Cesare del Lotto. Die Kunst in 100 Jahren.


Die Kunst in 100 Jahren.
Von Cesare del Lotto.

Prophezeiungen haben nur dann Sinn und Zweck, wenn sie Schlußfolgerungen aus schon Vorhandenem und dessen bisherigem Entwicklungsgange sind. Nun ist aber nichts schwerer, als aus dem Entwicklungsgange unserer bildenden Künste irgend welche Schlüsse ziehen zu wollen, von denen man annehmen könnte, daß sie dem tatsächlich zu Erwartenden in Wirklichkeit auch nur annähernd entsprächen, denn nichts ist unberechenbarer als gerade die Kunst. Sie hat ihre Launen, und ihre ganze Wirkung beruht nur auf diesen. Bernhard Shaw, der große Spötter mit dem tiefen Wissen hat darum nicht Unrecht, wenn er die Kunst mit einem Weibe vergleicht, das stets neue Toiletten macht, in deren jeder sie anders aussieht, während sie selbst doch stets ein und dieselbe bleibt. Diese Toiletten sind oft schlicht und einfach, oft schreiend und bizarr, oft vornehm, oft wieder gemein, oft nonnenhaft puritanisch, oft dirnenhaft frech, und die Uebergänge von einer zur andern sind häufig ganz unmittelbar von einem Extrem ins andere gehend, während sie andererseits ineinanderfließen, um unvermerkt eine Kunstrichtung und Kunstoffenbarung zu schaffen. Es ist wie das Meer. Jeder Hauch setzt es in Bewegung und schafft neue, wechselnde Bilder. Bald liegt es glatt da wie ein Spiegel, bald ist es leicht nur gekräuselt, bald tief aufgewühlt, und die Wellen türmen sich hoch empor zu gigantischer Höhe, um sich dann wieder zu glätten und jeder Spur gewaltiger Größe zu entraten. In der Kunst nennen wir das Epochen, und wir suchen sie — freilich vergebens — mit den Zeitepochen in Einklang zu bringen, und zwar deshalb vergebens, weil die Kunst als solche mit ihrer Zeit nichts zu tun hat, ganz ebenso wie der Traum nichts mit der Wirklichkeit, wenn auch diese ihre Fäden mit in jenen hineinverwebt. Wir können also einen Zusammenhang zwischen Zeit und Kunst nur konstruieren, wenn wir den Einfluß betrachten, den die Kunst auf die Zeit, auf die Menschen und das Leben geübt hat. Auch da können wir Strömungen, Rückströmungen und sogar ein Stagnieren der Kunst beobachten, Wechselströmungen, die in einem größeren oder geringeren Kunstbedürfnisse der Menschheit zum Ausdrucke kommen. Gerade jetzt wieder hat eine Art Kunstdurst die Menschheit erfaßt, und ein gewisser Schönheitsdrang ist uns bewußt oder unbewußt überkommen, was wir aber vorläufig haben, ist nur das unsichere Tasten nach einem neuen Schönheits-, einem neuen Kunstideal, auf dessen Offenbarung wir mit Macht hindrängen, und zu welchem wir auf verschiedenen Wegen zu gelangen trachten, ohne daß wir eigentlich wissen, welches das Ziel ist, das wir zu erreichen streben. Es ist ja sehr leicht möglich, daß die kommende Kunst etwas ganz anderes, ganz neues sein wird, als was sie jetzt ist. „Die Kunst ist nie das, was sie ist, sondern das, als was sie gesehen wird“, sagt schon Ruskin. Die Art zu sehen ist aber nicht nur eine individuelle, sondern sie ändert sich von Tag zu Tag auch physiologisch. Unser Auge hat die Fähigkeit gewonnen, die Lichtstrahlen in weit mehr Farben und Farbennuancen zu zerlegen als früher. Dadurch sehen wir die Welt anders; die Natur ist für uns eine andere geworden, also auch die Kunst, denn die Kunst ist das Vorahnen der Natur, und wir, die wir vorläufig nur mit den Strahlen des Lichtes sehen, und die nur Augen haben, die scheinbar nur für diese empfänglich sind, werden vielleicht später einmal auch mit jenen Strahlen direkt zu sehen lernen, mit denen wir jetzt schon hören, sprechen und mit Zuhilfenahme von Apparaten auch wirklich schon sehen können. Die Wahrscheinlichkeit spricht in jedem Falle dafür, und namentlich eines nimmt merkwürdig überhand, das Sehen jener magnetischen Strahlen, die dem menschlichen und tierischen Körper entströmen. Diese Strahlen wird auch die Kunst sehen müssen, die sie heute noch verleugnet, um nicht noch mehr Mißtrauen zu begegnen, als sie heute schon in ihren verschiedenen Richtungen zu überwinden hat. Und wenn Mosso behauptet, unser Auge würde sich allmählich auch zum Röntgenapparate entwickeln, so wird die Kunst auch auf dieses alles durchdringende Sehen Rücksicht nehmen und ihre Kunstwerke demgemäß ausgestalten oder diese Art zu sehen geflissentlich ausschalten müssen. Der mystische Zug, der aber jetzt schon durch einen Teil unserer Kunst geht, deutet darauf hin, daß das heute noch Mystische, das in der Zukunft möglicherweise zum Alltäglichen geworden sein wird, der nächsten Zukunftskunst seine Signatur aufdrücken wird. „Sobald wir alles Irdische kennen werden, wird uns das Streben nach dem Ueberirdischen erfassen.“ Dieser Zeit, die der Dichter da vorausahnt, sind wir näher, als wir glauben. Der Erde entrückt werden wir ja in gewissem Sinne schon jetzt durch das Fliegen. Und während wir den Einfluß der Postkutsche, des Zweirads, der Eisenbahn und des Automobils auf die Kunst gewiß niemals bemerkten — von einigen Bildern, die keine Kunst machen, natürlich abgesehen — wird das Fliegen zweifellos eine Umwälzung hervorbringen. Wir werden die Dinge von einer anderen Perspektive aus sehen, als wir sie jetzt sehen, und das wird in den Werken der Kunst auch zum Ausdruck kommen. Wir werden in den Höhen, in denen unser Flug sich bewegen wird, unsere Eindrücke in ganz anderen Luftschichten, unter ganz anderen Brechungsverhältnissen des Lichtes empfangen, und werden diese Eindrücke auf unseren Bildern festhalten müssen, und es werden sich ebenso große Unterschiede daraus ergeben, wie sie Atelierbild und Freilichtbild heute schon aufweisen, und die so groß sind, daß sie als ganz besondere Richtungen aufgefaßt werden. Wir werden aber infolge der veränderten Lichtbrechungseffekte auch andere Farbentöne entdecken, und diese werden eine besondere Wesenheit der künftigen Werke unserer Malerei sein. Noch bedeutender aber dürfte die Umwälzung auf dem Gebiete der Plastik werden, und namentlich die Reliefkunst dürfte zu ungeahnter Bedeutung gelangen. Heutzutage wird ein Kunststück so geschaffen und so aufgestellt, daß es für den Beschauer auf die bequemste Weise zur besten Geltung kommt und dadurch auf ihn die vom Künstler beabsichtigte Wirkung ausübt. Alle Größenverhältnisse, jede Proportion, jede Gestalt, jede Verkürzung sind aus dieser Absicht hervorgegangen. Eine Figur, die ich auf einen hohen Sockel stelle, muß anders gedacht, anders empfunden und anders ausgeführt sein als eine, die ich aus demselben Niveau mit mir betrachte. Unsere Monumente nun sind alle derart berechnet, daß sie auf den Fußgänger ihre Wirkung üben. Die Wucht unserer Denkmäler wirkt also nach unten, und wie sehr das der Fall ist, sehen wir am besten daran, wenn wir an solch einem Denkmal auf dem Verdecke eines Omnibusses vorüberfahren, oder wenn wir es ganz von oben betrachten. Es verliert dann vollständig seine Wirkung. Es hört auf, Kunstwerk zu sein. Wird der Verkehr nun — und er wird es — künftighin weniger durch die Straßen als durch die Lüfte gehen, wird sich also ein oberirdischer Verkehr entwickeln, um nicht ein „überirdischer“ zu sagen, dann werden die Monumente der Zukunft, wenn sie ihren Zweck erfüllen sollen, darauf bedacht nehmen müssen. Sie werden also derartig geschaffen sein, daß sie ihre volle künstlerische Wirkung sowohl von unten aus — denn gehen wird man ja trotzdem noch immer — als auch von oben aus üben. Es werden also Momente sein, die nicht mehr eine Figur auf den Sockel stellen, sondern große architektonische Aufbaue mit Reliefgestalten, deren vortretende Linien von oben herab die Harmonie des Kunstwerkes nicht stören, welches auch oben nur aus einem großen machtvollen Relief wird bestehen können. Und da die Entfernungen, von denen aus die Ueberfliegenden das Monument sehen werden, weit größere sein werden als die sind, die gegenwärtig den Abstand zwischen Kunstwerk und Beschauer bilden, so werden auch die Monumente dementsprechende gewaltige Dimensionen annehmen müssen; Dimensionen, die zum mindesten der Basis der ägyptischen Pyramiden entsprechen müßten, wenn sich die Werke der monumentalen Plastik künftig noch Geltung verschaffen wollen. In bezug auf diese Kunst ist also das Vorhersagen leicht, weil mit dieser Kunst ein ganz bestimmter Zweck verbunden ist; ein Zweck, den die Malerei nicht hat und nicht haben kann, denn Museen mit horizontal gelegten, von oben herab zu betrachtenden Bildern wird es niemals geben, es sei denn, tolle übersprudelnde Künstlerlaune schaffe sie als Karikatur einer anderen, kommenden Zeit. Wohl aber wird die Malerei in einer ihrer jetzt noch dem Handwerk nahenden Zweige auf diese Art des Malens ernsthafter bedacht sein müssen. Ich meine die Plakatmalerei. Hier würden dem schaffenden Geist der Künstler nach oben gehende Wirkungen erstehen müssen, und so eröffnet sich ihnen dann für die Zukunft ein neues großes Feld, und im Geiste sehe ich schon die Dünen der holländischen Küste, die Gletscherfirne der Alpen, die endlosen Sandstrecken der afrikanischen und asiatischen Wüsten, die riesigen Steppen Amerikas, die Dschungelfelder von Indien und die Eisfelder der Polargegenden mit bunten, gen Himmel schreienden Plakaten bedeckt, und ich freue mich, daß ich jene Zeit nicht mehr erlebe.

Share on Twitter Share on Facebook