Dora Dyx. Die Frau und die Liebe.


Die Frau und die Liebe.
Von Dora Dyx.

In den wenigsten Fällen, in denen wir heutzutage von Liebe sprechen, ist Liebe, Liebe. Wir haben, so paradox dies auch klingen mag, und so lebhaften Protest ich mit meiner Behauptung bei all denen, die zu lieben wähnen, auch wecken mag, den Begriff der Liebe verloren. Sie hat sich unter unseren Händen so verwandelt, daß sie, von einzelnen Fällen abgesehen, keine Liebe mehr ist. Nicht nur die materielle Basis, auf welche unser Jahrhundert gestellt ist, ist zum Grabe jener feinen und feinsten Regungen geworden, aus denen die Liebe besteht, sondern noch mehr haben unsere Moralbegriffe dazu beigetragen, sie so zur Unkenntlichkeit zu verwandeln, daß man gerade von dem als Liebe spricht, was absolut mit ihr nichts zu tun hat, und von dem was Liebe ist, entweder gar nicht, oder nur mit Entsetzen gesprochen werden kann. Es muß zugegeben werden, daß der aktive Eintritt der Frau in den Kampf ums Dasein viel dazu beigetragen hat, das Liebesbedürfnis der Frau herabzumindern. Die körperliche Ermüdung und Uebermüdung ist ebenso wenig wie die geistige Erschlaffung ein Erregungsmittel der Liebe, und wir sehen, daß unter dem als leichtfertig verschrienen Volk der Artisten die Turnerinnen und Akrobatinnen geradezu als unnahbar gelten können, insofern bei ihnen nicht auch die „Liebe“ Mittel zum Zweck, d. h. Berechnung ist. Andererseits hat die durch die Berufstätigkeit der Frau nahezu aufgehobene Trennung der Geschlechter viel dazu beigetragen, jenen Nimbus des Geheimnisvollen zu zerstören, der bisher die jungen Männer und die Mädchen wechselseitig umgab. Und damit ist ein Hauptreiz zum Fortfall gekommen, denn gerade das Geheimnisvolle, das sozusagen Verbotene wirkte auf die Phantasie der Sinne. Die Liebe ist aber, wie wir jetzt wissen, nichts weiter als Seelenphantasie, und daß diese von der Sinnesphantasie ganz gewaltig beeinflußt wird, ist selbstverständlich. Bei uns gibt es drei Hauptformen von dem, was wir „Liebe“ nennen. Die Ehe, die Prostitution und die freie Liebe, zu welcher auch die zwischen Ehe und Prostitution liegenden vorübergehenden Verhältnisse gerechnet werden können. Daß die Ehe nur in den seltensten Fällen ein wirkliches Liebesband schlingt, wissen wir alle. Die Ehe ist vor allem zur Versorgung geworden und alle Bedenken „ich liebe ihn nicht“ werden durch den selbstlügnerischen Trost niedergeschlagen: „Die Liebe kommt schon in der Ehe“. In den meisten Fällen aber kommt sie nicht, und im Punkte der Liebe herrschen darum nur noch Entsagung oder Betrug, die zu den bekannten Erschütterungen führen, welche bei uns den dramatischen Stoff — und nicht fürs Theater nur — liefern. Hie und da allerdings werden solche „Vernunftehen“, wie man sie nennt, auch ganz „glücklich“. Man lebt sich ineinander ein, keiner verlangt etwas oder viel von dem andern und ist überrascht, wenn er mehr findet, als er erwartet. Meist sind es auch resignierte Naturen, deren Seele keine Ansprüche stellt, so maßlos oft auch die anderen, ans Leben gestellten Ansprüche sein mögen. Die meisten Ehen aber — wenn schon nicht alle — sind unglücklich, und in jedes, auch des glücklichsten Menschen Leben, werden Augenblicke vorkommen, in denen er sich dies eingesteht. Dabei darf nicht verschwiegen werden, daß auch die „Liebesehen“ unglücklich werden und gerade deshalb noch viel unglücklicher, weil die Ehe mit Illusionen begonnen wurde, auf welche die dürre Ernüchterung folgen muß; Und so wandelt sich auch in diesen Ehen die Liebe in Gleichgültigkeit und diese in Haß. Der große Philosoph hat recht, der zuerst das Wort sprach: „Die Ehe ist das Grab der Liebe“. Die Liebe ist ja das freieste Gefühl, das unserer Seele gegeben, und jeder Zwang — und als solcher ist die Ehe vom Standpunkt der Liebe nur aufzufassen — muß diese Freiheit lähmen, einengen und bedrücken. Von der Prostitution rede ich nicht. Sie ist das schmachvolle Kainszeichen, das unsere Zeit sich selber aufgedrückt hat. Bleibt — die freie Liebe. Aber auch hier, wo wir eigentlich den Inbegriff der heißen, schrankenlosen Liebesglut finden müßten, ist davon wenig zu merken. Selten ist es wirklich die Liebe, die „zwei Menschen die müssen“ zueinander treibt. Meist sind es der Leichtsinn, die Laune, die Eitelkeit und die Vergnügungssucht, die ihr gewichtiges Wort mitsprechen.

„Die Liebe von heute ist auf Betrug, Enttäuschung und materielle Interessen aufgebaut — —“

In jedem Falle ist die Liebe heutzutage ein Opfer, das die Frauen bringen. Unsere ganzen verkehrten Anschauungen haben die Liebe dazu gemacht und wenn es in diesem Schritt weiterginge, so würde man bald überhaupt nicht mehr wissen, was Liebe ist. Unsere Seelen scheinen für die Schwingungen der Liebe eben nicht mehr empfänglich zu sein; die Seele hat die Sensibilität dafür verloren, und unser Seelenapparat muß erst wieder darauf gestimmt werden. Und auch diese Zeit wird kommen. Mit eilendem Schritte gehen wir der Zeit entgegen, wo für den Menschen die Arbeit nicht Arbeit, sondern nur Lust, Zerstreuung und Erholung sein wird. Die Lebensbedingungen werden sich so gewaltig verändern, daß uns um unsere „Versorgung“ nicht mehr bange sein wird; die Herzensfragen werden daher keine Magenfragen mehr sein, und die Schwingungen der Liebe werden wieder gefühlt, gesehen und verstanden werden. Die Liebe ist ja weiter nichts als das Resultat einer Anziehungskraft und infolgedessen auch denselben Gesetzen unterworfen wie diese. So wie der Mond durch die nähere Erde mehr angezogen wird, als durch die entferntere mächtige Sonne, so wird ein Mann durch ein in seiner Nähe weilendes liebliches Geschöpf natürlich mehr angezogen, als durch ein anderes Wesen, dem er und das ihm ferner bleibt, von dem er sich aber unter anderen Verhältnissen weit stürmischer angezogen fühlen würde, als durch das erste. Den Gesetzen der Anziehungskraft zufolge kann nun das Herz gleichzeitig aus verschiedenen Richtungen angezogen werden. Es gibt keinen Himmelskörper, der nicht zu kleinen Abweichungen von der ihm zugewiesenen Bahn gezwungen würde, die man Störungen nennt. Bei uns im menschlichen Leben werden diese Störungen Sünde genannt, Verrat und Betrug. Die Flammen der Liebe gehen dann in die Flammen der Eifersucht und des Hasses über, und bald suchen die einen, den geliebten Gegenstand wieder zu umfassen und zu umhüllen, bald lodern sie zuckend zurück, weg von dem Gegenstand des Hasses und Abscheus! In jener kommenden Zeit aber — wird es keine Eifersucht mehr geben und daher auch keine Liebestragödien.

Die Liebe der Zukunft beruht einzig und allein auf den radioaktiven Sympathiestrahlen der Seele und des Herzens.

Man wird die Radioaktivität der Seele und ihre Wechselwirkung aufeinander sehen und messen können. Man wird die „Flammen der Liebe“, von denen unsere Dichter so lange schon geträumt und gesungen haben, einander in heißer Sympathie entgegenschlagen sehen und wird genau den Grad der Sympathie und der Liebe aus dem stürmischen einander Entgegenlodern der Flammen oder dem ruhigen in einander Uebergehen derselben erkennen können, und niemand wird mehr Liebe verlangen, als des anderen Herz für ihn zu empfinden und als des anderen Herz ihm selber zu geben vermag. Der Fall ist ja nun allerdings denkbar, daß die Flammen des Herzens einem und demselben „Gegenstande“ von zwei Seiten zulodern, daß sie selber aber nur nach einer Seite hin sich gezogen fühlen. Dann wird sich der, dessen Flammen unerwidert nach des andern Gluten reichen, ruhig bescheiden, denn allmählich legen sich ja auch die heißesten Flammen, und des Dichters Wort bleibt auch für die Zukunft bestehen: „es ist die Zeit das Oel, das all die wilden Wogen unseres Herzens glättet“. Natürlich werden und müssen sich bei dieser Erkennbarkeit oder Sichtbarkeit der Liebe auch alle unsere Anschauungen über diese ändern. Ein Vortäuschen und Vorspiegeln von Liebe wird es nicht mehr geben können. Treue in unserem Sinne des Wortes wird man weder mehr verlangen noch wollen, aber ebensowenig wird der Betrug möglich sein. Man wird einander gehören, solange die Sympathie da ist, und wird sich trennen, sobald sie im Erlöschen ist; trennen in guter Freundschaft, in freudigem Erinnern an das, was man sich gewesen ist. An die Stelle der Ehe wird die Gemeinschaft getreten sein, die so lange dauern wird wie die Seelengemeinschaft besteht. Denn ein einander Angehören ohne das Fortbestehen dieser Gemeinschaft der Seele ist Prostitution, und Prostitution wird es dann nicht mehr geben. In gar keiner Hinsicht. Man wird aber andererseits auch seine Liebe nicht verbergen. Vor niemandem schon aus dem Grunde nicht, weil man sie nicht wird verbergen können. Man wird aber nicht wie jetzt laut ankündigen: „ich will mich in nächster Zeit oder in einem oder in zwei Jahren mit dem oder jenem vereinen“, und wird noch weniger allen guten Freunden und Bekannten und Verwandten feierlichst Nachricht geben, ich werde heute oder an dem und dem festgesetzten Tage mich dem von mir Auserwählten hingeben, sondern man wird es nicht für möglich halten, daß in einem Zeitalter, das sich für gesittet hielt, so etwas Brauch sein konnte; ebenso wie wir den Kopf darüber schütteln, daß im Mittelalter sogar das Beilager als Krönung der Hochzeitsfestlichkeiten öffentlich stattfinden durfte. In solch einer Sittenroheit, die die feinsten, heißesten Seelenregungen öffentlich preisgibt, wird das Jahrhundert der Zukunft nicht mehr befangen sein. Niemand wird wissen, wann und wo sich ein Paar angehört hat, das zu einander gehört, und er wird einfach die Tatsache vermerken, daß zwei eine Gemeinschaft geschlossen haben, die auf der Harmonie der Seelenschwingungen beruht. Denn, wie gesagt, einen anderen Grund wird es nicht mehr geben und nicht geben können, und die niedrigen, materiellen Gründe von heute werden nicht bestimmend sein können, weil ihnen der Boden der Notwendigkeit fehlen wird.

Das Kind im Jahrtausend der Liebe.

Ein anderes wichtiges Moment aber wird schwer in die Wagschale fallen: Die Kinder. Heutzutage gilt es häufig noch als anstößig, Mädchen wissen zu lassen, daß der Zweck der Ehe die Kinder sind, obwohl Gott sei Dank die sexuelle Aufklärung sich in unserer Erziehung immer mehr Bahn bricht; die ganz aufgeklärten, hypermodernen Braut- und Eheleute schwören dagegen auf Kinderlosigkeit und suchen späterhin den Kindersegen auch wirklich tunlichst einzuschränken. Auch das hat seine Begründung in unseren heillosen ökonomischen Verhältnissen, in denen die Existenz nur weniger so gesichert ist, daß sie den Kindersegen nicht als direkte Schädigung ihrer Vermögenslage auffassen müssen. Andererseits aber hat sich auch in jenen Kreisen, denen es nicht gerade darauf ankommt, die Ansicht befestigt, daß es nicht zum guten Ton gehört, mehr als zwei Kinder zu haben. In Newyork wird aus den Kreisen der oberen Zehntausend die geradezu köstliche Geschichte kolportiert, daß Mrs. Astor sich über Mrs. Gould (beide bekannte Milliardärinnen) mißbilligend geäußert habe: „Etwas direkt Böses kann man ihr ja nicht nachsagen, aber unanständig ist es doch, daß sie so viel — Kinder hat“. — In den kommenden Zeiten, den Zeiten, da die Liebe sich auf sich selbst und somit auch auf ihren Zweck besinnen wird, wird eine solche, sei es selbst erfundene, Anekdote nicht gut möglich sein. Denn da werden nicht nur die Mädchen, nicht nur die Frauen, sondern vor allem die Mütter in hohem Ansehen stehen. Die Mütter werden eine besondere Ehrenstellung in der Gemeinschaft der Menschen einnehmen. Natürlich wird es dann die große Ambition der Mädchen sein, Mütter zu werden, und die der Frauen, gesunde, schöne und begabte Kinder zu gebären. Und es wird auch ein Nachwuchs erstehen, der an Kraft, Schönheit und Geist weitaus alles übertreffen wird, was wir heute als solche bewundern. Denn unser Geschlecht ist, namentlich nach der Seite der Seele und des Geistes hin, ganz gewaltig im Erstarken begriffen. Ein gesundes Geschlecht bereitet sich vor, und da dieses Geschlecht nur Kinder der Liebe erzeugen wird, nicht auch wie wir Kinder der Pflicht, so werden in erhöhtem, verfeinertem, vergeistigtem Maße alle die Eigenschaften des Vaters und der Mutter auch auf sie übergehen und in potenzierter Kraft in ihnen zum Ausdruck gelangen. Das aber kann, wie gesagt, mit Sicherheit nur geschehen, wo die Liebe den Bund geflochten hat. Die Natur selbst verlangt, daß die Rechnung stimme und die Anziehung eine gegenseitige sei, weil nur so der Zweck erreicht werden kann, den sie sich mit der Liebe gesteckt hat. Der Geschlechtstrieb hat allerdings die Aufgabe, das menschliche Geschlecht zu erhalten, die Liebe aber hat die Aufgabe, es zu veredeln. Die Liebe ist die Zuchtwahl in edlerem Sinne und nur in diesem veredelndem Sinne wird die Liebe künftig geübt werden. Wir in unseren, von Kurzsichtigkeit und Engherzigkeit regierten Verhältnissen sind davon weit entfernt und sind im Gegenteil in dem Begriffe der Liebe derart verroht, daß uns sogar das Urteil über das Vernünftige im Haushalte der Natur abgegangen ist, und daß — was viel, viel schlimmer ist — unsere Zeit Lüstlinge und Wüstlinge herangebildet hat, deren Opfer zu Tausenden und Abertausenden ihrem Dasein fluchen.

Auch mit unseren Begriffen von Schande und Ehre stehen wir derart im Banne starrer, längst als falsch und verächtlich erkannter, trotzdem aber noch immer zu Recht bestehender gesellschaftlicher Dogmen, daß wir ein Mädchen fallen lassen, weil es Mutter geworden ist, und das Kind zugrunde gehen lassen, weil es die unglaubliche Frechheit hatte, sich erzeugen zu lassen!! Und keiner denkt daran, welche Menschenwerte in diesen Kindern verloren gehen. Denn — ich erwähnte es früher schon flüchtig — gerade die sogenannten Kinder der Liebe, bei deren Entstehen vielleicht wirklich die Liebe, in den meisten Fällen aber zumindest das Liebesbedürfnis und das Temperament mitgewirkt haben, die geistig veranlagtesten sind, gerade so wie bei unseren Ehen das erstgeborene Kind meistens das gewecktere ist. Und das erinnert mich an ein chinesisches Sprichwort. Dieses Sprichwort lautet: „Das erste der Arbeit, das zweite der Schönheit, das dritte dem Geist“. Das erste, zweite und dritte Kind nämlich. Das würde nun allerdings dem, was ich früher gesagt habe, widersprechen, aber — in China und überhaupt im Osten ist das mit der Ehe und Liebe ganz anders als bei uns. Ein Chinese selber setzte mir in Frisko den Unterschied einer europäischen und asiatischen Ehe in folgender drastischen Weise auseinander. „Ihr füllt den Teekessel, zu dem ihr euch hinsetzt, gleich mit heißem, glühendem Wasser, und immer mehr und mehr kühlt der Tee sich darin ab, bis er ganz kalt wird und ihr keine Freude daran haben könnt, wir aber setzen das Wasser kalt auf und zünden dann erst das Flämmchen an, das das Teewasser allmählich durchwärmt, bis er schließlich den Grad von Wärme erreicht, der es zu einem uns angenehmen, anregenden und durchwärmenden Getränk macht.“ Und der Mann hat mit seinem Vergleiche, so wie die Dinge heute stehen, leider, von seinem Standpunkt aus, recht, aber — sie werden anders werden, ganz anders. Bei uns ebenso wie dort. Bei uns natürlich zuerst. Die Kinder, die die Liebe gezeugt hat, werden nicht mehr die Parias der Welt sein, denn es wird keine anderen mehr geben, und eine einzige große Liebe wird alle diese Kinder umfassen, die Liebe der Menschheit. Keines der Kinder aber wird um dessentwillen, weil es auf die Welt kam, seelisch, moralisch und physisch verkommen müssen, sie alle werden sich sonnen in dem Glück ihrer Kindheit, und es wird keinen Vorzug der Geburt mehr geben, weil es keinen Makel einer solchen mehr geben wird. Es wird das Reich der Liebe sein, der großen, unendlichen, allumfassenden Liebe, und man wird über unser Jahrhundert als das Jahrhundert der Lieblosigkeit, Grausamkeit und Härte stillschweigend hinweggehen.

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