen verging.

Arne schritt bergan. Je weiter er sich vom Wasserfall entfernte, desto mehr verlor das Gedröhn alles Grauen und legte sich zuletzt wie ein tiefer Orgelton über die ganze Landschaft.

"Gott sei mit ihm auf allen Wegen!" sagte die Mutter, sie öffnete das Fenster und sah ihm nach, bis die Büsche ihn verdeckten. Der Nebel lichtete sich immer mehr, die Sonne brach durch, auf den Feldern und im Garten wurde es lebendig; dort sproßte Arnes Werk in frischem Wachstum und trug der Mutter Duft und Freude zu. Der Frühling ist schön für einen, der einen langen Winter gehabt hat.

Arne hatte nichts Bestimmtes in der Pfarre zu tun; er wollte nur nach den Zeitungen fragen, die er mit dem Pfarrer zusammen hielt. Kürzlich hatte er die Namen einiger Norweger gelesen, die es durch Goldgraben in Amerika zu etwas gebracht hatten, und unter diesen war auch Kristian gewesen. Jetzt war zu Arne das Gerücht gedrungen, Kristian werde zu Hause erwartet. Hierüber würde er auch wohl oben in der Pfarre Sicheres erfahren,—und verhielt es sich wirklich so, daß Kristian schon jetzt in der Stadt war, dann wollte Arne in der Zeit zwischen der Frühjahrsbestellung und der Heuernte zu ihm hin. Daran mußte er denken, bis er an die Stelle gekommen war, wo er den Schwarzen See und drüben am andern Ufer Böen überblicken konnte. Auch da lichtete sich der Nebel, die Sonne spielte auf den Hängen, die Berge hatten helle Spitzen, trugen aber den Nebel noch in ihrem Schoß; an der rechten Seite verdunkelte der Wald das Wasser, vor den Häusern aber war es etwas seichter, und da schimmerte der weiße Sand in der Sonne. Mit einem Schlage waren seine Gedanken in dem rotgetünchten Hause mit den weißen Türen und Fensterrahmen, wonach er sein eigenes gestrichen hatte. Er dachte nicht an die ersten schweren Tage, die er dort gehabt, er dachte bloß an den Sommer, den sie beide vor sich gesehen hatten, er und Eli, dort oben an ihrem Krankenbett. Seitdem war er nicht wieder dagewesen seitdem wollte er auch nicht mehr hin, um alles in der Welt nicht. Wenn seine Gedanken nur dran rührten, wurde er rot und verlegen, und doch geschah das jeden einzigen Tag und viele Male am Tage, und wenn ihn etwas aus dem Dorf vertreiben konnte, so war es gerade dies.

Er ging sehr schnell, als wolle er die Stätte weit hinter sich lassen; aber je weiter er ging, desto näher hatte er Böen vor sich, und desto häufiger sah er auch hinüber. Der Nebel war ganz verschwunden, der Himmel klar von einer Bergkette zur andern, Vögel schwebten in der sonnenfrohen Luft und riefen sich zu, die Felder antworteten mit Millionen von Blumen; kein Wasserfall zwang die Freude aufs Knie wie zu andächtiger Unterwerfung, nein, lebensfroh, hingerissen sang, blinkte und jubelte sie himmelwärts ohn' Ende!

Arne hatte sich glühendheiß gelaufen; er warf sich am Fuß einer Anhöhe ins Gras, blickte nach Böen hinüber und drehte sich auf die Seite, um nicht länger dahinzusehen. Da hörte er über sich singen, so rein, wie er nie zuvor hatte singen hören; es jauchzte hin über die Wiese durch das Vogelgezwitscher, und ehe er noch die Melodie recht erkannte, verstand er schon die Worte; denn das war die Melodie, die ihm die liebste war, und auch die Worte waren es, die er von Kind an in sich getragen hatte,—und die er am selben Tage vergaß, als er sie endlich geformt hatte! Er sprang auf, als wolle er sie haschen, blieb aber stehen und lauschte; der erste Vers, der zweite, der dritte, der vierte von seinem eigenen vergessenen Liede schwebte zu ihm hernieder:

    Könnt', o könnt' ich hinüber schaun
      Über die hohen Berge!
    Seh' nur immer den Gletscher blaun,
    Rings die Wälder empor sich baun.
      Ob sie die Gipfel stürmen,
      Die sich wie Burgen türmen?

    Adler schweben mit starkem Schlag
      Über die hohen Berge,
    Rudern im jungen, kraftvollen Tag,
    Senken zu Tal sich, wo jeder mag,
      Stillen ihr schweifend Gelüste,
      Spähn nach der fremdesten Küste.

    Laubschwerer Apfelbaum, den nichts zieht
      Über die hohen Berge,—
    Der da blüht, wenn der Winter flieht,
    Der es trägt, wenn der Sommer schied;—
      Was deine Vögel singen,
      Bleibt dir ein taubes Klingen.

    Wer sich seit zwanzig Jahren gesehnt
      Über die hohen Berge,
    Wer die Arme sich wund gedehnt,
    Fruchtlos immer sich aufgelehnt,
      Hört, was die Vögel singen,
      Die deine Zweige tragen.

    Törichte Schwätzer, was kamt ihr hierher
      Über die hohen Berge,
    Ließt eure Nester da draußen leer,
    Flöhet von Sonne, Menschen, Meer,—
      Nur daß ihr einen verlachtet,
      Der hier schwingenlos schmachtet?

    Soll ich denn niemals, niemals fort
      Über die hohen Berge,—
    Bis mich entseelt dieser Schreckensort,
    Bis er vereist mir mein letztes Wort?
      Bis sie nach Hangen und Harren
      Mich hier im Keller verscharren!

    Laßt mich hinaus! o weit, weit, weit
      Über die hohen Berge!
    Hier tropft träge wie Blei die Zeit,
    Und mein Mut so nach Leben schreit,—
      Laßt ihn zur Sonne, zum Hellen,
      Nicht an der Felswand zerschellen!

    Einmal, das weiß ich, da reicht es hinaus
      Über die hohen Berge.
    Wartest du, Herr, schon im Himmelshaus?
    Hast schon dein Wort für mein Trachten kraus?
      Doch—wenn das Tor noch nicht offen,
      Laß mich ein Weilchen noch hoffen!

Arne stand, bis der letzte Vers, das letzte Wort verklungen war. Wieder hörte er die Vögel schäkern und lachen, doch er wagte sich nicht zu rühren. Wissen, wer es war, mußte er aber; er hob den Fuß und schlich so behutsam, daß nicht einmal das Gras raschelte. Ein kleiner Schmetterling setzte sich gerade vor seinem Fuß auf eine Blume, flatterte in die Höhe, flog ein kleines Stück weiter, flatterte wieder in die Höhe, flog wieder ein kleines Stück und flatterte wieder hoch und so ging es den ganzen Abhang, den er hinaufklomm. Dann kam ein dichtes Gebüsch, und er wollte nicht weiter, denn jetzt konnte er alles sehen; ein Vogel flog aufgeschreckt aus dem Busch auf, kreischte und schwebte über den Abhang weg; da blickte das Mädchen auf, das dort saß; er duckte sich tief zur Erde und hielt den Atem an, das Herz klopfte ihm, er hörte jeden Schlag, er lauschte und wagte kein Blatt anzurühren; denn das war sie ja,—war Eli!—Nach langer, langer Zeit sah er ein klein wenig in die Höhe und wäre gar zu gern einen Schritt näher gegangen; aber der Vogel konnte unter dem Busch sein Nest haben, und das durfte er nicht zertreten. Er lugte also durch die Blätter, je nachdem sie zur Seite wehten oder sich zusammenschlossen. Die Sonne fiel voll auf Eli; sie saß da in einem schwarzen, ärmellosen Kleid und hatte einen Strohhut auf dem Kopf, der einem Jungen gehören mußte; er saß nicht fest und rutschte immer nach einer Seite. Auf dem Schoß hatte sie ein Buch, außerdem aber einen großen Haufen Feldblumen; ihre rechte Hand spielte wie in Gedanken damit, die linke hatte sie aufs Knie gestützt, und ihr Kopf ruhte darin. Sie blickte nach der Richtung, wohin der Vogel geflogen war, und es war ungewiß, ob sie geweint hatte.

Etwas Schöneres hatte Arne sein Lebtag weder gesehen, noch erträumt; die Sonne warf aber auch all ihr Gold über sie und über die Stätte, wo sie saß, und das Lied umschwebte sie, wiewohl es längst ausgesungen war, so daß seine Gedanken und sein Atem, ja, sogar sein Herzschlag im Takte danach gingen.

Sie nahm das Buch und schlug es auf, machte es aber schnell wieder zu und saß wie zuvor, während sie anfing, leise vor sich hinzusummen. Es war das Lied: "Mit Blatt und Knospen stand fertig der Baum"—er hörte es, obwohl sie weder die Worte, noch die Melodie genau behalten hatte und sich oftmals irrte. Den letzten Vers konnte sie noch am besten, deshalb fing sie ihn immer wieder von vorn an; aber sie sang ihn so:

    Und der Baum trug Früchte, reif schimmernd wie Gold.
    Sie seufzte: "Die möcht' ich!" Sie war just so hold.
      "Die alle, o ja,
      Für dich sind sie da!"
    Sprach der Baum—trala, la, la, hold!—

Und dann plötzlich sprang sie auf, schüttete alle Blumen hin, juchzte, daß der Klang durch die Luft schmetterte und bis Böen dringen mochte. Und dann lief sie davon!——Sollte er rufen? Nein!—Da sprang sie schon singend und trällernd den Hügel hinunter; ihr fiel der Hut ab, sie nahm ihn wieder auf, jetzt stand sie mitten im hohen Grase.—"Soll ich rufen? Sie sieht sich um!"——Er duckte sich tiefer. Lange dauerte es, bis er wieder hinzuschauen wagte, und dann hob er auch bloß den Kopf, sah sie aber nicht,—richtete sich auf den Knien auf, sah sie noch nicht;——stand ganz auf,—ja, sie war verschwunden!——

Er mochte nicht mehr ins Pfarrhaus. Er mochte überhaupt nichts mehr!—Darauf setzte er sich hin, wo sie gesessen hatte, und saß noch da, als die Sonne gegen Mittag stand. Auf dem See regte sich keine einzige Welle, über den Höfen zitterte schon der Rauch in der Luft, die Wachteln verstummten eine nach der andern, die kleinen Vögel schäkerten wohl noch, zogen sich aber doch allmählich in den Wald zurück, der Tau war fort, so daß das Gras gar würdig dastand, kein Lüftchen bewegte sich, und die Blätter hingen still herab, die Sonne mußte in einer Stunde auf der Mittagshöhe sein. Er wußte gar nicht, wie es kam, daß er da plötzlich saß und über ein kleines Gedicht nachsann; ein holder Ton kam und bot sich ihm dar für sein Lied; das Herz war ihm wunderlich von Weichheit voll, und der Ton kam und ging so lange, bis er ein ganzes Bild erschuf.

In der Stille, wie er es gemacht hatte, sang Arne es auch:

    Im Walde klang es den ganzen Tag,
      Den ganzen Tag.
    Klein Knabe, hörst du das Tönen, sag',
      Das Tönen, sag'?

    Der Knabe schnitt sich eine Schalmei,
      Eine Schalmei,
    Und blies,—ob der Ton wohl darinnen sei,
      Darinnen sei.

    Der Ton, der meldete sich wie ein Hauch,
      Wie ein Hauch,
    Doch wie er gekommen, entschwand er auch,
      Entschwand er auch.

    Oft, wenn er schlief, er zu ihm schlich,
      Er zu ihm schlich,
    Und über die Stirn ihm voll Liebe strich,
      Voll Liebe strich.

    Doch wollt' er ihn greifen, jählings erwacht,
      Jählings erwacht,
    Versank der Ton in der bleichen Nacht,
      Der bleichen Nacht.

    "Herr, mein Gott, nimm mich dahin,
      Nimm mich dahin!
    Der Ton nahm ein meinen ganzen Sinn,
      Meinen ganzen Sinn."

    Der Herr gab zur Antwort: "Dein Freund ist er,
      Dein Freund ist er!
    Doch freilich—dein eigen,—das nimmermehr,
      Das nimmermehr."

    Was sind all die andern wohl gegen sie,
      Wohl gegen sie,
    Die immer du suchst und findest sie nie,
      Findest sie nie!

Fünfzehntes Kapitel

Es war ein Sonntagabend Anfang des Sommers; der Pfarrer war aus der Kirche nach Hause gekommen, und Margit hatte bis gegen sieben Uhr bei ihm gesessen. Da verabschiedete sie sich und eilte die Treppe hinunter auf den Hof hinaus, denn dort war eben Eli Böen in Sicht gekommen, die solange mit dem Sohn des Pfarrers und ihrem eignen Bruder gespielt hatte.

"Guten Abend!" sagte Margit, indem sie stehen blieb, "und Grüß Gott!"—"Guten Abend!" sagte Eli, sie war feuerrot und wollte das Spiel einstellen, obwohl die Jungens sie bestürmten; aber sie bat sehr herzlich und war für diesen Abend entlassen.—"Mir ist, ich müßte Dich kennen", sagte Margit.—"Das ist wohl möglich", sagte die andre.—"Du kannst doch nicht die Eli Böen sein?"—Doch, die sei sie.—"Nein, aber so was!—Also die Eli Böen bist Du! Ja, jetzt sehe ich es auch,—Du bist Deiner Mutter ähnlich." Elis rötlichbraunes Haar war aufgegangen, daß es lang und lose herunterhing; ihr Gesicht war so heiß und rot wie eine Erdbeere, ihre Brust hob und senkte sich, sie konnte kaum sprechen und lachte, weil sie so außer Atem war.—"Ach ja, das gehört zur Jugend",—Margit freute sich an ihr. "Du kennst mich wohl nicht?" Eli hatte schon fragen wollen, hatte sich aber nicht getraut, weil die andere älter war; jetzt sagte sie, sie könne sich nicht erinnern, sie schon gesehen zu haben.——"O nein, das ist auch sehr unwahrscheinlich; alte Leute kommen selten aus ihrem Bau.—Vielleicht kennst Du aber meinen Sohn, den Arne Kampen; ich bin seine Mutter", sie schaute Eli an, die auf einmal ganz verändert war.—"Ich glaub' beinah, er hat einmal in Böen gearbeitet?"—Ja, das habe er.—"Es ist solch schönes Wetter heut abend; wir haben den Tag über geheut und eingefahren, bis ich weggegangen bin; es ist ein gottgesegnetes Wetter."—"Es gibt sicher ein gutes Heujahr", meinte Eli.—"Ja, das darf man wohl sagen;—in Böen ist es auch wohl gut?"—"Da ist schon alles fertig."—"Natürlich, ja; viel Hilfe und tüchtige Leute.—Mußt Du heut abend nach Hause?"—Nein, sie brauche nicht. Sie sprachen über dies und jenes und wurden schließlich so bekannt, daß Margit die Frage wagen konnte, ob Eli ein Stück mitgehen wolle. "Könntest Du mich wohl ein paar Schritte begleiten?" sagte sie; "ich treffe so selten jemand, mit dem ich ein Wort reden kann, und Dir geht es wohl ebenso?"—Eli entschuldigte sich, sie habe keine Jacke an.—"Na ja, ich sollte mich auch schämen, einen Menschen drum zu bitten, den ich zum erstenmal sehe; aber mit alten Leuten muß man es nicht so genau nehmen."—Eli sagte, sie würde gern mitkommen, aber sie müsse sich erst ihre Jacke holen. Es war eine enganschließende Jacke. Wenn sie zugehakt war, sah sie wie ein Leibchen aus; jetzt machte sie aber bloß die beiden untersten Haken zu; ihr war so warm. Das feine Leinenhemd hatte einen kleinen, überfallenden Kragen, der am Halse von einem silbernen Knopf in Gestalt eines Vogels mit ausgebreiteten Schwingen zusammengehalten wurde. So einen hatte Schneider Nils getragen, als Margit zum erstenmal mit ihm getanzt hatte.—"Ein schöner Knopf", sagte sie und besah ihn.—"Ich habe ihn von Mutter", sagte Eli.—"Das hast Du wohl", und sie half ihr beim Anziehen.

Jetzt schritten sie den Weg entlang. Das Heu war gemäht und stand in Hocken, Margit griff in die Hocken hinein, roch dran und fand, es sei schönes Heu. Sie fragte nach dem Vieh hier auf dem Hof, dann nach dem in Böen und erzählte schließlich, wieviel sie auf Kampen hätten. "Die Wirtschaft ist in den letzten Jahren tüchtig vorwärts gekommen, und sie läßt sich vergrößern, soviel man will. Sie ernährt jetzt zwölf Milchkühe und könnte noch mehr ernähren; aber Arne hat soviel Bücher, in denen er liest, und nach denen er alles einrichtet, darum will er sie so großartig gefüttert haben." Eli sagte, wie zu erwarten war, zu all dem nichts; Margit aber fragte sie, wie alt sie sei. Sie sei neunzehn Jahr. "Legst Du manchmal im Hause mit Hand an? Du siehst so fein aus, damit ist's wohl nicht viel geworden."—O doch, sie habe bei mancherlei geholfen, besonders in letzter Zeit.—"Ja, es ist gut, wenn einer an alles gewöhnt ist; wenn man selbst mal eine große Wirtschaft bekommt, tut's not. Aber natürlich, wenn einer tüchtige Hilfe hat, ist's nicht so schlimm."—Eli wollte umkehren, denn sie waren längst am Pfarracker vorbei. "Es ist noch lange hin, bis die Sonne untergeht;—es wäre nett von Dir, wenn Du noch ein bißchen mit mir plaudern wolltest",—und Eli ging mit.

Nun fing Margit von Arne zu reden an. "Ich weiß nicht, ob Du ihn genauer kennst. Der kann Dir über alles Bescheid sagen; Herrgott, was hat der nicht alles gelesen!" Eli gab zu, sie wisse, daß er viel gelesen habe. "Na ja, aber das ist noch das wenigste; doch wie er sein ganzes Leben lang zu seiner Mutter gewesen ist, das ist mehr. Wenn es wahr ist, was das Sprichwort sagt, daß einer, der gut zu seiner Mutter war, auch gut zu seiner Frau ist, dann wird die, die er erwählt, sich nicht zu beklagen haben.—Wonach siehst Du, Kind?"—"Mir ist bloß ein kleiner Zweig weg, den ich in der Hand hatte."—Sie verstummten beide und gingen weiter, ohne sich anzusehen. "Er ist so eigentümlich", sagte die Mutter wieder; "er ist als Kind so eingeschüchtert worden, und da hat er sich dran gewöhnt, alles mit sich allein abzumachen, und die Art Leute können sich nicht so frei geben."—Jetzt wollte Eli wirklich umkehren, aber Margit meinte, es sei nur noch ein kleines Stück bis Kampen, und Kampen müsse sie sehen, wo sie nun doch einmal hier sei. Eli aber sagte, es sei heute schon zu spät. "Es ist immer jemand da, der Dich nach Hause begleitet", sagte Margit. "Nein, nein", antwortete Eli rasch und wollte weg. "Der Arne freilich ist nicht zu Hause," sagte Margit, "er kann's also nicht; aber es sind genug andere da", und Eli hatte jetzt weniger dagegen; sie wollte doch Kampen gern sehen, "wenn es bloß nicht zu spät wird."—"Ja, wenn wir hier lange stehen und drüber reden, dann mag es wohl zu spät werden",—und sie gingen. "Du hast auch wohl viel gelernt, wo Du doch beim Herrn Pfarrer aufgewachsen bist?" Ja, das habe sie. "Das wird Dir gut zustatten kommen," meinte Margit, "wenn Du mal einen bekommst, der weniger kann."—Nein, meinte Eli, solchen möchte sie nicht. "Nun ja, es ist ja auch vielleicht nicht das beste, aber hier im Dorf haben die Leute wenig Bildung."—Eli fragte, was da hinten im Walde rauche. "Das kommt von dem neuen Pächterhaus, das zu Kampen gehört. Da wohnt der Knut vom Oberland. Er war immer so allein, und da hat Arne ihm den Platz gegeben, daß er ihn urbar mache. Er weiß, was es heißt, allein zu sein, der arme Arne." Nach einer Weile waren sie hoch genug, um das Gehöft sehen zu können. Die Sonne schien ihnen gerade ins Gesicht; sie beschatteten die Augen und schauten hin. Mitten drin lag das rotgestrichene Haus mit den weißen Fensterrahmen; ringsum die Wiesen waren gemäht, hier und da stand das Heu noch in Hocken; die Äcker standen grün und üppig mitten in der hellen Wiese; bei den Ställen war großes Leben: Kühe, Schafe und Ziegen kamen gerade nach Hause, ihre Glocken bimmelten, die Hunde bellten, die Kuhmagd rief; alles aber übertönte mit seinem furchtbaren Getöse der Wasserfall am Kampenschlund. Je länger Eli hinschaute, desto mehr hörte sie bloß diesen Ton, und er wurde ihr schließlich so grauenvoll, daß sie Herzklopfen bekam; in ihrem Kopf sauste und brauste es,—es wurde ihr ganz wirr und doch wieder so weich und warm, daß sie unwillkürlich behutsam auftrat und kleine Schritte machte; Margit mußte sie bitten, ein bißchen schneller zu gehen. Sie schrak zusammen; "ich habe noch nie etwas Ähnliches gehört wie diesen Wasserfall", sagte sie; "ich bekomme beinah Angst."—"Daran gewöhnst Du Dich schnell," sagte die Mutter, "schließlich würde er Dir sogar fehlen."—"Meinst Du wirklich?" fragte Eli.—"Ja, das sollst Du sehen", sagte Margit und lächelte.

"Komm, jetzt wollen wir uns erst das Vieh ansehen", sagte sie, während sie vom Weg abbog; "diese Bäume hier zu beiden Seiten hat Nils gepflanzt.—Nils wollte gern alles recht schön haben;—Arne auch; Du sollst mal den Garten sehen, den er angelegt hat."—"Nein, wie schön!" rief Eli und lief an den Zaun. Sie hatte Kampen schon öfter gesehen, aber nie so in der Nähe, und daher auch noch nie den Garten.—"Den wollen wir uns nachher ansehen", sagte Margit.—Eli blickte flüchtig durch die Scheiben, als sie am Hause vorbeigingen; es war niemand drin.

Sie stellten sich nun beide auf die Scheunenbrücke und besahen die Kühe, wie sie brüllend an ihnen vorbei in den Stall zogen. Margit nannte Eli die Namen alle, erzählte ihr, wieviel Milch jede gebe, welche trächtig seien und welche nicht. Die Schafe wurden gezählt und in den Stall gelassen; es war eine große fremde Rasse; Arne hatte sich zwei Lämmer aus dem Süden kommen lassen. "Mit all so was beschäftigt er sich, wenn man es ihm auch gar nicht zutraut."—Sie gingen jetzt in die Scheune, besahen das eingefahrene Heu, und Eli mußte daran riechen,—"denn solches Heu gibt es nicht überall". Sie zeigte durch die Scheunenluke hinaus auf die Äcker und erklärte, was auf jedem stand, und wieviel von jeder Sorte gesät war.—Sie gingen hinaus und auf das Haus zu; aber Eli, die auf all das andre nicht geantwortet hatte, bat jetzt, als sie an dem Garten vorbeigingen, ob sie nicht hinein dürfe. Und als ihr das erlaubt war, bat sie, eine Blume oder zwei pflücken zu dürfen. Hinten in der Ecke stand eine kleine Bank: auf die setzte sie sich, wie um sie auszuprobieren, denn sie stand gleich wieder auf.

"Wir müssen uns jetzt beeilen, wenn es nicht zu spät werden soll", sagte Margit, die in der Pforte stand. Und nun gingen sie ins Haus. Margit fragte, ob sie ihr nicht etwas anbieten dürfe, wo sie zum erstenmal da sei; Eli aber wurde rot und sagte kurz: danke. Sie schaute sich nun nach allen Seiten um; die Fenster gingen auf den Weg hinaus; hier hielten sie sich den Tag über auf; die Stube war nicht groß, aber gemütlich, mit Wanduhr und Kachelofen. Dort hing Nils' Geige, alt und dunkel, aber mit neuen Saiten. Hier hingen ein paar Flinten, die Arne gehörten, englische Angelruten und andre seltsame Sachen, die die Mutter herunterholte und zeigte; Eli besah und befühlte sie. Die Stube war nicht gemalt, denn das mochte Arne nicht, auch die andere Stube nicht, die auf die Kampenschlucht mit den frischgrünen Bergen geradeüber und den blauen Höhen im Hintergrunde hinausging; diese Stube, die wie die eine ganze Hälfte des Hauses später angebaut war, war größer und schöner; die beiden kleineren Stuben in dem Flügel aber hatten Malerei, denn da sollte die Mutter wohnen, wenn sie alt würde,—und er eine Frau im Hause habe. Sie gingen in die Küche, in die Vorratskammer, in den Holzschuppen; Eli sagte kein Wort,—sie besah sich alles gewissermaßen aus der Entfernung; nur wenn Margit ihr irgend etwas hinhielt, faßte sie es an, aber auch nur ganz zaghaft. Margit, die in einemfort schwatzte, führte sie jetzt wieder auf die Diele; sie wollten nach oben und den Boden besichtigen.

Auch hier waren gut eingerichtete Zimmer, die den Stuben im unteren Stockwerk entsprachen, aber sie waren neu und noch nicht in Benutzung genommen außer einem, das auf die Kampenschlucht hinausging. In diesen Zimmern hing und stand aller möglicher Hausrat, der in der täglichen Wirtschaft nicht gebraucht wurde. Hier hingen ein gut Teil fertig genähter Felldecken sowie anderes Bettzeug; die Mutter befühlte sie und hob sie hoch, Eli mußte es manchmal auch tun; es war aber, als habe sie jetzt etwas mehr Mut bekommen, vielleicht hatte sie auch mehr Freude an diesen Dingen; denn auf einzelne Sachen kam sie zurück, fragte und wurde immer vergnügter. Da sagte die Mutter: "Jetzt, zuletzt wollen wir in Arnes Zimmer", und sie gingen in das Zimmer, das nach der Kampenschlucht hinauslag. Das fürchterliche Getöse des Wasserfalls schlug ihnen wieder entgegen, denn das Fenster war offen. Hier stand man höher, hier konnte man den Gischt des Wasserfalls zwischen den Felsen aufsprühen sehen, nicht aber den Wasserfall selbst, oder doch nur weiter oben, wo ein Felsblock abgestürzt war, gerade an der Stelle, wo er mit aller Macht sich zu dem letzten Sprung in die Tiefe anschickte. Frischer Rasen deckte die obere Fläche des Felsblockes, ein paar Kieferzapfen hatten sich hineingebohrt und in den Felsritzen Wurzel gefaßt. Der Wind hatte die Bäume gerüttelt und geschüttelt, der Wasserfall hatte sie bespült, so daß vier Ellen hoch von der Wurzel keine Zweige waren, sie waren aufs Knie gesunken, und ihre Äste krümmten sich, aber sie standen fest und schossen hoch auf zwischen den Felswänden. Das war das erste, was Eli vom Fenster aus sah, und dann die blendend weißen Schneefirnen hoch über dem Grün. Ihre Augen schweiften hinunter: auf den Feldern war Frieden und Fruchtbarkeit, und jetzt endlich sah sie sich in dem Zimmer um, wo sie stand; der Wasserfall hatte es bisher nicht zugelassen.

Wie war es hier still und fein gegen draußen! Sie sah keine Einzelheiten, weil eins sich in das andere einfügte und das meiste ihr neu war; denn Arne hatte seine ganze Liebe auf dieses Zimmer verwandt, und so dürftig es war, auch in den kleinsten Dingen zeigte sich Kunstverständnis. Ihr war's, als klängen seine Lieder um sie her oder als lächele er selbst sie aus jedem Gegenstand an. Das erste, was sie fesselte, war ein großes, breites, schön geschnitztes Bücherbrett. Da standen soviele Bücher, daß der Herr Pfarrer selbst ja wohl nicht mehr haben konnte. Das nächste war ein schöner Schrank. Darin habe er viele schöne Sachen, sagte die Mutter; da habe er auch sein Geld drin, fügte sie flüsternd hinzu. Zweimal hätten sie geerbt, sagte sie nachher; sie würden noch einmal etwas erben, wenn alles nach Wunsch ginge. "Aber Geld ist nicht das beste auf der Welt; er kann etwas kriegen, was noch besser ist."—Es waren gar manche Kleinigkeiten in dem Zimmer, die ergötzlich anzuschauen waren, und Eli besah sie sich alle wie ein fröhliches Kind. Margit klopfte ihr auf die Schulter: "Ich sehe Dich heute zum erstenmal, Kind, aber ich habe Dich schon so liebgewonnen", sagte sie und sah ihr treuherzig in die Augen. Ehe Eli noch Zeit hatte, verlegen zu werden, zupfte Margit sie am Kleid und sagte ganz leise: "Siehst Du die kleine rote Truhe da?—da ist was Feines drin, kannst Du glauben."——Eli sah hin, es war eine kleine, viereckige Truhe, die sie für ihr Leben gern hätte haben mögen. "Ich darf eigentlich nicht wissen, was in der Truhe ist," flüsterte die Mutter, "und er zieht jedesmal den Schlüssel ab"; sie ging nach der Wand, wo einige Kleidungsstücke hingen, nahm eine Samtweste herunter, suchte in der Uhrtasche und fand wirklich den Schlüssel. "Jetzt sollst Du mal sehen", flüsterte sie. Eli fand es nicht ganz recht, was die Mutter da tat; aber Frauen sind Frauen, und beide gingen ganz leise auf die Truhe zu und knieten davor nieder. Als die Mutter den Deckel aufklappte, schlug ihnen ein Duft daraus entgegen, daß Eli die Hände zusammenschlug, noch ehe sie ein Stück gesehen hatte. Oben drüber war ein Taschentuch gebreitet, das nahm die Mutter weg; "nun sollst Du mal sehen!" flüsterte sie und holte ein schönes, schwarzseidenes Tuch heraus, so eins, wie Männer nicht tragen. "Das ist wie für ein Mädchen gemacht", sagte die Mutter. "Hier ist noch eins", sagte sie dann; Eli befühlte es, sie konnte es nicht lassen; die Mutter wollte es ihr aber auch noch umlegen, obwohl Eli es nicht mochte und den Kopf abwandte. Die Mutter legte es sorglich wieder zusammen. "Jetzt sollst Du mal sehen", sagte sie dann und holte ein paar schöne Atlasbänder heraus; "alles ist doch wie für ein Mädchen." Eli wurde feuerrot, gab aber keinen Laut von sich; ihr Busen wogte, und ihre Augen gingen scheu zur Seite; sonst rührte sie sich nicht. "Hier ist noch mehr!" Die Mutter holte schönen schwarzen Kleiderstoff heraus;—"der ist aber fein", sagte sie und hielt ihn gegen das Licht. Eli zitterte die Hand ein bißchen, als die Mutter sie bat, ihn mal anzufühlen; sie merkte, wie ihr das Blut zu Kopf stieg, sie hätte sich gern abgewandt, aber es ging nicht an. "Er hat jedesmal in der Stadt etwas gekauft", sagte die Mutter. Eli konnte sich kaum noch halten; ihre Augen schweiften von einem Stück in der Truhe zum andern und dann wieder zurück auf den Kleiderstoff; im Grunde sah sie überhaupt nichts mehr. Die Mutter aber ließ nicht nach, und der letzte Gegenstand, den sie herausholte, war in Papier gewickelt; sie wickelte einen Bogen nach dem andern aus; das war nun wieder spannend; und Eli wurde sehr neugierig; es waren ein Paar kleine Schuhe. Etwas so Hübsches hatten sie beide ihr Lebtag nicht gesehen; die Mutter meinte, so etwas könne doch gar nicht gemacht werden, Eli sagte kein Wort; aber als sie die Schuhe anfaßte, drückten sich ihre fünf Finger darauf ab; sie wurde so verlegen, daß sie dem Weinen nahe war; sie wäre am liebsten gegangen; aber sie wagte nicht zu sprechen, wagte auch nicht die Mutter anzusehen. Die hatte aber genug mit sich zu tun. "Sieht es nicht genau aus, als habe er das alles nach und nach für eine gekauft, der er sich's nicht zu geben getraut hat?" sagte sie und packte alles genau so wieder ein, wie es gelegen hatte; sie mußte schon Übung darin haben. "Jetzt wollen wir mal sehen, was hier in der Schublade ist!" Sie öffnete sie so behutsam, als würden sie etwas besonders Schönes zu sehen bekommen. Da lag eine breite Schnalle wie für einen Gürtel; die zeigte sie Eli zuerst; dann zeigte sie ihr ein paar zusammengebundene goldene Ringe, und dann sah sie ein Gesangbuch mit silberbeschlagenem Samtdeckel, aber dann sah sie auch gar nichts mehr, denn auf dem Silberbeschlag des Gesangbuchs war mit feiner Schrift eingraviert: "Eli, Tochter von Baard Böen."——Die Mutter wollte gern, daß sie es sähe, bekam aber keine Antwort und sah nur eine Träne nach der andern auf das Seidenzeug fallen und darüber hinrinnen. Schnell legte die Mutter die Brosche hin, die sie in der Hand hatte, machte die Schublade zu und zog Eli in ihre Arme. Da weinte die Tochter an ihrem Herzen, und die Mutter weinte mit ihr, ohne daß einer von ihnen noch ein Wort gesprochen hätte.

* * * * *

Eine Weile drauf ging Eli allein in den Garten; die Mutter mußte in die Küche, um etwas Gutes herzurichten, denn jetzt kam Arne bald. Später ging sie hinaus und sah sich im Garten nach Eli um; die kauerte da am Boden und schrieb in den Sand. Sie wischte es aus, als Margit kam, blickte auf und lächelte; sie hatte geweint.—"Dabei ist nichts zu weinen, Kind", sagte Margit und streichelte sie. Sie sahen oben am Wege etwas Schwarzes hinter den Büschen. Eli schlich sich ins Haus, die Mutter hinterher. Drinnen war gewaltig aufgetischt: Rahmbrei, Rauchfleisch und Kringel; Eli sah aber gar nicht hin; sie setzte sich dicht an die Wand auf einen Stuhl in der Ecke neben der Uhr und zitterte, sowie sich nur eine Katze rührte. Die Mutter stand am Tisch. Feste Schritte ertönten auf den Steinfliesen, ein kurzer, leichter auf der Diele, leise wurde die Tür aufgemacht und Arne trat ein. Das erste, was er sah, war Eli in der Ecke neben der Uhr; er ließ die Tür los und blieb stehen. Das machte Eli noch verlegener; sie stand auf, bereute es aber gleich und drehte sich nach der Wand um.—"Du bist hier?" sagte Arne leise und wurde glühend rot bei dieser Frage.—Sie hob die Hand hoch und hielt sie sich vor die Augen, als wenn die Sonne zu grell hineinfällt. "Wie—?" er sprach nicht zu Ende, sondern trat einen Schritt oder auch zwei auf sie zu; da ließ sie die Hand wieder sinken und wandte sich ihm zu, neigte aber den Kopf und brach in Tränen aus.—"Gott segne Dich, Eli!" sagte er und umschlang sie; sie lehnte sich an ihn. Er flüsterte etwas zu ihr hinunter, sie antwortete nicht, legte aber beide Arme um seinen Hals.

Lange standen sie so; kein Laut war zu hören außer der ewigen Mahnung des Wasserfalls. Da klang ein Schluchzen vom Tisch her, Arne blickte auf, es war die Mutter; er hatte sie bis dahin nicht gesehen. "Jetzt bin ich unbesorgt, daß Du mich nicht verläßt, Arne", sagte sie und kam auf ihn zu. Sie weinte sehr, aber es tue ihr gut, sagte sie.

* * * * *

Als sie in der hellen Sommernacht nach Hause gingen, konnten sie in ihrer jungen Seligkeit nicht viel sprechen. Sie ließen die Natur für sich reden, wie sie still und licht und groß vor ihnen lag. Auf dem Heimweg aber von dieser ersten Sommernachtwanderung, der erwachenden Sonne entgegen, ging er und legte den Grund zu einem Liede, das zu formen er jetzt freilich nicht die Muße hatte, das aber später, als es fertig war, auf lange Zeit sein Lieblingslied wurde. Es lautete so:

    Ich dachte, was Großes würd' ich einmal;
    Ich dachte, das kam', wenn ich fort aus dem Tal.
    Hab' mich und alles vergessen,—
    Aufs Wandern nur war ich versessen.
      Da sah mir ein Mädchen ins Auge hinein,
      Und ließ mir die Ferne verschwinden:
      Jetzt schien mir des Lebens Krone zu sein,
      Mit ihr den Frieden zu finden.

    Ich dachte, was Großes würd' ich einmal;
    Ich dachte, das kam', wenn ich fort aus dem Tal.
    Mich trieb's, in der Geister Sphären
    Die junge Kraft zu bewähren.
      Sie lehrte mich, eh noch ein Wort ihr entfiel,
      Es sei das Höchste auf Erden,
      Nicht Ruhm und Größe zu suchen als Ziel,
      Nein, richtig ein Mensch zu werden.

    Ich dachte, was Großes würd' ich einmal;
    Ich dachte, das käm', wenn ich fort aus dem Tal.
    Ich fror in der Heimat, ich dachte,
    Daß man mich verkenn' und verachte.
      Als sie mir genaht, da schien mir, es ward
      Mir rings mit Liebe begegnet;
      Ich war es allein, auf den sie geharrt,
      Und neu war das Leben gesegnet.

Noch manche Sommernachtwanderung folgte und manches Lied hinterher. Eins davon mag noch aufgezeichnet werden:

    Wie all das gekommen, mir sagt's kein Vermuten;
    Es war kein Stürmen, kein Überfluten,
    Im Innern ein spielender, blinkender Bach
    Ergoß in den Strom sich allgemach,
    Der mächtig, so mächtig wallet zum Meere.

    Mich dünkt, ein Etwas in diesem Leben
    Dringt rufend ans Herz, dem die Sehnsucht gegeben,
    Die lockende Macht, die zärtliche Brust,
    Den Leid und Scheu und Wanderlust
    In Frieden als Brautgabe können umfangen.

    Entsandt das Leben mir solch einen frommen
    Glücksboten wie den, dessen Ruf ich vernommen,
    So fühl' ich das Walten der Gottheit bezeugt,
    Die alles lebendigen Ordnungen beugt,—
    Still werd' ich zum ewig Guten getragen.

Aber keins gab wohl sein Dankgefühl so wieder wie das folgende:

    Die Macht, die mir gab mein schlichter Gesang,
    Bewirkte, daß Lebens Leid und Wonne
    Glückselig fielen wie Tau und Sonne
    Auf der Seele wogenden Frühlingsdrang,
      Daß kein Geschehen
      Sie niederbricht,—
      Im Lied erstehen
      Ihr Liebe und Licht.

    Die Macht, die mir gab mein schlichter Gesang,
    Verbündet mich allen, die Sehnsucht empfinden;
    Drum konnte mir nichts die Seele binden,
    Nie dauernd mich hemmen ein selbstischer Zwang;
      Fortstürmend bangt' ich
      Vor Mühsal nicht,—-
      Und heimwärts gelangt' ich
      Zu Liebe und Licht.

    Die Macht, die mir gab mein schlichter Gesang,
    Die gibt mir vielleicht auch Macht über andre,
    So daß ich vom Weg aus, den ich wandre,
    Sie manchmal erfreue durch freundlichen Klang.
      Dies will mir erscheinen
      Als schönstes Gedicht,
      Wenn Lieder uns einen
      In Liebe und Licht.

Sechzehntes Kapitel

Es ging auf den Herbst, die Bauern waren beim Einfahren. Ein klarer Tag war es; in der Nacht und am Morgen hatte es geregnet, daher war die Luft milde wie im Sommer. Es war ein Sonnabend, trotzdem aber steuerten viele Boote über den Schwarzen See auf die Kirche zu, die Männer saßen in Hemdsärmeln und ruderten, die Frauen mit hellen Kopftüchern saßen vorn im Boot. Aber noch mehr Boote steuerten nach Böen hinüber, um nachher von dort aus in langem Zuge abzufahren, denn heut richtete Baard Böen für seine Tochter Eli und Arne Nilsson Kampen die Hochzeit aus.

Alle Türen waren offen, viele Leute gingen aus und ein, die Kinder standen, Kuchen in den Händen, draußen auf dem Hof, voll Angst um ihre neuen Kleider und blickten sich fremd an; eine alte Frau saß ganz allein oben auf der Treppe zum Vorratsschuppen: das war Margit Kampen. Sie trug einen breiten, silbernen Ring, an dessen oberer Platte mehrere kleine Ringe befestigt waren; zuweilen schaute sie ihn an; sie hatte ihn von Nils bekommen, an dem Tag, als sie mit ihm vor dem Altar stand, und hatte ihn seitdem nie wieder getragen.

In den zwei, drei Stuben liefen der Tafelmeister und die beiden jungen Brautführer, der Sohn des Pfarrers und Elis Bruder, hin und her und schenkten den Gästen ein, die sich nach und nach zu der großen Hochzeit einfanden. Oben in Elis Gemach saß die Braut mit der Frau Pfarrer und Mathilde, die eigens aus der Stadt gekommen war, um die Braut schmücken zu helfen: das hatten sie sich von klein auf versprochen.—Arne im Tuchanzug mit rundgeschnittener, enganschließender Jacke und einem Kragen, den Eli ihm genäht hatte, stand unten in einer Stube an dem Fenster, an das Eli damals "Arne" geschrieben hatte. Es stand offen, er lehnte im Rahmen und schaute über den stillen See nach der Kirche neben dem Pfarrhof hinüber.

Draußen auf der Diele trafen sich zwei, die beide von ihrer Hantierung kamen, der eine vom Landungssteg, wo er die Boote zur Fahrt in die Kirche hatte ordnen helfen; er hatte eine schwarze, rundgeschnittene Tuchjacke an, aber Hosen aus blauem Fries, die abfärben mußten, denn er hatte ganz blaue Hände; der weiße Kragen stand gut zu seinem blassen Gesicht und dem langen blonden Haar; glatt war die hohe Stirn, und um den Mund lag ein Lächeln. Es war Baard; er traf im Flur auf eine Frau, die gerade aus der Küche kam. Sie hatte sich schon für die Fahrt zur Kirche geschmückt, trat hoch und schlank und sicher aus der Tür und hatte es sehr eilig. Als sie Baard begegnete, blieb sie stehen, und ihr Mund verzog sich ein wenig nach der Seite. Das war Birgit, seine Frau. Beide hatten etwas auf dem Herzen, aber es kam nur darin zum Ausdruck, daß sie stehen blieben. Baard war noch befangener als sie; er lächelte mehr und mehr, aber gerade seine große Verlegenheit kam ihm zu Hilfe, indem er nämlich ohne weiteres sich anschickte, die Treppe hinaufzusteigen. "Du kommst wohl nach", sagte er. Und sie ging hinterdrein. Oben auf dem Boden waren sie ganz allein; aber Baard machte doch die Tür hinter ihnen zu und ließ sich gute Zeit dabei. Als er sich endlich umdrehte, stand Birgit am Fenster und schaute hinaus, weil sie hinein nicht sehen mochte. Baard holte eine kleine Flasche aus der Brusttasche und einen kleinen silbernen Becher. Er wollte seiner Frau einschenken. Aber sie mochte nicht, obwohl er beteuerte, der Wein sei von der Pfarre herübergeschickt. Da trank er ihn selbst aus, bot ihr aber noch ein paarmal an, während er trank. Dann korkte er die Flasche zu, steckte sie mit dem silbernen Becher zusammen wieder in die Brusttasche und setzte sich auf eine Truhe. Es tat ihm sichtlich wehe, daß seine Frau nicht mittrinken wollte.

Ein paarmal holte er tief Atem. Birgit stützte sich mit einer Hand aufs Fensterbrett; Baard hatte etwas auf dem Herzen, aber jetzt ging es noch schwerer. "Birgit", sagte er, "Du denkst heute wohl an dasselbe wie ich."—Nun hörte er sie, denn sie ging von der einen Seite des Fensters zur andern und stützte sich wieder auf ihren Arm. "Na—Du weißt ja, wen ich meine.——Der hat zwischen uns beiden gestanden;———ich dachte, das würde nur bis zur Hochzeit dauern, aber es hat länger gewährt." Er hörte, wie sie atmete, sah, wie sie wieder ihre Stellung veränderte, aber ihr Gesicht konnte er nicht sehen. Ihm selbst wurde es so sauer, daß er sich mit dem Jackenärmel den Schweiß abwischen mußte. Nach langem Kampf fing er wieder an: "Heute wird sein Sohn, schmuck und gescheit, bei uns aufgenommen, und wir haben ihm unsere einzige Tochter gegeben.———Was meinst Du, Birgit,—wollen wir beide nicht auch heut Hochzeit halten?"—Seine Stimme bebte, und er räusperte sich. Birgit, die sich bewegt hatte, legte den Kopf wieder auf den Arm, sagte aber nichts. Baard wartete lange, aber er bekam keine Antwort,—und er selbst hatte auch nichts mehr zu sagen. Er blickte auf und wurde sehr blaß, denn sie hatte nicht einmal den Kopf umgewandt. Da stand er auf. Im selben Augenblick klopfte es leise an die Tür, und eine weiche Stimme fragte: "Kommst Du jetzt, Mutter?"—es war Eli. Es lag ein etwas in der Stimme, so daß Baard unwillkürlich stehen blieb und ebenso unwillkürlich Birgit ansehen mußte. Auch Birgit hob den Kopf; sie sah nach der Tür und begegnete Baards blassem Gesicht. "Kommst Du jetzt, Mutter?" fragte es draußen noch einmal. "Ja, jetzt komme ich!" sagte Birgit mit gebrochener Stimme, indem sie fest und stolz auf Baard zuging, ihm die Hand gab und in heftiges Weinen ausbrach. Ihre Hände umklammerten sich; wohl waren sie jetzt abgenutzt, aber sie hielten sich so fest, als hätten sie zwanzig Jahre lang einander gesucht. Beide hielten sich noch an der Hand, als sie auf die Tür zugingen; und als nach einer Weile der Brautzug sich zum Landungssteg begab und Arne seiner Eli die Hand reichte, um mit ihr voranzugehen, und Baard das sah, da nahm er gegen alle Sitte und Gewohnheit seine Frau bei der Hand und ging strahlend hinterher, dann aber kam Margit Kampen, allein, wie sie es gewohnt war. Baard war ganz ausgelassen den Tag: er saß und schwatzte mit den Bootsknechten. Einer davon blickte die Bergwand hinter ihnen hinauf und sagte, es sei doch seltsam, daß selbst so steile Felsen sich mit Grün bekleiden könnten. "Was kommen soll, kommt doch,—es mag wollen oder nicht", sagte Baard und sah über den ganzen Zug hin, bis seine Augen an dem Brautpaar und seiner Frau hängen blieben: "Das hätte mal einer vor zwanzig Jahren sagen sollen", meinte er.

* * * * *

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