EIN FRÖHLICHER BURSCH

Erstes Kapitel

Öyvind hieß er, und als er geboren wurde, schrie er. Aber als er erst aufrecht auf Mutters Schoß saß, lachte er, und wenn abends Licht angesteckt wurde, lachte er, daß es schallte; doch wenn er nicht herandurfte, weinte er. "Aus dem Jungen wird sicher was Besonderes", sagte seine Mutter.

Über das Haus, worin er geboren wurde, neigte sich die kahle Bergwand; aber sie war nicht sehr hoch. Fichten und Birken schauten hernieder, und die Vogelkirsche streute ihre Blüten aufs Dach. Oben auf dem Dache aber sprang ein Böckchen, das Öyvind gehörte; es mußte da oben weiden, wo es sich nicht verlaufen konnte, und Öyvind brachte ihm Laub und Gras. Eines schönen Tages sprang das Böckchen zur Bergwand hinüber; es kletterte hinauf, weit hinauf, wo es noch nie gewesen war. Öyvind sah das Böckchen nicht, als er nach der Vesper hinauskam, und gleich dachte er an den Fuchs. Ihm wurde ganz heiß bei dem Gedanken; er sah sich um und lauschte: "Meck—meck—meck—mecke—Böckchen!"—"Mä-ä-ä-äh", schrie der Bock oben auf der Bergwand, bog den Kopf zur Seite und guckte herunter.

Neben dem Bock aber lag ein kleines Mädchen auf den Knien. "Ist das Dein Bock?" fragte sie. Öyvind riß Mund und Augen auf und steckte beide Hände in die Hosentaschen. "Wer bist Du?" fragte er.—"Ich bin doch die Margit, Mutters Kleine und Vaters Fiedel, der Kobold im Haus, das Großkind von Ola Nordistuen auf dem Heidehof; im Herbst werde ich vier Jahre, zwei Tage nach den Frostnächten—ja!"—"Also die bist Du", sagte er und holte Luft, denn er hatte, während sie sprach, nicht zu atmen gewagt.

"Ist der Bock Dein?" fragte das Mädchen noch einmal.—"Jaha", sagte er und sah hinauf. "Mir gefällt der Bock so gut;—Du, willst ihn mir nicht schenken?"—"Nein, das will ich nicht."

Sie lag und strampelte mit den Beinen und sah zu ihm hinunter, und schließlich sagte sie: "Und wenn ich Dir einen Butterkringel dafür gebe, kann ich den Bock dann kriegen?" Öyvind war armer Leute Kind; er hatte Butterkringel erst einmal in seinem Leben gegessen; damals, als sein Großvater zu Besuch gekommen war. So was Schönes hatte er sein Lebtag nicht gegessen. Er sah zu dem Mädchen hinauf; "zeig' mir den Kringel erst", sagte er. Sie bedachte sich nicht lang und hielt ihm den großen Kringel hin, den sie in der Hand hatte. "Da hast ihn", sagte sie und warf ihm den Kringel zu. "Au, er ist kaputt gegangen", sagte der Junge und sammelte sorglich jedes Stückchen auf; das allerkleinste mußte er doch mal kosten, und das schmeckte so gut, daß er noch eins kosten mußte, und ehe er sich's versah, hatte er den ganzen Kringel aufgegessen.

"Jetzt ist der Bock mein", rief das Mädchen. Dem Jungen blieb der letzte Bissen im Munde stecken; das Mädel lag und lachte, und der Bock mit der weißen Brust und dem bräunlich-schwarzen Fell stand daneben und guckte mit schiefem Kopf hinunter.

"Kannst Du ihn mir nicht noch ein bißchen lassen?" bettelte der Bub, und sein Herz fing zu klopfen an. Da lachte das Mädel noch mehr und richtete sich schnell auf. "Nein, der Bock ist mein", sagte sie, schlang die Arme dem Tier um den Hals, machte ihr Strumpfband los und band es ihm um. Öyvind sah zu. Nun stand sie auf und versuchte den Bock mit wegzuzerren. Der wollte aber nicht und reckte den Hals nach Öyvind hinunter. "Mä-ä-ä-äh!" schrie er. Sie aber faßte mit einer Hand seine Mähne, mit der andern das Band und sagte liebkosend: "Komm, Böckchen, Du kommst auch mit in die Stube und darfst aus Mutters Schüssel essen und aus meiner Schürze", und dann sang sie:

    Komm, Bock, zu dem Knaben.
    Komm, Kalb, zu der Kuh,
    Kommt, miauende Katzen,
    Auf schneeweißem Schuh;
    Komm, Entengehecke,
    Aus deinem Verstecke,
    Kommt, Küchlein, ihr kleinen,
    Fällt's schwer auch den Beinen.
    Mit feinen Hauben
    Kommt, ihr meine Tauben!
    Ist's feucht noch, wie gut
    Die Sonne doch tut.
    Ja, Sommer, Sommer ist uns schon nah,
    Doch rufst du den Herbst, ist er da!

* * * * *

Da stand der Junge nun.

Mit dem Bock hatte er seit dem Winter, wo er geboren war, gespielt und hatte nie gedacht, er müsse ihn einmal hergeben; und nun war es so ganz plötzlich geschehen, und er würde den Bock nie mehr wiedersehen.

Die Mutter kam, ein Liedchen summend, vom Strande herauf mit ihren hölzernen Kübeln, die sie gescheuert hatte. Sie sah ihren Jungen mit gekreuzten Beinen im Grase sitzen und weinen und ging hin zu ihm. "Warum weinst Du?"—"Ach, der Bock, der Bock!"—"Ja, wo ist denn der Bock?" fragte seine Mutter und sah zum Dach hinauf.—"Der kommt nie mehr wieder", sagte der Junge.—"Aber Kind, wie sollte das wohl zugehen?"—Er mochte es nicht gleich sagen. "Hat der Fuchs ihn geholt?"—"Ach, ich wollt', es war' der Fuchs gewesen!"—"Bist Du nicht bei Trost," sagte die Mutter, "was ist mit dem Bock geschehen?"—"A-a-ach, ich hab' ihn—verkauft für einen—Kringel."

Kaum hatte er das Wort ausgesprochen, da begriff er erst, was es heißt, den Bock für einen Kringel zu verkaufen; daran hatte er vorher gar nicht gedacht. Seine Mutter sagte: "Was, meinst Du wohl, mag der Bock von Dir denken, daß Du ihn für einen Kringel verkaufen konntest?"

Daran dachte der Junge ja schon selber, und ihm wurde klar, daß er hier in dieser Welt nie wieder fröhlich werden könne,—"und im Himmel auch wohl nicht mehr", fiel ihm hinterher ein.

Sein Kummer war so groß, daß er sich fest vornahm, nie wieder einen dummen Streich zu machen, nie mehr den Faden vom Spinnrocken abzuschneiden oder die Schafe herauszulassen oder allein ans Wasser zu gehen. Dabei schlief er ein, und er träumte, der Bock sei ins Himmelreich gekommen; der liebe Gott saß da mit einem langen Bart genau wie im Katechismus, und der Bock fraß von einem schimmernden Busch die Blätter ab. Öyvind aber saß ganz allein auf dem Dach und konnte nicht hinauf.

Da kam ihm etwas Feuchtes ans Ohr, und er fuhr in die Höhe. "Mä-ä-ä-äh!" sagte es, und sein Bock war wieder da!

"Herrjeh, Du bist wieder da?" Er sprang auf, faßte den Bock an beiden Vorderbeinen und tanzte mit ihm, als sei's sein Bruder, und zupfte ihn am Bart und wollte gerade mit ihm zur Mutter laufen, da hörte er ein Geräusch und sah das kleine Mädchen dicht hinter sich auf der grünen Wiese sitzen. Nun wurde ihm alles klar; er ließ den Bock los. "Bist Du mit ihm hergekommen?" Sie saß da und riß mit den Händen Grasbüschel aus und sagte: "Ich darf ihn nicht behalten. Großvater sitzt oben und wartet." Wie der Junge noch da stand und sie ansah, hörte er eine scharfe Stimme oben vom Wege her: "Na, wird's bald?"—Da wußte sie, was sie zu tun hatte. Sie stand auf, ging auf Öyvind zu, schob ihre erdige kleine Hand in seine, blickte zur Seite und sagte: "Sei nicht bös!" Damit war es aber auch mit ihrem Mut zu Ende, sie warf sich über den Bock und fing zu weinen an.

"Meinetwegen kannst Du den Bock behalten", sagte Öyvind und sah weg.

"Beeil' Dich 'n bißchen!" rief der Großvater von der Höhe. Und Margit stand auf und stieg langsam den Berg hinan. "Du hast ja Dein Strumpfband verloren!" rief Öyvind ihr nach. Da drehte sie sich um und sah erst das Band und dann den Jungen an. Schließlich faßte sie einen großen Entschluß und sagte mit erstickter Stimme: "Das kannst Du behalten." Er lief ihr nach und gab ihr die Hand: "Ich dank' auch schön!" sagte er. "Ach, wofür denn?" sagte sie, stieß einen unendlich langen Seufzer aus und ging weiter.

Er setzte sich wieder ins Gras, der Bock weidete neben ihm; aber der
Junge hatte nicht mehr soviel Freude dran wie sonst.

Zweites Kapitel

Der Bock war am Haus angebunden, Öyvind aber schaute zu den Bergen hinauf. Die Mutter kam heraus zu ihm und setzte sich neben ihn; er wollte Märchen aus ferner Zeit hören, denn jetzt genügte ihm der Bock nicht mehr. Und da erfuhr er denn, daß früher einmal alle Dinge reden konnten; der Berg sprach mit dem Bach und der Bach mit dem Fluß und der Fluß mit dem Meer und das Meer mit dem Himmel; und dann fragte er, ob denn der Himmel mit niemand spreche. Doch, der Himmel sprach mit den Wolken, die Wolken aber mit den Bäumen, die Bäume aber mit dem Grase, das Gras aber mit den Fliegen, die Fliegen aber mit den Tieren, die Tiere aber mit den Kindern, die Kinder aber mit den Großen. Und so ging es immer weiter, bis die Reihe herum war, und keiner wußte, wer eigentlich den Anfang gemacht hatte. Öyvind schaute Berge und Bäume und Meer und Himmel an; er hatte das alles eigentlich noch nie richtig gesehen. Da kam gerade die Katze aus dem Hause und legte sich auf die Steinfliesen in die Sonne. "Was sagt denn die Katze?" fragte Öyvind und zeigte auf sie. Die Mutter sang:

    Die Abendsonne liegt auf den Wiesen,
    Die Katze dehnt sich faul auf den Fliesen.
      "Zwei Mäuslein fett,
      Rahm vom Küchenbrett,
      Vier Stück Fisch
      Stahl ich hinterm Tisch,
      Und bin so wonnig satt
      Und bin so wohlig matt!"
      Sagt die Katze.

Und nun kam der Hahn mit all den Hennen. "Was sagt denn der Hahn?" fragte Öyvind und klatschte in die Hände. Die Mutter sang:

    Die Henne gluckt ihrer kleinen Gemeine,
    Der Hahn steht würdig auf einem Beine.
      "Die Gans da, ei seht,
      Wie wichtig sie geht!
      Doch sie weiß nicht, gebt acht,
      Wie man Kratzfüße macht!
    Hühner, Hühner, ins Haus hinein,
    Der Tag mag für heute beurlaubt sein!"
    Sagt der Hahn.

Zwei kleine Vögel aber saßen oben auf dem Dachfirst und sangen. "Was sagen denn die Vögel?" fragte Öyvind und lachte.

    "Das ist ein Leben, muß ich sagen,
    Braucht man um nichts sich zu plagen!"
    Sagt der Vogel.

Und er erfuhr, was ein jedes sagte bis hinunter zu der Ameise, die im
Moose krabbelte, und dem Wurm, der in der Borke nagte.

In diesem Sommer unterwies ihn seine Mutter auch im Lesen. Bücher hatte er schon längst gehabt und oft drüber nachgedacht, wie das wohl zugehen möge, wenn auch die zu sprechen anfingen. Da wurden die Buchstaben zu Tieren, zu Vögeln und zu allem Möglichen; aber es dauerte nicht lange, da gingen sie immer zu zweien miteinander; das A blieb stehen und machte unter einem Baume Rast, der B hieß, dann kam das C und machte es auch so. Als sie aber zu dreien und vieren beisammen waren, da schien es, als könnten sie sich nicht vertragen; es wollte nicht recht gehen. Und je weiter er kam, desto mehr vergaß er, was sie bedeuteten; am längsten blieb das A in seinem Gedächtnis haften; das A gefiel ihm am besten. Das war ein kleines schwarzes Lamm und war mit allen gut Freund. Aber bald vergaß er auch das A, denn in dem Buche standen keine Märchen, da standen nur Aufgaben.

Da eines Tages kam die Mutter herein und sagte: "Morgen fängt die Schule wieder an, Du sollst mit mir hin." Öyvind hatte gehört, die Schule sei ein Ort, wo viele Knaben zusammen spielten, und dagegen hatte er durchaus nichts. Er freute sich sehr darauf; auf dem Gehöft war er schon oft gewesen, aber nie zur Schulzeit, und er lief schneller als seine Mutter die Hügel hinauf, denn er konnte es kaum erwarten. Sie kamen an das Altenteilhäuschen; ein fürchterliches Gesumme wie in der Mühle zu Haus schlug ihnen entgegen, und er fragte seine Mutter, was das sei. "Da lesen die Kinder", sagte sie, und das freute ihn sehr, denn so hatte er auch lesen können, als er die Buchstaben noch nicht gekannt hatte. Als er hineinkam, sah er um einen Tisch soviele Kinder sitzen, daß sicher in der Kirche auch nicht mehr sein konnten; andere saßen auf ihren Eßkobern an der Wand, wieder andere standen in kleinen Gruppen um eine Tafel herum; der Schulmeister, ein alter grauhaariger Mann, saß am Herd auf einem Schemel und stopfte seine Pfeife. Als Öyvind und seine Mutter hereinkamen, blickten alle auf, und die summende Mühle stand still, als sei die Schleuse gesperrt. Alle blickten auf die Eintretenden; die Mutter begrüßte den Schulmeister und er sie.

"Hier bringe ich einen kleinen Jungen, der lesen lernen möchte", sagte die Mutter. "Wie heißt das Kerlchen?" fragte der Schulmeister und wühlte in seinem Lederbeutel nach Tabak.

"Öyvind", sagte die Mutter; "er kann schon die Buchstaben und kann auch rechnen." "Sieh einer an," sagte der Schulmeister, "komm mal her, Du Weißkopf!" Öyvind ging zu ihm hin; der Schulmeister setzte ihn auf seinen Schoß und nahm ihm die Mütze ab. "'n hübscher kleiner Bursch", sagte er und strich ihm übers Haar. Öyvind sah ihm in die Augen und lachte. "Lachst Du etwa über mich?" Er runzelte die Brauen. "Ja, natürlich", sagte Öyvind und lachte aus Leibeskräften. Da mußte der Schulmeister auch lachen, die Mutter lachte, und als die Kinder merkten, daß sie es durften, lachten sie alle zusammen.

Somit war Öyvind in die Schule aufgenommen.

Als er sich setzen mußte, wollten ihm alle Platz machen. Er sah sich auch lange um; sie tuschelten und zeigten auf ihn. Er drehte sich nach allen Seiten, die Mütze in der Hand und das Buch unterm Arm. "Na, was wird das werden?" fragte der Schulmeister, der schon wieder mit seiner Pfeife zu tun hatte. Als der Junge sich eben nach dem Schulmeister umwenden will, sieht er dicht neben dem Herd auf einem rotbemalten Eßkober Margit mit den vielen Namen sitzen; sie hatte das Gesicht in den Händen versteckt und lugte zu ihm hin. "Hier will ich sitzen", sagte Öyvind schnell, nahm sich einen Kober und setzte sich neben sie. Jetzt hob sie den einen Arm ein bißchen und sah ihn unterm Ellbogen an; da versteckte er auch schnell sein Gesicht in beiden Händen und sah unterm Ellbogen zu ihr hin. So saßen sie beide da und neckten sich, bis sie lachte; nun lachte er auch, und die andern Kinder hatten es gesehen und lachten mit. Da fuhr eine entsetzlich laute Stimme, die aber bei jedem Worte milder wurde, dazwischen. "Ruhe, Ihr Bande, Ihr Kroppzeug, Ihr Nichtsnutze! Ruhe! Und seid mal hübsch artig, Ihr Zuckerschweinchen!" Das war der Schulmeister; er hatte es so an sich, leicht aufzubrausen, aber ehe er noch zu Ende geredet hatte, pflegte er schon wieder gut zu sein. Es wurde augenblicklich still in der Klasse, bis die Pfeffermühlen wieder in Gang kamen; jedes las laut aus seinem Buch, manche im feinsten Diskant, die gröberen Stimmen trompeteten lauter und lauter, um die andern zu überschreien, und ab und zu johlte einer dazwischen. Öyvind hatte sein Lebtag noch nicht solchen Spaß gehabt.

"Ist das hier immer so?" flüsterte er Margit zu. "Ja immer", sagte sie.

Nachher mußten sie vortreten und lesen; dann wurde ein anderer Junge beauftragt, sie lesen zu lassen, und schließlich waren sie erlöst, konnten sich wieder auf ihren Platz setzen und brauchten nichts zu tun.

"Jetzt habe ich auch ein Böckchen", sagte Margit.—"Wirklich?"—"Ja, aber es ist nicht so schön wie Deins!"—"Warum bist Du nicht öfter auf den Berg gekommen?"—"Großvater hat Angst, ich könnte hinunterfallen."—"Es ist doch gar nicht so hoch."—"Großvater will's aber nicht."

"Meine Mutter weiß soviele Lieder", sagte er.—"Na, mein Großvater auch—das kannst Du glauben."—"Ja, aber nicht solche wie meine Mutter."—"Aber mein Großvater kann eins vom Tanzen.—Soll ich's mal sagen?"—"Ja, bitte."—"Aber dann mußt Du näher herankommen, sonst merkt's der Schulmeister." Er rückte näher, und dann sagte sie ihm ein paar Strophen vor,—vier, fünfmal, bis er sie konnte, und das war das erste, was er in der Schule lernte.

    "Tanz!" rief die Fiedel
    Mit schnarrender Saite,
    Der Bauer, der Breite,
    Spreizte sich: "Ha!"
    "Holla", rief Ola
    Und bracht' ihn zu Falle,—
    Wie lachten alle
    Die Jüngferchen da!

    "Hopp", sagte Erik,
    Und klomm zur Decke,—
    Da krachten Ecke
    Und Wände im Haus.
    "Stopp", sagte Elling,
    Und trug ihn am Kragen
    Hinaus ohne Zagen:
    "Hier tobe dich aus!"

    "Hei", sagte Rasmus,
    "Her mit dem Munde,
    Randi, du runde!
    Schnell, mach' dich bereit."
    "Ei", sagte Randi;
    Gab ihm eine Schelle,—
    Wie rieb er die Stelle,—
    "Da hast du Bescheid!"

"Aufstehn, Kinder!" rief der Schulmeister. "Heut am ersten Tag sollt Ihr früh nach Hause gehen; aber erst wollen wir noch beten und singen." Da gab es ein Leben in der Schulstube; sie sprangen von den Bänken auf, rannten durch die Stube und schwatzten durcheinander. "Ruhe, Ihr Strolche, Ihr Hallunken, Ihr Banditen!—Ruhe! Und hübsch leise auftreten, Kinderchen!" sagte der Schulmeister, und sie stellten sich ruhig in Reih und Glied, worauf der Schulmeister vor sie hintrat und ein kurzes Gebet sprach. Dann sangen sie. Der Schulmeister stimmte mit seinem kräftigen Baß an, alle Kinder standen mit gefalteten Händen da und sangen mit. Öyvind stand mit Margit dicht an der Tür und sah zu; sie hatten auch die Hände gefaltet, aber mitsingen konnten sie nicht.

Das war der erste Schultag.

Drittes Kapitel

Öyvind wuchs heran und wurde ein prächtiger Bursche; in der Schule saß er immer oben und zu Hause war er anstellig bei jeder Arbeit. Das kam daher, daß er daheim seine Mutter lieb hatte und in der Schule seinen Lehrer. Den Vater sah er nur selten; der war entweder auf Fischfang, oder er hatte in der Mühle zu tun, wo das halbe Dorf mahlen ließ.

Was in diesen Jahren auf sein Gemüt am meisten wirkte, das war die Geschichte des Schulmeisters, die Mutter ihm eines Abends, als sie am Herde saßen, erzählte. Sie wob sich in seine Bücher hinein, sie legte sich in jedes Wort, das der Schulmeister sagte, und huschte durch die Schulstube, wenn alles still war. Sie machte ihn gehorsam und demütig und ließ ihn gewissermaßen alles leichter verstehen, was gelehrt wurde. Diese Geschichte war folgendermaßen:

Baard hieß der Schulmeister, und er hatte einen Bruder, der hieß Anders. Sie hatten sich beide gern, ließen sich miteinander anwerben, lebten zusammen in der Stadt, machten den Krieg mit, wobei sie beide zu Korporalen befördert wurden, und standen bei derselben Kompagnie. Als sie nach dem Kriege wieder nach Hause kamen, fanden alle, es seien zwei Staatskerle. Da starb ihr Vater; er hatte viele Besitztümer gehabt, die schwer zu teilen waren, deshalb vereinbarten sie, sie wollten sich lieber nicht deswegen veruneinigen, sondern wollten alles versteigern lassen, so daß jeder kaufen könne, was er wolle; der Erlös aber solle geteilt werden. Gesagt, getan. Nun hatte aber der Vater eine große goldene Uhr besessen, die weit und breit berühmt war; denn es war die einzige goldene Uhr, die die Leute in dieser Gegend je gesehen hatten, und als diese Uhr zur Versteigerung kam, wollten viele reiche Männer sie haben; als aber auch die beiden Brüder zu bieten begannen, traten die andern zurück. Nun erwartete Baard von Anders, er werde ihm die Uhr lassen, und Anders erwartete das gleiche von Baard. Jeder gab sein Gebot ab, um den andern auf die Probe zu stellen, und beim Bieten blickte einer auf den andern. Als die Uhr bis auf zwanzig Taler gekommen war, fand Baard, das sei gar nicht nett von seinem Bruder gehandelt, und er bot weiter, bis dreißig Taler; als Anders auch da noch nicht nachgab, dachte Baard, Anders habe wohl ganz vergessen, wie gut er immer zu ihm gewesen sei, und außerdem war er doch der ältere, und er bot mehr als dreißig Taler. Anders tat immer noch mit. Da brachte Baard mit einem Schlage die Uhr auf vierzig Taler und sah seinen Bruder nicht mehr dabei an; es war sehr still in dem Zimmer, wo die Auktion stattfand, nur der Vogt wiederholte ruhig den Preis. Anders stand da und dachte sich: könne Baard vierzig Taler geben, so könne er es auch, und wenn ihm Baard die Uhr nicht gönne, so würde er sie sich eben nehmen; er bot also mehr. Das erschien Baard als die größte Schmach, die ihm je widerfahren war; er bot ganz leise fünfzig Taler. Viele Leute standen ringsum, und Anders dachte, so dürfe sein Bruder ihn doch nicht vor aller Ohren verspotten, und bot mehr. Da lachte Baard: "Hundert Taler und meine Bruderliebe in Kauf", sagte er, drehte sich um und ging aus der Stube. Nach einer Weile kam ihm einer nach, als er schon im Begriff war, sein Pferd zu satteln, das er kurz zuvor gekauft hatte. "Du kriegst die Uhr," sagte der Mann, "Anders hat's aufgegeben." Als Baard das hörte, durchfuhr es ihn wie Reue; er dachte an seinen Bruder und nicht an die Uhr. Der Sattel war aufgelegt, aber er hatte die Hand noch auf dem Rücken des Pferdes und wußte nicht, ob er reiten solle. Da kam eine Menge Menschen heraus, Anders war auch darunter, und als er seinen Bruder neben dem gesattelten Pferd stehen sah, wußte er nicht, was für Gedanken Baard in diesem Augenblick bewegten, sondern schrie ihm zu: "Schönen Dank für die Uhr, Baard! Die Stunde, da Dein Bruder wieder Deinen Weg kreuzt, wird sie Dir nicht anzeigen."—"Und auch nicht die Stunde, da ich auf diesen Hof zurückreite!" erwiderte Baard mit bleichem Gesicht und schwang sich auf sein Pferd. Das Haus, in dem sie beide zusammen mit ihrem Vater gelebt hatten, betrat keiner von ihnen mehr.

Bald darauf heiratete Anders in eine Kätnerwirtschaft ein, lud aber Baard nicht zur Hochzeit; Baard war auch nicht mal in der Kirche. Im ersten Jahr, als Anders verheiratet war, fand man die einzige Kuh, die er besaß, tot an der nördlichen Seite des Hauses, wo sie angebunden war, und keiner konnte begreifen, woran sie gestorben war; anderes Mißgeschick kam hinzu, und es ging abwärts mit ihm; am schlimmsten aber wurde es, als mitten im Winter seine Scheune abbrannte mit allem, was darin war; keiner wußte, wie das Feuer aufgekommen war. "Das hat einer angelegt, der mir nichts Gutes gönnt", sagte Anders, und in dieser Nacht weinte er. Er war ein armer Mann geworden und hatte keine Lust zur Arbeit mehr.

Da stand am andern Abend plötzlich Baard in seiner Stube. Anders lag auf dem Bett, als der andere eintrat, aber er sprang auf. "Was willst Du hier?" fragte er, schwieg dann aber und sah seinen Bruder unverwandt an. Baard zögerte einen Augenblick, bis er antwortete: "Ich möchte Dir helfen, Anders, Dir geht es nicht gut."—"Mir geht es so, wie Du es mir gönnst, Baard! Geh lieber, denn ich weiß nicht, ob ich mich beherrschen kann!"—"Du irrst, Anders; es tut mir leid—"—"Geh, Baard, oder Gott gnade uns beiden!"—Baard trat ein paar Schritte zurück; mit zitternder Stimme sagte er: "Wenn Du die Uhr haben willst, so kannst Du sie bekommen!"—"Geh, Baard!" schrie der andere; da mochte Baard nicht länger bleiben und ging.

Mit Baard war das aber so zugegangen: als er hörte, daß es seinem Bruder schlecht gehe, taute sein Herz auf, aber sein Stolz hielt ihn zurück. Er fühlte das Bedürfnis, in die Kirche zu gehen, und dort faßte er allerlei gute Vorsätze, doch er konnte sie nicht ausführen. Manchmal ging er so weit, bis er das Haus sehen konnte, aber dann kam gerade einer aus der Tür, oder es war Besuch da, oder Anders stand draußen und hackte Holz,—kurz, es kam immer etwas dazwischen. Eines Sonntags aber gegen Ende des Winters war er wieder in der Kirche, und Anders war auch da. Baard sah, wie bleich und mager er geworden war, und er trug noch dieselben Kleider wie damals, als sie zusammen waren, doch jetzt waren sie alt und geflickt. Während der Predigt blickte er zum Pfarrer auf, und es kam Baard vor, als sehe sein Bruder gut und mild aus; er dachte an ihre Kinderjahre, und was für ein gutes Kind er gewesen war. Baard ging an diesem Tage zum Abendmahl, und gelobte Gott feierlich, er wolle sich mit seinem Bruder versöhnen, komme, was da wolle. Dieser Vorsatz erfüllte seine Seele, als er aus dem Kelche trank, und als er sich erhob, wollte er gleich auf ihn zugehen und sich neben ihn setzen; aber der Platz war besetzt, und sein Bruder sah nicht auf. Nach der Predigt kam auch wieder etwas dazwischen; es waren soviele Leute da, seine Frau ging neben ihm, und die kannte er doch nicht; er dachte, das beste sei, er gehe hin zu ihm und rede vernünftig mit ihm. Als es Abend wurde, führte er das aus. Er ging bis an die Stubentür und lauschte; und da hörte er seinen eigenen Namen; es war die Stimme der Frau. "Er ist heut zum Abendmahl gegangen," sagte sie, "da hat er gewiß an Dich gedacht."—"Nein, der hat nicht an mich gedacht," sagte Anders, "der denkt bloß an sich selbst."

Dann sagte lange Zeit keiner etwas; Baard stand der Schweiß auf der Stirn, obschon es ein kalter Abend war. Die Frau drinnen klapperte mit den Töpfen, auf dem Herde knisterte und knackte es, ein kleines Kind schrie dazwischen, und Anders wiegte es in Schlaf. Schließlich sagte die Frau: "Ich glaube, Ihr denkt beide aneinander und wollt es nur nicht zugeben."—"Wir wollen von was anderm reden", sagte Anders. Nach einer Weile stand er auf und näherte sich der Tür. Baard mußte sich im Holzschuppen verstecken; gerade dahin kam aber Anders, um sich einen Arm voll Holz zu holen. Baard stand in der Ecke und sah ihn ganz genau; er hatte seinen schäbigen Sonntagsrock ausgezogen und war in der Uniform, die er, gerade wie Baard auch, aus dem Kriege mit heimgebracht hatte, und er hatte dem Bruder versprochen, sie nie zu tragen, sondern sie auf die Nachkommen zu vererben, und Baard hatte ihm das gleiche Versprechen gegeben. Die von Anders war jetzt geflickt und schäbig, seine kräftige, gutgewachsene Gestalt steckte wie in einem Bündel Lumpen, und dabei hörte Baard, wie bei ihm selber die goldene Uhr in der Tasche tickte. Anders ging auf den Reisighaufen zu, aber statt sich zu bücken und einen Arm voll aufzuraffen, blieb er stehen, lehnte sich an einen Holzstoß und sah zu dem leuchtend klaren Sternenhimmel auf. Dann seufzte er tief und sagte: "Ach—ja—ja—ja; o mein Gott, mein Gott!"

Solange Baard lebte, klang ihm das in den Ohren. Er wollte vor ihn hintreten, aber da hustete sein Bruder, und das klang so furchtbar trocken; das genügte schon, um ihn wieder zurückzuhalten. Anders nahm seine Tracht Holz und ging so dicht an Baard vorbei, daß die Zweige ihm ins Gesicht schlugen.

Wohl zehn Minuten stand Baard auf demselben Fleck, und wer weiß, wann er gegangen wäre, wenn er nicht von der großen Aufregung einen Schüttelfrost bekommen hätte, daß er am ganzen Leibe zitterte. Da ging er hinaus; er gestand sich offen ein, daß er zu feige war, hineinzugehen, deshalb hatte er sich jetzt einen andern Plan ausgedacht. Aus einem Ascheimer, der in der Ecke neben ihm stand, nahm er ein paar Kohlenstücke, suchte sich einen Kienspan, ging in die Scheune, machte die Tür hinter sich zu und schlug Feuer. Als er den Span in Brand hatte, leuchtete er damit nach dem Haken, an den Anders seine Laterne hängte, wenn er früh morgens zum Dreschen kam. Baard holte seine goldene Uhr heraus und hängte sie an den Haken, löschte dann seinen Span aus und ging, und jetzt war ihm so leicht ums Herz, daß er wie ein Jüngling durch den Schnee lief.

Tags darauf hörte er, die Scheune sei in der Nacht niedergebrannt. Vermutlich waren von dem Span, mit dem er sich geleuchtet hatte, als er die Uhr aufhing, Funken heruntergefallen.

Das erschütterte ihn so, daß er den ganzen Tag wie ein Kranker dasaß; er nahm sein Gesangbuch und sang, und die Leute bei ihm im Hause dachten, irgend was müßte da nicht seine Richtigkeit haben. Abends aber ging er fort; es war heller Mondschein; er ging nach dem Gehöft seines Bruders, grub auf der Brandstätte nach und fand wirklich ein zusammengeschmolzenes Klümpchen Gold; das war die Uhr.

Mit dem Gold in der Hand war er am selben Abend zu seinem Bruder hineingegangen, hatte um Frieden gebeten und alles aufklären wollen. Aber wie es ihm da erging, ist ja schon erzählt.

Ein kleines Mädchen hatte ihn an der Brandstelle graben sehen, ein paar Burschen, die zum Tanz gegangen waren, hatten ihn am Sonntagabend auf das Gehöft zuschreiten sehen, die Leute bei ihm im Hause erzählten, wie wunderlich er am Montag gewesen war, und weil ja alle wußten, daß er mit seinem Bruder verfeindet war, so wurde Anzeige erstattet und eine Untersuchung angeordnet.

Keiner konnte ihm etwas beweisen, aber der Verdacht blieb an ihm hängen; weniger als je konnte er sich jetzt seinem Bruder nähern.

Anders hatte sofort an Baard gedacht, als die Scheune in Flammen stand, aber er hatte es keinem gesagt. Als er ihn am Abend darauf bleich und verstört in seine Stube kommen sah, durchzuckte ihn der Gedanke: jetzt hat ihn die Reue gepackt, aber eine so schändliche Handlungsweise dem eigenen Bruder gegenüber ist unverzeihlich. Später hörte er dann von den Leuten, daß sie ihn an dem Abend, da das Feuer auskam, auf das Haus hatten zugehen sehen, und obwohl durch das Verhör nichts Gewisses festgestellt wurde, glaubte er steif und fest, Baard sei der Täter. Sie trafen sich beim Verhör, Baard in seinen guten Kleidern, Anders in seinen geflickten; Baard sah, als er hereinkam, mit einem so flehenden Blick zu ihm hin, daß es Anders durch und durch ging. Er will, ich soll nichts sagen, dachte Anders, und als er gefragt wurde, ob er seinem Bruder die Tat zutraue, sagte er laut und bestimmt: "Nein."

Doch von diesem Tage an ergab sich Anders dem Trunk, und es ging ihm erbärmlich schlecht. Noch viel schlimmer aber stand es um Baard, obschon der nicht trank; aber er war kaum wiederzuerkennen.

Da kam eines Abends spät eine ärmliche Frau in die kleine Kammer, die Baard sich gemietet hatte, und bat ihn, mitzukommen. Er kannte sie; es war die Frau seines Bruders. Baard ahnte gleich, was für ein Anliegen sie hatte; er wurde leichenblaß, zog sich an und ging mit ihr, ohne ein Wort zu sagen. Ein schwacher Lichtschein kam aus Anders' Fenster, blitzte auf und verschwand wieder, und sie gingen dem Scheine nach, denn durch den Schnee führte kein Pfad. Als Baard wieder auf der Diele stand, schlug ihm ein eigentümlicher Geruch entgegen, daß ihm ganz übel wurde. Sie gingen hinein. Ein kleines Kind saß am Herd und knabberte an den Kohlen, es war ganz schwarz im Gesicht, aber es blickte auf und lachte mit weißen Zähnchen; das war das Kind seines Bruders. Im Bett aber, mit allen möglichen Kleidungsstücken zugedeckt, lag Anders, abgemagert, mit klarer, hoher Stirn und schaute seinen Bruder aus hohlen Augen an. Baard zitterten die Knie, er setzte sich ans Fußende des Bettes und brach in heftiges Weinen aus. Der Kranke sah ihn unverwandt an und schwieg. Schließlich bat er seine Frau, hinauszugehen; aber Baard winkte ihr, sie möge bleiben,—und dann sprachen sich die Brüder aus. Sie sprachen über alles von dem Tage an, da sie auf die Uhr geboten hatten, bis zu der Stunde, da sie hier zusammentrafen. Baard holte schließlich den Goldklumpen heraus, den er immer bei sich trug, und nun sahen die Brüder ein, daß sie sich in all den Jahren nicht einen einzigen Tag glücklich gefühlt hatten.

Anders sagte nicht viel, dazu war er zu schwach; aber Baard blieb am Bett sitzen, solange Anders krank war. "Jetzt bin ich wieder ganz gesund," sagte Anders eines Morgens, als er aufwachte, "jetzt wollen wir noch lange zusammenleben, mein Herzensbruder, und nie mehr auseinandergehen, ganz wie damals." An dem Tage aber starb er.

Frau und Kind nahm Baard zu sich, und sie hatten es fortan gut. Was aber die Brüder am Krankenbett zusammen gesprochen hatten, das drang hinaus durch die Wände und durch die Nacht und alle Leute im Dorf erfuhren es, und Baard kam hoch zu Ansehen. Alle grüßten ihn wie einen Mann, der schweres Leid gehabt hat, und dem dann ein Glück widerfahren ist, oder wie einen, der sehr lange fortgewesen ist. Baard richtete sich an dieser allgemeinen Freundlichkeit auf, er wurde ein frommer Mensch, und da er etwas schaffen wollte, wie er sagte, so machte der alte Korporal einen Schulmeister aus sich. Was er den Kindern als erstes und letztes einprägte, war Liebe, und auch sich selbst wünschte er, daß ihn die Kinder wie einen guten Kameraden und wie einen Vater lieb haben sollten.

Das war die Geschichte, die von dem alten Schulmeister erzählt wurde, und in Öyvinds Herzen schlug sie so fest Wurzel, daß sie für ihn Religion und Erzieher zugleich wurde. Der Schulmeister war für ihn fast ein übermenschliches Wesen geworden, obgleich er so umgänglich zwischen ihnen saß und so gemütlich vor sich hinbrummte. Daß er je seine Aufgaben nicht hätte wissen sollen, war ganz undenkbar, und lächelte ihm der Schulmeister zu oder strich er ihm gar übers Haar, wenn er seine Lektion hergesagt hatte, so war ihm den ganzen Tag lang froh und warm ums Herz.

Den größten Eindruck auf die Kinder machte es immer, wenn der Schulmeister vor dem Singen eine kleine Ansprache an sie hielt und ihnen, mindestens einmal jede Woche, ein paar Strophen vorlas, die von der Nächstenliebe handelten. Wenn er den ersten Vers vorlas, bebte seine Stimme, ob er ihn nun auch schon an die dreißig Jahre gelesen hatte; der Vers lautete:

    Lieb' deinen Nächsten nach Christenpflicht,
    Unter dem Absatz zertritt ihn nicht,
    Liegt er auch schon im Staube;
    Alles, was lebet, ist Untertan—
    Alles der Liebe, die neuschaffen kann:
    Trau' du ihr nur und glaube!

Wenn aber das Lied zu Ende war, und er noch eine Weile schweigend dagestanden hatte, dann sah er sie an und zwinkerte mit den Augen: "Vorwärts, kleines Gesindel, geht hübsch brav nach Hause und macht nicht solchen Lärm,—seid hübsch artig, daß ich immer bloß Gutes von Euch höre, Ihr kleinen Dachse!" Und wenn sie dann beim Zusammenpacken der Bücher und Eßkober einen Höllenspektakel machten, dann klang seine Stimme durch das Getöse: "Kommt morgen wieder, sowie es Tag wird, sonst sollt Ihr mich kennen lernen!—Kommt ja rechtzeitig, Kinderchen, dann wollen wir sehr fleißig sein."

Viertes Kapitel

Von Öyvinds Weiterentwicklung bis zu dem Jahr vor seiner Konfirmation ist nicht viel zu erzählen. Morgens lernte er, tags arbeitete er, und abends spielte er.

Weil er gar so einen fröhlichen Sinn hatte, dauerte es nicht lange, bis die Kinder aus der Nachbarschaft sich in den Freistunden dort einfanden, wo er war. Von seinem Hause fiel ein hoher Abhang zur Bucht ab, der, wie schon erwähnt, an einer Seite von der Bergwand, an der andern vom Wald begrenzt war, und hier veranstaltete die Dorfjugend an jedem schönen Abend und auch Sonntags Schlittenfahrten. Öyvind konnte es am besten; er hatte zwei Schlitten, "Scharftraber" und "Kratzer" hießen sie; diesen lieh er den andern Kindern, jenen aber steuerte er selbst und hatte Margit auf dem Schoß.

Wenn Öyvind aufwachte, war in dieser Zeit sein erstes, aus dem Fenster zu schauen, ob's Tauwetter sei, und sah er, daß es grau über den Büschen jenseits der Bucht hing, oder hörte er es vom Dach tropfen, so ging es so langsam mit dem Anziehen, als sei mit dem Tag rein gar nichts anzufangen. Wachte er aber zu knisternder Kälte und klarem Himmel auf und war's noch dazu Sonntag, wo es den guten Anzug und keine Arbeit gab, bloß Überhören und vormittags Kirchgang und dann den ganzen Nachmittag und Abend frei,—hei! da war der Bursch mit einem Satz aus dem Bett, zog sich an, als brenne es, und konnte vor Aufregung kaum essen. Sowie es Nachmittag war, und der erste Junge auf Schneeschuhen den Weg entlang kam, den Stab über dem Kopf schwang und juchzte, daß es von den Höhen wiedertönte,—und dann einer auf dem Schlitten daherkam und noch einer und noch einer,—dann stürmte der Bursch mit seinem "Scharftraber" auf und davon, rannte den Hügel hinauf und machte bei den Zuletztgekommenen halt mit einem langen schmetternden Jodler, der an der Bucht von Berg zu Berg klang und weit, weit hinten erstarb.

Er schaute dann wohl nach Margit aus, aber wenn sie erst da war, kümmerte er sich nicht mehr recht um sie.

Dann aber kam Weihnachten, wo der Bursch und das Mädel beide ins siebzehnte Jahr gingen und im Frühjahr konfirmiert werden sollten. Am vierten Weihnachtstage sollte auf dem oberen Heidehof bei Margits Großeltern, bei denen sie aufgewachsen war, eine große Festlichkeit stattfinden; sie hatten ihr das schon seit drei Jahren versprochen und mußten es jetzt endlich wahr machen. Hierzu wurde Öyvind eingeladen.

Es war ein halbklarer, nicht kalter Abend; Sterne waren nicht zu sehen, und am andern Tage würde es wohl Regen geben. Ein schläfriger Wind strich über den Schnee, der hier und da von der weißen Heide fortgeweht war und sich an anderen Stellen zu Schneewehen angesammelt hatte. Wo nicht gerade Schnee lag, war der ganze Weg mit Eis bedeckt, das blauschwarz zwischen dem Schnee und dem nackten Felde schimmerte und sich in blanken Streifen hinzog, soweit das Auge reichte. Die Berge herab waren Schneestürze gekommen; düster und kahl war ihr Bett, und nur zu beiden Seiten lag noch der helle Schnee, wo nicht gerade der Birkenwald sich zusammenschob und Dunkelheit schuf. Wasser war nicht zu sehen, nur halbnackte Sandflächen und Moore umsäumten schwer und strichweise die Berge. Die Gehöfte lagen in dichten Gruppen mitten im Felde; sie sahen im Dunkel des Winterabends wie schwarze Klumpen aus, aus denen Licht über das Land hinstrahlt, bald aus diesem Fenster, bald aus jenem; an dem Lichtschein sah man, daß es drinnen geschäftig herging. Die ganze Jugend, Große und Halberwachsene strömten von verschiedenen Seiten zusammen; die wenigsten blieben auf dem Wege; zum mindesten verließen sie ihn und stahlen sich beiseite, sobald sie an das Gehöft kamen; einer kroch hinter den Kuhstall, ein paar unter den Vorratschuppen, andere jagten um die Scheune und heulten wie Füchse, wieder andere antworteten aus der Ferne mit Katzenstimmen, einer stand hinterm Backofen und bellte wie ein alter bissiger Köter, dem die Stimme eingerostet ist, bis von allen Seiten Jagd auf ihn gemacht wurde. Die Mädchen kamen scharenweise und hatten ein paar Burschen, meistens halbwüchsige, bei sich, die sich unterwegs in einemfort prügelten, weil sie ein bißchen erwachsener aussehen wollten. Wenn ein solcher Mädchenschwarm in den Hof kam, und einer oder der andere von den Burschen ihn gewahrte, dann stoben die Mädchen auseinander, liefen auf den Hausflur oder in den Garten und mußten eine nach der andern wieder hervor und in die Stube hineingezogen werden. Ein paar waren so blöde, daß Margit erst kommen und sie hineinkomplimentieren mußte. Zuweilen war auch eine dabei, die eigentlich gar nicht eingeladen war und deshalb auch beileibe nicht hineinwollte, bloß ein bißchen zusehen, bis es sich dann doch so fügte, daß sie wenigstens einen Tanz mittanzen mußte. Wen Margit gut leiden konnte, den nötigte sie zu den Großeltern hinein in eine kleine Stube, wo der Alte saß und rauchte und die Großmutter geschäftig hin und her ging. Da wurden sie bewirtet und freundlich begrüßt. Öyvind war nicht darunter, und das kam ihm ein bißchen sonderbar vor.

Der Hauptmusikant des Gaus konnte erst später kommen; bis dahin mußten sie sich mit dem alten begnügen, einem Häusler; Grauknut hieß er. Er konnte vier Tänze, zwei Hoppser, einen Halling und den alten sogenannten Napoleonwalzer; allein im Laufe der Zeit hatte er den Halling in einen Schottischen umgewandelt, indem er den Takt veränderte, und ein Hoppser war auf dieselbe Weise zu einer Polka-Mazurka geworden. Er spielte also los, und der Tanz begann. Öyvind wagte nicht gleich mit anzufangen, weil hier so viele Große waren; aber die Halbwüchsigen taten sich flink zusammen, pufften sich gegenseitig vorwärts, tranken sich in starkem Bier ein bißchen Mut an, und da tat denn auch Öyvind mit. Heiß war es in der Stube; die Fröhlichkeit und das Bier stiegen ihnen zu Kopf. Margit tanzte am meisten den Abend, wohl weil ihre Großeltern das Fest gaben, und deshalb sah sich auch Öyvind oft nach ihr um; aber immer tanzte sie mit andern. Er wollte auch gern mal mit ihr tanzen; deshalb saß er einen Tanz über, um, sowie er zu Ende war, gleich auf sie zustürmen zu können, und das tat er auch, aber ein großer, sonngebräunter Mensch mit vollem Haar schob ihn beiseite. "Weg da, Bengel!" rief er und gab Öyvind einen Puff, daß er fast der Länge nach über Margit gefallen wäre. So etwas war ihm noch nie passiert, nie waren die Leute anders als nett zu ihm gewesen, und nie hatte ihn einer "Bengel" genannt, wenn er mittun wollte; er wurde feuerrot, sagte aber kein Wort und zog sich zurück, dahin, wo der neue Musikant, der eben gekommen war, saß und sein Instrument stimmte. Alle waren still geworden und warteten auf den ersten, kräftigen Ton von "dem Richtigen". Er probierte und stimmte, es dauerte lange, aber endlich legte er mit einem Hoppser los; die Burschen kreischten auf und schwenkten ihre Mädel im Kreise. Öyvind blickte Margit nach, wie sie mit dem haarbuschigen Menschen tanzte; sie lachte über seine Schulter hinweg, daß man ihre weißen Zähne sah, und Öyvind fühlte zum erstenmal in seinem Leben einen wunderlich stechenden Schmerz in der Brust.

Er sah immer eifriger zu ihr hin, und je mehr er sie betrachtete, desto mehr kam es ihm vor, als sei Margit schon ganz erwachsen; das kann ja nicht sein, dachte er, denn sie fährt doch immer noch mit Schlitten. Aber erwachsen war sie doch, und der haarbuschige Mann zog sie, als der Tanz zu Ende war, auf seinen Schoß; sie machte sich los, blieb aber doch neben ihm sitzen.

Öyvind sah sich den Mann an; er hatte einen feinen blauen Tuchanzug an, ein blaukariertes Hemd und ein seidenes Halstuch; dazu ein schmales Gesicht, blaue, energische Augen, und einen lachenden, trotzigen Mund. Es war ein hübscher Mensch. Öyvind sah ihn sich ganz genau an, und dann beschaute er sich selbst; er hatte ein Paar neue Hosen zu Weihnachten bekommen und hatte sich sehr darüber gefreut; jetzt sah er aber, daß sie bloß aus grauem Fries waren; die Jacke war aus demselben Stoff, aber sie war alt und schäbig, und die Weste, aus gewürfeltem, durchgewebtem Stoff, war auch alt und hatte zwei blanke Knöpfe und einen schwarzen. Er sah umher und fand, wenige nur seien so dürftig gekleidet wie er. Margit hatte ein schwarzes Kleid aus feinem Stoff an, im Brusttuch steckte eine Brosche und in der Hand hatte sie ein seidenes Taschentuch. Auf dem Kopf trug sie ein kleines schwarzseidenes Häubchen, das mit breitem gestreiftem Atlasband unterm Kinn zusammengebunden war. Sie hatte rote Backen und lachte; der Mann plauderte mit ihr und lachte auch. Wieder wurde aufgespielt, und der Tanz fing von neuem an. Ein Schulkamerad kam und setzte sich neben ihn. "Warum tanzst Du nicht, Öyvind?" fragte er freundlich.—"Ach nein," sagte Öyvind, "ich sehe nicht danach aus."—"Siehst nicht danach aus?" fragte der andere; aber ehe er weitersprechen konnte, sagte Öyvind: "Wer ist das mit dem blauen Tuchanzug, der mit Margit tanzt?"—"Das ist doch Jon Hatlen; er ist auf der Ackerbauschule gewesen und will jetzt den Hof übernehmen."—Im selben Augenblick setzten Margit und Jon sich hin. "Was ist das für ein Junge mit dem hellen Haar, der da neben dem Musikanten sitzt und mich fortwährend anglotzt?" fragte Jon. Da lachte Margit und sagte: "Das ist der Häuslerjunge von Pladsen."

Öyvind hatte freilich immer gewußt, daß er ein Häuslerjunge war, aber bis jetzt hatte er das nie weiter empfunden. Er kam sich mit einem Mal so klein vor, kleiner als alle andern; um sich einen Halt zu geben, versuchte er, an all das zu denken, was ihn bis zu dieser Stunde froh und stolz gemacht hatte—vom Schlittenfahren angefangen bis zu den einzelnen Äußerungen. Als er auch an Vater und Mutter dachte, die zu Haus saßen und sich vorstellten, wie gut er es jetzt haben mochte, konnte er die Tränen kaum zurückhalten. Um ihn lachten und scherzten die andern, die Fiedel schrillte ihm gerade in die Ohren, und einen Augenblick war's, als wolle etwas Finsteres in ihm aufsteigen, dann aber fiel ihm die Schule ein und die Kameraden und der Schulmeister, wie er ihn streichelte, und der Herr Pfarrer, der ihm bei der letzten Prüfung ein Buch geschenkt und gesagt hatte, er sei ein fleißiger Junge; sein Vater hatte dabei gesessen und es mitangehört und ihm zugenickt. "Sei brav, Öyvind", meinte er den Schulmeister sagen zu hören, indem er ihn auf den Schoß nahm wie damals, als er klein war. "Du lieber Gott, das alles hat ja so wenig zu sagen, und im Grunde sind alle Menschen gut; es sieht bloß manchmal so aus, als seien sie es nicht. Aus uns beiden soll schon was Tüchtiges werden, Öyvind, ebensoviel wie aus Jon Hatlen; werden schon auch feine Kleider kriegen und mit Margit in der hellen Stube tanzen, wo Hunderte von Menschen dabei sind, und wir lachen und plaudern zusammen; Brautpaar und Pfarrer, und ich auf dem Chor lächle Dir zu, und die Mutter daheim, und ein großer Hof mit zwanzig Kühen und drei Pferden, und Margit ist so lieb und gut wie einst in der Schule——"

Der Tanz war zu Ende; Öyvind sah Margit vor sich auf der Bank sitzen und Jon daneben, den Kopf dicht an ihrem; wieder fuhr ihm ein scharfer, stechender Schmerz durch die Brust, und es war, als sage er zu sich selbst: Ach, stimmt ja, ich hab's ja so schlecht.

Im selben Augenblick stand Margit auf und kam gerade auf ihn zu. Sie beugte sich zu ihm hinunter. "Du darfst nicht so dasitzen und mich immerfort anstarren", sagte sie; "Du kannst Dir doch denken, daß es auffällt; hol' Dir doch eine und tanz' mit ihr."

Er antwortete nicht, er sah nur auf zu ihr, und—er konnte nicht dafür: seine Augen füllten sich mit Tränen. Sie hatte sich schon aufgerichtet und wollte gehen, da sah sie es und stand still; sie wurde plötzlich feuerrot, drehte sich um und ging auf ihren Platz zurück; da aber machte sie wieder Kehrt und setzte sich anderswohin. Jon ging schnell ihr nach.

Öyvind stand von der Bank auf, drängte sich zwischen die Menschen hindurch, ging auf den Hof hinaus, setzte sich in eine der Außengalerien und wußte doch nicht, was er da eigentlich wollte; er stand also auf, setzte sich aber wieder hin, denn er saß hier ja ebensogut wie irgendwo anders. Nach Haus gehen mochte er nicht, wieder hinein erst recht nicht; das kam alles auf eins heraus. Er war nicht imstande, sich klar vorzustellen, was eigentlich geschehen war; er wollte gar nicht daran denken; an die Zukunft wollte er auch lieber nicht denken, denn es gab ja nichts, wonach er sich hätte sehnen können.

"Aber woran denke ich denn bloß?" fragte er sich halblaut, und als er seine eigene Stimme hörte, dachte er: sprechen kannst Du also noch. Kannst Du auch noch lachen? Und er probierte es: ja, er konnte noch lachen, und so lachte er denn ganz laut, immer lauter, und plötzlich kam es ihm sehr drollig vor, daß er da saß und so ganz für seinen eigenen Schatten lachte,—und da mußte er noch mehr lachen. Hans aber, sein Schulkamerad, der neben ihm gesessen hatte, kam ihm nach. "Um Gotteswillen, worüber lachst Du?" fragte er und blieb am Eingang stehen. Da hielt Öyvind inne.

Hans stand und wartete ab, was sich nun begeben würde. Öyvind erhob sich, sah sich vorsichtig um und sagte dann leise: "Jetzt will ich Dir sagen, Hans, warum ich immer so vergnügt gewesen bin; darum, weil ich niemand so richtig lieb gehabt habe; von dem Augenblick an, da man einen Menschen lieb hat, kann man nicht mehr fröhlich sein", und er brach in Tränen aus.

"Öyvind!" flüsterte es draußen auf dem Hof; "Öyvind!" Er hielt inne und lauschte. Das mußte die sein, an die er dachte. "Ja", antwortete er ebenfalls flüsternd, trocknete schnell seine Tränen ab und trat heraus. Da huschte eine Mädchengestalt über den Hof. "Bist Du da?" fragte sie. "Ja", antwortete er und stand still.—"Wer ist noch da?"—"Nur Hans."—Hans wollte gehen. "Nein, nein!" bat Öyvind. Sie kam jetzt langsam dicht an die beiden heran; es war wirklich Margit. "Du warst ja plötzlich weg!" sagte sie zu Öyvind. Er wußte nicht, was er darauf antworten solle. Da wurde sie auch verlegen, und alle drei schwiegen. Hans aber stahl sich allmählich bei Seite. Die beiden standen einander gegenüber, sahen sich nicht an und rührten sich auch nicht. Schließlich sagte sie flüsternd: "Ich hab' schon den ganzen Abend ein bißchen Weihnachtliches für Dich in der Tasche, Öyvind, aber ich konnte es Dir nicht eher geben." Sie holte ein paar Äpfel heraus, ein Stück Kuchen und ein Fläschchen, steckte es ihm zu und sagte, das könne er behalten.

Öyvind nahm es, sagte "danke" und gab ihr die Hand; ihre war warm, und er ließ sie schnell los, als habe er sich verbrannt. "Du hast heut abend viel getanzt."—"Das habe ich," sagte sie, "aber Du gerade nicht", fügte sie hinzu.—"Nein, ich nicht", antwortete er.—"Warum denn nicht?"—"Ach—"

"Öyvind!"—"Ja?"—"Warum hast Du mich immerzu so angesehen?"—"Ach—"

"Margit!"—"Ja?"—"Warum wolltest Du nicht angesehen sein?"—"Es waren doch soviele Menschen da."

"Du hast heut abend viel mit Jon Hatlen getanzt."—"Ach ja."—"Er kann gut tanzen."—"Findest Du?"—"Findest Du nicht?"—"Ach ja."

"Ich weiß nicht, wie es kommt, aber ich kann es heut abend nicht sehen, daß Du mit ihm tanzst." Er wandte sich ab; es hatte ihn Überwindung gekostet, das zu sagen. "Ich versteh' Dich nicht, Öyvind."—"Ich versteh' es ja auch nicht; es ist so dumm von mir.—Adieu, Margit, jetzt will ich gehen." Er tat einen Schritt, ohne sich umzusehen. Da rief sie ihm nach: "Das ist ganz falsch, was Du gesehen hast, Öyvind." Er blieb stehen. "Daß Du ein erwachsenes Mädchen bist, ist nicht falsch."—Er sagte nicht das, was sie erwartet hatte, deshalb schwieg sie; aber mit einem Mal sah sie nicht weit von sich eine Pfeife aufglimmen; das war ihr Großvater, der gerade um die Ecke bog und vorüberkam. Er blieb stehen. "Hier bist Du, Margit?"—"Ja."—"Mit wem sprichst Du denn da?"—"Mit Öyvind."—"Mit wem, sagst Du?"—"Mit Öyvind Pladsen!"—"So, mit dem Häuslerjungen von Pladsen;—gleich kommst Du mit hinein."

Fünftes Kapitel

Als Öyvind am andern Morgen die Augen aufmachte, hatte er fest und erquickend geschlafen und wunderschön geträumt Margit hatte oben auf dem Berg gelegen und ihn mit Blättern beworfen; er hatte sie aufgefangen und wieder hinauf geworfen. Tausendfarbig und -gestaltig war es hinauf und hinabgeflattert. Die Sonne schien hell, und der ganze Berg leuchtete vom Gipfel bis zum Fuß. Als er aufwachte, sah er um sich und suchte das, was er geträumt; da fiel ihm der gestrige Abend ein, und gleich war der stechende, wehe Schmerz in der Brust wieder da. "Den werde ich wohl nie mehr los", dachte er und fühlte sich so schlaff, als sei ihm seine ganze Zukunft entwichen.

"Du hast aber lange geschlafen", sagte seine Mutter, die am Bett saß und spann. "Jetzt flink auf und iß! Dein Vater ist schon im Wald und haut Holz."—Es war, als tue diese Stimme ihm gut. Er stand mit ein bißchen mehr Mut auf. Die Mutter dachte wohl an ihre eigenen Tanzjahre, denn sie trällerte ein Lied vor sich hin, wie sie am Rocken saß, während er sich anzog und aß. Deshalb mußte er vom Tisch aufstehen und ans Fenster treten; wieder befiel ihn diese Bangigkeit und Unlust; er mußte sich zusammennehmen und an die Arbeit denken. Das Wetter war umgeschlagen, die Luft war etwas kälter geworden, so daß statt des Regens, der gestern gedroht hatte, heute ein feuchter Schnee fiel. Er zog sich Gamaschen an, holte seine Pelzmütze, die Seemannsjacke und die Fausthandschuhe hervor, sagte adieu und ging mit der Axt über die Schulter fort.

Der Schnee fiel langsam in großen, nassen Flocken. Öyvind klomm mühsam die Schlittenbahn hinauf, um zur Linken in den Wald einzubiegen; nie—weder im Winter, noch im Sommer—war er sonst hier entlang gegangen, ohne an irgend etwas zu denken, was ihn fröhlich gemacht hatte, oder was er sich wünschte. Jetzt war es ein toter, beschwerlicher Weg für ihn; er glitt in dem feuchten Schnee aus, und die Knie waren ihm steif, vielleicht vom Tanzen gestern, vielleicht auch von der Unlust. Jetzt fühlte er: es war vorbei mit dem Schlittenfahren für dieses Jahr und damit für immer. Etwas anderes war's, wonach er sich sehnte, wie er durch den lautlos fallenden Schnee zwischen den Stämmen dahinschritt. Ein aufgescheuchtes Schneehuhn kreischte und flatterte ein Stückchen weiter; sonst stand alles da, als sei es eines Worts gewärtig, das nie gesprochen wurde. Was es war, wonach er sich sehnte, das wußte er selbst nicht recht; nur nach der Heimat nicht und auch nicht nach der Fremde, nach Fröhlichkeit nicht und auch nicht nach Arbeit; es stieg hoch in die Lüfte empor wie ein Lied, allmählich aber verdichtete es sich zu einem ganz bestimmten Wunsch,—dem Wunsch, zu Ostern konfirmiert zu werden und dabei Nummer Eins zu sein. Er bekam Herzklopfen, wie er daran dachte, und ehe er noch die Axtschläge seines Vaters in den schwachen Bäumchen hören konnte, hatte dieser Wunsch stärkere Gewalt über ihn als irgend etwas bisher in seinem Leben.

Wie gewöhnlich redete sein Vater nicht viel; sie hieben beide drauf los und schichteten die Stämmchen auf. Ab und zu kamen sie dabei zusammen, und bei einer solchen Begegnung sagte Öyvind schwermütig: "Ein Häusler muß sich doch recht plagen!"—"Wie jeder andere auch!" sagte sein Vater, spuckte in seine Hand und faßte die Axt. Als der Baum gefällt war und sein Vater ihn auf den Haufen schleppte, sagte Öyvind: "Wenn Du Bauer wärst, brauchtest Du nicht so zu schleppen!"—"Na, dann würde mich eben was anderes drücken!" und dabei packte er mit beiden Händen zu. Die Mutter brachte ihnen das Mittagessen herauf, und sie setzten sich hin. Sie war sehr lustig, trällerte ein Lied und schlug die Füße im Takt aneinander. "Was willst Du denn eigentlich werden, wenn Du groß bist, Öyvind?" fragte sie plötzlich.—"Für einen Häuslerjungen gibt es nicht viele Möglichkeiten", sagte er.—"Der Schulmeister meint, Du müßtest aufs Seminar", sagte sie. "Kann man da umsonst hin?" fragte Öyvind. "Das bezahlt die Schulkasse", antwortete sein Vater und aß weiter.—"Hast Du denn Lust?" fragte seine Mutter.—"Ich habe Lust, was zu lernen, aber nicht Schulmeister zu werden."—Die drei schwiegen eine Zeitlang; die Frau summte vor sich hin und sah geradeaus. Öyvind aber stand auf und setzte sich etwas abseits.

"Wir haben's doch eigentlich nicht nötig, uns an die Schule zu wenden", sagte seine Mutter, als er fort war. Der Mann sah sie an: "Arme Leute wie wir?"—"Ich mag nicht, Tore, daß Du Dich immer für arm ausgibst, wo Du es nicht bist."—Sie sahen beide verstohlen nach dem Jungen hin, ob er es auch nicht hören konnte. Dann sagte der Vater barsch zu seiner Frau: "Du red'st, wie Du's verstehst." Sie lachte; "auf die Weise soll man auch gerade nicht Gott dafür danken, daß es einem gut gegangen ist", sagte sie und machte ein ernstes Gesicht. "Man kann ihm auch wohl ohne silberne Knöpfe danken", sagte der Vater.—"Ja, aber Öyvind zum Tanz gehen lassen wie gestern, das ist auch kein Dank."—"Öyvind ist ein Häuslerjunge."—"Deshalb kann er doch ordentlich gekleidet gehen, wenn wir es dazu haben."—"Nu schrei noch so, daß er's hört!"—"Er hört's schon nicht, übrigens schadete das ja auch nicht", sagte sie und sah tapfer ihren Mann an, der mit finsterem Gesicht den Löffel beiseite legte und seine Pfeife herausholte. "Wo wir solche elende Wirtschaft haben", sagte er. "Ich finde es lächerlich, daß Du immer von der Wirtschaft redest; warum sprichst Du nie von der Mühle?"—"Ach, Du und Deine Mühle! Du kannst wohl nicht vertragen, wenn sie geht?"—"Oh ja, Gott sei Dank! Wenn sie nur Tag und Nacht gehen wollte."—"Jetzt steht sie schon seit vor Weihnachten."—"In den Weihnachtstagen mahlen die Leute doch nicht."—"Sie mahlen, wenn Wasser da ist; aber seit in Nyström die neue Mühle steht, geht's mit unsrer recht jämmerlich."

"Der Schulmeister hat heute was andres gesagt."—"Ich muß wohl unser Geld lieber von einem weniger schwatzhaften Kerl verwalten lassen, als der Schulmeister ist."—"Ja, vor allem darf er mit Deiner eigenen Frau nicht drüber reden."—Tore antwortete hierauf nicht; er hatte gerade seine Pfeife in Brand gesetzt und lehnte sich gegen einen Reisighaufen; seine Augen wichen dem Blick seiner Frau und dann seinem Sohn aus und blieben schließlich an einem alten Krähennest haften, das halb zerfetzt von einem Fichtenzweige herunterhing.

Öyvind saß allein und sah seine Zukunft vor sich wie eine weite, blanke Eisfläche, und er sauste zum erstenmal von einem Ufer zum andern über sie hin. Daß die Armut bei jedem Schritt hemmte, fühlte er, aber gerade deshalb war das Ziel aller seiner Gedanken, sie zu überwinden. Von Margit hatte sie ihn wohl für immer getrennt; sie sah er schon halbwegs als Jon Hatlens Braut, aber wenigstens wollte er sein Leben lang mit den beiden gleichen Schritt halten. Beiseite stoßen wie gestern würde er sich nicht mehr lassen, sondern sich fernhalten, bis er etwas geworden war, und daß er mit Gottes gütiger Hilfe etwas werden würde, das war sein Wunsch, und er zweifelte keinen Augenblick, daß ihm das gelingen würde. Er hatte das unbestimmte Gefühl, durch Lernen werde es ihm am besten glücken; zu welchem Ziel das führen könne, das mußte er sich überlegen.

Abends war Schlittenbahn, die Kinder kamen alle auf den Hügel, nur Öyvind nicht. Am Herde saß er und lernte und hatte keine Zeit zum Spielen. Die Kinder warteten lange auf ihn, schließlich wurde einigen die Zeit zu lang, sie kamen herauf, drückten das Gesicht an die Scheiben und riefen ihn. Aber er tat, als höre er nicht. Es kamen mehr Kinder, und Abend für Abend; sie liefen in heller Verwunderung draußen auf und ab, er aber drehte ihnen den Rücken zu und las und mühte sich redlich, den Sinn zu erfassen. Später hörte er, Margit komme auch nicht mehr. Er lernte mit einem Eifer, den selbst sein Vater übertrieben fand. Er wurde sehr still; sein Gesicht, das so rund und weich gewesen war, wurde magerer und schärfer, und die Augen wurden härter; selten nur noch sang er, nie spielte er, es schien, als reiche die Zeit nicht mehr dazu. Wenn die Versuchung an ihn herantrat, war's ihm, als flüstere einer: "Später, später!" und immer wieder: "Später."—Die Kinder sprangen, jauchzten und lachten eine Zeitlang wie sonst, aber weil sie ihn weder durch ihre helle Lust, noch durch die Rufe am Fenster zu sich herauslocken konnten, blieben sie schließlich fort; sie fanden andere Plätze zum Spielen, und der Hügel blieb leer.

Der Schulmeister merkte bald, daß das nicht der alte Öyvind war, der lernte, weil es doch mal so sein mußte, und spielte, weil das nötig war. Er sprach oft mit ihm und forschte und drang in ihn, aber es wollte ihm nicht gelingen, das Vertrauen des Knaben so schnell zu gewinnen wie in alten Tagen. Er sprach auch mit den Eltern über ihn, und in Übereinstimmung mit ihnen kam er Ende des Winters an einem Sonntag abend zu ihnen und sagte, als er eine Zeitlang gesessen hatte: "Komm mit, Öyvind, wir wollen ein Stück gehen, ich habe mit Dir zu reden."—Öyvind machte sich fertig und kam mit. Sie wanderten in der Richtung der Heidehöfe und sprachen lebhaft miteinander, wenn auch über nichts Wichtiges. Als sie sich den Gehöften näherten, bog der Schulmeister nach dem mittleren ab, und als sie weitergingen, hörten sie drinnen fröhliche Stimmen. "Was ist hier los?" fragte Öyvind. "Hier wird getanzt", sagte der Schulmeister; "wollen wir nicht hineingehen?"—"Nein."—"Magst Du denn nicht tanzen, Junge?"—"Nein, noch nicht."—"Noch nicht? Wann denn?"—Er antwortete nicht.—"Was meinst Du mit dem noch nicht?"—Als der Bursch nicht antwortete, sagte der Schulmeister: "Komm, mach' keine Redensarten."—"Nein, ich gehe nicht mit!"—Er sprach sehr bestimmt und schien aufgeregt zu sein. "Soll denn Dein eigener Lehrer hier stehen und Dich bitten, zum Tanz zu gehen!"—Ein langes Schweigen entstand. "Ist da drin jemand, vor dem Du Angst hast?"—"Ich kann doch nicht wissen, wer hier ist."—"Aber könnte denn einer da sein?"—Öyvind schwieg. Da trat der Schulmeister auf ihn zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. "Fürchtest Du, Margit zu treffen?" Öyvind sah zu Boden, sein Atem ging schwer und stoßweise. "Sag's mir, Öyvind."—Öyvind schwieg. "Du schämst Dich vielleicht, es einzugestehen, weil Du noch nicht mal konfirmiert bist; aber mir kannst Du es sagen, Öyvind, es soll Dich nicht gereuen,"—Öyvind blickte auf, aber er konnte kein Wort herausbringen und wandte die Augen zur Seite. "Du bist in letzter Zeit auch gar nicht mehr fröhlich; hat sie andere lieber als Dich?" Öyvind schwieg beharrlich, der Schulmeister fühlte sich etwas verletzt und ließ ihn stehen; sie gingen zurück.

Als sie eine lange Strecke gegangen waren, wartete der Schulmeister, bis Öyvind ihn eingeholt hatte. "Du sehnst Dich wohl danach, konfirmiert zu werden?" fragte er.—"Ja."—"Was willst Du denn nachher anfangen?"—"Ich möchte gern aufs Seminar."—"Und Schulmeister werden?"—"Nein."—"Das ist Dir wohl nicht fein genug?"—Öyvind schwieg. Wieder gingen sie eine lange Strecke. "Wenn Du mit dem Seminar fertig bist, was willst Du dann?"—"Das habe ich mir noch nicht ordentlich überlegt."—"Wenn Du Geld hättest, würdest Du Dir wohl einen Hof kaufen, nicht?"—"Ja, aber die Mühle behalten."—"Dann ist's am besten, Du gehst auf die Ackerbauschule."—"Lernt man da ebensoviel wie auf dem Seminar?"—"Ach nein, aber man lernt das, was man später braucht."—"Bekommt man da auch Nummern?"—"Warum fragst Du danach?"—"Ich möchte gern sehr tüchtig werden."—"Das kannst Du auch ohne Nummern."—Sie gingen schweigend weiter, bis Pladsen in Sicht kam; ein heller Lichtschein drang aus dem Hause, der Berg neigte sich an diesem Winterabend schwarz darüber, drunten lag der Fjord mit der blanken, schimmernden Eisdecke. Der Wald rahmte die stille Bucht ein, es lag kein Schnee, der Mond stand am Himmel und spiegelte den Wald im Eise. "Es ist schön hier in Pladsen", sagte der Schulmeister. Öyvind konnte zu Zeiten die Gegend noch mit denselben Augen anschauen wie damals, als seine Mutter ihm Märchen erzählte, und mit dem Gesicht, womit er so oft auf den Hügel gelaufen war; jetzt hatte er dies Gesicht: alles lag so klar und erhaben vor ihm. "Ja, hier ist es schön", sagte er, aber er seufzte dabei.—"Dein Vater hat sein gutes Brot hier gehabt; Du könntest hier auch wohl zufrieden sein."—Mit einem Schlage hatte die Gegend ihr frohes Gesicht verloren. Der Schulmeister blieb stehen, als erwarte er eine Antwort; als keine kam, schüttelte er den Kopf und ging mit hinein. Eine Weile noch blieb er bei ihnen, aber er schwieg mehr, als er sprach, so daß auch die andern verstummten. Als er sich verabschiedete, begleiteten ihn Mann und Frau vor die Tür; sie schienen beide darauf zu warten, daß er etwas sage. Inzwischen standen sie und sahen in den Abend hinaus. "Hier ist es so merkwürdig still geworden," sagte die Mutter, "seit die Kinder hier nicht mehr spielen."—"Ihr habt eben jetzt keine Kinder mehr im Hause", sagte der Schulmeister; die Mutter verstand, was er damit sagen wollte. "Öyvind ist in der letzten Zeit gar nicht mehr recht fröhlich."—"Nein, nein, wer ehrgeizig ist, der ist nie fröhlich"; und er blickte mit der Ruhe des Greises zu Gottes stillem Himmel auf.

Sechstes Kapitel

Ein halbes Jahr später, im Herbst (die Konfirmation war bis dahin verschoben worden), saßen die Konfirmanden der Gemeinde bei dem Pfarrer in der Leutestube und sollten ihre Nummern bekommen; Öyvind Pladsen und Margit vom Heidehof waren auch dabei. Margit war gerade vom Herrn Pfarrer heruntergekommen, der ihr ein schönes Buch geschenkt und sie sehr gelobt hatte. Sie lachte und schwatzte mit ihren Freundinnen und spähte zu den Burschen hinüber. Margit war jetzt erwachsen, hatte ein gefälliges, sicheres Benehmen, und Burschen und Mädchen wußten, daß der stattlichste Junggesell im ganzen Gau, Jon Hatlen, um sie freie. Ja, die konnte sich freuen! Dicht an der Tür standen ein paar Knaben und Mädchen, die bei der Prüfung durchgefallen waren; sie weinten, während Margit und ihre Freundinnen lachten; bei ihnen stand auch ein kleiner Bursch, der hatte seines Vaters Stiefeln an und das Sonntagstaschentuch von seiner Mutter in der Hand. "O Gott, o Gott," schluchzte er, "ich darf ja nicht nach Hause kommen." Da ergriff alle, die noch nicht oben gewesen waren, die Macht des Zusammengehörigkeitsgefühls; eine allgemeine Stille entstand. Die Angst saß ihnen im Hals und in den Augen, sie konnten nicht ordentlich sehen und nicht schlucken, wozu sie fortwährend das Bedürfnis hatten. Einer saß da und überlegte sich, was er alles konnte, und obwohl er vor ein paar Stunden noch gedacht hatte, er wisse alles, wurde ihm nun ohne Zweifel klar, daß er gar nichts konnte, nicht einmal lesen. Ein anderer stellte sein Sündenregister zusammen von dem Tag, seit er denken konnte bis zu dem Augenblick, wo er hier saß, und er fand es gar nicht merkwürdig, wenn der liebe Gott ihn noch nicht haben wollte. Ein dritter saß und legte sich alle möglichen äußerlichen Zeichen zurecht; wenn die Uhr, die gleich schlagen mußte, erst anfing, wenn er bis zwanzig gezählt habe, dann würde er durchkommen. Wenn der, der draußen über die Diele ging, Lars, der Hofknecht sei, dann komme er durch; wenn der große Regentropfen, der sich an der Fensterscheibe hinunterarbeitete, bis zur Holzleiste gelange, dann würde er durchkommen. Die letzte und entscheidende Probe sollte sein, ob er den rechten Fuß um den linken schlagen könne, und das wollte ihm durchaus nicht gelingen. Ein Vierter war fest überzeugt: wenn er in der Biblischen Geschichte nach Joseph gefragt würde, im Katechismus nach der Heiligen Taufe, oder nach Saul oder nach der Haustafel, oder nach Jesus, oder nach den zehn Geboten, oder—er war noch mitten im Aufzählen, als er aufgerufen wurde. Ein Fünfter hatte eine seltsame Vorliebe für die Bergpredigt gefaßt; ihm hatte von der Bergpredigt geträumt, und er glaubte steif und fest, er würde nach der Bergpredigt gefragt werden, und er sagte fortwährend die Bergpredigt auf; er ging sogar vor die Haustür, um sie schnell noch einmal durchzulesen,—da wurde er hineingerufen und wurde in den großen und kleinen Propheten geprüft. Ein Sechster dachte, der Herr Pfarrer sei ein so seelensguter Mann und kenne seinen Vater so gut, und er dachte auch an den Schulmeister mit dem freundlichen Gesicht, und an Gott, der so gut war und schon so vielen geholfen hatte, Jacob und Joseph zum Beispiel, und dann fiel ihm ein, daß Mutter und Geschwister zu Haus saßen und für ihn beteten, und das würde wohl helfen. Der Siebente saß da und schloß mit allem ab, was er hier in dieser Welt hatte werden wollen. Zuerst hatte er geglaubt, er werde es bis zum König bringen, dann bis zum General oder zum Pfarrer; das war lange vorbei; aber noch als er hergekommen war, hatte er bei sich gedacht, er wollte zur See gehen und Kapitän werden oder auch Seeräuber und ungeheure Reichtümer erwerben; jetzt verzichtete er auf Reichtum, auf Seeraub, auf Kapitän, auf Steuermann,—er wollte sich mit dem Matrosen begnügen, und vielleicht wurde er dann gar Bootsmann, aber es war auch möglich, daß er überhaupt nicht zur See ging, sondern bei seinem Vater auf dem Hof blieb. Der Achte war seiner Sache etwas sicherer, wenn auch nicht ganz; auch der fleißigste war nicht ganz sicher. Er dachte an seinen Konfirmationsanzug, und wozu der wohl gebraucht würde, wenn er nicht durchkomme. Kam er aber durch, dann ginge er in die Stadt und trüge nur noch Tuchanzüge, und wenn er wiederkomme, dann würde er in der Weihnachtszeit tanzen, daß die Burschen sich ärgerten und die Mädels staunten. Der Neunte rechnete anders: er hatte für unsern Herrgott ein kleines Kontobuch angelegt; auf der einen Seite stand als Debet "Wenn er mich durchkommen läßt," und auf der andern als Kredit "so will ich auch nie wieder lügen, nie wieder petzen, jeden Sonntag in die Kirche gehen, die Mädchen in Ruh lassen und mir das Fluchen abgewöhnen." Der Zehnte aber dachte, wenn Ole Hansen voriges Jahr durchgekommen sei, so wäre es mehr als ungerecht, wenn er dies Jahr nicht durchkomme, denn er war in der Schule viel besser gewesen und war auch besserer Leute Kind. Neben ihm saß der Elfte, der sich mit den fürchterlichsten Racheplänen trug, falls er nicht durchkommen sollte: er wollte die Schule in Brand stecken oder ausreißen und wiederkommen zu furchtbarem Gericht über Pfarrer und Schulkommission; aber großmütig würde er schließlich Gnade für Recht ergehen lassen. Zunächst wollte er im benachbarten Kirchspiel zu dem Pfarrer in Dienst ziehen, und im nächsten Jahr da zu oberst stehen und Antworten geben, daß die ganze Kirche staunen sollte. Der Zwölfte aber saß ganz allein unter der Klingel, hatte die Hände in die Taschen gesteckt und sah wehmütig über die andern hin. Keiner von denen da wußte, was für eine Last auf ihm lag, was für eine Verantwortung er hatte. Zu Hause war eine, die wußte es; das war seine Braut. Eine große, langbeinige Spinne kroch über den Fußboden und kam an seinen Fuß heran; sonst pflegte er das ekelhafte Gewürm tot zu treten, heute aber hob er sorglich den Fuß hoch, damit sie ungestört ihres Wegs gehen konnte. Er sprach so mild wie ein Kollektensammler; in seinen Augen stand der unerschütterliche Glaube, daß alle Menschen gut sind; seine Hand führte er mit einer demütigen Bewegung aus der Tasche zum Haar, um es glatter zu streichen. Wenn er bloß glimpflich durch dies gefährliche Nadelöhr hindurchkomme, dann wollte er schon wieder anders werden und Tabak kauen, und seine Verlobung öffentlich machen. Auf einem niederen Schemel aber saß mit eingezogenen Beinen unruhig der Dreizehnte. Seine kleinen blanken Augen wanderten dreimal in der Sekunde durch die ganze Stube, und unter dem dichten, struppigen Haar wälzten sich die Gedanken der andern Zwölf in bunter Unordnung, von den stolzesten Hoffnungen zum niederschmetterndsten Zweifel, von den demütigsten Vorsätzen zu den vernichtendsten Racheplänen gegen das ganze Dorf, und währenddessen hatte er von seinem rechten Daumen schon alles überflüssige Fleisch abgeknabbert, machte sich jetzt an die Nägel und spuckte sie in großen Stücken auf den Fußboden.

Öyvind saß am Fenster; er war schon oben gewesen und hatte alles gewußt, was er gefragt worden war; und doch hatte der Herr Pfarrer kein Wort gesagt, und der Schulmeister auch nicht; über ein halbes Jahr hatte er sich ausgemalt, was die beiden sagen würden, wenn sie merkten, wie er gearbeitet hatte, und er war jetzt sehr enttäuscht und gekränkt. Da saß Margit und hatte für viel weniger Mühe und weniger Wissen Lob und eine Belohnung bekommen; gerade, um vor ihr groß dazustehen, hatte er gearbeitet, und jetzt hatte sie lachend erreicht, was er unter so viel Entsagung sich hatte erarbeiten wollen. Ihr Lachen und Scherzen schnitt ihm in die Seele; die Freiheit, mit der sie sich gab, tat ihm weh. Er hatte seit jenem Abend peinlich vermieden, mit ihr zu sprechen; es müssen erst Jahre darüber hingehen, dachte er; aber ihr Anblick, wie sie so fröhlich und überlegen dasaß, drückte ihn zu Boden, und all seine stolzen Vorsätze hingen wie welkes Laub im Winde.

Er versuchte jedoch nach und nach dieser Niedergeschlagenheit Herr zu werden; es kam darauf an, ob er heute Nummer eins würde, und das wollte er abwarten. Der Schulmeister pflegte immer noch eine Weile beim Herrn Pfarrer zu bleiben, um die Rangordnung festzustellen, und dann herunterzukommen und den Kindern das Ergebnis mitzuteilen. Es war ja noch nicht die endgültige Entscheidung, aber doch der Beschluß, zu dem der Herr Pfarrer und er einstweilen gelangt waren. Die Unterhaltung in der Stube wurde lebhafter, je mehr geprüft und durchgekommen waren; jetzt aber sonderten sich die Ehrgeizigen von den Fröhlichen; diese gingen, sobald sie Gesellschaft fanden, fort, um den Eltern ihr Glück zu verkünden, oder sie warteten auf andere, die noch nicht fertig waren. Jene dagegen wurden immer stiller, und die Augen blickten gespannt nach der Tür.

Endlich war die Prüfung zu Ende, der letzte war heruntergekommen, und jetzt sprach der Schulmeister also mit dem Herrn Pfarrer, Öyvind sah Margit an; sie war so vergnügt, und doch blieb sie hier—ob in ihrem eigenen oder in anderer Interesse, wußte er nicht. Wie schön Margit geworden war! Blendend weiß die Haut, wie er es noch nie gesehen hatte; die Nase strebte ein bißchen nach oben, der Mund lächelte. Die Augen waren halbgeschlossen, wenn sie nicht gerade jemanden ansah; hob sie aber den Blick, so hatte er eine überraschende Macht,—und als wolle sie selbst betonen, daß sie sich gar nichts dabei denke, lächelte sie zugleich ein bißchen. Ihr Haar war eher dunkel als hell, aber es war kraus und lag in tiefen Scheiteln um das Gesicht, so daß es ihr, zusammen mit den halbgeschlossenen Augen, etwas Geheimnisvolles gab, das man nie enträtseln konnte. Man wußte nie ganz genau, wen sie eigentlich ansah, wenn sie allein oder im Kreise der andern saß, auch nicht, was sie eigentlich dachte, wenn sie sich irgendeinem zuwandte und mit ihm sprach, denn sie nahm gewissermaßen sofort alles wieder zurück, was sie gab. "Und hinter all dem steckt wohl eigentlich Jon Hatlen", dachte Öyvind,—trotzdem sah er fortwährend zu ihr hinüber. Da kam der Schulmeister. Alle stürmten von ihren Plätzen und umringten ihn. "Welche Nummer habe ich?"—"Und ich?"—"Und ich? Ich?"—"Schscht! Ihr Bande, keinen Spektakel!—Ruhig, Ihr sollt's erfahren, Kinder!" Er sah sich bedächtig um. "Du bist Nummer 2", sagte er zu einem Jungen mit blauen Augen, der ihn bittend ansah, und der Junge tanzte aus dem Kreise heraus. "Du bist Nummer 3",—er schlug einem rothaarigen flinken Knirps, der ihn am Rockschoß zupfte, auf die Finger. "Du bist Nummer 5, Du Nummer 8", und so weiter. Da fiel sein Blick auf Margit: "Du bist Nummer 1 von den Mädchen"; sie wurde glühend rot übers ganze Gesicht und versuchte zu lächeln. "Du Nummer 12, bist 'n Faulpelz gewesen und ein rechter Herumtreiber; Du Nummer 11, war nicht anders zu erwarten, mein Junge; Du Nummer 13, mußt tüchtig lesen und recht oft zum Überhören kommen, sonst geht's Dir schlecht!"—Öyvind konnte es nicht länger aushalten; Nummer 1 war freilich noch nicht genannt, aber er hatte die ganze Zeit über so gestanden, daß der Schulmeister ihn hatte sehen können. "Herr Lehrer!"—er hörte nicht. "Herr Lehrer!" Dreimal mußte er rufen, bis er hörte. Da endlich sah der Schulmeister ihn an; "Nummer 9 oder 10, ich weiß nicht genau", sagte er und wandte sich zu einem andern. "Wer ist denn Nummer 1?" fragte Hans, Öyvinds bester Freund. "Du nicht, Du Krauskopf!" sagte der Schulmeister und schlug ihm mit einer Papierrolle auf die Hand. "Wer denn?" fragten ein paar andere. "Ja, wer? wer ist das?"—"Das wird der erfahren, der die Nummer hat", antwortete der Schulmeister streng, weil er keine weiteren Fragen haben wollte.—"Geht jetzt hübsch nach Hause, Kinder, dankt dem lieben Gott und macht Euren Eltern Freude. Bedankt Euch auch bei Eurem alten Lehrer; Ihr wäret gewiß so dumm wie Bohnenstroh geblieben, wenn er nicht gewesen wäre."—Sie bedankten sich bei ihm und lachten und zogen jubelnd von dannen, denn in diesem Augenblick, wo es nach Haus zu den Eltern ging, waren alle vergnügt. Bloß einer konnte seine Bücher nicht gleich finden, und als er sie zusammengesucht hatte, da setzte er sich hin, als wolle er wieder von vorn zu lernen anfangen.

Der Schulmeister trat zu ihm hin: "Nun, Öyvind, willst Du nicht mit den andern gehen?"—Keine Antwort. "Weshalb schlägst Du Deine Bücher auf?"—"Ich will nachsehen, was ich heute falsch geantwortet habe."—"Du hast nicht die kleinste falsche Antwort gegeben."—Da blickte Öyvind auf, die Tränen stiegen ihm in die Augen, er sah ihn unverwandt an, eine Träne nach der andern rann hinunter, aber er sagte kein Wort. Der Schulmeister setzte sich ihm gegenüber. "Freust Du Dich denn nicht, daß Du durchgekommen bist?"—Es bebte um seinen Mund, aber er antwortete nicht. "Deine Eltern werden sich sehr freuen", sagte der Schulmeister und sah ihn an.—Öyvind kämpfte lange, um ein Wort herauszubringen, schließlich fragte er leise und abgebrochen: "Wohl deshalb…, weil ich … ein Häuslerjunge bin … bekomm' ich den neunten oder zehnten Platz?"—"Natürlich deshalb", antwortete der Schulmeister.—"Dann hat es ja gar keinen Zweck zu arbeiten", sagte er klanglos und brach über all seinen Träumen zusammen. Plötzlich richtete er den Kopf in die Höhe, hob die rechte Hand, schlug mit aller Macht auf den Tisch, warf sich über den Tisch und brach in heftiges Weinen aus.

Der Schulmeister ließ ihn liegen und weinen, so recht sich ausweinen. Es dauerte lange, aber der Schulmeister wartete, bis das Weinen kindlicher wurde. Da faßte er seinen Kopf mit beiden Händen, richtete ihn in die Höhe und sah in das verweinte Gesicht. "Glaubst Du, daß jetzt eben Gott bei Dir gewesen ist?" fragte er freundlich und hielt ihn fest, Öyvind schluchzte noch, aber leiser, und die Tränen flossen schon sachter, aber er konnte den Frager noch nicht ansehen und auch nicht antworten.—"Öyvind, dies ist Dein wohlverdienter Lohn gewesen. Du hast nicht gelernt aus Liebe zum Christentum und zu Deinen Eltern, Du hast aus Eitelkeit gelernt."—Es blieb still in der Stube, wenn der Schulmeister eine Pause machte; Öyvind fühlte seinen Blick auf sich ruhen, und unter diesem Blick taute in ihm etwas auf, und er wurde ganz demütig.—"Mit solchem Hochmut in Deinem Herzen konntest Du doch den Bund mit Deinem Gott nicht schließen, nicht wahr, Öyvind?"—"Nein", stammelte der, so gut er konnte.—"Und wenn Du dagestanden hättest mit der eitlen Freude, daß Du Nummer Eins bist, wäre das nicht eine Sünde gewesen?"—"Ja", flüsterte er, und seine Mundwinkel zitterten.—"Hast Du mich noch lieb, Öyvind?"—"Ja"; zum erstenmal blickte er auf.—"So will ich Dir sagen: ich war es, der den niedrigeren Platz Dir ausgewirkt hat, denn Du bist mir lieb, Öyvind."—Der andere sah ihn an, blinzelte ein paarmal mit den Augen, und die Tränen rannen wieder heftiger.—"Du bist mir deshalb doch nicht böse?"—"Nein"; er sah groß und klar zu ihm auf, wenn seine Stimme auch gequält klang.—"Mein liebes Kind! ich will um Dich sein, solang ich lebe."

Er wartete, bis Öyvind sich beruhigt hatte und seine Bücher zusammenpackte, dann sagte er, er wolle mit ihm nach Hause gehen. Sie gingen langsam ihres Weges. Anfangs war Öyvind noch sehr still und kämpfte mit sich, nach und nach aber überwand er sich. Er war fest davon überzeugt, so wie es gekommen war, war es das beste für ihn, und ehe er noch zu Hause war, hatte dieser Gedanke sich so in ihm befestigt, daß er seinem Gott dankte und das auch dem Schulmeister sagte. "Ja, jetzt können wir dann ja überlegen, wie wir etwas erreichen im Leben," sagte der Schulmeister, "und nicht blind drauflos rennen. Was meinst Du zum Seminar?"—"Ja, dahin möchte ich sehr gern."—"Du meinst auf die Ackerbauschule?"—"Ja."—"Das ist auch wohl das beste; da gibt es andre Aussichten als eine Schulmeisterstelle."—"Aber wie komme ich dahin? Ich habe große Lust, aber ich weiß mir keinen Rat."—"Sei nur fleißig und brav, dann wird schon Rat werden."

Öyvind war ganz überwältigt von Dankbarkeit. Vor seinen Augen leuchtete es, der Atem ging so leicht, und er fühlte das Feuer unendlicher Liebe in sich, wie es uns geschieht, wenn wir von andern unerwartet Güte erfahren. Es ist uns, als könnten wir immer fortan in frischer Bergluft wandern; wir fliegen mehr, als wir gehen.

Als sie nach Hause kamen, waren beide Eltern in der Stube und hatten dort in stiller Erwartung gesessen, wiewohl es Arbeitszeit und viel zu tun war. Der Schulmeister trat zuerst ein, Öyvind kam hinterher und beide lächelten. "Nun?" fragte der Vater und legte das Gesangbuch fort, in dem er gerade das "Gebet eines Konfirmanden" gelesen hatte. Die Mutter stand am Herd und wagte nichts zu sagen; sie lachte, aber die Hände zitterten ihr; sie erwartete augenscheinlich etwas Gutes, wollte sich aber nicht verraten. "Ich bin bloß hergekommen, um Euch die freudige Nachricht zu bringen, daß er alles gewußt hat, was er gefragt worden ist, und daß der Herr Pfarrer, als Öyvind fort war, gesagt hat, er habe nie einen besseren Konfirmanden gehabt."—"Ach, nein!" sagte die Mutter und war sehr gerührt.—"Das ist ja nett", sagte der Vater und räusperte sich unsicher.

Nach langem Schweigen fragte die Mutter leise: "Was für eine Nummer bekommt er?"—"9 oder 10", sagte der Schulmeister ruhig.—Die Mutter blickte den Vater an, der Vater erst sie, dann Öyvind; "mehr kann ein Häuslerjunge nicht erwarten", sagte er. Öyvind sah ihn auch an; es war, als steige ihm wieder etwas im Halse hoch, aber er zwang sich, an allerlei Liebes zu denken, immerfort, bis er's wieder herunter hatte.

"Jetzt muß ich wohl gehen", sagte der Schulmeister, nickte ihnen zu und wandte sich zur Tür. Die Eltern begleiteten ihn wie gewöhnlich hinaus; draußen nahm der Schulmeister einen Priem und sagte schmunzelnd: "Er wird natürlich der erste, aber es ist besser, er erfährt es erst, wenn der Tag da ist."—"Ja, ja", sagte der Vater und nickte. "Ja, ja", sagte die Mutter und nickte auch; dann griff sie nach der Hand des Schulmeisters; "schönen Dank auch für alles, was Du an ihm tust", sagte sie. "Ja, schönen Dank", sagte der Vater, und der Schulmeister ging; die beiden aber standen noch lange und sahen ihm nach.

Siebentes Kapitel

Der Schulmeister hatte das rechte getroffen, als er den Pfarrer gebeten hatte, erst zu prüfen, ob Öyvind es auch vertragen könne, der erste zu sein. In den drei Wochen, die noch bis zur Konfirmation hingingen, war er jeden Tag bei dem Knaben; eine junge, weiche Seele kann wohl einem Eindruck nachgeben, ein andres ist es, ob sie ihn auch treulich festhält. Manch dunkle Stunde kam über den Knaben, bis er lernte, sein Ziel auf bessere Dinge als auf Ehre und Trotz zu stecken. Mitten in der besten Arbeit verlor er plötzlich die Lust daran: Wozu? Was gewinne ich?—und dann nach einer Weile fiel ihm der Schulmeister ein, seine Worte und seine Güte; aber dies Mittel mußte er haben, wenn er wieder einmal von der rechten Auffassung seiner höheren Pflicht heruntergesunken war.

In den Tagen, da man in Pladsen zur Konfirmation rüstete, wurde auch seine Reise auf die Ackerbauschule vorbereitet; denn schon am Tage darauf sollte er sie antreten. Schneider und Schuster saßen in der Stube, die Mutter buk in der Küche, der Vater arbeitete an einer Truhe. Viel wurde davon gesprochen, was er sie in den zwei Jahren kosten würde, auch davon, daß er das erste Jahr Weihnachten nicht nach Hause kommen könne, vielleicht auch im nächsten nicht, und wie schwer es sein würde, sich so lange trennen zu müssen. Sie redeten auch davon, wie lieb er seine Eltern haben müßte, die für ihr Kind so große Opfer brächten. Öyvind saß da wie einer, der draußen sein Glück auf eigene Faust versucht hat, dabei kenterte und nun von freundlichen Menschen aufgenommen ist.

So ein Gefühl macht demütig und mit der Demut kommt auch noch manches andere. Als der große Tag anbrach, war Öyvind gut ausgerüstet und konnte der Zukunft mit zuversichtlicher Ergebenheit entgegensehen. So oft Margits Bild dazwischentreten wollte, drängte er es vorsichtig zurück, aber es tat ihm weh, das zu tun. Er suchte sich darin zu üben, aber in diesem Punkt wurde er nicht stärker, im Gegenteil, das Wehgefühl wuchs. Er war so verzagt am letzten Abend, daß er nach einer langen Selbstprüfung betete, Gott der Herr möge ihn in diesem einen Stück nicht auf die Probe stellen.

Gegen Abend kam der Schulmeister. Sie setzten sich in die Stube, nachdem sich alle gewaschen und zurecht gemacht hatten, wie immer, wenn man am Tage darauf zum Abendmahl oder zum Hochamt geht. Die Mutter war sehr bewegt und der Vater wortkarg; nach dem Feiertage morgen kam der Abschied, und keiner wußte, wann man wieder so beisammen sitzen würde. Der Schulmeister nahm die Gesangbücher, sie hielten eine Andacht und sangen, und dann sprach er ein kurzes Gebet, so wie es ihm aus dem Herzen kam.

Die vier Menschen saßen bis spät am Abend bei einander, und jeder hing seinen Gedanken nach. Dann trennten sie sich mit den besten Wünschen für den kommenden Tag, und für das, was er knüpfen sollte. Öyvind gestand sich ein, als er zu Bett ging, daß er nie so glücklich schlafen gegangen sei; er verband damit einen besonderen Sinn; er meinte: nie bin ich so ergeben in Gottes Willen und so freudig in Gott schlafen gegangen.—Margits Gesicht wollte vor ihm auftauchen, und im Halbschlaf noch übte er eine Art Selbstversuchung: nicht ganz glücklich, nicht ganz,—und er antwortete: doch ganz—; und noch einmal: nicht ganz,—doch, ganz;—nein, nicht ganz—.

Als er aufwachte, kam ihm die Bedeutung des Tages gleich zu Bewußtsein; er betete und fühlte sich so kräftig, wie man wohl des Morgens tut. Er hatte seit dem Sommer allein in einem Bodenkämmerchen geschlafen; jetzt stand er auf und zog behutsam die neuen, schönen Kleider an; solche hatte er bis jetzt noch nicht gehabt. Besonders die rundgeschnittene Tuchjacke mußte er immerzu befühlen, bis er sich an sie gewöhnte. Er holte einen kleinen Spiegel heraus, als er sich den Kragen umgebunden und auch den Tuchrock—zum viertenmal—angezogen hatte. Als ihm jetzt sein eigenes vergnügtes Gesicht mit dem merkwürdig hellen Haar aus dem Spiegel entgegenlachte, fiel ihm ein, auch das sei wieder Eitelkeit. Ja, aber gut angezogen und rein müssen die Leute doch aussehen, warf er ein, während er das Gesicht vom Spiegel fortwandte, als sei es Sünde, hineinzusehen.—Freilich, aber man darf nicht ganz so selbstzufrieden deswegen sein.—Nein, natürlich nicht, aber dem lieben Gott muß es doch auch gefallen, wenn man sich darüber freut, daß man hübsch aussieht.—Kann schon sein, aber ihm wäre es vielleicht doch lieber, Du freutest Dich darüber, ohne so großes Gewicht darauf zu legen.—Das ist wahr, aber das kommt auch bloß daher, daß alles so neu ist.—Ja, dann mußt Du es aber auch nach und nach ablegen.—Er ertappte sich dabei, daß er sich bald über diesen, bald über jenen Gegenstand in solchen Gesprächen der Selbstprüfung erging: es sollte keine Sünde auf diesen Tag fallen und ihn beflecken; aber er wußte auch, daß da noch vieles fehle.

Als er hinunterkam, waren die Eltern schon fertig angezogen und warteten mit dem Frühstück auf ihn. Er ging auf sie zu, gab ihnen die Hand und bedankte sich für die Kleider; "trag' sie in Gesundheit", wurde ihm erwidert. Sie setzten sich an den Tisch, beteten still und aßen. Die Mutter deckte den Tisch ab und brachte den Korb mit Eßwaren für den Kirchgang herein. Der Vater zog sich den Rock an, die Mutter steckte sich ihr Tuch fest, sie nahmen die Gesangbücher, riegelten das Haus zu und stiegen bergan. Als sie auf den oberen Weg kamen, trafen sie schon Kirchgänger, zu Fuß und zu Wagen, auch Konfirmanden, und ab und zu auch die weißhaarigen Großeltern, die dies eine Mal doch gern mitwollten.

Es war ein Herbsttag ohne Sonnenschein, wie wenn das Wetter umschlagen will. Gewölk zog sich zusammen und zerteilte sich wieder. Bisweilen lösten sich aus einer großen Ansammlung von Wolken wohl zwanzig kleinere und jagten mit dem Befehl zum Unwetter dahin; aber unten auf der Erde war es noch still; die Blätter hingen entseelt an den Bäumen und regten sich nicht; die Luft war etwas schwül; die Leute hatten Mäntel mit, aber sie brauchten sie gar nicht. Ungewöhnlich viel Menschen sammelten sich vor der freistehenden Kirche an; die Konfirmationskinder aber gingen gleich in die Kirche hinein, weil sie aufgestellt werden sollten, bis der Gottesdienst begann. Da kam der Schulmeister an im blauen Anzug, mit Frack und Kniehosen, Stulpstiefeln und steifer Halsbinde, und seine Pfeife guckte hinten aus der Rocktasche; er nickte und lachte, schlug diesem auf die Schulter und ermahnte jenen, recht laut und deutlich zu antworten, und kam mittlerweile bis an die Armenbüchse, wo Öyvind mit seinem Freunde Hans stand, dem er über die Reise Auskunft gab. "Guten Morgen, Öyvind, ist das ein schöner Tag!"—er faßte ihn am Rockkragen, als wolle er mit ihm reden,—"hör' mal, ich glaub' das beste von Dir. Eben habe ich mit dem Herrn Pfarrer gesprochen; Du darfst Deinen Platz behalten; stell Dich obenan und antworte recht deutlich!"

Öyvind sah ihn maßlos erstaunt an, der Schulmeister nickte ihm zu, der Junge tat ein paar Schritte, stand still, ging wieder ein paar Schritte, stand wieder still; ja, das hängt sicher so zusammen, daß er bei dem Herrn Pfarrer ein gutes Wort für mich eingelegt hat, und schnell ging er an seinen Platz. "Du bist also doch Nummer Eins", flüsterte ihm einer zu. "Ja", sagte Öyvind leise, aber er wußte noch immer nicht recht, ob er es glauben durfte.

Die Aufstellung war fertig, der Pfarrer kam, die Glocken fingen zu läuten an, und die Menschen strömten in die Kirche. Da sah Öyvind Margit vom Heidehof dicht vor sich stehen, sie sah ihn auch an, aber beide waren so gebannt von der Heiligkeit der Stätte, daß sie sich nicht zu grüßen wagten. Er sah nur, daß sie wunderschön war und mit bloßem Haar ging, mehr sah er nicht. Öyvind, der länger als ein halbes Jahr so große Pläne darauf gebaut hatte, ihr gleichberechtigt gegenüberzustehen, Öyvind vergaß, als es wirklich so weit gediehen war, seinen Platz und sie, und daß er je an so etwas gedacht hatte.

Als alles zu Ende war, kamen die Verwandten und Bekannten um ihre Glückwünsche anzubringen, dann kamen auch seine Kameraden und wollten ihm Adieu sagen, denn sie hatten gehört, daß er am andern Tage reisen würde; es kamen auch viele von den Kleineren, mit denen er Schlitten gefahren war, und denen er so oft in der Schule geholfen hatte, und da ging der Abschied nicht ohne Tränen ab. Zuletzt kam der Schulmeister, drückte ihm und den Eltern stumm die Hand und bedeutete ihnen, sie wollten gehen; er wollte sie begleiten. Die Vier waren wieder beisammen, und dies sollte nun der letzte Nachmittag sein. Unterwegs trafen sie noch viele, die ihm Adieu sagten und ihm Glück wünschten, sonst aber sprachen sie nicht zusammen, bis sie daheim in der Stube saßen.

Der Schulmeister versuchte sie bei gutem Mut zu erhalten; denn jetzt, da es soweit war, bangten alle drei vor der zweijährigen Trennung, weil sie bis jetzt keinen Tag fern voneinander gewesen waren; aber keiner wollte es wahrhaben. Je weiter der Tag vorrückte, desto gedrückter wurde Öyvind; er mußte ins Freie gehen, um sich ein bißchen zu beruhigen.

Es war schon halbdunkel, und in der Luft brauste es seltsam; er blieb auf den Steinfliesen stehen und blickte empor. Da hörte er vom Bergrande her seinen Namen rufen, ganz leise; es war keine Täuschung, denn es wurde zweimal gerufen. Er sah hinauf und gewahrte, daß eine weibliche Gestalt zwischen den Bäumen kauerte und herabschaute. "Wer ist da oben?" fragte er.—"Ich habe gehört, Du willst fort," sagte sie leise, "da mußte ich doch zu Dir kommen und Dir Adieu sagen, wenn Du nicht zu mir kommst."—"Margit, liebe Margit, bist Du es wirklich? Wart', ich komme gleich hinauf."—"Nicht doch. Ich habe schon so lange gewartet, und da müßte ich ja noch länger warten; keiner weiß, wo ich bin, und ich muß schnell wieder nach Hause."—"Es ist nett von Dir, daß Du gekommen bist", sagte er.—"Ich konnte es nicht ertragen, daß Du so abreistest, Öyvind, wo wir uns von klein auf gekannt haben."—"Das stimmt."—"Und jetzt haben wir ein halbes Jahr lang kein Wort miteinander gewechselt."—"Nein, das stimmt."—"Wir sind das letzte Mal so komisch auseinandergekommen."—"Ja;—aber ich glaube, ich komme doch lieber hinauf zu Dir."—"Ach nein, bitte nicht! Aber sag' mal: Du bist mir doch nicht böse?"—"Liebe Margit, wie kannst Du so was denken?"—"Na, dann Adieu, Öyvind, und Dank für alles Schöne, was wir zusammen erlebt haben!"—"Nein, Margit!"—"Ja, jetzt muß ich fort; sie werden mich wohl schon vermissen."—"Margit, Margit!"—"Nein, ich kann nicht länger fortbleiben, Öyvind. Lebwohl!"—"Lebwohl!"

Nachher ging er wie im Traum umher und antwortete wie geistig abwesend, wenn er gefragt wurde; sie erklärten sich das mit der Abreise, und diese nahm auch sein ganzes Interesse in Anspruch in dem Augenblick, als sich der Schulmeister abends von ihm verabschiedete und ihm etwas in die Hand drückte, was sich nachher als ein Fünftalerschein herausstellte. Aber später, als er im Bett lag, dachte er nicht an die Abreise, sondern an die Worte, die an der Bergwand getauscht waren. Als Kind hatte sie nicht zur Bergwand hingedurft, weil der Großvater Angst hatte, Margit könne hinunterfallen. Wer weiß, ob sie nicht doch noch mal herunterkäme.

Achtes Kapitel

Liebe Eltern!

Jetzt haben wir viel mehr zu arbeiten bekommen, aber jetzt habe ich die andern auch schon mehr eingeholt, so daß es mir nicht mehr so schwer wird. Und jetzt werde ich sehr viel in Vaters Wirtschaft verändern, wenn ich wieder nach Hause komme; denn da ist manches verkehrt angefangen, und es ist merkwürdig genug, daß es überhaupt bis jetzt gegangen ist. Aber ich will schon Zug hineinbringen, denn ich habe jetzt viel gelernt. Ich möchte wohl irgendwohin, wo ich alles verwerten kann, was ich jetzt weiß; deshalb muß ich mir eine große Stellung suchen, wenn ich fertig bin. Hier sagen alle, Jon Hatlen ist gar nicht so tüchtig, wie man bei uns zu Haus denkt; aber er hat ja einen eigenen Hof, so daß es keinen außer ihn selbst was angeht. Viele, die von hier abgehen, bekommen sehr hohen Lohn; aber sie werden so gut bezahlt, weil wir die beste Ackerbauschule im ganzen Lande sind. Manche sagen, im Nachbaramt ist noch eine bessere, aber das ist wohl nicht wahr. Hier hört man immerzu zwei Worte: das eine heißt Theorie und das andere Praxis, und es ist gut, wenn man alle beide hat, und das eine ist ohne das andere nichts wert, aber das zweite ist doch das beste. Und das erste Wort bedeutet, daß man von einer Arbeit die Ursache und den Grund kennt, aber das andere Wort bedeutet, daß man die Arbeit auch ausführen kann, wie zum Beispiel jetzt mit dem Sumpf. Denn es gibt viele, die wissen, was man mit einem Sumpf macht, aber verkehrt machen sie es doch, denn sie können es nicht. Aber viele könnten es und sie wissen es nicht, und dann wird's auch verkehrt, denn es gibt viele Arten Sümpfe. Doch hier auf der Ackerbauschule lernen wir beides. Der Direktor ist so tüchtig, daß sich keiner mit ihm messen kann. Auf der letzten landwirtschaftlichen Landesversammlung hatte er zwei Fragen zu behandeln, und die Direktoren von den andern Ackerbauschulen jeder bloß eine, und es wurde immer das beschlossen, was er beantragte, wenn die andern es sich erst überlegt hatten. Auf der Versammlung vorher aber, wo er nicht war, da haben die andern bloß gequatscht. Den Leutnant, der uns im Feldmessen unterrichtet, hat der Direktor auch bloß wegen seiner eigenen Tüchtigkeit bekommen, denn die andern Schulen haben keinen Leutnant. Unserer aber ist sehr tüchtig und soll auf der Offiziersschule der allerbeste gewesen sein.

Der Herr Lehrer fragt, ob ich auch in die Kirche gehe. Natürlich gehe ich in die Kirche, denn jetzt hat der Pfarrer hier einen Hilfsprediger erhalten, und der predigt, daß den Leuten in der Kirche angst und bange wird, und es ist eine Freude, ihn zu hören. Er ist von der neuen Religion, die sie in Kristiania haben, und die Leute behaupten, er sei zu streng, aber das ist ihnen ganz gesund.

Augenblicklich lernen wir viel Geschichte, die wir vorher noch nicht gehabt haben, und es ist seltsam, was alles in der Welt geschehen ist und besonders bei uns. Denn wir haben immer und immer gesiegt, außer wenn wir geschlagen wurden, aber dann sind wir immer viel, viel kleiner gewesen. Jetzt sind wir frei, so frei wie kein andres Volk außer Amerika, aber da sind sie nicht glücklich. Und unsere Freiheit sollen wir über alles lieben.

Jetzt will ich für diesmal schließen, denn ich habe sehr viel geschrieben. Der Herr Lehrer liest Euch wohl den Brief vor, und wenn er für Euch antwortet, soll er mir auch von allerlei Leuten was Neues erzählen; denn das tut er nie. Nun seid vielmals gegrüßt von Eurem dankbaren Sohn

Ö. Thoresen.

Liebe Eltern!

Jetzt muß ich Euch mitteilen, daß hier Examen gewesen ist, und ich habe mit vorzüglich in vielen Fächern bestanden, mit sehr gut im Schreiben und Feldmessen, und mit ziemlich gut im norwegischen Aufsatz. Das kommt daher, sagt der Direktor, daß ich nicht genug gelesen habe, und er hat mir ein paar Bücher von Ole Vig geschenkt, die ganz wundervoll sind, denn ich verstehe alles. Der Direktor ist sehr gut zu mir; er erzählt uns so vieles. Alles hierzulande ist so klein im Vergleich zum Ausland; wir können fast gar nichts und müssen alles von Schottland und der Schweiz lernen; und von den Holländern lernen wir den Gartenbau. Viele gehen in diese Länder, und auch in Schweden ist man viel tüchtiger als bei uns, und da ist der Direktor selbst auch gewesen. Jetzt bin ich schon bald ein Jahr hier, und ich dachte, ich hätte schon viel gelernt, aber als ich hörte, was die Schüler können, die die Abschlußprüfung bestanden haben, und dann denke, daß die auch noch rein gar nichts können, wenn sie sich mit den Ausländern messen, dann werde ich ganz traurig. Und dann ist der Boden hier in Norwegen so schlecht gegen den im Auslande; es lohnt sich gar nicht, etwas damit anzufangen. Außerdem mag unser Volk sich auch nichts zeigen lassen. Wenn das Volk aber auch wollte, und wenn der Boden auch besser wäre, so hätten sie ja doch kein Geld, um ihn richtig zu bebauen. Es ist merkwürdig, daß alles noch so gegangen ist, wie es ging.

Jetzt bin ich in der obersten Klasse, und da bleibe ich ein Jahr, bis ich fertig bin; aber die meisten von meinen Kameraden sind fort, und ich habe Heimweh. Mir ist zu Mut, als wenn ich ganz allein in der Welt stände, wenn es auch durchaus nicht wahr ist; aber es ist so merkwürdig, wenn man lange fortgewesen ist. Ich dachte früher, ich würde hier sehr tüchtig werden, aber damit sieht es schlecht aus.

Was soll ich wohl anfangen, wenn ich hier fortkomme? Zuerst will ich natürlich nach Hause, und später muß ich mir dann wohl eine Stelle suchen, aber zu weit weg darf's nicht sein.

Lebt nun wohl, liebe Eltern! Grüßt alle, die nach mir fragen, und sagt ihnen, es ginge mir gut, aber ich hätte Heimweh.

  Euer dankbarer Sohn
  Öyvind Thoresen Pladsen.

Lieber Herr Lehrer!

Hierdurch bitte ich Dich, den beigelegten Brief abzugeben und keinem Menschen davon zu sagen. Und wenn Du nicht willst, so verbrenne ihn bitte.

Öyvind Thoresen Pladsen.

  An die
  ehrsame Jungfrau Margit, Nordistuen, Tochter des Knut
  auf dem Oberen Heidehof.

Du wirst Dich gewiß sehr wundern, einen Brief von mir zu bekommen. Das
brauchst Du aber nicht, denn ich wollte nur fragen, wie es Dir geht.
Darüber mußt Du mich möglichst bald und in jeder Hinsicht unterrichten.
Von mir selbst kann ich melden, daß ich in einem Jahr hier fertig bin.

  Ergeben
  Öyvind Pladsen.

  An Herrn Öyvind Pladsen
  auf der Ackerbauschule.

Deinen Brief habe ich richtig vom Schulmeister bekommen, und ich will antworten, weil Du mich darum bittest. Aber ich habe Angst davor, weil Du so gelehrt bist, und ich habe einen Briefsteller, aber der will nicht passen. So muß ich's denn selbst versuchen, und Du mußt den guten Willen für die Tat nehmen, aber Du darfst ihn niemandem zeigen, denn dann bist Du nicht der, für den ich Dich halte. Du sollst ihn auch nicht aufheben, weil ihn dann doch leicht einer finden kann, sondern Du sollst ihn verbrennen, und das mußt Du mir versprechen. Ich wollte Dir über so vieles schreiben, aber ich wage das nicht so. Wir haben eine gute Ernte gehabt, die Kartoffeln stehen hoch im Preis, und hier auf den Heidehöfen sind reichlich gewachsen. Aber ein Bär hat im Sommer bös im Viehstand gehaust; bei Ole auf dem Niederhof hat er zwei Rinder zerrissen, und unserm Häusler hat er eins so zugerichtet, daß es geschlachtet werden mußte. Ich webe an einem sehr großen Tuch; es ist ähnlich wie das schottische Zeug, und das ist sehr schwierig. Und jetzt will ich Dir erzählen, daß ich noch immer zu Hause bin, und daß manchen Leuten das gar nicht recht ist. Jetzt weiß ich für diesmal nichts mehr zu schreiben, und deshalb leb' wohl.

Margit, Tochter des Knut.

Nachschrift.

Du mußt diesen Brief sofort verbrennen.

  An den
  Ackerbauschüler Öyvind Thoresen Pladsen!

Ich habe Dir immer gesagt, Öyvind, wer mit Gott wandert, hat das beste Teil erwählt. Jetzt aber sollst Du meinen Rat hören, den nämlich: daß Du Dir Dein Leben nicht mit Sehnsucht und allerlei Ungemach ausfüllst, sondern auf Gott vertraust und Dein Herz sich nicht in Sehnsucht verzehren läßt; denn dann hast Du einen anderen Gott neben ihm. Ferner will ich Dir mitteilen, daß es Deinem Vater und Deiner Mutter gut geht; ich selbst habe Schmerzen in der Hüfte; da meldet sich der Krieg wieder und alles, was man dabei durchgemacht hat. Was die Jugend sät, wird das Alter ernten, am Geist wie am Körper, der mir brennt und schmerzt und mich zum Wehklagen bringen will. Aber klagen soll das Alter nicht, denn aus Wunden rinnt Weisheit, und die Schmerzen predigen Geduld, auf daß der Mensch stark werde zu seiner letzten Reise. Heute habe ich aus mancherlei Gründen zur Feder gegriffen, zuerst und zunächst um Margits willen, die ein gottesfürchtiges Mädchen geworden ist, aber leichtfüßig wie ein Renntier und voll mancherlei Pläne. Denn sie möchte sich wohl gern an eins halten, kann es aber ihrer Natur wegen nicht; doch ich habe oft erlebt, daß unser Herrgott mit so schwachen kleinen Herzen glimpflich und langmütig umgeht und sie nicht über Vermögen in Versuchung führt, auf daß sie nicht in Stücke brechen; denn die sind sehr zerbrechlich. Den Brief habe ich ihr richtig gegeben, und sie verbarg ihn vor allen, außer vor ihrem eigenen Herzen. Und wenn der liebe Gott dieser Sache gnädig ist, so habe ich nichts dagegen; denn Margit gefällt den jungen Burschen wohl, wie man deutlich sieht, und sie ist reich an irdischen Gütern, wie auch trotz aller Unbeständigkeit an himmlischen. Denn die Gottesfurcht in ihrem Herzen ist wie Wasser in einem seichten Teich; es ist da, wenn's regnet, aber es verschwindet, wenn die Sonne scheint. Jetzt wollen meine Augen nicht mehr, denn sie sehen zwar gut in die Ferne, aber in der Nähe schmerzen sie und tränen. Zum Schluß will ich Dir noch sagen, Öyvind: was Du auch erstrebst und was Du anfängst, Deinen Gott nimm mit; denn es steht geschrieben: Es ist besser eine Hand voll mit Ruhe, denn beide Fäuste voll mit Mühe und Jammer. (Pred. Sal. 4, 6.)

  Dein alter Lehrer
  Baard Andersen Opdal.

  An die
  ehrsame Jungfrau Margit, Tochter des Knut vom Heidehof.

Schönen Dank für Deinen Brief; ich habe ihn gelesen und verbrannt, wie Du gewollt hast. Du schreibst von vielem, aber gar nichts von dem, was ich gern wissen wollte. Eher darf ich auch von etwas Gewissem nicht schreiben, bis ich nicht weiß, wie es Dir in allen Stücken geht. In dem Brief vom Schulmeister steht nichts, worauf man bauen könnte, aber er lobt Dich, und doch sagt er, Du bist unbeständig. Das warst Du schon immer. Jetzt weiß ich nicht, was ich denken soll, und deshalb mußt Du mir schreiben; denn ich habe keine Ruhe, bis Du nicht geschrieben hast. In dieser Zeit denke ich immer dran, wie Du am letzten Abend auf den Berg kamst, und was Du da sagtest. Mehr will ich diesmal nicht schreiben, und deshalb leb' wohl.

  Ergeben
  Öyvind Pladsen.

  An
  Herrn Öyvind Thoresen Pladsen.

Der Schulmeister hat mir wieder einen Brief von Dir übergeben, und ich habe ihn jetzt gelesen. Aber ich verstehe ihn nicht recht, und das kommt wohl daher, daß ich nicht gelehrt genug bin. Du willst wissen, wie es mir in allen Stücken geht. Nun, ich bin gesund und munter, und mir fehlt nicht das geringste. Ich mag gern essen, besonders wenn es Milchreis gibt. Nachts schlafe ich, und zuweilen tags auch noch. Ich habe viel getanzt in diesem Winter, denn hier ist viel los gewesen, und es ging immer sehr lustig zu. Ich gehe in die Kirche, wenn nicht zuviel Schnee liegt; aber im Winter lag er sehr hoch. Jetzt weißt Du doch wohl alles, und wenn nicht, so bleibt nichts weiter übrig, als daß Du mir noch einmal schreibst.

Margit, Tochter des Knut.

An die ehrsame Jungfrau Margit, Tochter des Knut vom Heidehof.

Deinen Brief habe ich bekommen, aber mir scheint, Du willst mich nicht klüger werden lassen. Vielleicht ist das ja auch eine Antwort, ich weiß es nicht. Ich darf von dem, was ich schreiben möchte, kein Wort sagen, denn ich kenne Dich ja nicht. Aber vielleicht kennst Du mich auch nicht.

Du mußt nicht glauben, daß ich noch der weiche Käse bin, aus dem Du das Wasser herausdrücktest, als ich dasaß und Dich tanzen sah. Ich habe seit der Zeit auf manchem Brett zum Trocknen gelegen. Ich bin auch nicht mehr wie die langhaarigen Hunde, die gleich die Ohren hängen lassen und den Schwanz einziehen, wie ich es früher getan; jetzt lasse ich es an mich herankommen.

Dein Brief war sehr spaßig; aber er spaßte, wo er lieber nicht hätte spaßen sollen; denn Du verstandest mich recht gut, und da hättest Du wissen müssen, daß ich nicht zum Spaß fragte, sondern weil ich in der letzten Zeit nur an das gedacht habe, wonach ich fragte. Ich war in großer Not und wartete, und da bekam ich als Antwort bloß Albernheiten und Gelache.

Leb' wohl, Margit vom Heidehof, ich will nicht mehr, wie bei jenem Tanz, zuviel nach Dir schauen. Mögest Du gut essen und schön schlafen und Dein neues Tuch fertig weben, und schaufle vor allen Dingen den Schnee weg, der vor der Kirchtür liegt.

  Ergeben
  Öyvind Thoresen Pladsen.

  An den
  Ackerbauschüler Öyvind Thoresen,
  Ackerbauschule.

Trotz meines hohen Alters und meiner schwachen Augen und der Schmerzen in meiner rechten Hüfte muß ich doch dem Drängen der Jugend nachgeben; denn sie braucht uns Alten, wenn sie sich festgerannt hat. Sie bittet und jammert, bis sie wieder flott ist, aber dann rennt sie gleich wieder davon und hört nicht mehr auf uns.

Also die Margit; sie schmeichelt mit vielen süßen Worten, ich möge zur Gesellschaft mitschreiben, denn sie traut sich nicht allein zu schreiben. Ich habe Deinen Brief gelesen; sie dachte eben, sie habe Jon Hatlen oder sonst einen Waschlappen vor sich, aber nicht einen, den Schulmeister Baard erzogen hat; und nun drückt sie der Schuh. Aber Du bist zu streng gewesen; denn es gibt Mädchen, die scherzen, um nicht weinen zu müssen, und zwischen beidem ist kein Unterschied. Aber es gefällt mir, daß Du das Ernste ernst nimmst, denn sonst könntest Du über das, was Scherz ist, nicht lachen.

Daß Euer Sinnen aufeinander gerichtet ist, scheint mir jetzt aus vielem ersichtlich. An ihr habe ich oft gezweifelt, denn sie war wie eine Wetterfahne; aber jetzt weiß ich, daß sie Jon Hatlen doch abgewiesen hat, worüber ihr Großvater in hellen Zorn geraten ist. Sie war glücklich, als Dein Schreiben kam, und wenn sie scherzte, so tat sie es nicht aus böser Absicht, sondern aus lauter Freude. Sie hat viel erdulden müssen, und das hat sie getan, um auf den zu warten, nach dem ihr Sinn stand. Und jetzt willst Du nichts von ihr wissen und stößt sie zurück wie ein unartiges Kind.

Das mußte ich Dir sagen, und den Rat möchte ich Dir noch geben, daß Du
Dich mit ihr wieder aussöhnst, denn Streit gibt es auch doch genug in
der Welt. Ich bin wie jener Greis, der drei Geschlechter gesehen hat.
Ich kenne die Torheiten und ihren Lauf.

Von Vater und Mutter soll ich Dich grüßen, sie warten sehnlichst auf Dich. Aber davon habe ich Dir nicht eher schreiben wollen, damit Du kein Herzweh bekämst. Deinen Vater kennst Du noch gar nicht; denn er ist wie ein Baum, der keinen Laut von sich gibt, bis er gefällt wird. Aber wenn Dir einmal etwas zustößt, dann wirst Du ihn kennen lernen, und Du wirst staunen wie einer, der einen Schatz findet. Er ist gedrückt und wortkarg in weltlichen Dingen gewesen, Deine Mutter aber hat sein Gemüt von der weltlichen Angst frei' gemacht, und jetzt klärt sich sein Lebenstag auf.

Nun werden meine Augen trüb, und die Hand will nicht mehr. Also befehle ich Dich dem, dessen Auge immerdar wacht und dessen Hände nimmer müde werden.

Baard Andersen Opdal.

An Öyvind Pladsen.

Du bist wohl böse auf mich, und das tut mir sehr weh. Denn so habe ich es nicht gemeint; ich meinte es gut. Ich weiß, daß ich oft nicht so gegen Dich gewesen bin, wie ich hätte sein sollen, und deshalb will ich jetzt an Dich schreiben, aber Du darfst es keinem Menschen zeigen. Einmal ist mir's ergangen, wie ich's wünschte, und da war ich nicht nett; aber jetzt will keiner mehr was von mir wissen, und mir geht es recht schlecht. Jon Hatlen hat ein Spottlied auf mich gemacht, und das singen alle Burschen, und ich kann mich auf keinem Tanz mehr blicken lassen. Die beiden Alten wissen davon, und ich bekomme böse Worte zu hören. Ich aber sitze allein und schreibe, und Du darfst es keinem zeigen.

Du hast viel gelernt und könntest mir einen Rat geben, aber Du bist so weit fort. Ich bin oft unten bei Deinen Eltern gewesen und habe mit Deiner Mutter geplaudert, und wir sind gute Freunde geworden; aber ich darf nichts sagen, denn Du hast so sonderbar geschrieben. Der Schulmeister macht sich jetzt über mich lustig, und er weiß nichts von dem Spottlied, denn kein einziger im ganzen Dorf wagt ihm so etwas vorzusingen. Jetzt bin ich allein und habe keinen, mit dem ich sprechen kann; ich denke daran, als wir noch Kinder waren, und Du so nett zu mir warst, und ich immer auf Deinem Schlitten sitzen durfte. Und da möchte ich wünschen, daß ich wieder ein Kind wäre.

Ich darf Dich nicht mehr bitten, mir zu antworten; ich darf es nicht. Aber wenn Du mir nur noch ein einziges Mal schreiben wolltest, so würde ich Dir das nie vergessen, Öyvind.

Margit, Tochter des Knut.

Lieber Öyvind, verbrenne diesen Brief; ich weiß gar nicht, ob ich ihn überhaupt abschicken darf.

Liebe Margit!

Dank für Deinen Brief; den hast Du in einer guten Stunde geschrieben. Jetzt will ich Dir auch sagen, Margit, daß ich Dich so lieb habe, daß ich es beinahe hier nicht mehr aushalten kann, und wenn Du mich ebenso lieb hast, dann sollen Jons Spottlieder und alle bösen Worte bloß Blätter sein, wie sie an jedem Baum hängen. Seit ich Deinen Brief bekommen habe, bin ich ein neuer Mensch, denn es ist doppelte Kraft in mich gekommen, und ich fürchte mich vor nichts in der Welt. Als ich den vorigen Brief abgeschickt hatte, tat es mir so leid, daß ich fast krank davon geworden bin. Und nun sollst Du hören, was das für eine Folge hatte. Der Direktor nahm mich beiseite und fragte mich, was mir fehle; er glaubte, ich arbeitete zu viel. Da sagte er mir, wenn mein Jahr hier zu Ende sei, sollte ich noch eins hier bleiben und ganz umsonst; ich solle ihm hier und da an die Hand gehen, er aber wollte mich noch in vielem unterrichten. Da dachte ich, Arbeit sei das einzige, das mich aufrecht halten könne, und ich bedankte mich vielmals; und ich bereue es auch nicht, wenn ich jetzt auch Sehnsucht nach Dir habe; denn je länger ich hier bin, desto mehr Recht habe ich später, um Dich zu werben. Wie froh bin ich jetzt! Ich arbeite für drei, und ich will nie in irgend etwas zurückstehen. Ich will Dir aber ein Buch schicken, das ich jetzt lese, denn da steht viel von Liebe drin. Ich lese immer abends darin, wenn die andern schlafen, und dann lese ich auch Deinen Brief immer wieder durch. Hast Du Dir vorgestellt, wenn wir uns wiedersehen? Das male ich mir so oft aus, und das mußt Du auch versuchen und sollst sehen, wie schön es ist. Ich freue mich, daß ich soviel geschrieben und gearbeitet habe, trotzdem es oft schwer war; aber jetzt kann ich Dir alles sagen, was ich mag, und lache dabei in meinem Sinn.

Ich will Dir viele Bücher zu lesen geben, damit Du sehen sollst, wieviel Widerwärtigkeiten alle gehabt haben, die sich innig lieb hatten, und daß sie lieber aus Kummer gestorben sind, als daß sie voneinander gelassen haben. Und so wollen wir es auch halten, und zwar freudigen Herzens. Wohl dauert es fast zwei Jahre, bis wir uns sehen, und noch länger, bis wir uns kriegen; aber mit jedem Tag, der vergeht, ist es doch ein Tag weniger; daran wollen wir bei unserer Arbeit denken.

Nächstes Mal muß ich Dir über vieles schreiben, heut abend aber habe ich kein Papier mehr, und die andern schlafen alle. Darum will ich auch zu Bett gehen und an Dich denken, bis ich einschlafe.

  Dein Freund
  Öyvind Pladsen.

Neuntes Kapitel

Eines Sonntags im Hochsommer ruderte Tore Pladsen über den Fjord, um seinen Sohn zu holen, der am Nachmittage von der Ackerbauschule heimkommen sollte, denn jetzt war er fertig. Die Mutter hatte ein paar Tage lang eine Scheuerfrau gehabt, alles war geputzt und gesäubert, die Kammer war nach langer Zeit wieder in Stand gesetzt, es war ein Ofen hineingestellt; da sollte Öyvind wohnen. Heute brachte die Mutter frisches Grün hinein, holte reines Leinzeug heraus, machte das Bett zurecht und schaute zwischendurch immer einmal aus, ob noch kein Boot dahergerudert komme. Unten in der Stube war der Tisch gedeckt, aber immer fehlte noch etwas, oder die Fliegen waren wegzujagen, und oben in der Kammer lag noch Staub, und immer wieder Staub. Noch war kein Boot zu sehen. Sie lehnte sich aufs Fensterbrett und sah hinaus; da hörte sie dicht neben sich Schritte vom Wege her und wandte den Kopf; es war der Schulmeister, der langsam, auf einen Stock gestützt, herunterkam, denn mit seiner Hüfte ging es schlecht. Die klugen Augen blickten ruhig umher; er blieb stehen und ruhte sich aus und nickte ihr zu: "Na, noch nicht da?"—"Nein, sie müssen aber jeden Augenblick kommen."—"Schönes Wetter zum Heuen heut!"—"Aber zu heiß für alte Leute zum Gehen."—Der Schulmeister sah sie schmunzelnd an. "Sind junge Leute heut schon hier gewesen?"—"Freilich, sind aber wieder fortgegangen."—"Ja, gewiß, ja; die treffen sich wohl heut abend irgendwo."—"Kann schon sein, ja; Tore sagt, sie sollen sich nicht bei ihm im Hause treffen, bis die Alten ihre Zustimmung gegeben haben."—"Sehr richtig, sehr richtig."—Nach einer Weile rief die Mutter: "Jetzt glaub' ich beinahe, sie kommen." Der Schulmeister spähte lange in die Ferne. "Ja, das sind sie"; sie trat vom Fenster zurück, und er ging ins Haus. Als er sich ein bißchen ausgeruht und erfrischt hatte, gingen sie langsam an die See hinunter, während das Boot in voller Fahrt heranschoß, denn Vater und Sohn ruderten beide. Die Ruderer hatten die Jacken ausgezogen, es sprühte weiß unter den Rudern, und bald war das Boot dicht bei ihnen, Öyvind wandte den Kopf und blickte hinauf; er gewahrte die beiden an der Landungsstelle, zog die Ruder ein und rief: "Guten Tag, Mutter,—guten Tag, Schulmeister!"—"Hat der 'ne Mannsstimme bekommen!" sagte die Mutter mit strahlendem Gesicht. "So was, so was! er ist noch gerade so hellblond", fügte sie hinzu. Der Schulmeister holte das Boot heran, der Vater zog die Ruder ein, Öyvind sprang an ihm vorbei an Land, gab erst der Mutter die Hand und dann dem Schulmeister, lachte und lachte und fing, ganz gegen Bauernart, gleich in einem reißenden Strom an zu erzählen vom Examen, von der Reise, von dem Empfehlungsschreiben des Direktors und günstigen Anerbietungen. Er fragte nach der Ernte und nach allen Bekannten, außer nach einer; der Vater wollte das Gepäck aus dem Boot tragen, aber weil er auch etwas hören wollte, dachte er, das habe ja auch noch Zeit, und ging mit. Und so zogen sie ihres Wegs; Öyvind lachte und erzählte, und seine Mutter lachte auch, denn sie wußte nicht, was sie sagen sollte. Der Schulmeister schlenderte langsam daneben und sah ihn verständnisvoll an; der Vater ging bescheiden in etwas größerer Entfernung. Und so kamen sie heim. Er freute sich über alles, was er sah; zuerst darüber, daß das Haus frisch gestrichen, und daß die Mühle ausgebaut war, dann darüber, daß die Butzenscheiben in Stube und Kammer herausgenommen waren, weißes Glas an Stelle des grünen eingesetzt und der Fensterrahmen vergrößert war. Als er hineintrat, kam ihm alles so merkwürdig klein vor, wie er sich es gar nicht vorgestellt hatte, aber so lustig. Die Uhr gackerte wie eine fette Henne, die geschnitzten Stühle sahen aus, als wollten sie jeden Augenblick zu reden anfangen; jede Tasse auf dem gedeckten Tisch kannte er; der weißgetünchte Herd lächelte ihm ein Willkommen zu; grünes Laub hing duftend an den Wänden, Wacholderbüschel waren auf den Fußboden gestreut und verkündeten den Festtag. Sie setzten sich zum Essen, aber es wurde nicht viel daraus, denn er schwatzte unaufhörlich. Sie betrachteten ihn sich jetzt mit mehr Muße, sahen die Veränderungen und die Ähnlichkeiten, sie achteten auf alles, was neu an ihm war, bis hin zu dem blauen Tuchanzug, den er trug. Einmal, als er gerade eine lange Geschichte von einem seiner Kameraden erzählt hatte und endlich aufhörte, so daß eine kleine Pause entstand, sagte der Vater: "Ich verstehe beinahe kein Wort von dem, was Du sagst, Junge, Du sprichst so übermäßig schnell."—Alle lachten herzlich, und Öyvind nicht am wenigsten; er wußte recht gut, daß es sich so verhielt, aber es war ihm nicht möglich, langsamer zu sprechen. Alles Neue, was er während seiner langen Abwesenheit gesehen und gelernt hatte, hatte seine Phantasie und seinen Verstand gepackt und ihn aus der gewohnten Haltung aufgerüttelt, so daß die Kräfte, die lange geruht hatten, aufgescheucht wurden, und der Kopf in unablässiger Arbeit war. Weiter fiel ihnen auf, daß er sich angewöhnt hatte, ganz willkürlich zwei, drei Worte zu wiederholen vor lauter Geschäftigkeit, fast, als stolpere er über sich selbst. Manchmal klang's geradezu komisch, aber dann lachte er, und vergessen war es. Der Schulmeister und der Vater saßen da und lauerten, ob er wohl seine alte Umsicht verloren habe, aber es schien nicht so: er dachte an alles und er erinnerte auch daran, daß sie wohl das Boot ausladen müßten; er packte gleich seine Sachen aus und hängte sie hin, zeigte seine Bücher, seine Uhr und alles Neue, und alles sei gut imstande, sagte seine Mutter. Über sein kleines Gemach freute er sich unbändig; er wolle fürs erste zu Hause bleiben, sagte er, beim Heuen helfen und lernen. Wo er nachher hinwollte, wußte er noch nicht, aber das war ja auch noch gleich. Sein Denken hatte eine erfrischende Kraft und Raschheit bekommen, und seine Ausdrucksweise eine Lebendigkeit, die jedem wohltut, der Jahr für Jahr bestrebt ist, sich zurückzuhalten. Der Schulmeister fühlte sich um zehn Jahre verjüngt.

"So weit wären wir jetzt glücklich", sagte er strahlend, als er aufbrach.

Als die Mutter ihn wie gewöhnlich hinausbegleitet hatte, rief sie Öyvind in seine Kammer. "Es wartet jemand auf Dich um neun", flüsterte sie.—"Wo?"—"Auf dem Berge."

Öyvind sah nach der Uhr; es ging auf neun. Drinnen konnte er es nicht abwarten, sondern er ging hinaus, klomm den Berg empor, blieb oben stehen und hielt Umschau. Das Hausdach lag dicht unter ihm; die Büsche auf dem Dach waren groß geworden, all die jungen Bäume um ihn herum waren auch gewachsen, und er kannte jeden einzigen. Er sah den Weg hinunter, der am Berg entlang führte und an der andern Seite vom Walde begrenzt war. Der Weg lag grau und eintönig da, der Wald aber trug Laub mancherlei Art; die Bäume waren hoch und gerade gewachsen, in der kleinen Bucht lag ein Fahrzeug mit schlaffen Segeln; es war mit Brettern beladen und wartete auf Wind. Er sah aufs Wasser hinaus, auf dem er fortgezogen und jetzt wieder heimgekehrt war; es lag still und blank da, ein paar Seevögel schwebten drüber hin, lautlos, denn es war spät. Der Vater kam von der Mühle her, blieb vor der Haustür stehen und blickte gerade wie sein Sohn ins Land, dann ging er zum Strand hinunter, um das Boot für die Nacht zu bergen. Die Mutter kam aus der Seitentür heraus, sie war in der Küche gewesen, und sie sah zum Berge hinauf, als sie über den Hof ging, um den Hühnern Futter zu bringen; sie sah noch einmal hinauf und summte vor sich hin. Er setzte sich und wartete; das Gestrüpp um ihn war so dicht geworden, daß er nicht drüber wegsehen konnte, aber er lauschte auf das kleinste Geräusch. Erst waren es nur Vögel, die aufflatterten und ihn neckten, dann ein Eichkätzchen, das von Baum zu Baum sprang. Schließlich knackte es weiter hinten, und nach einem Weilchen knackte es wieder. Er stand auf, das Herz klopfte ihm, und das Blut schoß ihm ins Gesicht. Da raschelte es in den Büschen dicht neben ihm, aber es war nur ein großer zottiger Hund, der ihn anblickte, auf drei Beinen stehen blieb und sich nicht rührte. Das war der Hund vom Oberen Heidehof, und dicht hinter ihm knackte es wieder; der Hund drehte den Kopf und wedelte mit dem Schwanz; da kam Margit.

Ein Busch hakte sich in ihrem Kleide fest, sie drehte sich um und machte ihn los, und dann erst konnte er sie sehen. Ihr Kopf war unbedeckt und das Haar aufgesteckt, wie es die Mädchen an Werktagen tragen; sie hatte ein grobes kariertes Kleid an ohne Ärmel und um den Hals nur einen umgelegten Leinenkragen; sie hatte sich geradenwegs von der Feldarbeit fortgeschlichen und hatte sich nicht erst putzen können. Jetzt sah sie schräg in die Höhe und lächelte; die weißen Zähne und die halbgeschlossenen Augen blitzten. So stand sie ein Weilchen da und zupfte an ihrem Kleide, dann aber kam sie auf ihn zu und wurde röter bei jedem Schritt. Er ging ihr entgegen und nahm ihre Hand in seine beiden. Sie sah zu Boden, und so standen sie einander gegenüber.

"Ich dank' Dir für all Deine Briefe", war das erste, was er sagte, und als sie da ein klein bißchen aufsah und lachte, merkte er, daß sie das lustigste Hexlein war, dem man je im Walde begegnen konnte; aber doch war er befangen, und sie war es nicht minder. "Wie groß Du geworden bist!" sagte sie und meinte eigentlich etwas ganz anderes. Sie wagte allmählich, ihn genauer anzusehen und lachte immer mehr, und er lachte auch, aber sie sagten kein Wort. Der Hund hatte sich an den Abhang gesetzt und schaute auf das Gehöft hinunter. Tore sah den Hundekopf vom Wasser aus und konnte sich absolut nicht denken, was das da oben auf dem Berge wohl sein könnte.

Die beiden aber hatten sich jetzt losgelassen und fingen bei kleinem zu erzählen an. Und als er erst angefangen hatte, kam er bald so ins Fahrwasser, daß sie über ihn lachen mußte. "Ja, siehst Du, das ist immer so, wenn ich mich so freue, so richtig freue, siehst Du; und als zwischen uns beiden alles gut wurde, da war's, als wenn ein Schloß in mir aufsprang, aufsprang, siehst Du." Sie lachte. Nach einer Weile sagte sie: "Die Briefe, die Du mir geschrieben hast, kann ich alle beinah auswendig."—"Ich Deine auch! Aber Du hast immer nur so kurz geschrieben."—"Weil Du immer so lange Briefe haben wolltest."—"Und wenn ich wollte, wir sollten mehr von dem einen schreiben, dann rücktest Du immer aus."—"Ich bin am hübschesten, wenn man bloß den Schwanz sieht", sagt die Waldhexe.—"Aber Du hast mir nie geschrieben, wie Du Jon Hatlen losgeworden bist."—"Ich hab' gelacht."—"Was?"—"Gelacht; weißt Du nicht, was lachen ist?"—"Doch, lachen kann ich."—"Mach' mal vor!"—"Na, so was! Ich muß doch erst was zum Lachen haben."—"Das brauche ich nicht, wenn ich glücklich bin."—"Bist Du jetzt glücklich, Margit?"—"Lache ich denn etwa?"—"Ja, das tust Du!"—Er faßte ihre beiden Hände und schlug sie ineinander, klatsch, klatsch, und sah sie dabei an. Da fing der Hund zu knurren an, seine Borsten sträubten sich, und er bellte nach unten, lauter und lauter, zuletzt ganz wütend. Margit lief erschrocken weg, Öyvind aber trat vor und sah hinunter. Das Bellen galt seinem Vater; er stand unten dicht am Berge, die Hände in den Taschen und sah zu dem Hund hinauf. "Du bist auch da oben? Was hast Du denn da für einen verrückten Köter?"—"Das ist ein Hund vom Heidehof", antwortete Öyvind etwas verlegen. "Wie zum Teufel kommt der da hin?"—Die Mutter aber sah aus dem Küchenfenster, denn sie hatte den fürchterlichen Lärm gehört; sie ahnte den Zusammenhang, lachte und sagte: "Der Hund treibt sich immer hier herum; das ist weiter nichts Besonderes."—"Das ist aber ein ganz gefährlicher Hund."—"Er ist nicht so schlimm, wenn man ihn streichelt", sagte Öyvind und liebkoste den Hund; da wurde er still,—er knurrte nur noch. Der Vater kehrte arglos um, und die beiden waren vor Entdeckung sicher.

"Das ging noch gut ab", sagte Margit, als sie wieder zusammen waren.—"Es kommt noch schlimmer, meinst Du?"—"Ich weiß, daß uns jemand belauern wird."—"Dein Großvater?"—"Natürlich."—"Aber er soll uns nichts anhaben!"—"Nicht so viel."—"Versprichst Du mir das?"—"Ja, das verspreche ich, Öyvind."—"Wie hübsch Du bist, Margit!"—"Das sagte der Fuchs auch zum Raben und stahl ihm den Käse."—"Ich will eben den Käse auch gern haben."—"Du kriegst ihn aber nicht."—"Ich nehme ihn mir aber." Sie drehte den Kopf weg, und er bekam den Käse nicht. "Jetzt will ich Dir mal was sagen, Öyvind!" sie sah ihn von der Seite an. "Nun?"—"Wie häßlich Du geworden bist!"—"Du wirst mir den Käse trotzdem geben."—"Nein, das werde ich nicht", und sie wandte sich wieder ab.

"Ich muß jetzt gehen, Öyvind."—"Ich begleite Dich."—"Aber nur durch den Wald; nachher kann Großvater Dich sehen."—"Ja, nur durch den Wald. Aber warum läufst Du denn so?"—"Wir können hier doch nicht nebeneinander gehen."—"Aber dann ist es doch keine Begleitung!"—"So fang mich doch!"—Sie lief davon, er hinterher, bald blieb sie hängen, und er fing sie.—"Habe ich Dich jetzt für immer gefangen, Margit?" er hatte den Arm um sie gelegt.—"Ich glaube", sagte sie leise und lachte, aber dann errötete sie und wurde ernst. "Jetzt muß es aber gehen", dachte er, und er zog sie an sich und wollte sie küssen; doch sie steckte den Kopf unter seinen Arm, lachte und lief ihm davon. Zwischen den letzten Bäumen blieb sie aber stehen. "Wann treffen wir uns wieder?" fragte sie leise. "Morgen, morgen", rief er ebenso zurück. "Ja, morgen!"—"Leb' wohl!" sie lief weiter. "Margit!" sie stand still.—"Du, das war fein, daß wir uns zuerst oben auf dem Berge trafen."—"Ja, das war's!" und sie lief wieder weiter. Er sah ihr lange nach; der Hund lief ihr voran und bellte, sie hinterher und beschwichtigte ihn. Er kehrte um, nahm seine Mütze und warf sie in die Luft, fing sie und warf sie noch einmal in die Höhe. "Jetzt, glaube ich, wirklich, ich fange an, froh zu werden", sagte der Bursch und ging singend heimwärts.

Zehntes Kapitel

Eines Nachmittags gegen Ende des Sommers, als die Mutter mit einer Magd Heu zusammenrechte, und der Vater und Öyvind es einbrachten, kam ein barfüßiges, barhäuptiges Bürschchen den Hügel hinuntergesprungen, lief über die Wiese auf Öyvind zu und gab ihm einen Zettel. "Du kannst fein laufen", sagte Öyvind. "Ich krieg's auch bezahlt", antwortete der Junge. Auf die Frage, ob er Antwort haben wolle, sagte er nein und trat schleunigst den Rückzug über den Berg an, denn es komme einer hinter ihm her, sagte er. Öyvind machte mit vieler Mühe das Zettelchen auf; es war in einen Streifen zusammengefaltet, dann geknifft und dann zugesiegelt, und auf dem Zettel stand:

"Jetzt ist er im Anmarsch; aber es geht langsam. Lauf in den Wald und versteck' Dich!

Die Bewußte."

"Nein, das tu' ich nicht", dachte Öyvind und sah trotzig nach dem Hügel hinauf. Es dauerte auch nicht lange, da kam ein alter Mann dort oben zum Vorschein, verpustete sich, ging ein paar Schritte und verpustete sich wieder. Tore und seine Frau hielten mit der Arbeit inne und blickten hinauf. Tore lächelte, seine Frau aber wechselte die Farbe. "Kennst Du den?"—"Ja, den soll man wohl kennen."

Vater und Sohn fingen wieder an, ihr Heu einzutragen, und Öyvind wußte es so einzurichten, daß sie immer hintereinander hergingen. Der Alte oben auf dem Hügel kam langsam heran wie ein schwerer Wolkenschauer von Westen. Er war sehr groß und stark; weil er schlimme Füße hatte, mußte er mühsam Schritt für Schritt am Stock gehen. Er war jetzt schon so dicht dabei, daß sie ihn deutlich sehen konnten; er stand still, nahm die Mütze vom Kopf und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß ab. Sein Kopf war ganz kahl; er hatte ein rundes, runzliges Gesicht, kleine lebhafte, zwinkernde Augen, buschige Brauen und noch alle Zähne im Mund. Seine Stimme war scharf und kreischend, als gehe sie über Stock und Stein; doch ab und zu verweilte sie so recht behaglich auf dem r, schnarrte es ein paar Ellen lang und machte zugleich einen mächtigen Sprung. Er hatte in seiner Jugend für einen lustigen, etwas heißblütigen Menschen gegolten; auf seine alten Tage war er durch mancherlei Unannehmlichkeiten mißtrauisch und jähzornig geworden.

Tore und sein Sohn mußten noch verschiedene Male hin und her pendeln, bis Ole herangestelzt kam; sie wußten beide, daß er nichts Gutes im Schilde führte, aber um so drolliger war es, daß er nur so langsam herankam. Sie mußten beide ganz ernste Gesichter machen und ganz leise sprechen; doch auf die Dauer wirkte das komisch. Ein einziges zündendes Wort kann unter solchen Umständen zum Lachen reizen, zumal wenn mit dem Lachen eine Gefahr verbunden ist. Als er schließlich bloß noch ein paar Klafter weit fort war, die aber kein Ende nehmen wollten, sagte Öyvind trocken und leise: "Der Mann muß schwere Ladung haben", und mehr war nicht nötig. "Ich glaube, Du bist nicht recht klug", flüsterte der Vater, dem das Lachen nahe war.—"Hm, hm", räusperte sich Ole auf der Höhe. "Er bringt schon seine Kehle in Ordnung", flüsterte Tore. Öyvind kniete vor dem Heuhaufen hin, grub das Gesicht hinein und lachte; auch sein Vater bückte sich hinunter. "Komm in die Scheune", flüsterte er, lud sein Heu auf und trabte davon; Öyvind bog sich vor Lachen, nahm auch ein kleines Bündel, lief hinterher und warf sich auf die Tenne nieder. Der Vater war ein ernster Mann; aber brachte ihn einer zum Lachen, dann gluckste es erst ein bißchen in ihm, und dann kamen lange, abgebrochene Triller, bis sie sich zu einem einzigen langen Brüllton vereinigten, worauf dann Welle auf Welle mit immer längerem Schnaufen hervorbrach. Jetzt war er ins Fahrwasser gekommen; der Sohn lag auf dem Boden, der Vater stand dabei, und beide lachten, daß es schallte. Sie hatten immer mal zwischendurch solchen Lachtag; aber "diesmal kommt es sehr ungelegen", sagte der Vater. Schließlich wußten sie gar nicht, was werden sollte, denn der Alte mußte ja inzwischen da sein. "Ich gehe nicht 'raus," sagte der Vater, "ich habe nichts mit ihm zu schaffen."—"Ja, dann geh' ich auch nicht", sagte Öyvind.—"Hm—hm", hörten sie es draußen vor der Scheune. Der Vater drohte dem Burschen mit der Faust: "Du machst, daß Du 'rauskommst!"—"Ja, geh Du voran!"—"Willst Du gleich hingehen!"—"Ja, geh voran!" und sie klopften sich gegenseitig die Röcke ab und gingen mit ernsten Mienen hinaus. Als sie unten an die Scheunenbrücke kamen, sahen sie Ole an der Küchentür stehen, als besinne er sich; er hatte Mütze und Stock in einer Hand und trocknete sich mit dem Taschentuch den Schweiß von dem kahlen Schädel und zupfte auch die Borsten hinter den Ohren und im Nacken zurecht, daß sie wie Stacheln abstanden. Öyvind hielt sich dicht hinter dem Vater; dieser mußte also stehen bleiben, und um endlich ein Ende zu machen, sagte er mit sehr ernstem Gesicht: "Na, alte Leute noch auf den Beinen?" Ole drehte sich um, sah ihn scharf an und setzte die Mütze zurecht, bis er antwortete: "Ja, scheint so!"—"Du bist gewiß müde; willst Du nicht hereinkommen?"—"Ach, ich ruhe mich hier im Stehen aus; mein Geschäft dauert nicht lange."—Da klinkte jemand die Küchentür auf, zwischen der Frau in der Tür und Tore stand der alte Ole, den Mützenschirm tief über die Augen gezogen; denn seit er kein Haar mehr hatte, war ihm die Mütze zu groß geworden. Um sehen zu können, bog er den Kopf ganz hintenüber; den Stock hielt er in der rechten Hand, die linke stemmte er in die Seite, wenn er nicht damit gestikulierte; aber auch dann streckte er sie nur halb von sich und ließ sie in dieser Stellung, um gewissermaßen seiner Würde nichts zu vergeben. "Ist das Dein Sohn, der da hinter Dir steht?" fragte er mit rauher Stimme. "Ich denke."—"Öyvind heißt er, nicht?"—"Ja, er heißt Öyvind."—"Er ist auf einer Ackerbauschule da unten im Süden gewesen?"—"So was war's ja wohl."—"Na, das Mädel, meine Großtochter, die Margit, ja, die ist jetzt ganz verrückt geworden."—"Das wär' schlimm."—"Sie will nicht heiraten."—"Na nu?"—"Sie will keinen von den Bauernsöhnen, die sich um sie bemühen."—"Ach so!"—"Aber der da ist schuld dran."—"Soo?"—"Er hat ihr den Kopf verdreht; ja, der da, Dein Sohn Öyvind."—"Teufel auch!"—"Siehst Du, ich mag nicht, daß mir einer meine Pferde stiehlt, wenn ich sie in die Koppel bringe, und ich mag auch nicht, daß mir einer meine Töchter nimmt, wenn ich sie zum Tanz lasse, das mag ich ganz und gar nicht."—"Nein, das versteht sich!"—"Ich kann nicht hinterherlaufen; ich bin alt, ich kann nicht immerzu aufpassen."—"Nein, nein!"—"Siehst Du, bei mir muß alles seine Art haben; hier muß der Hauklotz stehen, und da die Axt liegen, und da das Messer, und da soll gekehrt werden, und da sollen sie das Holz hinwerfen, nicht vor die Tür, da in die Ecke, ja gerade dahin und nirgends anders. Ebenso: wenn ich zu ihr sage: nicht der, sondern jener,—dann soll es eben auch der sein—und nicht jener!"—"Ganz richtig."—"Aber so ist das nicht; drei Jahre lang hat sie nein gesagt, und seit drei Jahren können wir uns nicht mehr vertragen. Das ist schlimm; und wenn der da schuld dran ist, so kann ich ihm sagen, daß Du, sein Vater, es hörst: es nützt ihm alles nichts; es ist Schluß."—"Ja, ja." Ole sah Tore eine Weile an, dann sagte er: "Du bist ja so kurz angebunden."—"Länger ist die Wurst eben nicht!"

Da mußte Öyvind lachen, obwohl ihm eigentlich nicht danach zumut war. Aber bei freudigen Menschen liegt die Furcht immer an der Grenze des Lachens, und jetzt neigte er zum Lachen. "Worüber lachst Du?" fragte Ole kurz und scharf.—"Ich?"—"Lachst Du über mich?"—"Gott bewahre!" aber seine eigene Antwort reizte seine Lachlust noch mehr. Das sah Ole, und er wurde ganz wütend. Tore und Öyvind wollten es wieder gut machen durch ein ernstes Gesicht, und sie baten ihn, mit hineinzukommen; aber ein dreijahrelanger Ärger mußte sich Luft machen, und der ließ sich nicht eindämmen. "Du brauchst mich nicht zum Narren zu halten," fing er an, "ich bin in meinem Recht; ich sorge für das Glück meiner Enkelin, so gut ich es verstehe, und das Gefeixe eines Lümmels soll mich nicht hindern. Man zieht keine Mädels groß, um sie in die erste beste Kate, die sich auftut, hinzugeben, und man steht nicht vierzig Jahre lang einem Hof vor, um das alles dem ersten besten an den Hals zu werfen, der dem Mädel den Kopf verdreht. Meine Tochter jammerte und wehklagte so lange, bis sie an einen Landstreicher verheiratet war, der sie alle beide zu Tode soff, und ich mußte das Kind zu mir nehmen und den Spaß bezahlen; aber gnade Gott, wenn es mit meiner Großtochter ebenso gehen sollte, jetzt weißt Du's.—Ich will Dir sagen, so wahr ich Ole Nordistuen vom Heidehof bin, eher wird der Pfarrer das Hexenvolk im Walde von Norddal trauen, ehe er Margit und Dich, Du Scheusal, aufbieten soll.—Du willst wohl alle anständigen Freier vom Hof weggraulen? Versuch's nur und komm, dann fliegst Du den Berg 'runter, daß Dir die Schuhe um die Ohren schlagen. Du Affenkerl! Du glaubst wohl, ich weiß nicht, was Ihr denkt, Du und das Mädel,—Ihr denkt, der alte Ole Nordistuen wird bald die Nase in die Luft strecken da draußen auf dem Kirchhof—und dann—hast du nicht gesehen—wollt Ihr vor den Altar. Ich habe jetzt sechsundsechzig Jahre gelebt und ich will Dir zeigen, Bengel, daß ich lebe, bis Ihr alle beide die Gelbsucht darüber kriegt! Meinetwegen kannst Du Dich wie Neuschnee ums Haus legen, aber nicht mal ihre Fußsohlen wirst Du zu sehen bekommen, denn ich schick' sie weg; ich schicke sie wohin, wo sie sicher ist; dann kannst Du hier ja wie 'ne Lachmöve 'rum flattern und Dich mit Regen und Nordwind verheiraten. Und weiter habe ich Dir nichts zu sagen; aber jetzt kennst Du, sein Vater, meine Ansicht, und wenn Du sein Bestes willst, das hier auf dem Spiel steht, dann sorg' dafür, daß er den Fluß so gräbt, wie das Wasser laufen kann; über mein Eigentum geht kein Weg."—Er ging mit kleinen, raschen Schritten zurück, wobei er den rechten Fuß etwas höher hob als den linken und leise vor sich hinschimpfte.

Die Zurückbleibenden waren plötzlich sehr ernst geworden; eine böse Ahnung hatte sich in ihr Lachen und Scherzen gemischt, und still war's einen Augenblick im Hause wie nach einem großen Schrecken. Die Mutter, die in der Küchentür alles mitangehört hatte, sah Öyvind bekümmert an; die Tränen waren ihr nahe, aber sie wollte ihm das Herz nicht durch irgend ein Wort noch schwerer machen. Als sie alle schweigend hineingegangen waren, setzte sich der Vater ans Fenster und sah Ole mit tiefernsten Blicken nach. Öyvinds Augen hingen an jeder seiner Mienen, denn mit dem ersten Wort, das er sprechen würde, mußte sich die Zukunft der beiden jungen Menschen entscheiden. Setzte Tore sein Nein gegen das Oles, so war kaum daran vorbeizukommen. Seine Gedanken liefen geängstigt von einem Hindernis zum andern; er sah einen Augenblick nichts als Armut, Widrigkeiten, Mißverständnisse und gekränktes Ehrgefühl, und alles wankte und wich vor seinen Augen. Seine Unruhe wuchs, weil die Mutter so dastand, die Hand an der Klinke der Küchentür, ungewiß, ob sie den Mut finden würde, dazubleiben und die Aussprache abzuwarten, bis sie zuletzt alle Courage verlor und hinausschlich. Öyvind sah unverwandt seinen Vater an, dessen Auge scheinbar nicht wieder in die Stube zurückfinden konnte; der Sohn wagte nichts zu sagen, denn der andere mußte erst mit seinen Gedanken zu Ende sein. Aber gerade jetzt hatte seine Seele den Kreis der Angst durchlaufen und raffte sich wieder auf: "niemand als Gott allein vermag uns schließlich zu trennen", dachte er bei sich selbst und blickte auf die gerunzelten Brauen seines Vaters;—jetzt kam's wohl bald. Tore seufzte schwer, erhob sich, sah auf und begegnete dem Blick seines Sohnes. Er blieb stehen und sah ihn lange an.—"Mein Wille wäre, daß Du von ihr ließest, denn man soll sich nie etwas erbetteln oder ertrotzen. Willst Du aber nicht von ihr lassen, so kannst Du mir's gelegentlich sagen; vielleicht kann ich Dir dann helfen." Er ging an seine Arbeit, und sein Sohn folgte ihm.

Am Abend aber war Öyvind mit seinem Plan im reinen; er wollte sich um die Stelle des Amtsagronomen bewerben und den Direktor und den Schulmeister bitten, ihm dabei behilflich zu sein. "Bleibt sie fest, dann werde ich sie mir mit Gottes Hilfe durch meine Arbeit erringen."

Er wartete diesen Abend vergebens auf Margit, aber er sang, während er dort auf- und abging, sein Lieblingslied:

    Hoch den Kopf, du frischer Gesell!
    Schwand eine Hoffnung, wird dir schnell
    Vor Augen die neue glühen
    Und flugs entflammen und sprühen.

    Hoch den Kopf, blicke weit und frei!
    Etwas ist da, das ruft: "komm herbei!"
    Mit tausend Zungen, die preisen
    Den Frohmut in sieghaften Weisen.

    Hoch den Kopf; denn im Herzensgrund
    Blauet auch dir ein Himmelsrund,
    Drin Jubelchöre und Schwingen
    Bei Harfenakkorden klingen.

    Hoch den Kopf und sing es heraus!
    Nie erstickst du des Frühlings Braus;
    Doch, wo die Kräfte gären,
    Da treiben die Halme bald Ähren.

    Hoch den Kopf, laß Paten dir fein
    Droben die Hoffnungsstrahlen sein,
    Die Welten umwölben, die beben
    In jedem Fünklein Leben.

Elftes Kapitel

In der Mittagspause war's; auf den großen Heidehöfen schliefen die Leute. Das Heu lag auf den Wiesen aufgeworfen und die Rechen staken in der Erde. Vor dem Scheunentor standen die Heuwagen, das abgezäumte Sattelzeug lag daneben, und die Pferde waren eine Strecke weiter angebunden. Außer ihnen und ein paar Hühnern, die auf die Äcker hinausgelaufen waren, war weit und breit kein lebendes Wesen zu sehen.

In dem Felsen jenseits der Höfe war eine Kluft; von da führte der Weg zu den Heidehofalmen, großen, grasreichen Hochebenen. Oben in der Kluft stand heut ein Mann und hielt Umschau, als warte er auf jemand. Hinter ihm war ein kleiner Bergsee, wo der Bach entsprang, der die Kluft in den Felsen gegraben hatte; um diesen See herum führten zu beiden Seiten die Viehsteige nach den Almen hinüber, die man in der Ferne sehen konnte. Jodeln und Gekläff klang zu ihm hin, die Kuhglocken läuteten auf den Höhen; denn die Kühe rasten umher und wollten Wasser, und Hunde und Hirten versuchten vergeblich, sie zusammenzutreiben. Die Kühe machten die wunderlichsten Grimassen und Sprünge und liefen mit kurzem, wütendem Gebrüll und hocherhobenem Schweif gerade in den See hinein; da blieben sie stehen; ihre Glocken läuteten bei jeder Kopfbewegung über den See hin. Die Hunde tranken auch, aber sie blieben am Lande stehen, und die Hirten kamen hinterdrein und setzten sich auf den warmen glatten Felsen. Da holten sie ihr Vesperbrot heraus, tauschten es gegenseitig aus, prahlten mit ihren Hunden, ihren Ochsen und ihrer Herrschaft, zogen sich dann aus und sprangen zu den Kühen ins Wasser. Die Hunde wollten nicht mit; sie schlichen träge umher mit hängendem Kopf und brennenden Augen, und die Zunge hing ihnen aus der Schnauze. Rings auf den Hängen war kein Vogel zu sehen, kein Laut zu hören außer dem Geplauder der Mägde und dem Läuten der Glocken; das Gras war verdorrt und versengt; die Sonne brannte auf die Halden, daß alles in der Hitze erstickte.

Öyvind war's, der da oben in der Mittagssonne saß und wartete. Er saß in Hemdärmeln dicht am Bach, der aus dem See herauskam. Noch immer war auf dem ganzen Heidehof keiner zu sehen, und allmählich wurde ihm ängstlich zumute; da kam plötzlich ein großer Hund schwerfällig auf Nordistuen aus einer Tür, und hinter ihm ein Mädchen in Hemdärmeln. Sie lief über die Wiesen den Berg hinan; er hatte große Lust, ihr zuzujauchzen, aber er wagte es nicht. Er behielt aufmerksam den Hof im Auge, ob auch keiner komme und sie sehe, aber schon war sie in Sicherheit, und er sprang ein paarmal ungeduldig auf.

Dann war sie endlich mühsam am Bach heraufgeklommen, der Hund dicht vor ihr schnupperte in der Luft; sie hielt sich am Gebüsch fest, aber ihre Schritte wurden immer müder. Öyvind lief ihr entgegen, der Hund knurrte, wurde aber gleich zum Schweigen gebracht; als Margit ihn kommen sah, setzte sie sich rot wie Blut, müde und abgespannt von der Hitze auf einen großen Stein. Er schwang sich auf den Stein neben sie. "Ich danke Dir, daß Du kommst."—"Aber die Hitze und dieser Weg! Hast Du lange gewartet?"—"Nein! Wenn man uns abends aufpaßt, müssen wir eben die Mittagsstunde ausnutzen. Aber ich denke, fortan brauchen wir nicht mehr so heimlich und umständlich zu verfahren; ich wollte mit Dir darüber reden."—"Nicht heimlich?"—"Ich weiß ja, Dir gefällt gerade das Heimliche am besten; aber Mut magst Du doch auch zeigen. Ich habe heute viel mit Dir zu besprechen, und Du mußt gut zuhören."—"Ist es wahr, daß Du Amtsagronom werden willst?"—"Ja, und ich werde es auch erreichen. Ich habe dabei eine doppelte Absicht, erstens die, eine Stellung zu bekommen, außerdem aber und vor allen Dingen, etwas zu erreichen, was Deinem Großvater auffallen muß. Es trifft sich so glücklich, daß die meisten Bauern hier auf den Heidehöfen junge Leute sind, die Verbesserungen einführen möchten und dazu Hilfe brauchen; Geld haben sie auch. Da fange ich an; ich bringe alles in Ordnung, von ihren Kuhställen an bis zu ihren Wasserleitungen; ich werde Vorträge halten und arbeiten und den Alten sozusagen durch gute Taten bekehren."—"Das ist fein; weiter, Öyvind!"—"Ja, das andere betrifft uns beide. Du darfst nicht fort."—"Wenn er es aber befiehlt?"—"Und nichts mehr verheimlichen was uns beide angeht."—"Und wenn er mich quält?"—"Wir erreichen nämlich mehr und können uns besser schützen, wenn wir alles öffentlich tun. Wir wollen gerade vor aller Leute Augen zusammen sein, damit sie davon reden, wie lieb wir uns haben; um so eher wünschen sie, daß es uns gut geht. Du darfst nicht fort. Es ist immer eine Gefahr in der Trennung, und es kann allerhand Klatsch dazwischen kommen. Im ersten Jahr glaubt man's nicht, aber nachher im zweiten leuchtet es einem so allmählich ein. Wir beide wollen uns einmal in der Woche treffen und alles Böse hinweglachen, das man zwischen uns säen will; wir treffen uns auch beim Tanz und treten den Takt, daß es nur so klappt, während alle unsere Verleumder um uns herumsitzen. Wir treffen uns in der Kirche und nicken uns zu, daß auch die es sehen, die uns hundert Meilen auseinander haben möchten. Macht einer einen Vers auf uns, dann setzen wir uns hin und versuchen, eine Antwort drauf zu machen; das wird schon gehen, wenn wir uns gegenseitig helfen. Keiner kann uns was anhaben, wenn wir zusammenhalten und den Leuten auch zeigen, daß wir es tun. Unglücklich in der Liebe können bloß die furchtsamen Leute sein oder die Schwachen und Kranken und die Berechnenden, die immer auf eine bestimmte Gelegenheit warten, oder die Schlauen, die schließlich sich an ihrer eigenen Schlauheit verbrennen, oder die Sinnlichen, die sich nicht so lieb haben, daß sie Stand oder Unterschied darüber vergessen,—die verkriechen sich, schreiben Briefe, beben bei jedem Wort und am Ende halten sie diese Angst, diese beständige Unruhe und das Prickeln im Blut für Liebe, fühlen sich unglücklich und zergehen wie Zucker. Pah, wenn die sich richtig lieb hätten, so hätten sie eben keine Angst; dann würden sie lachen und, offen in jedem Lächeln und jedem Wort, geradenwegs auf die Kirchtür zugehen. Ich habe darüber in den Büchern gelesen und habe es selbst mit angesehen: mit der Liebe, die auf Schleichwegen geht, ist's jämmerlich bestellt. Die Liebe muß in Heimlichkeit beginnen, weil sie in Scheu beginnt,—aber leben muß sie in Offenheit, weil sie in Freude lebt. Das ist wie beim jungen Laub. Was wachsen will, das kann sich auch nicht verbergen, und immer wirst Du bemerken, daß alles Dürre am Baum in derselben Stunde abfällt, da das Laub knospen und keimen will. Einer, über den die Liebe kommt, wirft alles hin, was er an altem toten Kram noch festhielt; die Säfte schwellen und treiben, und das sollte man nicht merken? Hei, Mädel, die sollen sich mitfreuen, wenn sie uns fröhlich sehen. Zwei Brautleute, die sich treu bleiben, sind eine Wohltat für das Volk, denn sie schenken ihm ein Gedicht, das ihre Kinder zur Schande der ungläubigen Eltern auswendig lernen. Ich habe von vielen solchen Gedichten gelesen; auch hier im Gau leben welche im Volksmund, und eben die Kinder derer, die einst alles Schlimme verschuldet haben, erzählen jetzt davon und weinen darüber. Ja, Margit, jetzt wollen wir uns die Hand geben,—so, ja, und dann wollen wir uns versprechen, zusammenzuhalten,—so, ja, und dann wird's schon gehen, hurra!—" Er wollte sie beim Kopf fassen, aber sie drehte den Kopf zur Seite und ließ sich vom Stein heruntergleiten.

Er blieb sitzen; sie kam zurück, stützte die Arme auf seine Knie und sah zu ihm auf, während sie mit ihm sprach. "Hör' mal, Öyvind, wenn er nun will, ich soll fort, was dann?"—"Dann sagst Du nein, frei heraus."—"Geht denn das, Schatz?"—"Er kann Dich doch nicht selbst auf den Wagen setzen!"—"Wenn er das auch nicht gerade tut, so hat er doch viele andere Mittel, wodurch er mich zwingen kann."—"Das glaube ich nicht; Gehorsam bist Du ihm freilich schuldig, solange er keine Sünde von Dir verlangt; aber Du hast auch die Pflicht, ihm frei heraus zu sagen, wie schwer es diesmal für Dich ist, gehorsam zu sein. Ich meine, er kommt zur Vernunft, wenn er das sieht; jetzt glaubt er eben noch wie die meisten, es ist bloß Kinderei. Zeige ihm, daß es mehr ist."—"Mit ihm ist ja nicht zu spaßen. Er bewacht mich wie 'ne angebundene Ziege."—"Du reißt Dich aber ein paarmal am Tage los."—"Das ist nicht wahr."—"Doch, immer wenn Du heimlich an mich denkst, reißt Du Dich los."—"Ja dann. Aber weißt Du denn bestimmt, daß ich so oft an Dich denke?"—"Sonst wärst Du ja nicht hier."—"Aber Du hast mir doch sagen lassen, ich solle kommen."—"Du gingst aber doch, weil Deine Gedanken Dich dazu trieben!"—"Nein, bloß weil das Wetter so schön war."—"Du sagtest vorhin, es sei zu heiß."—"Zum Bergauf gehen, ja; aber bergab nicht."—"Warum gingst Du denn hinauf?"—"Um wieder hinunterlaufen zu können!"—"Warum hast Du das nicht schon lange getan?"—"Weil ich mich erst ausruhen mußte."—"Und mit mir von Liebe reden?"—"Ich konnte Dir doch die Freude machen, zuzuhören."—"Beim Vogelsang."—"Wo alles ruht."—"Und beim Glockenklang."—"In Waldeshut."

In diesem Augenblick sahen die beiden Margits Großvater auf den Hof gehumpelt kommen und nach der Glocke gehen, um die Leute zusammenzurufen. Die Leute kamen aus Scheunen, Schuppen und Häusern heraus, gingen schläfrig hin zu den Pferden oder den Rechen, verteilten sich über das Feld, und nach einer Weile war alles wieder Leben und Arbeit. Nur der Großvater ging von einem Haus ins andere und zuletzt auf die höchste Scheunenbrücke hinauf und hielt Umschau. Ein kleiner Junge kam auf ihn zugesprungen, wahrscheinlich hatte er ihn gerufen. Der Junge lief dann wahrhaftig nach der Richtung hin, wo Pladsen lag, der Großvater ging inzwischen rund ums Gehöft und blickte dabei häufig in die Höhe; ihm dämmerte wohl, daß das Schwarze da oben auf dem "Großen Stein" Margit und Öyvind seien. Und wieder war Margits großer Hund hinderlich. Er sah ein fremdes Pferd auf den Heidehof einbiegen, und da er dachte, es gehöre zu seinem Geschäft als Hofhund, fing er aus Leibeskräften zu bellen an. Sie suchten den Hund zu beschwichtigen, aber er war wütend geworden und wollte nicht aufhören, unten stand der Großvater und starrte in die Luft. Aber es wurde noch schlimmer, denn die Hunde von der Alm hörten mit Verwunderung die fremde Stimme und kamen herzugelaufen. Als sie sahen, daß es ein großer, wolfähnlicher Riese war, verbündeten sich die zottigen Finnenhunde gegen diesen einen; Margit bekam solche Angst, daß sie ohne Adieu davonlief; mitten auf dem Schlachtfeld stand Öyvind und trat und schlug um sich, aber sie flüchteten nur vom Kampfplatz, um sich unter grausigem Geheul und Gekläff ein Stück weiter wieder zusammenzurotten; er wieder hinter ihnen her, und so zogen sie allmählich zum Bachabhang hin; da lief er schnell hinzu, und die Folge war, daß sie alle miteinander ins Wasser purzelten, gerade an einer Stelle, wo es ordentlich tief war; da rannten sie beschämt auseinander, und so endete diese Schlacht am Walde. Öyvind ging quer durch den Forst, bis er auf die Dorfstraße kam, Margit aber lief ihrem Großvater unten am Zaun in die Arme; das hatte der Hund ihr eingebrockt.

"Wo kommst Du her?"—"Aus dem Wald!"—"Was hast Du da gemacht?"—"Beeren gepflückt."—"Das ist nicht wahr!"—"Nein, das ist es auch nicht!"—"Was hast Du denn gemacht?"—"Ich habe mit einem geredet."—"Mit dem Pladsenbengel?"—"Ja."—"Hör' mal, Margit, morgen reist Du—"—"Nein."—"Hör' mal, Margit, ich will Dir bloß eins sagen, bloß das eine: Du wirst reisen."—"Du kannst mich doch nicht selbst in den Wagen setzen?"—"So? Kann ich das nicht?"—"Nein, denn das willst Du nicht,"—"Will ich nicht? Hör' mal, Margit, bloß zum Spaß, siehst Du, bloß zum Spaß will ich Dir sagen, daß ich dem Lausbuben die Knochen im Leibe entzwei schlagen werde."—"Das wagst Du aber doch nicht."—"Das wage ich nicht? Du sagst, das wage ich nicht? Wer sollte mir wohl was tun?"—"Der Schulmeister."—"Der Schu-Schu-Schulmeister? Denkst Du, der kümmert sich um den?"—"Ja, der hat ihn doch auf die Ackerbauschule geschickt."—"Der Schulmeister?"—"Der Schulmeister!"

"Hör', Margit, ich will von dem Gelaufe nichts wissen; Du sollst hier weg. Du machst mir bloß Sorge und Kummer, gerade wie Deine Mutter, bloß Sorge und Kummer. Ich bin ein alter Mann, ich will Dich gut versorgt sehen, ich will nicht von den Leuten deswegen für einen Narren gehalten werden; ich will bloß Dein Bestes; das mußt Du doch zugeben, Margit. Wenn es mit mir zu Ende ist, stehst Du allein da; wie wäre es Deiner Mutter ergangen, wenn ich nicht gewesen wäre? Hör', Margit, sei vernünftig—hör', was ich sage; ich will bloß Dein Bestes."—"Nein, das willst Du nicht."—"So? Was will ich denn?"—"Deinen Willen durchsetzen, das willst Du; aber nach meinem fragst Du nicht."—"Du willst auch schon 'nen Willen haben, Du Kiekindiewelt? Du solltest schon wissen, was zu Deinem Besten ist, Du dummes Mädel? Ich werd' Dir mal den Stock zu schmecken geben, ja, das werd' ich, so groß und lang Du bist. Hör', Margit, ich will noch mal im Guten mit Dir reden. Du bist im Grunde gar nicht so dumm—das ist bloß 'ne fixe Idee von Dir. Du solltest auf mich hören, ich bin ein alter, vernünftiger Mann. Wir wollen noch mal im Guten drüber reden; mit mir' ist gar nicht soviel los, wie die Leute denken; ein armer lockerer Vogel hat bald mit dem bißchen aufgeräumt, was ich habe; Dein Vater hat schon den Anfang damit gemacht. Man muß in dieser Welt für sich selbst sorgen; besser verdient es keiner. Der Schulmeister hat gut schwatzen, der hat Geld, und der Pfarrer auch; da ist gut predigen. Aber bei uns, die sich ums tägliche Brot quälen müssen, ist das ganz was andres. Ich bin alt und habe viel erfahren und gesehen. Liebe, siehst Du, ist ja ganz schön, wenn man davon redet, aber sonst ist sie nichts wert; das ist bloß was für die Geistlichen und für solche Leute—die Bauern müssen die Sache anders anpacken. Erst das Essen, siehst Du, dann Gotteswort, und dann ein bißchen Schreiben und Rechnen und dann noch ein bißchen Liebe, wenn es sich gerade so macht. Aber es nützt blutwenig, wenn man zu oberst die Liebe stellt und ans Ende das Essen. Was sagst Du dazu, Margit?"—"Ich weiß nicht."—"Du weißt nicht, was Du sagen sollst?"—"Doch, das weiß ich."—"Nun, und?"—"Soll ich es sagen?"—"Ja, natürlich sollst Du es sagen!"—"Ich bin sehr für die Liebe." Er stand einen Augenblick verdutzt da, dann fielen ihm hundert ähnliche Gespräche mit ganz ähnlichem Ausgang ein, und er schüttelte den Kopf, drehte ihr den Rücken und ging.

Er ließ seinen Zorn an den Taglöhnern aus, schnauzte die Mägde an, prügelte den großen Hund und brachte beinahe ein Hühnchen um, das aufs Feld hinausgelaufen war; zu ihr aber sagte er nichts.

An dem Abend war Margit so fröhlich, als sie zu Bett ging, daß sie das Fenster aufmachte, sich hinauslehnte, lange hinausschaute und sang. Sie hatte ein kleines, feines Liebeslied bekommen, und das sang sie:

    Hältst du treu zu mir,
    Halt' ich treu zu dir
    Alle Tage, die mein eigen.
    Sommerzeit ging fort;
    Grün, das nun verdorrt,
    Kehrt zurück mit unserm Reigen.

    Was dein Mund einst sprach,
    Laut klingt's in mir nach.
    Wie ein Vöglein auf dem Aste
    Singt und was verbricht,
    So mein Lied verspricht
    Glück in warmem Sonnenglaste.

    Litli—litli—lu!
    Kannst mich hören du,
    Deinen Liebsten hinterm Hügel?
    Menschenwort verhallt,—
    Dunkel wird's im Wald;
    Doch vielleicht gibst du mir Flügel.

    Bussi—bissi—buß!
    Klang im Lied ein Kuß?
    Nein, davon ist nicht die Rede.
    Wie, du hast's gehört?
    Bist du so betört,
    Dann geraten wir in Fehde.

    Gute, gute Nacht!
    Träumen werd' ich sacht
    Von zwei milder Augen Strahlen,
    Von den Worten traut,
    Die sich ohne Laut
    Töricht aus der Seele stahlen.

    Kind, nun schließ ich ab;
    War es dir zu knapp?
    Kehrt mein Lied im Echo wieder
    Lockend zu mir her?
    Wolltest du noch mehr?—
    Laue Nacht sinkt still hernieder.

Zwölftes Kapitel

Ein paar Jahre sind seit dem letzten Auftritt dahingegangen.

Es ist spät im Herbste; der Schulmeister ist nach Nordistuen hinaufgewandert, macht die Haustür auf, findet keinen, macht die nächste Tür auf, findet wieder keinen und geht so immer weiter bis in die hinterste Kammer des langen Gebäudes. Da sitzt Ole Nordistuen ganz allein vorm Bett und schaut auf seine Hände.

Der Schulmeister begrüßt ihn, zieht sich einen Holzstuhl heran und setzt sich Ole gegenüber. "Du hast nach mir geschickt", sagt er. "Das habe ich."

Der Schulmeister nimmt sich einen neuen Priem, sieht sich in der Kammer um, holt sich ein Buch, das auf der Bank liegt, und blättert darin. "Was wolltest Du denn von mir?"—"Das überlege ich mir gerade."

Der Schulmeister läßt sich Zeit, holt seine Brille heraus, um den Titel des Buches zu lesen, wischt sie ab und setzt sie auf. "Du wirst alt, Ole."—"Ja, darüber wollte ich ja gerade mit Dir reden. Es geht rückwärts mit mir; bald liege ich flach."—"Dann sorge dafür, daß Du gut liegst, Ole."—Er macht das Buch zu und sieht aus dem Fenster.

"Das ist ein gutes Buch, was Du da in der Hand hast."—"Es ist nicht schlecht; bist Du oft über den Einband hinausgekommen?"—"Jetzt in der letzten Zeit, ja—".

Der Schulmeister legt das Buch fort und steckt die Brille wieder ein. "Dir geht es wohl nicht nach Wunsch, Ole?"—"So lang ich denken kann, nicht."—"Ja, so ist's mir auch gegangen. Ich lebte mit einem guten Freund in Unfrieden und dachte, er müsse zu mir kommen, und solange war ich unglücklich. Schließlich kam ich auf den Einfall, zu ihm zu gehen, und seit der Zeit war alles gut."—Ole sieht auf und schweigt.

Der Schulmeister: "Wie findest Du denn, daß es mit Deinem Hof geht, Ole?"—"Rückwärts wie mit mir selbst."—"Wer soll ihn haben, wenn Du nicht mehr bist?"—"Das weiß ich ja eben nicht; das quält mich ja gerade!"

"Bei Deinen Nachbarn steht es jetzt sehr gut, Ole."—"Ja, die haben ja auch den Agronomen als Hilfe."

Der Schulmeister, der sich gleichgültig nach dem Fenster umwendet: "Du müßtest auch Hilfe haben, Ole. Sehen kannst Du nicht mehr ordentlich, und von der neuen Landwirtschaft verstehst Du nicht viel."

Ole: "Wer sollte mir wohl helfen?"—"Hast Du schon einen darum gebeten?"
Ole schweigt.

Der Schulmeister: "Ich habe mich auch lange so mit dem lieben Gott gestanden.—Du bist gar nicht gut gegen mich, sagte ich zu ihm.—Hast Du mich darum gebeten? fragte er. Nein, das hatte ich nicht getan; da bat ich denn, und seit der Zeit ist es mir recht gut gegangen."—Ole schweigt, und da schweigt auch der Schulmeister.

Schließlich sagt Ole: "Ich habe ein Großkind; sie weiß, womit sie mir eine Freude machen könnte, ehe sie mich forttragen, aber sie tut es nicht."—Der Schulmeister lächelt: "Vielleicht wäre das für sie keine Freude." Ole schweigt.

Der Schulmeister: "Dich drückt allerhand, aber soweit ich es beurteilen kann, dreht sich doch alles schließlich um den Hof."—Ole sagt leise: "Er ist schon so lange in der Familie, und es ist guter Boden. Alles, was Vater und Großväter zusammengerackert haben, liegt in ihm, aber jetzt will nichts mehr gedeihen. Wenn sie mich hinausfahren, weiß ich ja nicht einmal, wer nach mir hineinfährt. In der Familie bleibt er nicht."—"Aber Deine Großtochter ist doch noch da."—"Wie wird aber der Mann, der sie bekommt, mit dem Hof umgehen? Das möchte ich wissen, ehe ich mich zur Ruhe lege. Es ist nicht mehr viel Zeit zu verlieren, Baard,—nicht für mich noch für den Hof."

Sie schweigen beide; da sagt der Schulmeister: "Wollen wir nicht bei dem schönen Wetter ein bißchen an die Luft gehen?"—"Ja, das können wir. Auf den Halden draußen sind Arbeiter; sie sollen Laub holen, aber sie tun bloß was, wenn ich dabeistehe." Er stolpert nach der großen Mütze und dem Stock und sagt: "Sie mögen bei mir nicht arbeiten; ich kann das nicht begreifen." Als sie draußen waren und ums Haus bogen, blieb er stehen: "Hier, siehst Du? Keine Ordnung! Da ist das Holz durcheinandergeworfen und die Axt nicht in den Block gehauen", er bückte sich mühsam, hob sie auf und schlug sie ein. "Hier ist ein Fell heruntergefallen; aber hat ein Mensch es wieder aufgehängt?" Er tat es selbst. "Hier ist die Vorratsscheuer; meinst Du, sie haben die Treppe weggenommen?" Er trug sie beiseite. Dann blieb er stehen, sah den Schulmeister an und sagte: "So geht es einen Tag wie alle Tage."

Als sie weiter gingen, hörten sie von den Halden her fröhliches Singen. "Ach, da wird ja bei der Arbeit gesungen", sagte der Schulmeister.—"Das ist der kleine Knut Östistuen, der da singt; der holt Laub für seinen Vater; meine Leute arbeiten dahinten, die singen nicht."—"Das ist doch keine von unsern Weisen?"—"Nein, das höre ich auch."—"Öyvind Pladsen ist sehr viel auf Östistuen gewesen; es ist wohl eins von den Liedern, die er im Dorf eingeführt hat—der steckt immer voll Lieder." Hierauf kam keine Antwort.

Das Feld, über das sie gingen, stand nicht gut; ihm fehlte die rechte Pflege. Der Schulmeister äußerte das; da blieb Ole stehen. "Ich kann das nicht mehr machen", sagte er beinahe wehmütig. "Ohne Aufsicht werden fremde Arbeiter zu teuer. Aber es tut weh, über so ein Feld zu gehen, das kannst Du mir glauben."

Als sie dann davon sprachen, wie groß der Hof sei, und wo Hilfe am nötigsten täte, beschlossen sie, zu den Halden hinaufzugehen, von wo sie das Ganze überblicken konnten. Als sie nach geraumer Zeit einen hohen Punkt erreicht hatten, und das Ganze in Augenschein nahmen, wurde der Alte wehmütig: "Ich möchte nicht gerne so abgehen; ich und meine Vorfahren haben da unten redlich gearbeitet, aber viel ist nicht mehr davon zu sehen."

Da klang ein Lied über ihren Köpfen hin mit der eigentümlichen Herbheit, die eine Knabenstimme hat, wenn sie so recht forsch drauflos singt. Sie standen nicht weit von dem Baum, in dessen Wipfel der kleine Knut Östistuen saß und Laub für seinen Vater pflückte, und sie lauschten:

    Willst du dich zu hohem Ziel
    Ins Gebirge wagen,
    Pack' ins Ränzlein nur so viel,
    Als sich leicht läßt tragen!
    Nimm nicht mit des Tales Zwang
    In die reinen Lüfte;
    Schüttle ihn mit keckem Sang
    Abwärts in die Klüfte!

    Vögel grüßen dich im Chor,
    Fern dem giftigen Brodem,
    Und mit jedem Schritt empor
    Freier wird dein Odem.
    Frohen Herzens jauchze laut;
    Kindheit, längst vergangen,
    Nickt dir aus Gebüsch und Kraut
    Zu mit roten Wangen.

    Stehst du still von Zeit zu Zeit,
    Andachtsvoll zu lauschen,
    Wird ins Ohr der Einsamkeit
    Hohes Lied dir rauschen.
    Wo ein Bach den Fels durchbricht,
    Wo ein Stein im Rollen,
    Hörst du der versäumten Pflicht
    Mächtiges Donnergrollen.

    Zittre, bete, banges Herz,
    Sei zur Buße fertig!
    Heb den Blick dann gipfelwärts,
    Deines Heils gewärtig.
    Dort wie einst geht Jesus Christ,
    Wandeln die Propheten;
    Wohl dir, wenn du würdig bist,
    Ihnen nachzutreten.

Ole hatte sich niedergesetzt und das Gesicht in den Händen vergraben. "Nun will ich mit Dir reden", sagte der Schulmeister und setzte sich neben ihn.

* * * * *

In Pladsen war Öyvind gerade von einer längeren Reise nach Hause gekommen; die Postkutsche stand noch vor der Tür, weil die Pferde ausruhen mußten. Wenn auch Öyvind jetzt als Amtsagronom gute Einnahmen hatte, bewohnte er doch noch seine kleine Kammer in Pladsen und half in seiner freien Zeit in der Wirtschaft. Auf Pladsen war eine ganz neue Bewirtschaftung eingeführt, aber der Hof war so klein, daß Öyvind das Ganze Mutters Spielzeug nannte; denn sie war es, die hauptsächlich die Landwirtschaft betrieb.

Er hatte sich gerade umgezogen, der Vater war mehlbestaubt von der Mühle hereingekommen und hatte sich auch umgezogen. So standen sie und überlegten, ob sie vor dem Abendbrot noch ein bißchen ins Freie gehen sollten, da kam die Mutter mit ganz blassem Gesicht herein: "Es kommt seltener Besuch; seht doch!"—Die beiden Männer eilten ans Fenster, und Öyvind sagte gleich: "Das ist der Schulmeister und—ja, ich glaube beinahe,—ja natürlich ist er es!"—"Ja, das ist der alte Ole Nordistuen", sagte auch Tore und trat vom Fenster zurück, um nicht gesehen zu werden, denn die beiden waren schon dicht vorm Hause.

Öyvind fing einen Blick des Schulmeisters auf, als er gerade vom Fenster zurücktreten wollte; Baard lächelte und sah sich nach dem alten Ole um, der auf den Stock gestützt, mit kleinen kurzen Schritten heranstelzte, wobei er den einen Fuß immer etwas höher hob als den andern. Draußen hörten sie den Schulmeister sagen: "Er ist wohl eben nach Hause gekommen", worauf Ole zweimal "So—so" antwortete.

Es blieb lange still auf der Diele; die Mutter war in die Ecke hinterm Milchschrank gekrochen. Öyvind stand in seiner Lieblingsstellung, mit dem Rücken gegen den großen Tisch und dem Gesicht nach der Tür, der Vater saß daneben. Schließlich wurde an die Tür geklopft, und herein kam der Schulmeister und nahm seinen Hut ab, hinter ihm Ole und nahm auch seine Mütze ab, dann drehte er sich nach der Tür um und klinkte sie ein; er brauchte sehr lange dazu; offenbar war er verlegen. Tore stand auf und lud die Eintretenden zum Sitzen ein; sie setzten sich nebeneinander auf die Fensterbank, und Tore setzte sich auch wieder nieder.

Und jetzt werden wir hören, wie es bei der Werbung zuging.

Der Schulmeister: "Wir haben doch noch recht schönes Herbstwetter bekommen."—Tore: "Ja, es hat sich die letzte Zeit gebessert."—"Jetzt wird es sich wohl noch eine Zeitlang halten, wo der Wind umgeschlagen ist."—"Seid Ihr da oben schon mit der Ernte fertig?"—"Noch nicht. Hier der Ole Nordistuen—Du kennst ihn wohl—möchte, Du sollst ihm helfen, Öyvind, wenn es Dir recht ist."—Öyvind: "Wenn es gewünscht wird, will ich tun, was ich kann."—"Ja, er meinte aber nicht bloß so vorübergehend. Es geht mit dem Hof nicht vorwärts, findet er, und er glaubt, es fehlt so die richtige Leitung und Aufsicht."—Öyvind: "Ich bin aber so wenig zu Hause."—Der Schulmeister sieht Ole an. Der merkt, daß er jetzt ins Feuer muß; er räuspert sich ein paarmal und legt los: "Das heißt, das soll,—ja—ich meine, Du solltest fest—Du solltest, ja, gewissermaßen Deine Wohnung bei uns haben,—das heißt, wenn Du nicht auf Reisen bist."—"Schönen Dank für das Anerbieten, aber ich bleibe lieber hier wohnen."—Ole sieht den Schulmeister an, und der sagt: "Mit Ole geht das heute ein bißchen kraus. Die Sache ist: er ist früher schon mal hier gewesen, und die Erinnerung daran bringt ihm die Worte ein bißchen durcheinander."—Ole rasch: "So ist es, ja; ich war damals nicht recht gescheit; ich hab' mich solange mit dem Mädel geplagt, bis das Holz in Splitter ging. Aber das mag vergessen sein; der Sturm knickt das Korn um, doch ein kaltes Lüftchen nicht; Regenbäche können die großen Steine nicht unterwühlen; Maischnee liegt nicht lange; der Donner hat noch keinen Menschen erschlagen." Alle lachen; der Schulmeister sagt: "Ole meint, Du sollst nicht mehr dran denken, und Du auch nicht, Tore." Ole sieht sie an und weiß nicht recht, ob er weiterreden darf. Da sagt Tore: "Der Rosenstrauch packt mit vielen Zähnen zu und reißt doch keine Wunden. In mir wenigstens ist kein Stachel zurückgeblieben."—Ole: "Ich kannte den Burschen damals nicht. Jetzt sehe ich: was er säet, das gedeiht; wie die Saat, so die Ernte; in seinen Fingerspitzen sitzt Gold, und ich möchte mir ihn sichern."

Öyvind sieht den Vater an, der die Mutter, die von ihm zum Schulmeister blickt, und dann schauten alle Ole an. "Ole meint, er hat einen großen Hof—" Ole unterbricht: "Groß ist er, aber schlecht imstande; ich kann nicht mehr recht, ich bin alt, und die Beine wollen nicht mehr mit. Aber es lohnt sich, da oben anzupacken."—"Gut und gern der größte Hof im ganzen Kreise", fällt der Schulmeister ein.—"Der größte Hof im ganzen Kreise; das ist aber gerade das Elend; wenn die Schuhe zu groß sind, verliert man sie; es ist recht schön, wenn das Gewehr gut ist, aber man muß auch damit umzugehen wissen. (Mit einer raschen Wendung zu Öyvind:) Möchtest Du es mal damit versuchen?"—"Ich soll also Verwalter sein?"—"Ganz recht, ja, Du sollst den Hof haben."—"Ich soll den Hof haben?"—"Natürlich, ja, und sollst ihn verwalten."—"Aber—" "Willst Du nicht?"—"Doch, selbstverständlich."—"Ja, ja, dann ist es also abgemacht, sagte die Henne und flog aufs Wasser."—"Aber—" Ole sieht verwundert den Schulmeister an.—"Öyvind will wohl bloß fragen, ob er Margit auch mitbekommt?"—Ole energisch: "Margit ist mit drin, Margit ist mit drin!"—Da fing Öyvind laut zu lachen an und machte einen Luftsprung; die andern drei lachten auch, und Öyvind rieb sich die Hände, lief in der Stube auf und ab und wiederholte unaufhörlich: "Margit ist mit drin, Margit ist mit drin!" Tore lachte und gluckste, die Mutter hinten in der Ecke sah ihren Jungen unverwandt an, bis ihr Tränen in die Augen traten.

Nach einer Weile fragte Ole sehr gespannt: "Was hältst Du von dem Hof?"—"Feiner Boden!"—"Feiner Boden, nicht wahr?"—"Wundervolle Weiden!"—"Wundervolle Weiden! Wird es gehen?"—"Das soll weit und breit der beste Hof werden!"—"Weit und breit der beste Hof? Glaubst Du? Meinst Du das wirklich?"—"So wahr ich hier stehe!"—"Ja, hab' ich das nicht immer gesagt?!" Sie sprachen beide gleich schnell und griffen wie zwei Räder ineinander. "Aber mit dem Geld, siehst Du mit dem Geld! Ich habe keins."—"Ohne Geld geht es langsam, aber es geht!"—"Es geht, ja, natürlich geht es! Aber wenn wir Geld hätten, ginge es schneller, meinst Du?"—"Viel schneller."—"Viel? Wenn wir bloß Geld hätten! Ja, ja! na, einer, der nicht alle Zähne hat, kann auch kauen, und einer, der mit Ochsen fährt, kommt auch vorwärts."

Die Mutter stand da und zwinkerte Tore zu, der sie ein paarmal schnell von der Seite ansah, während er den Oberkörper hin- und herwiegte und mit den Händen über die Knie strich; der Schulmeister blinzelte mit den Augen, Tore machte den Mund auf und wollte etwas sagen, aber Ole und Öyvind sprachen unaufhörlich durcheinander, lachten und machten solchen Lärm, daß kein andrer zu Wort kommen konnte.

"Seid jetzt mal still; Tore möchte was sagen", fällt der Schulmeister ein; sie verstummen und sehen Tore an. Der fängt denn ganz leise an: "Es ist auf dieser Stätte immer so gewesen, daß wir eine Mühle gehabt haben; in letzter Zeit ist es so gewesen, daß wir zwei gehabt haben. Diese Mühlen haben in Jahr und Tag doch ein paar Groschen abgeworfen; weder mein Vater noch ich haben von dem Geld genommen, außer damals, als Öyvind fort mußte. Der Schulmeister hat es verwaltet, und er sagt, daß es sich da, wo es stand, gut verzinst hat; aber jetzt ist ja das beste, Öyvind nimmt es für Nordistuen." Die Mutter stand hinten in der Ecke und machte sich ganz klein, während sie mit leuchtenden Augen zu Tore hinsah, der jetzt sehr gewichtig dahockte und beinahe dumm aussah; Ole Nordistuen saß ihm mit weit offnem Mund gegenüber; Öyvind war der erste, der sich von der Überraschung erholte. "Ist das nicht, als wenn das Glück mich verfolgt?" rief er, ging auf seinen Vater zu und schlug ihm auf die Schulter, daß es dröhnte. "Du Prachtvater!" sagte er, rieb sich die Hände und ging auf und ab.

"Wieviel mag das wohl sein?" fragte schließlich Ole ganz zaghaft den Schulmeister. "Es ist gar nicht so wenig."—"Ein paar hundert Taler?"—"Noch ein bißchen mehr."—"Noch ein bißchen mehr? Öyvind, noch ein bißchen mehr! Herrgott, das soll ein Hof werden!" Er stand auf und lachte hell heraus.

"Ich will mit Dir zu Margit", sagte Öyvind. "Die Postkutsche steht ja noch draußen, da geht es schnell."—"Ja, schnell, schnell! Magst Du auch gern alles schnell haben?"—"Ja, schnell und forsch!"—"Schnell und forsch! Akkrat so, wie als ich jung war,—akkrat so!"—"Hier ist Mütze und Stock; jetzt jage ich Dich 'raus!"—"Du jagst mich 'raus, haha! aber Du kommst mit, nicht, Du kommst mit? Ihr andern kommt wohl nach? Heut abend wollen wir solange zusammensitzen, wie noch ein Funken auf dem Herd ist; kommt nur hin!"—Sie versprachen es, Öyvind half ihm in den Wagen und sie fuhren nach Nordistuen hinauf. Da oben war der große Hund nicht der einzige, der sich wunderte, als Ole Nordistuen mit Öyvind Pladsen in den Hof einfuhr. Während Öyvind ihm aus dem Wagen half und die Knechte und Mägde sie neugierig angafften, kam Margit aus dem Hause und wollte sehen, was denn der Hund fortwährend zu bellen hatte, aber sie blieb wie angewurzelt stehen, wurde glühend rot und lief wieder hinein. Der alte Ole rief aber so fürchterlich laut nach ihr, als er in die Stube kam, daß sie wohl oder übel wieder zum Vorschein kommen mußte. "Geh hin und mach' Dich fein, Mädel, hier steht der Mann, der den Hof haben soll."

"Ist es wahr?" rief sie, ohne es selbst zu wissen, und so laut, daß es schallte. "Ja, es ist wahr", sagte Öyvind und klatschte in die Hände; da drehte sie sich auf den Fußspitzen herum, schleuderte das, was sie gerade in der Hand hatte, weit weg und lief aus der Stube; und Öyvind hinterher.

Nach kurzer Zeit kamen auch der Schulmeister, Tore und seine Frau. Der
Alte hatte Lichter auf den weißgedeckten Tisch gestellt; es gab Wein und
Bier, und er selbst war immerzu auf den Beinen und hob den Fuß noch
höher als gewöhnlich, aber immer bloß den rechten.

* * * * *

Ehe diese kleine Erzählung zu Ende geht, soll noch berichtet werden, daß fünf Wochen später Öyvind und Margit in der Dorfkirche getraut wurden. Der Schulmeister leitete an diesem Tage selbst den Gesang, weil der Hilfsküster krank war. Seine Stimme war brüchig, denn er war alt; aber Öyvind fand doch, es höre sich wunderschön an. Und als er Margit die Hand gereicht und sie vor den Altar geführt hatte, da nickte ihm der Schulmeister vom Chor herunter zu, genau so, wie Öyvind es damals gesehen hatte, als er so wehleidig beim Tanz saß: er nickte ihm auch zu, und die Tränen wollten ihm in die Augen treten.

Die Tränen bei jenem Tanz waren das Tor zu diesen Tränen gewesen, und zwischen ihnen lag seine Arbeit und seine Treue.

Und hier ist die Geschichte von dem fröhlichen Burschen zu Ende.

* * * * *

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