DER SATYR

Weithin breiteten sich die Wälder am Fusse des Olymp, des heiligen Berges, der Wohnung der Götter; und in diese Wälder war ein Satyr gekommen. Niemand kannte ihn. Hier war er heimisch geworden, hier schwärmte er im Laubdickicht umher. Woher stammte er? Niemand wusste es: nicht Flora, nicht Vesper, nicht einmal Aurora, die doch alles weiss, weil sie über jedem Auge strahlt, das aus seinen Träumen erwacht und erwachend sich verrät. Auch der Rosenstrauch hatte nie etwas über den Fremdling gehört. Es half nichts, alle Vogelnester abzufragen. Der Windhauch in den Gräsern hatte gleichfalls keine Ahnung. Und die Blätter der Bäume schüttelten sich nur stumm, wenn man von ihnen Auskunft haben wollte.

Aber alle zusammen fürchteten sich vor ihm. Denn immer, bei Tage wie bei Nacht, gebärdete er sich wie ein Trunkener. Selbst die Bacchantinnen ergriffen vor ihm die Flucht. Die Waldnymphen verbargen sich vor ihm in die Berghöhlen. Das Echo schlüpfte in tiefe Felsgrotten hinein. Die Dryaden getrauten sich kaum mehr hervor. Wagten sie es doch einmal, wenn alles stille war, sich im Wasser zu spiegeln, und blinkte dabei nur ein winziges weisses Leuchten von ihnen auf, husch! war auch schon der zottige Traumbold über sie her. Hinter Bäumen, die am See schatteten, lauerte er, ob nicht eine Najade irgendwo aus dem Wasser hervorschimmerte, wie ein Stern, der sich in ein Weib verzaubert hat. Durch die Nacht irrlichterten seine gierigen, lüsternen Augen wie flackernde Flammen. Unschuldigen Blumen stellte er nach. Der Goldregen war nicht sicher vor ihm. Der Mohn vermochte ihn nicht einzuschläfern. Am allerschlimmsten aber wurde er im Mai. Duft und Gezwitscher machten ihn toll. Er wälzte sich im Grase. Mit Lilien trieb er Unfug und mit Myrten. Die Disteln, die er verschmähte, stachen nach ihm. Ja er benahm sich so unmoralisch, dass selbst die Drosseln und Krähen es schamlos fanden und ihn im ganzen Walde verschrieen.

Als die Zeit der Dürre kam, und die Flussgöttinnen nichts weiter als einen dünnen Flor trugen, standen sie jedesmal Todesängste aus, dem frechen gehörnten Lümmel zu begegnen, wenn sie ihre Krüge mit Regenwasser füllen wollten. Eines Tages nun war Psyche, die hohe Göttin, zum Bade dort unten am See. Natürlich konnte es nicht anders sein, als dass sie hinter dem Laubwerk seine lüsternen gelben Augen sah. Und so kam es zum Klappen. Die Göttin beklagte sich. Herkules stellte ihn. In seinem heimlichsten Versteck stöberte er ihn auf, packte ihn bei den Ohren und zog mit ihm ab, hin zu Jupiter …

Der Satyr stand auf dem Berge, dem ewig blumenbedeckten, und schaute den Steig, der in das unendliche Licht, in den Himmel emporführte. Mit seinen Bocksfüssen stand er da, schmutzig von Erde, aber im Hirn fühlte er einen seligen Rausch von all dem Duften und Singen und dem Anblick der himmlischen Schönheit und Reinheit.

Da begann ihn zu frieren. Aber Herkules liess ihm keine Zeit, er schleppte ihn weiter, höher, immer höher hinauf, bis hellster Lichtglanz sie umfing, am Tore der heiligen Halle, darinnen Jupiters Herrlichkeit thront. Zu den Plejaden schaute der Satyr auf. Sie schienen so nah, ganz nahe. Eben wollte der Sonnenwagen seine Fahrt beginnen. Erwachend bebte der Himmel. Mit gewaltigem Dröhnen sprangen die Torflügel auf, in das Glühen der Morgenröte hinein. Und flammend zeigte sich etwas masslos Gewaltiges, wie ein millionenfaches Auge – der Sonnenwagen! Goldglanz ging aus von den Armen des Gottes, der ihn lenkte. Es strahlte das Geschirr der beiden Rosse, die ungeduldig mit den Vorderhufen das Dunkel vom Licht wegscharrten. Von ihrem Zaumzeug rollte ein schimmernder und blitzender Strom von Perlen, Diamanten und Saphiren …

Der Himmel, der Tag, der emporstieg und sich dehnte, das Zurückschwinden der Erde, all das Erhabene, Glückselige, Reine … der Satyr trottete hinein, seine Bocksfüsse traten Löcher ins Licht, noch hässlicher und plumper wurde sein tierisches Aussehen hier über den goldenen Wolken. Aber weiter musste er; Herkules hielt ihn fest an den langen Ohren …

Mit einem Male taumelte der Satyr hin und wollte sich verkriechen. Ihm war, als wenn der Boden unter ihm wiche. Licht stürzte ihm flutend entgegen, Licht, so überwältigend unermesslich, dass es ihn schmerzend auf die Kniee zwang.

Vor sich sah er die unsterblichen Götter in ihrer ewigen Freude. Unsichtbar fast, bei aller Sichtbarkeit, denn das Unfassliche blendet. Am weitesten vorn erblickte er Venus. In übersinnlicher Schönheit, faltenbefreit, lag sie da, nackt hingeschmiegt, wie weisser, sich wiegender Schaum, von heiss verlangendem Leuchten umflirrt. Und das Leuchten war die Glut aller Augen und Wünsche, die auf ihr weilten. In ihrem Goldhaar schienen die Wellen des Weltmeers zu spielen …

Auf einem Adler ruhte Jupiters Fuss. In seinen Augen sah man das All in Bildern. In dem einen Auge die Welt, die gewesen ist, in dem andern die Welt, die werden soll. Aus dem Hintergrunde her kam Kupido gegangen, der aus Lichtstrahlen Geborene …

Himmlische Musik, tausend Melodieen voll von seliger Freude umwogten die hohen Götter. Wohin man schauen mochte, war Festglanz. Denn der Himmel spiegelte der Götter Schönheit wider. Das All sang ihnen Lob und Preis, weil sie die Herren der Welten waren. Die Tiere liebten ihren Bogen, der ihnen den Tod gab. Die Menschen beteten der Unsterblichen todbringende Speere an. War aber einer unter ihnen, der die Himmlischen hasste: auch sein Hass wurde frommer Gesang zu ihren Füssen.

Jetzt liess Herkules den Satyr los, und versetzte ihm einen Puff, dass er kopfüber hinpurzelte. Und dann stand er da, der zottige Geselle, mit gesträubten Borsten, finster und hässlich. Doch in seinen Augen sprühte ein feuriger Funken auf …

Da die Himmlischen seiner ansichtig wurden, brach rundum ein schallendes Gelächter los, so übermütig und lärmend, dass es von den Gestirnen widerklang. Ein felsengefesselter Riese hob den Kopf und brummte: »Was für einen Kunden haben die Seligen denn da zu fassen bekommen?«

Begonnen mit dem Lachen hatte Jupiter. Neptuns Gelächter rief einen Orkan hervor; unermessliche Schätze gingen in dem Sturmeswüten zugrunde. Aber Neptun musste weiter lachen, er konnte nicht aufhören. Venus wandte den Kopf und fragte, was denn der Bursche hier solle, Diana griff ganz unwillkürlich nach einem Pfeil ihres Köchers. Die Tauben schlossen die Augen. Die Pfauen schlugen ein Rad, mit bitterbösem Schreien. Und die Göttinnen lachten, so wie eben alle Weiber zu lachen pflegen …

Als der Satyr sie erblickt hatte, glotzte er ungeniert von einer zur andern, von einer zur andern, die ganze Reihe entlang, und torkelte schliesslich auf Venus zu. Aber ihre schneeweissen Füsse blendeten ihn dermassen, dass er nicht zu ihr hin gelangte. Das brachte den weiten Kreis der Götter wieder so fürchterlich zum Lachen, dass Dianens Hunde in wilder Rotte kläffend den Berg Öta hinabrannten …

Und dann hörten sie alle Jupiters Stimme: »Du verdientest zu Marmor versteint zu werden, oder in Wasser zu zerfliessen, oder auseinandergezerrt zu werden wie ein Baum. Jedoch – du hast uns zum Lachen gebracht. Es war ein herzerfreuendes Lachen! Darum magst du zurückkehren nach dem raunenden Walde am See. Doch vorher, Bursche, musst du uns noch einen deiner wilden Tiergesänge singen. Der Olymp will dich hören!«

Der Bocksfüssige antwortete: »Herkules – Herkules hat meine Rohrflöte entzweigetreten! Ohne die geht es nicht.«

»Da!« rief Merkur, und warf ihm seine Flöte zu.

Der arme Waldteufel war an Schattendunkel gewöhnt. In einem Winkel kauerte er sich hin, ganz für sich allein, und sammelte seine Träume. Dann probierte er die Rohrflöte. Bei dem ersten wundersamen Triller schaute der Adler auf. Der hatte nicht mitgelacht …

Und dann begann der Sang des Waldteufels. Leidensschwer klang er … bis zur Erde tönte er nieder. Das Getier rings um den Olymp und unten an den Waldhängen, mit dem Geweih aus dem Laube hervorlugend, die Hirschkuh mit ihren tiefen Augen, alle streckten sie den Hals und spitzten die Ohren. Die Bäume drunten huben an, ihre Zweige nach dem schwermütigen Rhythmus des Flötenliedes zu wiegen, Zedern und Pinien, alle, alle. Die rotblättrigen Buchen schauten noch ernster drein. Der Wolf gab dem Tiger ein Zeichen, dass auch er lauschen solle …

Und der Satyr wusste nicht mehr, vor wem er sang, wo er sang …

Er sang das Lied der Erde. Er sang das Lied der Schöpfung. Und er sang von den gewaltigen Vulkanen, die nun schlummern unter den Meeren und Seen und träumen von dem Gebirge, das einst ihr Helm, und von den Flammensäulen, die einst ihr Helmbusch gewesen. Er sang von Felsen, schlafend unter dem Eis – er sang von des Wurmes unterirdischer Arbeit. Also begann sein Sang. Und dann sang er vom Walde … den kannte er am besten. Er sang von den herrlichen Bäumen, die ihre Wurzeln tief im Erdball haben, ihre grauenvollen Wurzeln, die wie geduckte Schlangenhälse mit aufgesperrten Rachen über schwarzen Tiefen hangen und trinkgierig sich bohren in schaurigste Finsternis. Und was sie getrunken, geben sie wieder als Nebelrauch, der zum Himmel steigt, oder sie speien es aus wie Gift. Was kümmert das alles die Erde? Sie sammelt und zeugt ohne Ende. Aller Wesen Durst und Hunger saugt an ihren Brüsten … die Bäume aber sind Kiefer, die alles vorkauen, für alles die Vorarbeit tun; Regen schlürfen sie ein, Luft und Wind, Nacht und Tod! Alles ist gut genug für sie. Die Bäume verwandeln alles wieder in Sand, in Erde.

Dort unten aber, wo ihre Wurzeln tätig sind, werden Kämpfe ausgefochten. Denn Raubtiere sind die Wurzeln … Und der Satyr sang von dem Kampf tief unten im Dunkel des Daseins, von dem Kampf zwischen den lichtfremden Geistern …

Und während er sang, ward ihm so seltsam, als fielen Fesseln von seinem Nacken. Die Worte sprangen von seinen Lippen, als machten sie ihn frei. Zu mächtigen Flügelschlägen wurden sie …

»Das Gebirge,« so sang er, »der grosse Zeuge, erhebt sich über dem ewigen Kampf in der Erde und auf der Erde. Das kahle Gebirge ahnt zwischen Nebeln und Nächten das grosse Geheimnis. Sein ewig ruhiges Antlitz späht in die wilden Tiefen und sieht in den wahren Himmel, den die olympischen Götter nicht kennen! Die uralten Weisen, die Berge, grübeln dem nackten Ursprung der Dinge nach. In der keuschen, ehrwürdigen Natur forschen sie nach den Urgründen, den Quellen des Seins! Etwas aber bleibt immer noch übrig, das keiner enträtselt, auch sie nicht …«

Des Satyrs Augen hatten sich geschlossen – er griff nach seiner Flöte, und liess sie fallen … griff sie wieder auf, und liess sie abermals fallen … Schweiss rann ihm von der Stirne, wie Wasser von einem Netz, wenn man es aus dem Meere zieht.

Die Tiere der Erde waren zur Höhe geklommen. Gehörnte Köpfe und wilde Augen stierten in den Äther herauf.

Apollo sagte: »Willst du meine Leier haben?«

»Ja,« antwortete der Satyr, und nahm sie. Es war, als ob er erwachte, und er blickte umher … doch die Träume von aller Dinge Morgen füllten seine Sinne mit seliger Trunkenheit.

»Er ist ja schön!« sagte Venus.

»Ist das … ist das nicht Antäus?« fragte Vulkan den Herkules. Der aber antwortete nicht, er lauschte dem Satyr …

Und der Satyr griff in die Leier … und verlor sich wieder: wusste nicht, vor wem er sang, nicht, wo er sang.

Er sang das Lied der Menschheit.

Erde ist der Mensch: Erde, die zum Himmel will. Doch immer wieder wurde der Mensch zurückgeworfen, immer wieder wurde er geknechtet. Nicht den Namen Prometheus nannte der Satyr. Doch seine Augen sprühten Funken metallenen Feuers, da er sang vom Kampfe des Menschen mit schändlichen Königen und gierigen Göttern. »Und furchtbar war der Mensch in diesem Ringen. Wen kann das wundernehmen? Wälz' einen Berg auf die Glut des Menschengeistes, und er speit Lava! Und noch immer steckt der Menschengeist zur Hälfte in Chaos und Schlamm. Unter eurem Regiment, Götter! Noch immer kämpft der Mensch hart und schwer mit euern Elementen, mit dem Erdboden, mit der Pest, mit den Meeresfluten. Des Urstoffs ungelöstes Rätsel drückt ihn darnieder, ist fast immer sein armseliges Schicksal, an dem er zugrunde geht, und entfesselt seine Leidenschaften, sodass eine Menschenhorde mordend auf die andere sich stürzt – und eine jede hat ihren König!

Aber, ihr Götter – kommen wird der Tag, da der Mensch eure Elemente wie gebändigte Rosse anschirrt und herrlich mit ihnen dahinfährt ins Reich der Freiheit! Dann macht er sich zum Herrscher über alle, die heute seine Tyrannen sind. Schon hör' ich das Feuer knistern unter der Asche … den Axthieb schon seh' ich, der die Rinde zerspellt! Aufbäumen wird sich der geknebelte Mensch, durch Flammen wird er schreiten wie ein Dämon, durch Wälder, Ströme, Lüfte, in der Hand jauchzend die Fackel, die in Brand gesetzt ist an demselben Feuer, das die Sterne entzündet hat! Und zu des Urstoffs gelöstem Rätsel wird er sprechen: »Nimm Flügel!« Und zu den Grenzen: »Ihr seid nicht mehr!« Denn wer kann wissen, ob er nicht eines Tages alle Schwere von sich werfen wird, diese unreine Hülle, womit der Staub den Gedanken belastet? Wer kann wissen, ob nicht dereinst dieser Erdenwurm in euerm Himmel seine Schwingen breitet? Darum auf, Menschengeist – empöre dich! Leg' deine Bahn ums Licht herum! Ströme mit hinein in den grossen Chor! Mach' dich frei vom Joch der Sünden! Werde Menschheit, jene herrlichste Dreiheit: Mann, Kind, Weib! Unermüdlich sollst du in Geist dich verwandeln! Greife die Strahlen des Lichts! Lass den beschwingten Körper, die göttliche Stirn auf den Thron dich erheben! Und stehst du dort oben, so wirf deine Bocksfüsse zurück in die Nacht, aus der sie kamen!! …«

Der Satyr hielt inne. Und wie ein Haupt, das aus dem Gischt eines Wasserfalles emportaucht, schöpfte er tief Atem. Ein ganz anderer war er jetzt. Die erschreckten Götter starrten auf Jupiter; der sass finster auf seinem Thron, als drohte ein Unheil …

Und der Satyr fuhr fort: »Götter – die Erde habt ihr geschaffen, und kennt sie nicht! Der blaue Olymp, die neblichte Unterwelt, Tempel, Gräber, Wälder, Städte, Adler, sie werden und vergehen! Etwas aber dauert über dem allen, das nie jemand gekannt hat und nie jemand kennen wird, ob auch alle, alle davon träumen. Die Zukunft wird mehr davon offenbaren, bis endlich des Menschengeistes unaufhaltsame Eroberungen alle Schranken brachen – alle, die heute noch sind. Darum rufe ich euch zu: Freie Bahn dem Menschengeist! Gebt ihn frei! Überall Licht! Überall Raum für den Genius!«

Indem er so stand und sang, war er grösser geworden als Polyphem, grösser als Typhon, grösser als die Titanen, grösser als der Berg Athos: und rings um ihn her war Finsternis …

Das war kein Satyr mehr, der da sang – das war eine Landschaft, von allen Meeren herauf zu den Felsen, von den Felsen empor zum Himmel … die Tiere aber, deren seltsam staunende Augen noch eben aus dem Äther hervorlugten, zogen nun friedlich weidend über die Landschaft hin …

Des Satyrs Hörnerpaar war zu zwei unermesslich hohen Bergspitzen geworden, und die Leier an seiner Brust zu einem gewaltig breiten Bergstrom, der in tausend rauschenden Wasserfällen schäumend ins Meer hinab sich ergoss …

»Wer bist du?« frug Jupiter.

»Ich bin Pan« …

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