Björn Björnson. Die Religion in 100 Jahren.


Die Religion in 100 Jahren.
Von Björn Björnson.

Seine Religion hat jeder, auch der, der sie leugnet. Denn die Religion ist das Ideal und jedes Ideal kann zur Religion werden. Also auch ihr Leugnen. Und wir sehen tatsächlich, daß dem Atheismus Propheten entstehen, und daß Jünger sich um sie scharen, die nachbeten, was diese verkünden, und daß diese verkünden, was sie wissen und auch das, was sie nicht wissen so, als wüßten sie es. Denn im Grunde ist der Quell aller Religion nur unser Nicht-Wissen. Denn wüßten wir, brauchten wir nicht zu glauben. Wer aber grübelt über das, was er nicht begreift, nur um nicht glauben zu müssen, sondern um endlich zu wissen, der schafft sich selbst eine Religion, selbst wenn er nur darum grübelt, um sie zu zerstören. Er denkt eben dem Weltwunder nach und kommt zu dem Punkt, wo er nicht mehr weiß. Nicht wissen kann.

Und an diesem Punkte beginnt — die Religion.

Für ihn.

Und er baut sich um diesen Punkt eine Welt auf und zieht andere mit in diese hinein, und ist diese Welt, die er sich erbaut hat, nicht auf totem Wissensvorrat allein aufgebaut, und hat nicht bloß der Verstand sondern auch der Geist, das Herz, das Verständnis mitgebaut an diesem Baue, so daß auch andere, daß Viele, daß eine Menge sich daran erfreuen und sich darin wohl fühlen können, dann wird er der Schöpfer einer Religion, die um so mehr Jünger zählen wird, je mehr sie auf den Ton gestimmt ist, der den Hoffnungen, der Sehnsucht ihrer Seele entspricht. Denn das große Sehnen liegt ja in jedem. Das Sehnen nach dem, was einem hier nicht geboten.

Nicht hier?

Also wo?

Und diese Frage, auf die man sich Antwort gibt oder geben läßt, ist der Kern aller Religionen.

Wie einem Kinde, das die Mühsal der Arbeit erträgt und spielend bewältigt, weil ihm nach ihr eine Freude versprochen ist, so muß dem Menschen ein Lohn, eine Freude versprochen werden, soll er das Leben ertragen. Denn jedes Leben muß einen Zweck haben. Es hat ihn, aber man muß ihn auch erkennen. Und da man ihn häufig beim besten Willen nicht zu erkennen vermag, so muß man sich selber einen schaffen.

Einen Zweck für sich.

Den Zweck, der erklärt: warum arbeite ich, warum schufte ich, warum leide ich? Und der die Erklärung gibt, daß ein großer Preis winkt, der dieses Lebens und noch größerer Drangsale und Qualen wert ist.

Ein Preis, der uns für alles belohnt.

Wann?

Und in diesem „Wann“ liegt der Wesenszweck aller Religionen. Durch die Antwort darauf werden sie — einerlei wie sie auch heißen — zum großen Troste der Menschheit. Und zum vollen Menschentume gehört solch ein Trost, der nicht alle Hoffnung, nicht alle Poesie, nicht alle Initiative vernichtet.

Die Poesie! Die ist es. Die braucht man.

Man braucht nicht die nackten Wände des Lebens. Sie müssen auch ein klein wenig geschmückt sein. Und die Religion, die durch solchen Schmuck, durch solches Beiwerk am meisten erfreut, zu der werden auch die meisten sich drängen. Die Phantasie, auf der ja alle Religionen mit aufgebaut sind, will auch ihr Recht haben. Sie will angeregt sein, belebt, befruchtet.

Märchen?! mag sein.

Aber nehmt einmal einem Kind seine Märchen und ihr zerstört eine ganze Welt in ihm. Und erzählt ihr ihm keine, dann schafft es sie sich ja selber.

Dem Soldaten aus totem Blei haucht es mit dem Hauche seiner Phantasie das Leben ein.

Der Schuß, der aus dem kleinen Kanönchen abgefeuert wird, knallt, blitzt, donnert und streckt ganze Kolonnen von Soldaten nieder, die oft nur aus einem Bleisoldaten bestehen.

Sagt das dem Kinde, und ihr nehmt sein alles. Sagt es der Menschheit, daß es keinen Gott, keine Religion, keinen Lohn nach dem Tode mehr gibt, und ihr nehmt ihr ihr alles.

Ihr glaubt nicht daran? Ihr wollt den wunderbaren, den Wunderglauben zerstören? Warum? Weil es doch keine Wunder gibt?

Wirklich?

Ein Samenkorn, das zu einem riesigen, mächtigen Baume wird, ist das kein Wunder? Ein Ei, das zu einem laufenden, krähenden Hahne wird, ist das kein größeres Wunder als in dem Märchen des Kindes der Bär, der zu einem Prinzen, und die Gans, die zu einer Prinzessin geworden?

Gebt dem Kind dieses Märchen oder seine, das ist einerlei, aber gebt es ihm so, wie ihm das Märchen gegeben wird, so, daß es in dem toten Ei schon den lebendigen Hahn zu sehen vermag.

Das Wunder — das ist das Leben.

Das Wunder — das ist die Religion.

Nehmt dem Menschen das Wunder, und ihr treibt ihn dem Tod, der Verzweiflung, dem Wahnsinn entgegen.

Nun sind gar viele Religionen geschaffen und auf das Wunder aufgebaut. Luftig, hell, voll Sonne und Licht. Dann aber kamen die, die dieses Gebäude verschließen wollten. Abschließen vor allen denen, die in einem anderen Hause wohnten, einem Hause, das anders geartet war als das ihre, obwohl es auf denselben Wundern aufgebaut war und demselben Zwecke diente: denen Zuflucht zu gewähren, die Zuflucht brauchten. Und sie bauten Mauern um das luftige Gebäude göttlicher Phantasie; starre, einengende, zwingende Mauern, und nahmen also dem Glauben die Freiheit. Aber — sie schmückten wenigstens die Mauern mit Flittern und Bildern und bauten Nieschen hinein, in denen sich jeder noch das Bild hineinstellen konnte, das seinem Herzen am nächsten war und zündeten Kerzen und brennende Lampen an, die ein mystisches Dunkel ganz schwach nur erhellten, und füllten den Raum mit Myrrhendüften und Weihrauch, mit heiligem Singen und heiligem Klingen, und suchten so auf die Seelen und die Gemüter zu wirken und ihnen die Empfindung zu nehmen, als seien sie in diesem herrlich erhebenden Raume nicht frei.

Doch da waren andere, die fühlten die Mauern trotz alledem und fühlten den Zwang und wollten die Mauern durchbrechen. Und andere, denen die Mauern die Hauptsache waren, und die den Schmuck von den Wänden rissen, den Schmuck und die Bilder, und die dann hingingen, sich selber ein Haus zu bauen, das nach ihrem Sinn war, ganz ohne Schmuck und ganz ohne Nieschen, nur aus kahlen Wänden bestehend. Und andere, die sich sagten: was brauche ich ein Haus? Ich trage mein Elend auch ohne.

Keiner aber wollte des andern Haus gelten lassen, und hielt es für ein Pechhaus. Und war doch auf demselben Boden des Wunders aufgebaut wie das seine . . . .

Wird es so bleiben?

Nein.

Stein auf Stein werden die starren, die Freiheit des Glaubens beengenden Mauern auch wieder fallen. Sie verwittern und zerbröckeln für den, der zu sehen weiß, ja schon jetzt, und in luftiger Schöne wird jedes Wundergebein wieder erstehen. Vom selben Himmel umwölkt, von derselben Sonne erhellt, vom selben Lichte erfüllt, von derselben Luft in all ihrer Reinheit durchhaucht. Und die Linien der Häuser werden ineinander verschwimmen, so wie bei der fata morgana ein Haus in das andere verschwimmt, so daß man nicht weiß, wo das eine aufhört und das andere beginnt, und man wird auch hier nicht mehr wissen, welches ist dieses und welches ist jenes. Ein Haus wird es sein, das alle umfaßt, und in ihm wird jeder sein Winkelchen finden, wie es seiner Seele behagt, seinen Winkel oder seinen großen unendlichen Raum, ganz wie er’s braucht. Er, und jene, die so fühlen wie er. Und nicht einer wird verlangen: fühle, denke, glaube so wie ich, denn eines wird ihren Glauben ja dennoch vereinen, wird diesen Glauben zu einem einzigen machen: Das Wunder! und in Jedes Glauben wird man dieses Wunder erkennen und es wird das große, mächtige, unzerreißbare Band sein, das alle umschlingt. Das wird die Religion sein; die Religion der Zukunft.

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