Jehan van der Straaten. Unterricht und Erziehung in 100 Jahren.


Unterricht und Erziehung in 100 Jahren.
Von Jehan van der Straaten.

Es war einmal ein alter, weiser Mann, der war fast so alt wie die Spitzen der Berge und noch älter. Und er war so weise und hatte eine solche Macht, daß ihm alle Feen, Gnomen, Elfen auf einen Wink gehorchten, so verschieden sie auch in ihrer Art voneinander waren.

Aber mein Gott! Er war schon zu alt, daß er keines jener Wesen mehr verstand; kein Faun und kein Gnom konnte ihm mehr ein Lächeln abzwingen, kein Kobold konnte ihn durch seine Streiche ergötzen, keine Fee, so herrlich und schön sie auch war, konnte ihm noch gefallen, er war schon zu alt, und das war sehr schlimm, um so schlimmer, als er sich manchmal doch wünschte, er könne diese Wesen wieder verstehen. Und so dachte er sich, er würde das Verständnis für sie wieder finden, wenn er sie durch die Augen des Kindes betrachten würde, und er sagte zu einem der Kinder: „O, Du liebes, junges Kind, laß mich doch durch Deine Augen sehen.“ Und das liebe, junge Kind sagte: „Warum nicht?“ Und da versuchte der alte weise Mann durch die Augen des lieben, jungen Kindes zu sehen, aber er vermochte es nicht, denn ihm fehlte das Verständnis für die Seele des Kindes, durch das dieses mehr sieht als durch sein leibliches Auge. Und er verstand die Späße der Kobolde und Gnomen und die Schönheit der Fee und all der phantastischen Gestalten weniger als je, und da wurde er totbleich und seine Lippen zitterten und seine Hände auch und er sagte: „Meine Zeit ist um, jetzt bist Du an der Reihe!“ Und das liebe, junge Kind war glücklich und selig, als wäre ihm ein Stein vom Herzen gefallen.

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Es war nicht leicht möglich, besser und eindringlicher als dies James Arthur Colton in den wenigen Zeilen tat, die ich meinen Ausführungen voranschickte, die unglaubliche Verständnislosigkeit zu schildern, mit der unsere Lehrer — nein, unsere Unterrichts- und Erziehungsmethoden, den Kindern gegenüberstehen, die sie zu Männern zu machen berufen sind. In der Zwangsjacke der sogenannten Erziehung verkümmert heutzutage jede Bewegungsfreudigkeit des kindlichen Geistes, die Phantasie, die das herrliche Prärogativ der Jugend ist, wird unterbunden, und sie darf um Gotteswillen ihre Flügel nicht regen, der Gedanke, der hinausschweifen möchte, Gott weiß in die Ferne und alles erfassen, was ihn wie ein Mysterium umgibt, wird an die kalten, starren Buchstaben gefesselt, in dessen Geiste die ganze Erziehung vor sich geht. Statt daß der Lehrer die Kinder versteht, verlangt man, die Kinder sollen den Lehrer verstehen, und das allein charakterisiert das ganze Absurde unserer Unterrichtsmethoden und unseres Erziehungssystems. Es ist kein Zufall, daß gerade die größten Männer meistens die schlechtesten Schüler waren, d. h. die Schüler, die sich durch ihren geringeren Fleiß, ihre größere Unruhe und Lebhaftigkeit, also durch ihr schlechtes Betragen und ihre Unaufmerksamkeit ausgezeichnet haben, wobei allerdings die Lehrer stets die gleichzeitig sich zeigende schnelle Denkfähigkeit und das rasche Erfassen übersehen haben. Gerade alle die gerügten Mängel aber sind oft — natürlich nicht immer — aus dieser großen geistigen Regsamkeit der Kinder zu erklären. Es ist nicht Sache des lebendigen Geistes, über einem Buche zu hocken; nicht Sache des Temperaments (und Temperament und Geist sind im Kinde fast ein und dasselbe) stundenlang auf einem Flecke zu hocken; es ist nicht seine Sache, immer nur auf die eine Seite des einen Buches die Blicke zu heften, wo sie hinaus schweifen können, hinaus, wo es des Schönen und Rätselhaften und Wissenswerten so viel gibt, nein, nein, das Kind will und muß aus sich selbst heraus, es muß aufatmen können nach Herzenslust und will mit der eigenen Lunge atmen, und sich nicht die Luft einblasen lassen, die es einatmen will und einatmen darf, damit es nur ja nicht Schaden nehme an Leib und an Seele. Glücklicherweise bricht sich die Erkenntnis von der Verkehrtheit unserer Erziehungsmaximen immer mehr Bahn, und die Zeit ist wohl nicht mehr fern, in der das ganze Jammergebäude, das wir „Schule“ nennen, in sich zusammenstürzt und auf dessen Trümmern der Tempel der Vernunft glorreich ersteht. Es wird dazu keiner Revolution bedürfen, sondern die Sache wird sich ganz von selber ergeben.

Der Unterricht als Feind der Phantasie.

Wir Menschen werden nämlich allmählich beginnen, uns daran zu erinnern, daß uns selber Kräfte innewohnen, die in den meisten von uns völlig latent liegen blieben, und von deren Vorhandensein wir gar keine Ahnung haben, ja, deren Bestehen wir bei anderen heut noch als etwas nahezu Uebernatürliches empfinden. Außerdem werden sich in uns selber jene Wunder vollziehen, die wir tagtäglich in der Wissenschaft vor sich gehen sehen. So wie es ganz zweifellos ist, daß wir die Welt und deren Farben heutzutage ganz anders sehen als die Menschen vor tausenden, zehntausenden und hunderttausend Jahren sie gesehen haben, so wie unser Auge erst vor Jahrzehnten vorerst in der Kunst und darauf in der Natur die violetten Strahlen für sich entdeckt hat, so ist es gar kein Zweifel, daß über kurz oder lang auch die X- und anderen Strahlen für uns sichtbar sein werden, und es uns gegeben sein wird, mit unseren Blicken auch die Materie zu durchdringen. Möglich, daß wir uns dazu noch besonderer optischer Vorrichtungen werden bedienen müssen, wie wir ja auch jetzt unser schlechtes oder falsches Sehen mit Brillen korrigieren; möglich, oder vielmehr sehr wahrscheinlich, daß unser Auge allein die neuen Fähigkeiten sich aneignen wird. Aber nicht nur unser physisches Auge wird sich in der angedeuteten Richtung wesentlich schärfen und vervollkommnen, sondern unser geistiges auch. Es ist ein alter tiefer Bauernglaube, daß bei der Geburt die Kinder alles Wissen dieser Welt besitzen. Bevor sie aber so gut sprechen gelernt haben, daß sie’s uns mitteilen könnten, haben sie’s auch wieder vergessen. So naiv diese Ansicht ist, so ist doch eine tiefe Wahrheit darin verborgen. Wir lernen das verhältnismäßig Geringe, um das Große, Gewaltige, uns Innewohnende zu — vergessen. Wir lernen und werden erzogen, um eingeschränkt zu werden in unseren Kräften. Unsere Sinne verlieren ihre Schärfe, ja selbst unsere Gliedmaßen lernen wir nur einseitig gebrauchen. Der hervorragende Spürsinn, mit dem der Mensch begabt ist, geht in der Kultur vollständig unter, die „Witterung“ geht uns verloren, der gesunde Blick schwindet, Kurzsichtigkeit nimmt überhand, der Tastsinn, dessen Feinfühligkeit die Blinden wiedergewinnen, ist abgestumpft, das Gehör ist durch das Eindringen von tausenderlei von Geräuschen, für die feinen Schwingungen nicht mehr empfänglich. Und ist dies alles mit unseren groben Sinnen der Fall, die förmlich gewaltsam zum Verkümmern gebracht werden, so tritt das bei unseren feinen und feinsten Sinnen erst recht in die Erscheinung, so zwar, — daß ihr Bestehen geradezu geleugnet wird. Gerade im Kinde sind aber die Schwingungen der Seele ganz außerordentliche, und wehe dem Kinde, dessen Schwingungen keine Resonanz finden. Nun ist aber das Trostlose an der Sache, daß diese Resonanz sehr schwer zu finden ist. So schwer, daß man dreist behaupten kann, daß unter den Millionen von Kindern nicht eines das richtige Verständnis findet, nicht eines den Anschluß an „das Leben“, den es in seiner Seele sucht. Das Kind fühlt sich infolgedessen jenes trostlosen Gefühles voll, das im Unverstandenwerden liegt und rückt — wenn es es selbst bleibt —, auch immer mehr vom Verstehen der anderen ab. Andere wieder, und es ist dies die gewaltige Masse der Kinder, tauchen in der verdammten Alltäglichkeit unter, in der auch die meisten von uns leben und über die sie sich nicht mehr erheben können. Diese Alltäglichkeit wurde dadurch zur Norm. Unter der Norm sind alle die Wesen, die — durch Vererbung, Krankheit, Entbehrung, Mißhandlung idiotisch sind oder werden. Ueber der Norm, d. h. also ganz ebenso anormal sind die Genies oder — die Narren. Und kein Mensch weiß oder ahnt es, daß gerade der allumfassende, schaffende und schöpfende Geist, daß gerade das Genie das Normale ist. Jedes Kind kommt (von krankhafter Degeneration abgesehen) als Genie auf die Welt. Es gilt nicht einmal, den Genius zu erwecken; er ist wach; er strebt mit allen Kräften danach, sich zu offenbaren und wird — getötet. Das Kind wird zum Menschen (!) erzogen. Zum Alltagsmenschen ohne Schwung, ohne Energie, ohne eigene Initiative. Schon unsere Erziehung im Hause legt das Fundament dazu, und die Schule gibt dem Genie dann den Gnadenstoß. . . . Nehmen wir, um den Vorgang zu illustrieren, Zuflucht zu einem Bilde aus unserer genialsten, modernsten Wissenschaft. Drahtlose Telegraphie. Vom Transmitter geht, von den Herzschen Wellen getragen, eine Botschaft aus und sucht den auf ihn, auf seine Schwingungen gestimmten Reciver. Findet sie ihn, so wird die Botschaft gehört, sie hat ihren Zweck erfüllt, und neue Botschaft geht herüber und hinüber.

Gedankenlesen.

Der Verkehr ist angebahnt, das Verständnis ist geschaffen. Nehmen wir aber an, der Reciver arbeitet nicht; die Botschaft umkreist, umflutet, umzittert und umschwingt die ganze Welt; nirgends aber wird sie gehört, nirgends erfaßt, und immer neue und neue Kunde entzittert dem gebenden Apparat, der nach dem Widerhall sucht. Vergebens. Endlich erlahmt die Lust, die Kraft, das Mühen und Suchen. Resigniert wird der Apparat abgebrochen, oder er verrostet und versagt, es sei denn, man habe ihn auf ein anderes Schwingungsniveau gestellt und habe, den eigenen Schwingungen entsagend, ihn auf die Schwingungen eingestellt, für die die Reciver massenhaft da sind. Das Bild ist klar. Und es ist gut. Denn unsere Seele ist im Grunde nichts als der feinste, auf die feinsten Schwingungen eingestellte Apparat. Und es kommt die Zeit, das ist ganz unzweifelhaft, in der wir für die Feinfühligkeit dieses Apparates wieder das Verständnis erhalten. Wo uns die Feinmechanik der Seele kein verschlossenes Rätsel mehr sein wird, sondern auf die volle Entfaltung der Seele und somit des Geistes das Hauptgewicht gelegt werden wird. Wir stehen heute noch vor dem Gedankenlesen als vor etwas Fremdem. Und doch waren wir in unserer Kindheit alle Gedankenleser. Wer hat jemals ein Kind oder besser noch eine Reihe von Kindern beim Märchenerzählen betrachtet! Wie hängen sie an den Lippen des Erzählers, wie lesen sie förmlich von seinen Lippen die Worte ab. Wie leben sie auf in der Gedankenwelt, die sich ihnen da eröffnet und die sie als die ihre erkennen. Denn — das Reich der Phantasie ist die Domäne, in der das Kind unumschränkt herrscht. Die Grenzen dieser Phantasie kennen zu lernen, wird das erste Ziel der zukünftigen Erziehung sein, nicht aber ihr Grenzen zu stecken. Denn je größer die Phantasie, desto größer die damit Hand in Hand gehende Aufnahmefähigkeit des Geistes. Die Phantasie allein vermag die Eindrücke, die der Geist aufnimmt, selbständig zu verarbeiten und sie zu neuen Formen umzugestalten. Der Lehrer wird also in den Geist der Kinder eindringen müssen, er wird ihre Seelenregungen und Seelenschwingungen alle erfassen müssen und wird erkennen müssen, wieviel „Eindrücke“, d. h. wieviel Wissen, Kenntnisse und Erkenntnisse er dieser Seele zur Nahrung geben darf. Wie viele und welche. Denn wie nicht jedem Magen dieselbe Nahrung zuträglich ist, so um so weniger jedem Geiste. Die Erziehung wird also weit früher beginnen müssen als jetzt. Sozusagen vom ersten Lebenstage an, und der Lehrer wird kein solcher, sondern ein Lernender sein. Er wird das ihm anvertraute Kind und wird von diesem lernen müssen. Er wird jede seiner Seelenvibrationen erfahren müssen und wird erkennen müssen, welchem anderen Lehrer die einzelnen Kinder zur geistigen Weiterentwicklung am passendsten überantwortet werden müssen, um den Schatz von Geistesenergie, der in dem Kinde liegt, nutzbar zu verwerten. Denn nicht jeder Lehrer wird für alle Schwingungen gleich empfänglich sein, und es wird Abstufungen geben, die den Seelenabstufungen der zu Entwickelnden entsprechen werden. Auf diesem Seelenverständnis allein wird das ganze Wesen des Unterrichts und der Erziehung beruhen. Das Wissen des Lehrers wird einfach auf das Kind übergehen und diesem nie mehr zugemutet werden können, als es zu erfassen, zu verarbeiten und sich als dauernden geistigen Besitz zu erwerben vermag. Er werden Gespräche sein, ein Gedankenaustausch, weiter nichts, und es wird sehr oft die Frage sein, wer der Lernende sein wird, ob der Lehrer oder — das Kind. In weitestgehender Weise wird den verschiedenen Geistes- und Seelenrichtungen Folge gegeben werden. Jede Veranlagung wird als solche erkannt, keiner Gewalt angetan werden; der Unterricht wird ein Werk der Befreiung sein, der Befreiung von allen Fesseln des Geistes, in die er jetzt gleich einem Fronsklaven geschlagen wird. Dadurch aber wird die eine große Energie zur ungeahnten Erstarkung gelangen: der Wille und dieser Wille wird Wunder vollbringen. Wunder, die aufhören werden, Wunder zu sein, denn sie werden zu Selbstverständlichkeiten geworden sein. Keinem, der so erzogen, so unterrichtet worden ist, wird auch nur ein Gedanke, der in seinem Fähigkeitsradius liegt, fremd sein. Und jeder andere Gedanke wird — in diesem von seiner eigenen Psyche abgegrenzten Kreise — klar und offen wie ein Buch vor ihm liegen. Es wird kein Mißverstehen mehr geben und darum keine Zweifel und Kämpfe der Seele. Das bedrückende Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit wird aufgehört haben und alle die Genies, die heute zugrunde gehen oder auf ihrer Seele fremden Gebieten Mittelmäßigkeiten werden und geworden sind, werden das Große, das Aufbauende leisten können, das zu schaffen sie von ihrer Neigung und von ihren Fähigkeiten gedrängt werden. Von überall her wird der Geist neue Nahrung aufsaugen; kein Eindruck wird verloren gehen, denn er wird sich einprägen mit der suggestiven Gewalt des freiwillig Gewollten. Und wir wissen es alle: nur was man gern lernt, ist wirklich gelernt. Nur das trägt dauernde Frucht und prägt sich uns ein. Das eiserne Muß, das in unsern Schulen herrscht, hat aber zur traurigen Folge, daß wir das, was wir in der Schule lernen, im großen und ganzen nur lernen, um es zu vergessen, nicht um es zu wissen. Angeblich — und ein deutscher Gelehrter hat es bestätigt — wird ein Dutzend Kinder jetzt schon — und seit Jahrhunderten schon so erzogen, wie ich es oben in kurzen Zügen angedeutet habe: die Kinder, aus denen der Dalai-Lama hervorgeht und die hohen Priester des Badhisatra und in denen sich die Seele dieser immer wieder regeneriert. Und tatsächlich ist es ja die eigene Seele der Lehrer, die mit auf die unberührte der Kinder überströmt mit all ihrem Wissen, all ihrem Empfinden, all ihrem Vermögen und die die Schätze der eigenen Erfahrung auf sie ebenso mit überträgt, wie das auf sie selbst übergegangene ihrer eigenen Vorgänger. Und so ist es denn gar nicht unglaubhaft, wenn der oben erwähnte Gelehrte — Prof. Dr. Rosenfeld — erklärt: „im Angesichte des Dalai Lama“ (der damals, als er ihn sah, ein kränklich aussehender Knabe von dreizehn Jahren war) falle jede Verkleidung der Seele, jede Verhüllung der Gedanken von selber und diesem „Kind“ gegenüber seien alle Worte vergebens, denn ehe sie sich noch geformt, gebe er schon Antwort auf jenen Gedanken, dem sie bestimmt waren, Ausdruck zu geben. Es ist eben die höchste Konzentration der Seele und des Geistes vorhanden und beide sind für alle Schwingungen empfänglich, die auf sie zuströmen. Daß wir ein ähnliches Resultat durch all die in uns verborgen liegenden aber zum Durchbruch drängenden, jahrtausendelang gewaltsam in uns zurückgedrängten Kräfte erreichen müssen, ist klar, und daß die Schulmauern fallen werden und statt der Zwingburgen des Geistes freie blumige Auen erstehen werden, auf der sich an der Hand und der Seite des Lehrers die Seele des Kindes ergehen und den Kraft- und Schönheitstrank der Natur in sich einziehen wird, das ist gewiß. Und sehr, sehr fraglich ist es, ob es noch hundert Jahre dauern wird, ehe wir es erreichen, denn auf den Aetherwellen, die uns umströmen, zieht es einher, das neue tausendjährige Reich, das Reich des Kindes, der Menschheit.

Im Reiche des Kindes.

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