Alexander von Gleichen-Rußwurm. Gedanken über die Geselligkeit.


Gedanken über die Geselligkeit.
Von Alexander von Gleichen-Rußwurm.

Die meisten Träumer und Verfasser utopischer Weltbilder verirrten sich in einem Wald politischer Ideale und vertraten den Standpunkt, daß Staatsverfassungen, Gesetze, öffentliche Einrichtungen, den Kern des Lebens ausmachten. Alle diese Dinge umgeben uns wie die Landschaft, wirken wohl ab und zu auf die Stimmung, bilden einen Gesprächsstoff, greifen aber in das eigentliche intime Dasein nur in außergewöhnlichen Fällen ein und dann meist auf unangenehme, störende Weise. Vielleicht trägt gerade das störende Element dieser Eingriffe die Schuld, daß bei allen Zukunftsträumereien eine durchdringende Veränderung der öffentlichen Verhältnisse hauptsächlich ins Auge gefaßt war. Von Plato bis Bellamy und Laßwitz, der die Erdbewohner mit den Marsleuten in Verbindung brachte, haben die Autoren soziale Märchen erzählt und die Frage ausgeschaltet oder höchstens gestreift, ob sich seine anmutige Geselligkeit in den neuen Zustand der Dinge einfügen könne.

Die „große“ und die „schöne“ Welt, wie nach französischem Beispiel die Kreise genannt werden, in denen man sich unterhält oder wenigstens unterhalten soll, haben noch jeden Umsturz überdauert und tauchten immer aus der Unordnung gewaltsamer Katastrophen empor, sobald nur ein wenig Ruhe eintrat und ein bißchen Ordnung Platz schaffte. Es ist merkwürdig, wie gering die Einwirkung großer, historischer Ereignisse auf das tägliche Leben und seine Sitten ist. Nur langsam ändern sie sich infolge bahnbrechender Erfindungen, indem sich die Gesellschaft die Arbeit der Gelehrten zunutze macht, sobald sich die Industrie ihrer bemächtigen konnte. Die Leichtigkeit, mit der wir uns fortbewegen, die Schnelligkeit, mit der fremde Genüsse eingeführt werden, die Billigkeit angenehmer Dinge tragen viel bei zum Wechsel der moralischen Anschauungen, unter denen die Geselligkeit seit alters steht.

Der harmlose Verkehr zwischen den beiden Geschlechtern ist der Angelpunkt jeglicher Geselligkeit. Ob anmutiges Gespräch und sinnig heiteres Spiel, ob der Tanz oder die Karten, ob schließlich ein Sport diesen Verkehr beherrscht, entscheidet vorübergehende Mode. Der Charakter unserer Entwicklung, der auf starker Individualisierung beruht, läßt dahin schließen, daß in einem Jahrhundert — je nach Geschmack der einzelnen Kreise — die verschiedensten Unterhaltungen nebeneinander ihr Recht behaupten und daß die strengen Gesetze, die heute eine sogenannte herrschende „Koterie“ vorschreibt, bei steigender Kultur an Bedeutung verlieren. Anmutig feine Geselligkeit, die aus Memoiren und Briefen noch einen Abglanz auf spätere Zeiten wirft, war immer selten und auf wenig Auserlesene beschränkt. Daß die Zahl dieser Auserlesenen sich vermehrt, ist wünschenswert und wahrscheinlich, denn ein Rundblick über Literatur, Kunst und Kunstgewerbe zeigt eine Sehnsucht nach heiter ausgefüllter Muße, wie sie nur vornehm froher Verkehr im Salon gewähren kann.

Aber unser allgemein anerkanntes Nützlichkeitsprinzip — höre ich sagen — widerspricht solch rosafarbenem Optimismus, der im Jahrhundert der Arbeit einen Triumph der großen und der schönen Welt prophezeit. Und ein gelehrter Freund erzählt mir von Madachs berühmter „Tragödie des Menschen“, deren Zukunftsbilder zu meiner leichten Plauderei in schärfstem Widerspruch stehen. In dieser tiefen Dichtung ist ein Staat entworfen, der das Prinzip absoluter, nüchterner Nützlichkeit endgültig zum Sieg brachte. Alles ist durchaus sachlich und praktisch geordnet, Phantasie, die gute Fee, die einst zu Spiel und Vergnügen geleitete, hat den Menschen verlassen und alles, was einst den Schönheitsdurst stillte, gehört zum vergessenen Plunder. Es ist mit Etiketten versehen, in einem Museum gesammelt und wird den Kindern gezeigt. Alle Ueberflüssigkeiten des Lebens sind darin, die Erinnerungen an harmlosen Verkehr, auch die letzte Rose, denn die ausgenutzte Erde hat keinen Platz mehr für solches Zeug. Diesem düstern Bild halte ich aber die schöne Wirklichkeit entgegen, in der die Blumen mehr Platz einnehmen denn je, und in der vornehmer, geselliger Verkehr endlich bewußt von den Gebildeten als Kulturträger anerkannt wird. Diese Anerkennung verbindet den modernen Wunsch, die Gegenwart schön und die Zukunft noch schöner zu gestalten mit dem praktischen Gesichtspunkt, die Dinge in ihrem Gebrauchswert entsprechend zu behandeln. Die Wichtigkeit des geselligen Lebens als Bildungsmittel für Geist und Gemüt, als anregende Ruhezeit nach den Stunden des Erwerbs steht allgemein fest. Aber seine Bedeutung in einer Zeit, in der alle Anschauungen naturgemäß freier werden, wird meiner Ansicht nach in einem Jahrhundert noch besser geschätzt sein als heute. Denn nur der freiwillige Zwang, den edler Verkehr den Gebildeten auferlegt, mildert die Sitten und schafft ein hohes Kulturbild, wie es als Ideal den heutigen Aestheten vor Augen schwebt. Ideale werden aber — wenigstens zum Teil — Selbstverständlichkeiten der Zukunft. So ist es mit der Gedankenfreiheit, mit der politischen Selbstbestimmung, mit dem gleichen Recht für alle gegangen. So wird es auch sein mit den Träumereien von einem „schönen“ Leben, zu denen vor allem anmutige Geselligkeit zur Feierstunde gehört.

Telefunkengespräch mit Marsbewohnern.

Der kultursuchenden Gegenwart schweben die „mondainen“ Verhältnisse Englands als Beispiel vor Augen. Wir verehren darin die absolute Sicherheit, mit der die klassische Mahlzeit, der richtige Anzug, die bestimmte Art des Vergnügens, Ort und Zeit entsprechend gewählt werden. In hundert Jahren hat wohl die ganze gebildete Welt jene Fehlgriffe überwunden, die heute den eingefleischten Provinzler, den Parvenü, den Snob bei großstädtischen Gelegenheiten so possierlich erscheinen lassen. Man wird in den Regeln des Anstands und der feinen Sitte auch in Kreisen Bescheid wissen, denen heute die geistige Bildung nicht mangelt, sondern nur die gute Kinderstube. „Also Uniformierung, keine Originalität mehr, stilgerecht durchgeführte Langeweile!“ wirft mir eine lebhafte Gegnerin ein. — Wenn langweilige Menschen im Salon sind, gewiß, aber ich glaube, daß es weniger langweilige Menschen geben wird, denn sie werden weniger abgespannt, weniger müde, weniger nervös zusammenkommen und die ausreichende Freiheit, die beiden Geschlechtern eine neue Weltanschauung gewährt in bezug auf Moral, Berufswahl und vielleicht Familienleben, läßt sie den äußeren Zwang eines wohlgeregelten Salons um so angenehmer empfinden. Die Geselligkeit wird blühen, weil dann gute Manieren so selbstverständlich sind wie frische Wäsche und alle, die unter Menschen gehen, sich geistig wie körperlich ein Festgewand anlegen.

Ob dieses Festgewand dem unseren gleicht? — Wer zurückblättert in den dicken Bänden der Kulturgeschichte wird eine verneinende Antwort herauslesen. Mit den äußeren Lebensbedingungen ändert sich der Witz und das Gebiet, das den Unterhaltungsstoff liefert. Wer nicht durch historische Studien belastet ist, lacht kaum über die Witze unserer Vorfahren und würde schwerlich mit Vergnügen an ihren Gesprächen teilnehmen. Wir können es ebensowenig von den Nachkommen für unsere Bonmots und Interessen verlangen. Mit der geistigen Toilette ändert sich aber auch die Tracht. Nach den Bestrebungen der Gegenwart zu schließen, wird sie immer bunter und prächtiger für die Frau und dürfte auch für den Mann geschmeidiger und farbiger werden. Da sich unter veränderten Verhältnissen die Geselligkeit nicht mehr auf die Welt der Müßiggänger vorzugsweise beschränkt und deshalb auf die Abendstunden fallen wird, kann sich der künftige Gesellschaftsanzug Farben und Stoffe erlauben, wie sie ganz moderne Menschen heute vielleicht in kühnen Augenblicken träumen.

Ein Empfangstag in 100 Jahren.

In einer Zeit, in der sich die Verkehrsbedingungen von Jahr zu Jahr bedeutend verbessern, in der sich aber die Grundlagen eines eigenen eleganten Haushalts jährlich verschlechtern, tauchen neue Fragen auf für die Zukunft der Geselligkeit. Der Kommunismus, dessen rohe, kulturzerstörende Elemente ängstlichen Gemütern meist allein bewußt sind, hat auch seine reiche, elegante Seite. Leute, die sich zu unterhalten wissen, lieben es nicht, sich außerhalb ihres Berufs oder sonstigen Interessenkreises zu plagen. Da nun allem Anschein nach nicht nur der Mann sondern auch die Frau außerhalb des Haushalts in steigendem Maße beschäftigt sind, und da fremde Leute, das heißt hauptsächlich Dienstboten, sich immer weniger zuverlässig erweisen, wächst das Bestreben, die Bürde der eigenen Wirtschaft abzuwerfen und im frohen, komfortablen Kommunismus des vornehmen Hotels aufzugehen.

Die offiziellen Feste der großen Welt werden ihren Charakter auch in hundert Jahren wenig geändert haben. Vertreter der unteren Volksschichten erscheinen vielleicht zahlreicher als heute, aber ihre Gegenwart wird noch weniger auffallen, da sie durch die steigende, verallgemeinerte Kultur gelernt haben werden, sich den feinen Sitten geselligen Verkehrs einzufügen, aber die kleinen, gemütlichen Veranstaltungen der schönen Welt, in denen sich immer der lieblichste Zauber menschlicher Zusammengehörigkeit zeigte, sind in hundert Jahren wohl hauptsächlich in jenen lichtdurchfluteten, geschmackvoll eingerichteten Hotelräumen zu finden, in denen der neueste Komfort, die eleganteste Mode, der Schein des größten Reichtums zu den Selbstverständlichkeiten gehören. Da knarrt kein Rädchen einer schlecht geölten Haushaltungsmaschine und stört das Gespräch mit seinem Geräusch, da schaut die Dame des Hauses nicht mehr ängstlich auf die Diener, ob sie nichts vergessen und nichts zerbrechen. Die ganze Mühe ist auf Bestellen und auf Zahlen beschränkt. Ein Privathaus — es sei denn, daß ihm vielfache Millionen den Glanz eines Fürstenhofs verleihen — wird kaum in der Lage sein, den Anforderungen künftiger verwöhnter Generationen zu genügen. Wenn ein Teil der Gäste im Luftschiff heransaust und am Dachstuhl landet, ein anderer durch unterirdische Bahnen herangeführt aus dem Keller emporsteigt und einige altmodische Leute vielleicht noch im Auto am Straßentor anfahren, muß überall für Empfang gesorgt sein. Mit den Erfindungen, die man gebrauchen und genießen möchte, aber beschränkter Mittel wegen sich nicht dienstbar machen kann, wächst auch für den geselligen Kulturmenschen der Wunsch nach Zusammenschluß. So wird der große soziale Gedanke, der im neunzehnten Jahrhundert gefahrdrohend auftauchte, auch der feinen Kultur unterworfen, im geselligen Leben unserer Enkel und Urenkel gute Früchte tragen.

Prophezeien ist zwar eine mißliche Sache, weil man die Grundbedingungen des gegenwärtigen Zustands nicht verlassen kann und über die Grenzen des menschlichen Geistes gar nicht Bescheid weiß, aber ein gesunder Rückblick auf die Vergangenheit ermöglicht, die allgemeine Richtung festzustellen. Ein kleines Buch „l’an deux mille“, das anonym im achtzehnten Jahrhundert erschien, enthält manche ganz richtige Meinung, indem es die großartige Entwicklung voraussah, die entdeckte und bezähmte Naturkräfte später hervorriefen. Damals herrschte das Vertrauen auf eine allein seligmachende Wissenschaft. Heute hat der Wunsch nach höchster Kultur sich mit der Sehnsucht vermählt, durch Abwerfen falscher Zivilisation mit der Natur wieder in innigere Verbindung zu kommen. Diese erstrebte Harmonie öffnet günstigen Ausblick auf das künftige Weltbild.

So können wir hoffen, daß schönere und gesündere Menschen im Salon der Zukunft heiterer Muße pflegen. Doch spätere Zeiten gleichen für uns einem Spiegel, in dem nichts anderes erscheint, als die Erfüllung der eigenen Wünsche.

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