GELEITWORT

Der Widerklang vom Leben und seinem Geschehen: das Echo vom Menschen – das ist die Legende.

Ohne Falsch ist das Echo. Ohne Trug.

Das Echo kann nicht lügen.

Das Echo ist die Wahrhaftigkeit, die Wahrheit.

Darum wandere zu den Legenden, wenn du das wahre Gesicht des Lebens und seiner Menschen sehen willst.

Björnstjerne Björnson ist der Wahrheit nachgepilgert zeit seines langen glückhaften Lebens. Ein Wahrheitssucher, ein Wahrheitskämpfer ist er gewesen. Und er muss wohl die Wahrheit gefunden haben: er fand das Glück. Und er muss wohl die Wahrheit geliebt haben: das Glück blieb ihm treu.

Seltsam mutet es an, dass Björnsons letzte Gabe, die er uns mit schon unirdischen Händen reichte, dieses Büchlein war. Deshalb seltsam, weil er diese Legenden sein Glaubensbekenntnis nannte, diese Legenden, die er in fremder Form bei dem ihm in Phantasie so verwandten Victor Hugo fand.

Ein hoher Sechziger, ein Weiser war Björnson schon, da er im Jahre 1897, aus Paris nach Christiania zurückgekehrt, die »Legenden« vor einem zu jubelnder Begeisterung entfachten Publikum vorlas, ihm erzählte.

Ibsen, sein Freund und grosser Gegner, der ihm damals auch gelauscht hatte, sagte mit bewegter Stimme zu ihm: »Ich hatte nicht geglaubt, dass Victor Hugo so gross war.«

Victor Hugo ist gross. Er hat den herrlichen Zyklus »La Légende des Siècles« gedichtet. Bunt und schillernd aus märchenhaftem Reichtum seiner Phantasie, im grossartigen Pathos, mit tausend königslichsten Gesten und abertausend berauschenden Wortklängen, in perlenden Versen und glitzernden Reimen singt uns der grosse Romane das Hohelied von der Wahrheit des Lebens, von den Legenden. Die Ästhetik der Wahrheit, so möchte ich sein prunkvolles Gedicht nennen.

Und da kommt Björnson, der die grosse Geste liebte und auch das grossartige Pathos, dessen Phantasie reich wie ein Rothschildbesitz war, – und erzählt uns von dem, was er gefunden. Und erzählend vergisst er, selbst ergriffen ergreifend, jede Geste, alles Pathos, allen Wortklang und Vers und Reim, erzählt in schlichtester Prosa und ist zu bescheiden, sich mehr als den Dolmetsch des grossen Franzosen zu nennen.

Darum hielt er wohl auch mit der Drucklegung dieses Büchleins zurück, und es fehlte nicht viel, so wäre durch den vornehmen Widerstand von Frau Karoline, Björnsons Witwe, die als Vermächtnis und Erbe auch diesen Verzicht ihres grossen Toten übernommen, des Dichters letzte Gabe uns allen für immer vorenthalten geblieben.

Wir ehren Victor Hugo und wollen seinem Dichterruhme nichts nehmen; aber wir sind nur ehrlich, wenn wir sagen, dass diese Legenden ganz das dichterische Eigentum Björnsons sind und in der Darstellungskunst mit das Vollendetste, das er uns gab.

In seinem ersten Werk, der »Synnöve Solbakken«, hatte Björnson im Jahre 1859 den »Sagastil« wiedergefunden, jenen elementaren, wortknappen Stil, der auf die isländische Saga zurückführt. Und niemals hat Björnson, der mit seiner Sprache Henrik Ibsen, dem Dramatiker, zum Vorbild wurde, den Sagastil so sehr und ganz erfüllt und gemeistert, wie in diesen seinen Legenden.

Was er Victor Hugo zu danken hat, ist nur die Anregung, ist lediglich der Stoff.

Aber der Stoff macht nicht das Werk.

Und wenn die Kunst die grösste ist, die mit den wenigsten, sparsamsten, bescheidensten Mitteln sich vollendet, dann gebührt Björnson für seine Legenden der Kranz.

Wir wollen nicht werten.

Jeder von beiden ist der grosse Sohn seines Stammes: Hugo der Vollblut-Romane, Björnson der Vollblut-Germane. Und darauf beruht die Grösse beider und das Getrennte, ja Antipodische ihrer Kunst.

Der Romane mit dem nervösen, heissen Saft in den Adern muss, ungebändigt, immer aus dem Vollen schöpfen und schaffen. Sein Temperament reisst ihn zur Subjektivität hin.

Der Germane mit den straffen, urgesunden, disziplinierten Nerven in Hirn und Herz ist immer Herr seines Temperaments. Sein kühleres Blut erzieht ihn zum Masshalten, zur Objektivität.

Verbunden sind beide einander, Björnson und Hugo: in Wahlverwandtschaft.

Aber sie können nie die gleiche Wirkung hervorrufen, wenn sie auch einmal gleiche Stoffe in ihren Dichtungen behandeln.

Die Ästhetik der Wahrheit, so nannte ich Hugos Gedicht.

Die Ethik der Wahrheit, so nenne ich Björnsons Legenden.

»Wo ich das Gute finde, nehme ich es,« sagte Molière. Wir wissen es, dass er skrupellos Ideen und Stoffe und meist auch noch mehr von anderen Dichtern in seine zahllosen Bühnendichtungen aufgenommen hat, genau so wie Shakespeare. Und die Nachwelt gab ihnen Recht und Ehre. Unsterblich sind ihre Werke.

Und wir sind nun auch schon Björnsons Nachwelt.

Björnson schläft schon, und wir fühlen noch den Blick seines Auges, die Gewalt seiner Stimme, den Druck seiner Hand.

Wir wissen noch so viel von den Worten, die er gesprochen, nur gesprochen. Und jetzt mit diesen Legenden haben wir das Letzte gehört, das er uns zu sagen hatte.

Sein Glaubensbekenntnis: das Bekennen eines Weisen, der am Ziel ist, der lächelt.

»Es gibt nur ein Heldentum auf Erden: das ist, die Erde so zu sehen, wie sie ist, und sie zu lieben«, las ich vor ein paar Tagen bei Romain Rolland.

Solch ein Heldentum hat Björnson erfüllt.

Er hat seiner Zeit und ihren Menschen wie selten einer ins Herz, tief ins Herz geschaut. Und er blieb voll Zuversicht, voll Glauben, voll Liebe. Gerecht und wahrhaftig, einer vom kleinen Fähnlein der Aufrechten. Gut sein, helfen, Wege weisen, Licht entzünden, das war ihm Beruf. Darin war er Berufsenthusiast.

Sein Glaubensbekenntnis, es ist das Bekennen zur Liebe und Ehrfurcht, zur Barmherzigkeit und Güte.

Und man darf es glauben: in diesem Büchlein ist mehr eigenstes Erleben und Leiden Björnsons verborgen, als mancher ahnt.

Ein elender Frosch am Wege offenbart ihm seine Gottheit.

Er weiss von dem Evangelium des Weibes und nennt Ruths seligmilden Namen.

Der Mutter aller Mütter weiht er eine fromme Kerze, wenn er vom armen Fischerweib erzählt.

Zu Kindern lauscht er nieder, er kennt sie alle, kennt die kleine Infantin, die mit der Rose spielt, den kleinen Paul, das Söhnchen des Polizisten, die blonde Isora. Er hat Ehrfurcht vor Kindern. Er fragt Kinder um Rat, und er folgt ihrem Rat, er, Björnson.

Und Gott sucht er, wenn er Pan sein Flötenlied träumen lässt, wenn er die Zeder zu Johannes wandern lässt, wenn er dem Propheten nachschaut, wenn er vor dem Wunder der seligen Brücke: dem Gebet die Hände faltet.

Und die Menschen sucht er, wenn er dem Waldbaume Worte gibt, für die Ärmsten der Armen zu bitten, über die wir Glücklicheren noch immer uns als Blutrichter glauben setzen zu dürfen.

Es hat wohl ein tieferer Dichter als Björnson unter uns hier oben gewohnt: Ibsen.

Aber kein höherer Mensch hat unter uns hier oben geweilt als Björnson.

Ein hoher Mensch!

Und wenn du ihn nie mit eigenen Augen gesehen hast, wenn du nichts weiter von ihm kennst als seine Dichtungen: du kannst ihn noch finden, fühlen, erfahren, wenn du dorthin gewandert kommst, wo zu Füssen einer Riesenpappel, wie sie Meister Böcklin gemalt, Björnson schläft.

Vor eine breite Hügelhöhe musst du dich stellen und deine Augen emporheben, immer höher heben, bis du die Pappel gemessen hast.

An eine Gigantenfackel magst du denken, die dem Tage das Licht gibt.

An eine Sagensäule, die den Himmel trägt.

An einen Riesen und Helden und Menschen, alle überragend, und von ihnen getragen, getragen von den tausend, hunderttausend, den Millionen anderen Menschen, die zu ihm pilgern, die an ihn glauben, für die er war und bleiben wird.

Und du findest noch mehr Bilder, wenn du hier stehst, und alle Bilder musst du vereinen: dann siehst du Björnson, dann hast du es erfahren, dass dieser hohe Mensch noch mehr ist als der Dichter des Nordens: er ist der Genius dieses reinsten Germanenvolkes.

Er war der Wecker des neuen, erstarkten Norwegens.

Er wird der Wächter von Norwegens Freiheit bleiben.

Er ist nicht tot. Er lebt. Er lebt immer noch und immer ewiger und wird bei den Enkelkindern unseres Geschlechts in tausend Legenden weilen, er, die Wahrheit Norwegens, Norwegens Echo, Norwegens Legende, Björnson.

Drüben, jenseits der Ostsee, im Süden wohnt das Brudervolk der Norweger.

Das hat teil an Björnson.

Darum trug ich seine letzte Gabe nach meiner deutschen Heimat als Björnsons letzten Gruss, und fand mit Hanns von Gumppenberg zusammen aus Björnsons Sprache die Worte unserer Muttersprache. Dafür möchte ich Hanns von Gumppenberg herzlich danken. Und meinen innigen Dank auch an Lars Svanström, den Neffen und Verleger Björnsons. Denn nur seine Fürsprache bei Frau Karoline hat die deutsche Ausgabe ermöglicht: und diese deutsche Ausgabe sei unser Dank an Frau Karoline.

Möge diese Ausgabe Björnsons würdig sein!

Sundet-Röros, im Juli 1912.

NIELS HOYER.

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