DIE ARMEN

Nacht ist es. Die Hütte ist klein, aber warm. An der Wand hängen Fischernetze. Ein alter Schrank steht in einer Ecke, und auf einem Wandbrett stehen Teller und Tassen. Das Herdfeuer spiegelt sich darauf. Hinter einem Vorhang steht das Bett. Und dicht dabei auf alten Bänken liegt eine breite Matratze, mit Stühlen davor. Auf der Matratze schlafen fünf kleine Kinder, Seite an Seite, ein richtiges kleines Seelennest. Der Herd ist breit, Brennholz liegt dort, und die Glut wirft mitunter einen roten Schein hinauf bis zur Stubendecke. Vor dem Bett kniet eine Frau und betet. Sie ist bleich und ernst. Die Mutter. Allein ist sie. Der Mann ist auf der See. Und stürmisch ist die Nacht geworden. Das Meer wirft seine schwarzen Wogen empor gegen Fels und Himmel durch Nacht und Sturmgeheul.

Als Junge schon ging er zur See. Aber jetzt ist er Fischer hier in seiner Heimat, im harten Kampf mit dem Meer um Brot für Weib und fünf Kinder. Abend für Abend fährt er aus, bei Kälte, und Sturm, und Nebel. Der Fischplatz, den er suchen muss, ist bald hier, bald dort. Rauh und launisch ist das Meer. Mitunter ist der Fischplatz nicht grösser als die doppelte Stubenbreite. Und gerät er über diese Stelle hinaus, kann er sie nicht finden, so fängt er nichts. Und finden muss er sie auch im dunklen Dezember, im Nebel. Und Wind und Strömung muss er berechnen. Er ist immer allein. Und mitten im wunderlichen Suchen da draussen, im Schrecken des Nebelmeers denkt er an sein Weib, und sein Weib sitzt daheim und bangt um ihn. Und beider Gedanken kreuzen sich in der Nacht wie Vögel, die von Herz zu Herzen fliegen.

Sie flickt die Netze oder bringt die Angeln in Ordnung. Aber immer, wenn der Sturm um die Hütte heult oder eine Möwe laut wimmert, streichen wirre, bunte Schreckbilder an ihr vorüber. Dann sieht sie Seeleute, die von der Brandung verschlungen werden. Oder einen einzelnen Schiffer sieht sie. Der wird hin und her gegen die Klippen geworfen, immer wieder, ohne Ende, hin und her, und das Boot ächzt, sie fühlt, wie der Mann darinnen sich müht und müht, und wie ihn die Kräfte verlassen, sie fühlt, wie er an den Eisenring auf der Landungsbrücke denkt im selben Augenblick, da er versinkt. Das letzte Mal, als er den Eisenring sah an der Brücke, wo er immer sein Boot festmacht, da lag die Sonne auf dem Eisenring …

Und der Nordwest rast, trocken und beizend, und jagt ihre Gedanken übers Meer. Bis alles Denken erschöpft wieder hinsinkt hier in der Hütte und auf die Uhr an der Wand starrt. Und die Uhr dort stösst die Zeit vorwärts, Tropfen für Tropfen, wie Blut in Adern. Und jeder Stoss zerrt die Seele tiefer hinein in die Unendlichkeit …

Sie denkt. Sie träumt. O, die armen Frauen hier aussen an der Küste, die haben es nicht gut. Die haben ihre zerquälten Gedanken immer draussen auf dem Meer zwischen Leben und Tod. Ihre Väter haben sie dort und ihre Männer und ihre Söhne. Und nur ein zu starker Wogenschlag, und die sind nicht mehr. Sein Spiel treibt das Meer mit allen, vom Bootsjungen bis zum Vater. Und nur ein paar Planken haben sie und ein paar Segelstumpen, um sich zu bergen. Ausdenken muss man das!

Ihr Mann ist allein, allein in der schweren Nacht. Und die ist wie ein schwarzes Leichentuch. Keine Hilfe! Ach, wären doch erst die Jungen gross! – O Mutter du! nun sprichst du so – »wären sie doch erst gross!« Und später, wenn sie wirklich gross sind und sich selber da draussen mit herumquälen, vielleicht sagst du dann in einer Nacht wie heute: »Ach, wären sie doch noch klein!«

Sie nimmt eine Handlaterne, steckt sie an und legt ein breites Tuch um. Sie will hinaus und aufs Meer schauen und nachsehen, ob die Signale für die Boote in Ordnung sind. – Hier aussen regnet es. Kalt und nass treibt es ihr ins Gesicht. Und dunkler kann es nicht sein als hier bei Regenwetter in einer Winternacht. Aus keinem Fenster dringt ein Licht.

Plötzlich bleibt sie stehen. Da ist ein verfallenes Häuschen. Der Nordwest pfeift durch das Gebälk, und die Türen zittern. Das Strohdach ist halb abgedeckt.

Oh, ich hab' ja die arme Witwe heut' ganz vergessen! denkt sie. Das Unwetter hat sie ganz verwirrt. Ihr Mann hatte noch am Abend gesagt, wie krank die Arme sei; sie sollte einmal nach ihr sehen.

Sie klopft an die morsche Haustür. Keine Antwort. Sie friert. Der Nordwest ist eisig kalt. Die Arme drinnen hat wohl kaum etwas zu essen! Und dazu noch die beiden Kinder! Sie klopft noch einmal und ruft. Wieder keine Antwort. Die schlafen fest, denkt sie. Und wie sie sich gegen die Tür lehnt, springt die von selber auf. Manchmal scheint es, als könnten die Dinge mit uns fühlen …

Sie tritt ein. Das Licht erhellt den elenden Raum. Das Dach ist so entzwei, dass Regenwasser herniederrinnt.

Da sieht sie die Witwe auf dem Bett liegen, zusammengekauert mit nackten Füssen. Das Gesicht ist verzerrt. Eine Leiche – ein Gespenst! Die Arme hängen fahl und kalt vom Stroh. Die Hände sind schon blau. Der Mund steht noch offen vom letzten Schrei, der sie in die Ewigkeit hineintrug. – Neben dem Bette der Mutter steht die Wiege. Darinnen liegt ein kleines Mädchen und ein kleiner Knabe. Die schlafen beide. Wie das Licht auf sie fällt, lächeln sie im Schlaf.

Als die Mutter den Tod gefühlt, hat sie die Decke von sich genommen und über die Wiege gelegt. Das war das Letzte, was sie noch tun konnte …

Das Unwetter wütet. Es tropft vom Dach auf die Stirn der Toten, und rinnt dann über die bleichen Wangen wie Tränen.

Was hat die Frau des Fischers getan? Sie hat etwas mitgenommen.

Sie rennt wie von Sinnen. Hat sie gestohlen? Gab es hier etwas zum Wegnehmen? Unter ihrem Tuch hat sie's verborgen und läuft damit und läuft. Ihr Herz schlägt wild. Sie sieht nicht zurück, lässt die Tür offenstehen und im Sturm hin- und herschlagen. Endlich ist sie vor ihrer eignen Tür. Sie stürzt hinein, schliesst sie hinter sich – und hin zum Bett! Dort legt sie's nieder und zieht die Decke darüber. Es sind die beiden Kinder der toten Witwe. Die sind erwacht, die schreien. Sie gibt ihnen zu essen. Sie wirft mehr Holz ins Feuer, setzt Wasser auf, wäscht die Kleinen und legt die Müden wieder in die Kissen ihres Ehebetts …

Sie ist blass. Sie sieht aus, als hätte sie die grössten Gewissensbisse, und legt endlich den müden Kopf neben die beiden Kleinen und weint.

»Ach Gott, – hatte mein Mann nicht schon genug? Was hab' ich getan! Jemand anders hätte ja auch die beiden nehmen können – einer, der es besser dazu hatte als wir! O, mein Mann – der wird mich nicht begreifen! – Da ist er schon! – Nein … Aber er muss ja bald hier sein! Es wird schon hell. Was soll ich sagen? Hätt' ich gedacht, dass ich mich jemals vor seinem Kommen fürchten müsste?!«

Und sie zerreisst sich das Herz und weiss nicht aus noch ein und kann endlich garnichts mehr, auch nicht mehr sich ängstigen – denn draussen stürmt es, und der Regen klatscht. Seevögel schreien dem erwachenden Tag entgegen. Mögen die nur schreien! Und das kraftlose Weib versinkt in ihren ermatteten Gedanken wie in einem Abgrund.

Da, endlich wird die Tür geöffnet, von einer starken Hand. Und im hellen Tag steht er da, gross und blond, der Fischer. Das Wasser rinnt von ihm, in der Hand hat er sein Netz. »Hier kommt Seevolk!« ruft er.

»Nein – bist du da?« sagt die Frau. Sie steht auf und geht ihm entgegen, befangen wie eine Braut. Er nimmt den Südwester ab, dann öffnet er den Fensterladen. Sie schaut in sein gutes Auge und bekommt wieder Mut. »Was ist das für ein Wetter, du?« – »Ja, das magst du wohl sagen!« – »Und Fische?« – »Traurig!« – »Traurig?« – »Schlimmer kann's nicht werden, denn ich fing nichts. Ich bin froh, dass ich mit heiler Haut davongekommen bin. Na, und du? was hast du getrieben?« – »Ich? – Mein Gott, garnichts. Das Wetter macht einem so angst, weisst du. Da ging ich hier herum und wartete auf dich.« – »Ja, ja, das ist ein böses Wetter.« – »Das ist ja wahr, sie ist nun tot, die Witwe.« – »Und ihre beiden Kleinen?« – »Die Kinder, die – ja, die lagen und schliefen. Das eine kann knapp gehen, und das andere, das Mädel, Marthe heisst es, das kann noch nicht mal sprechen. Ja, Marthe heisst es. Der Junge heisst Willy. Gott, wie arm die doch waren, du!« –

Nun wird der Fischer ganz ernst. Er macht ein paar Schritte, und sieht sich um. Er steckt seine nassen Finger ins Haar und kraut sich. »Warum hat nun der da oben die Mutter von diesen kleinen hungrigen Mäulchen genommen?« Er steht still und schaut sein Weib an, bis sie es wieder mit der Angst bekommt. Dann dreht er sich um. »Da muss der Herr nun mal zusehn, wie das werden soll. Geh, und hol' die Kinder, Frau. Und wenn der da oben es merkt, wie's hier unten bei uns aussieht, dann wird er schon ein Einsehen haben, und dann wird's wohl auch mit den Fischen besser. – Willst du nicht gehen?«

– »Ja doch, aber – die sind schon hier.« Und sie schiebt den Vorhang vor dem Bett zur Seite.

DRUCK VON MÄNICKE & JAHN IN RUDOLSTADT

Weitere Anmerkungen zur Transkription

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Die Originalschreibweise wurde beibehalten. Die Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht. Die Absätze wurden mit Einzügen versehen. Der Schmutztitel wurde entfernt.

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