Ellen Key. Die Frau in hundert Jahren.


Die Frau in hundert Jahren.
Von Ellen Key.

In hundert Jahren sind alle großen Erfindungen der Neuzeit vervollkommnet, und ihre beiden großen Bewegungen — die Frauen- und die Arbeiterbewegung — haben ihre Ziele erreicht. Luftschiffe, mit größerem Komfort als dem der Gegenwart ausgestattet, Luftjachten, führen die Alpinisten zu Bergbesteigungen auf den Mond. Alle modernen Sommerfrischen sind submarine Villenstädte, denn die Landschaftsschönheiten der Erde sind alle zerstört, teils durch ihre Verwertung für die Industrie, durch Gebäude, Kabel und dergleichen mehr, teils durch die noch bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts in Luftballons geführten Kriege. Die „Landwirtschaft“ wird jetzt in chemischen Fabriken betrieben, und in diesen vollzieht sich die Arbeit, wie überall, durch Drücken auf Serien elektrischer Knöpfe. In gleicher Weise werden die Säuglinge in den kommenden Kinderheimen, an die sie — eine Stunde nach der Geburt — abgegeben werden, ernährt und gekleidet. Die Kinder werden in der Weise produziert, daß sich Freiwillige — aus sozialem Eifer — für diese Arbeit melden. Unter ihnen wird durch ein ärztliches Komitee die nötige Anzahl ausgewählt. Und von dieser Anzahl werden wieder die für einander Geeignetsten zusammengeführt. Das große Problem der Naturwissenschaft ist die Entdeckung des Mittels, die Menschheit ohne Elternschaft fortzupflanzen, dieses der Menschen unwürdigen Mittels, das die Natur in der Eile zusammengepfuscht hat, aber das die fortschreitende Kultur entbehrlich machen muß. In den ersten Jahren des einundzwanzigsten Jahrhunderts wurde die Welt durch die — leider verfrühte — Botschaft erfreut, daß ein Laboratorium wirklich die Methode gefunden habe, und daß so die einzige noch übrige Frauenbefreiungsfrage aus der Welt verschwunden sei. Aber obgleich immer wieder enttäuscht, lebte die Hoffnung auf den endlichen Sieg doch weiter, und dies um so mehr, als man im Jahre 2006 endlich ein beinahe ebenso kompliziertes Problem löste: man fand das Serum, durch welches die entsetzliche Krankheit, gegen die die Gesellschaft trotz zahlloser hygienischer Verhaltungsmaßregeln vergebens angekämpft hat — — die Individualitäts- und Originalitätssucht —, ganz erlöschen wird. Die Paragraphen 123, 456, 789 des hygienischen Gesetzes, das 2008 erlassen wurde, verfügten eine allgemeine Zwangsimpfung mit diesem Serum, so daß die Gesellschaft für alle Zeiten gegen die Verheerungen der Krankheit geschützt sein wird.

Alle Männer und Frauen haben den Tag in vier gleiche Arbeitspensa eingeteilt: sechs Stunden Schlaf, sechs Stunden Arbeit bei den elektrischen Drückern, sechs Stunden im Parlament und sechs Stunden Gesellschaftsleben. Die Parlamente tagen ständig. Soziale Vorträge ersetzen bei den Sonntagssitzungen die ehemaligen Gottesdienste. Und bei den Alltagssessionen wird alles bestimmt: von der Größe der Stecknadelköpfe und der Zusammensetzung der Eßpillen bis zu der Kinderquantität, die die Bedürfnisse der Gesellschaft im folgenden Jahre erfordern, und der Ideenqualität, die im Interesse des Gemeinwohls für den genannten Zeitraum zulässig erscheint. Nach beendetem schulpflichtigen Alter treten alle ins Parlament ein, auch die Idioten, als eine unbestreitbare Folge der Humanität und der Menschenrechte. Nur verurteilte Verbrecher haben nicht Sitz im Parlament, aber diese irdische Begrenzung beraubt sie keineswegs ihrer Menschenrechte. Sie werden nämlich auf den Planeten Mars deportiert, die neueroberte Kolonie der Erde. Und dort können sie frei die ihnen aus vergangenen Jahrhunderten wohlbekannte Kolonialpolitik treiben.

In der ersten Klasse der Schule lernen die Kinder — nach neuen Methoden — Zähne zu bekommen, zu gehen und zu sprechen. Die Unterrichtsanstalten, die alle nach demselben Lehrplan arbeiten, behalten die Schüler zwölf Stunden im Tag bis zum Alter von dreißig Jahren.

Die Universitätsstudien mit ihren gefährlichen Freiheitsbestrebungen sind hingegen abgeschafft. Nach Schluß der Schule rührt keiner mehr ein Buch an, falls er (oder sie) nicht Spezialist in irgend einem Zweige der Wissenschaft sein sollte. Darum findet man öffentliche Lesesäle ohne Bücher. Hingegen laden die Elevatoren dreimal im Tage die jetzt im Taschenbibelformat gedruckten Zeitungen ab, mit ihren illustrierten Annoncenbeilagen, wo den Künstlern, allerdings innerhalb strenger Grenzen, noch eine gewisse Freiheit der Phantasie gestattet ist. Alle öffentlichen Gebäude — mit anderen Worten alle Gebäude — sind hingegen mit Kunstwerken geschmückt, welche von einem zwölfgliedrigen Komitee ausgeführt werden.

Das Wort „Heim“ hat eine bedeutungsvolle Umwandlung durchgemacht und ist jetzt ein Synonym des Wortes Schlafstelle.

Das Gesellschaftsleben ist eine Gesellschaftspflicht, und der Einsame wird als anarchistischer Attentäter betrachtet. Man trifft sich in Sport- und Diskussionsklubs zu einem Verkehr, welcher keine materiellen Genüsse verlangt. Seine Eßpillen nimmt jeder aus seiner Schachtel ein. Nur sehr alte Leute, die sich aus dem zwanzigsten Jahrhundert noch die Lust an den alkoholfreien Weinen, an den nikotinfreien Zigarren und dem coffeinfreien Kaffee bewahrt haben — die einzige Form, in der Genußmittel noch zu finden sind — schleichen zu dem einen oder andern geheimen Automaten, um dort die niedrigen Bedürfnisse zu befriedigen, die die jüngere Generation verachtet. Wenn diese masculinfreien Männer und femininfreien Frauen zusammentreffen, dann ist der einzige Stimulus der Austausch sozial-allgemeinmenschlicher Gedanken. Der männliche und der weibliche Typus sind in so hohem Grade verschmolzen, daß der Blick nur durch gewisse, aus Zweckmäßigkeitsgründen noch beibehaltene Verschiedenheiten in der Kleidung die Geschlechter unterscheiden kann.

Vaterfreuden in 100 Jahren: Homunculus! Homunculus!

Was die öffentlichen Vergnügungen betrifft, so hat das soziale Verantwortlichkeitsgefühl Konzerte ohne Musiker und Theater ohne Schauspieler geschaffen. Denn seit die Pianolas, die Phonographen und die Marionetten so phänomenal vervollkommnet worden sind, braucht man nur elektrische Knöpfe, damit der Kunstgenuß in Gang gesetzt wird. Aber man hat eine sehr notwendige Vermehrung der Lehrjahre beantragt. Denn die Schulen kommen kaum dazu, ihren Zöglingen die fünfundfünfzig Uebungsgegenstände und die einhundertelf intellektuellen Gegenstände beizubringen, die jetzt von einem gebildeten Menschen verlangt werden, und in denen alle drei Monate ein Examen abzulegen ist.

Sonntags-Nachmittags-Ausflug nach dem Mond.

Mitten in dieser allgemeinen Glückseligkeit trifft jedoch die unerhörteste Katastrophe der Weltgeschichte ein. Am Neujahrstage 2009, — gerade in dem Jahre, wo die obenerwähnte Zwangsimpfung die Erde von allen weiteren Heimsuchungen ihrer letzten und gefährlichsten Pest definitiv befreien sollte, bricht eine über den ganzen Planeten verzweigte Verschwörung der Schuljugend zwischen zwanzig und dreißig Jahren aus. Die erste Gewalttat der Revolution ist, in gewaltigen Emigranten-Zeppelins alle Journalisten auf den Mars zu verschicken; die zweite, alle Parlamente zu verbieten; die dritte, alle Schulen zu sperren; die vierte, alle Mütter zusammen mit ihren Kindern einzuschließen; die fünfte . . . aber warum alle diese Greuel aufzählen? Genug, diese gewaltigste aller Umsturzbewegungen stellt schließlich auf Erden jenen barbarischen Zustand wieder her, wo das Leben noch gewaltsam, mühevoll, tragisch, reich, berauschend war. Was dann geschieht, ist leicht vorauszusehen. Eine ebenso heftige Reaktion tritt ein. Erst gegen das Jahr 2100 befindet sich endlich die Menschheit wieder im Gleichgewicht. Sie hat dann vermutlich einen großen Teil dessen wieder erlangt, was für vergangene Geschlechter das Leben lebenswert gemacht. Aber sie hat zugleich viele von diesen Geschlechtern ungeahnte Dinge errungen, die das Leben in höherem Grade denn je liebenswert machen.

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