Karl Peters. Die Kolonien in 100 Jahren.


Die Kolonien in 100 Jahren.
Von Karl Peters.

Gustav Havermann stand in Morgenkleidung auf der Veranda seines netten Hauses und machte seinen Tee. Die Sonne war gerade im Aufgehen, und im Norden zeigten sich die Umrisse der Gebäude von Windhoek. Seine Frau war noch nicht erschienen. Sie liebte es, bis in den vollen Tag hinein in ihrem Schlafballon, 500 Meter über der Farm, zu ruhen. Havermanns hatten nur ihre Schlafeinrichtungen in höheren Lufträumen; die reicheren Familien, über ganz Afrika hin, wohnten Tag und Nacht 1000 bis 2000 Meter hoch in verankerten Lufthäusern, wo sie frei waren von den Unbequemlichkeiten der tropischen und subtropischen Sonne. Ueber dem Kongo und in den Tropengebieten von Amerika stieg man mit seinen Wohnungseinrichtungen bis zu 3000 Meter und darüber empor.

„Dieser südafrikanische Tee“, sagte Havermann, „wird immer noch nichts Rechtes. Wir wollen doch wieder zum Ceylon-Tee zurückgehen, der Geschmack und Aroma hat. Hallo!“ fuhr er fort, als er seinen Freund Agatz schnell auf sein Wohnhaus zuschreiten sah, „was bringt Dich so früh her?“

„Hast Du Deinen telegraphischen Empfangsapparat denn noch nicht eingesehen?“ antwortete Agatz.

Zeitungen, muß bemerkt werden, gab es 2009 nicht mehr. Der gesamte Nachrichtendienst auf der Erde, und auch vom Mars herüber wurde durch ein weitangelegtes System drahtloser Telegraphie vermittelt, an welches jedes private Haus von irgendwie bemittelten Besitzern angeschlossen war.

„Was ist denn los?“ fragte Havermann.

„Die Bundesversammlung in Durban hat vorige Nacht beschlossen, daß das Dreisprachensystem, welches bislang noch in unserem Parlament zu Recht besteht, aufgegeben werden solle; Englisch und Holländisch seien genügend für die südafrikanischen Staaten.“

„Nun, das braucht uns kaum aufzuregen; seit einem Menschenalter wird deutsch kaum noch im Parlament von Windhoek gesprochen, und im Kongreß zu Prätoria ist englisch schon seit einem halben Jahrhundert obligatorisch. Sind wir doch alle nur Glieder der großen angelsächsischen Konföderation.“

„Viel wesentlicher für unser Wohl und Wehe“, fuhr er fort, „scheint mir die Entdeckung des Professors Buterreck in Berlin, der es endlich fertig gebracht hat, stickstoffhaltige Nahrung aus der Atmosphäre herzustellen, um dadurch die Produktion von Fleisch, Eiern, Milch usw. überflüssig zu machen. Wir Südwestafrikaner sind so wohlhabend geworden durch unsere Rindvieh- und Schafzucht, seit es gelungen war, alle die bösen Viehkrankheiten durch Impfungsverfahren aus der Welt zu schaffen.“

„Was nützt uns unsere Mühe nun, wenn Fleisch und Milch nichts mehr gelten werden am Markt?“

„Uns bleiben Häute und Wolle.“

„Und Obst und Gemüse; das ist wahr, und unser herrliches Klima. Ich war vorgestern mit dem Schnell-Luftschiff „Möwe“ in London; aber ich kann Dir sagen, ich freute mich, heute morgen in Südwestafrika zurück zu sein.“

In diesem Augenblick näherte sich eine große, stattliche Erscheinung dem Hause.

„Was will denn Eggers so früh hier?“ sagte Havermann.

„Ich komme“, sagte Eggers, nachdem er die beiden Männer begrüßt hatte, „um Ihnen, Herr Havermann, mitzuteilen, daß wir Ihre Felder heute erst gegen 10 Uhr berieseln können. Etwas an dem Pumpwerk in Swakopmund ist nicht in Ordnung. Es tut mir sehr leid; aber ich erhalte soeben die Funkennachricht.“ Eggers war der Direktor der südwestafrikanischen Elektro-Berieselungs-Werke. Schon seit mehr als einem Menschenalter war das Problem gelöst, die Kraft der Meeresfluten in elektrische Kraft umzusetzen, und seit einem halben Jahrhundert verstanden es die Menschen, das Seewasser durch einen sehr einfachen chemischen Prozeß in Süßwasser umzuwandeln. Das hatte einen enormen Fortschritt, besonders auch in der wirtschaftlichen Entwicklung des trockenen Südwestafrika bedeutet. Trinkwasser freilich hatte man längst aus der Atmosphäre abzuschlagen verstanden. Aber für die Ausbeutung der weiten Gelände von Damaraland war die von der Natur versagte Bewässerung aus dem Atlantischen Ozean nötig gewesen. Die enorme elektrische Kraft, welche die See selbst lieferte, hatte es möglich gemacht, das befruchtende Element, welches die Wolken versagten, über die Felder zu ergießen; und dies hatte zu einer neuen Epoche in der Geschichte des Landes geführt, ähnlich wie in Kapland und Rhodesia. Eine Konkurrenz zu der „Oceano-Elektrischen Gesellschaft mit beschränkter Haftung“ war übrigens die „Kalahari-Sunlight and Electrical Co. Ltd.“, welche durch gewaltiges Konzentrationsverfahren, das auf die Kalahari-Wüste herabströmende Sonnenlicht in Motorkraft und Erleuchtung umwandelte. Indes versorgte diese mehr den Osten und Süden des Erdteiles. Sie arbeitete nach dem Vorbild der großen Sahara-Gesellschaften, welche schon seit einem Vierteljahrhundert Heizung und Fortbewegungskraft, sowie Erleuchtung für Europa lieferten. Seit dem Niedergang der Kohlenproduktion hatte die Menschheit sich mehr und mehr diesem Ersatz zugewendet.

Die reicheren Familien, über ganz Afrika hin, wohnten Tag und Nacht 1000 bis 2000 Meter hoch in verankerten Lufthäusern.

„Haben Sie übrigens bereits die letzten Nachrichten aus Ostafrika vernommen, welche mein Apparat gerade eben mitteilte?“ fragte Eggers die beiden Herren.

„Was ist es?“

„Die ‚Republik der steigenden Sonne‘ hat gestern beschlossen, die Deutschen wieder in ihrem Lande zuzulassen; und für den Kilimandjaro haben sich sofort drei Familien von Uganda angemeldet.“

„Wie geht es eigentlich zu, daß Deutsche dort überhaupt ausgeschlossen waren?“ fragte Havermann.

„Wissen Sie das nicht?“ sagte Agatz. „Das ist doch die Folge der großen Negerrevolution von 1953, als sich dieses „‚Haiti‘ des Indischen Ozeans“ konstituierte. Ostafrika, gegenüber Zanzibar, ist früher einmal unter deutscher Flagge gewesen. Aber bereits vor einem Jahrhundert setzte in Berlin eine sentimentale Verbrüderungspolitik an, welche sehr schnell zu Emanzipationsgelüsten der schwarzen Bevölkerung führte. Das war ein Teil der sogenannten äthiopischen Bewegung. Die Reise eines Berliner Kolonialministers, dessen Name nicht weiter überliefert ist, in die sogenannte Deutsch-Ostafrikanische Kolonie, führte zunächst zur Aufsässigkeit der schwarzen Arbeiter gegen ihre weißen Herren!“

„Wie war denn das möglich?“

„Es wurde den Negern von Regierungs wegen allerhand von Rechten gegen die Arbeitsgeber erzählt, wovon sie bis dahin keine Ahnung hatten, und natürlich wirkte das wie ein Funken im Pulverfaß.“

„Natürlich, der Schwarze mußte das als direkte Aufforderung zum Aufstand auffassen.“

„Anstatt die Entwicklung ihren natürlichen Gesetzen zu überlassen und wesentlich die Vorschläge der deutschen Kolonisten selbst abzuwarten, operierte man vom grünen Tisch in Berlin. Man „taperte“ hinein. Die Folge waren Unlust unter den Weißen und Rebellionsgelüste unter den Schwarzen. Das führte zu wiederholten Aufstandsversuchen, und schließlich, 1953, zur allgemeinen Erhebung der Eingeborenen, welcher fast alle Deutschen, Männer, Frauen und Kinder, zum Opfer fielen. Darauf, unter Garantie der Vereinigten Staaten und Großbritanniens, schritten die Rebellen zur Begründung ihrer eigenen glorreichen Republik, und begannen damit, zunächst einmal allen deutschen Reichsbürgern Asyl- und Freizügigkeitsrecht zu nehmen. Schließlich erkannten es auch die alten Weiber in Berlin, die am meisten mit geschrien hatten, „wie so gar herrlich weit wir es gebracht hatten“. Die Kolonie war weg, und dafür bestand eine uns Deutschen direkt feindliche Republik.“

„Aber wie ist es zugegangen, daß das benachbarte Britisch-Ostafrika nicht in diesen Mahlstrom hineingezogen wurde?“

„Die Briten hatten ihre ostafrikanischen Besitzungen, denen sie noch die italienischen anschlossen, bereits seit 1910 zu Dependanzen des Ostindischen Reiches gemacht. Die Hochplateaus von Naicobi und Naiwasha, das Tanatal und das Hinterland von Guardafui und Berbera wurden systematisch mit auswandernden Hindus besiedelt, denen die britische Regierung in Südostafrika, Australien und Tasmanien, sowie in Neuseeland keinen Ellenbogenraum mehr bieten konnte. Dies hielt die schwarze Gesellschaft in Schach, und erlaubte daher der London Stock Exchange die ungestörte kapitalistische Ausbeutung, worauf es doch im Grunde ankam. Genau, wie in den voreinst deutschen Besitzungen in Neu-Guinea, den Karolinen usw., welche heute friedlich und genügsam zum austral-asiatischen Common wealth gehören, wie Kiautschou seit 90 Jahren unter die Flagge des „gelben Drachen“ zurückgekehrt ist. Ja, die Deutschen haben Staat gemacht mit ihrer Kolonialpolitik am Ausgang des 19. Jahrhunderts. Ich las vor kurzem ein Buch aus dieser Zeit. Es konnte gar nicht anders kommen, wenn man den Neid, Haß, die Verleumdung und das Geschimpf betrachtet, mit denen sie ins Feld zogen. Einer gegen den andern, und Gnade Gott dem, welcher gegen den Fremden wirklich etwas leistete!“

„Nun, in Europa ist es ihnen kaum besser gegangen, als über See; die Welt ist wesentlich englisch geworden.“

„Allemal, damit gehört sie immerhin einer vornehmen Rasse an.“

In diesem Augenblick sah Heinrich Agatz nach seiner Uhr. Die Uhren wurden durchweg durch drahtlose Telegraphie von der nächsten Sternwarte aus getrieben und zeigten demnach absolute Universalzeit. „Ich erwarte meinen Bruder Ernst heute morgen mit dem Falken von Kapstadt; wir wollen nach Nyangwe am Ober-Kongo, wo wir um 11 Uhr Termin in einem Minenprozeß haben. Wir bearbeiten dort Kupferminen mit Ozeankraft-Tiefdruck, und finden in den letzten Wochen, daß die Pression über 50000 Meter Tiefe sehr unregelmäßig ist. Unser Rechtsanwalt, der die Sache hat sorgfältig untersuchen lassen, meint, daß die „Ozean-Elektrische Gesellschaft m. b. H.“ schuld an dem schlappen Betrieb ist.“

„Ich will heute mittag nach Kairo“, sagte Havermann, „und morgen mit meiner Frau nach Wien, wo unser Neffe getauft werden soll.“

„Da kommt endlich meine Frau von oben.“

Frau Havermann kam aus ihrem Schlafballon mit Hilfe eines Lifts, der an dem mittleren Ankertau des Luftfahrzeuges angebracht war. Diese Fahrzeuge waren lange Zeit durch die bei Nacht entstehenden unregelmäßigen Windströmungen in ihrer Lage bedroht gewesen. Seit die Menschheit es jedoch fertig gebracht hatte, die Luftzonen bis in Höhen von 10000 Metern mit meteorologischen Stationen zu überziehen, seit insbesondere auch die Polargegenden völlig der Beobachtung geöffnet waren, hatte man eine solche Kontrolle über die verschiedenen Witterungs-Faktoren erzielt, da man die Wetter-Prognosen bis auf halbe Monate voraus mit voller Genauigkeit stellen und demgemäß jede erforderlichen Maßnahmen zur rechten Zeit treffen konnte. Automatische Wind- und Temperaturnachrichten von allen Teilen unseres Planeten liefen auf allen Stationen ein, und es hatte keinerlei Schwierigkeiten, zu bestimmen, welche Höhe die Wohneinrichtungen einzunehmen hatten, und nach welcher Seite sie besonders stark zu verankern waren. Der Verkehr von oben nach unten war früher durch kleine Luftboote vermittelt; aber bereits seit einem halben Jahrhundert hatte man elektrisch betriebene Fahrstühle, als billiger und bequemer, vorgezogen. Die Erde war jetzt in allen Zonen bewohnt; auch an den Polen, wo man in die Tiefen stieg. Die unbegrenzte Masse elektrischer Kraft, über welche man verfügte, überwand jedes Beleuchtungs- und Erwärmungs-Problem. Natürlich hielt sich um den Nord- und Südpol für gewöhnlich nur auf, wer da zu tun hatte. Insbesondere fand um den Nordpol ein außerordentlich starker Betrieb von Gold- und Platina-Produktion statt.

Frau Havermann kam aus ihrem Schlafballon mit Hilfe eines Lifts, der an dem mittleren Ankertau des Luftfahrzeuges angebracht war.

Eine überplanetarische Verbindung war bislang nur mit dem Mars erzielt worden; und gerade von den drahtlosen Stationen der Pole aus. Jedoch hatte man von dort wirkliche Kunde immer noch nicht erzielt. Elektrische Stöße, welche von der Erde hinübergetrieben wurden, waren beantwortet. Man hatte eine Art von Codebuch, die Sonnenvorgänge und andere astronomische Vorgänge betreffend, zusammengestellt, und war augenscheinlich von der anderen Seite verstanden. Astronomische Beobachtungen konnte man sich jetzt ganz gut mitteilen. Aber sobald es sich um Kunde von Geschichte, Sitte und Völkerleben handelte, versagte der Vermittlungsapparat durchaus. Augenscheinlich lebte und dachte und plante auf dem Mars ein ganz anderes Lebewesen als hier. Selbst die einfachsten irdischen Begriffe versagten dort. Dazu kam, daß die beiden Planeten dauernd sich so fern blieben; 5 Millionen englische Meilen, selbst bei ihrer größten Annäherung. Praktische Vorteile aus den Mars-Mitteilungen — so enorme Kraftleistungen sie erfordert hatten — hatten sich nicht ergeben; und jeder Versuch, mit dem Mond in Beziehungen zu treten, war gescheitert. Augenscheinlich gibt es drüben keine intellektuelle Resonanz mehr.

„Nun, Anna“, sagte Havermann, als seine sehr niedliche Frau aus ihrem Fahrstuhl heraustrat, „welche Pläne hast Du denn für heute?“

„Ach, ich möchte in Kamerun, in Buëa frühstücken; meine Schwester erwartet mich, und dann mit ihr den Tee in Togo einnehmen; das sind unsere einzigen beiden deutschen Kolonien, wo Deutsche noch Geld machen. Mein Vater in Stettin hat stets gewünscht, daß ich dort einmal mich niederlassen sollte. Aber Du, Böser, schleppst mich hierher in Euer Britisch-Südafrika.“

„Nun, gefällt es Dir denn bei uns nicht?“

„Well, das Klima ist hier gut genug; aber, wer kümmert sich heute noch um das Klima, wo Malaria, Dysenterie, Moskitos und Fliegen von der Erde vertrieben sind und wir in den „höheren Regionen“ wohnen. Wo bleiben denn aber unsere Schnellboote?“

In diesem Augenblick näherte sich mit der Geschwindigkeit von 1000 Kilometern per Stunde der „Falke“, welcher Agatz nach Nyangwe bringen sollte. Er hielt 3000 Meter über Havermanns Farm, und dieser lieh ihm seinen Steigballon, um hinein zu klettern. „Auf Wiedersehen, morgen!“ hieß es. Bald darauf erschien das große Expreßluftschiff für den Westen Afrikas, das Frau Havermann gewählt hatte, der „Habicht“. Sie trank schnell ihre Tasse Tee und ging hinauf. Man beklagte sich in diesen afrikanischen Kolonien über die Langsamkeit des Luftbetriebes; von Südwestafrika nach Kairo dauerte es an 18 Stunden, während Bahnen und Dampfschiffe nur noch den Frachtverkehr vermittelten. — „Sagen Sie einmal, Eggers“, fragte Havermann, „weshalb haben wir Deutschen hier in Afrika, und überhaupt in der Welt, eigentlich so gar nichts fertig gebracht?“

„Das will ich Ihnen sagen“, antwortete Eggers, „unsere Landsleute haben den Witz der Sache eigentlich überhaupt nicht kapiert. In den achtziger und neunziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts ulkten sie über Kamerun und Zanzibar. Dann erfand man die Kolonialskandale! Eine Fülle schmutziger Verleumdungen und gemeiner Denunziationen gegen einzelne Pioniere zierten den nationalen Rekord! Das war erst recht etwas für den Berliner. Das war etwas für das Metropol-Theater! Dazu der Neid und die Gemeinheit der Konkurrenten von Leuten, welche wirklich etwas geschaffen hatten, die Streberei und Speichelleckerei der Lumpen, welche sich an die Kolonialpolitik drängten, die Ordenskriecherei, die am Anfang des 20. Jahrhunderts deren eigentliches Charakteristikum auszumachen schien! Was Wunder, wenn der Kram in Deutschland verächtlich ward und die Engländer anfingen, mit Hohn auf diesen „Mitbewerb“ herabzublicken! Diese erhielten schließlich die eigentlichen Assets, und das ist für die Entwicklung der Menschheit sicherlich auch gut gewesen. Die Leute in Deutschland, wie z. B. Carl Peters, welche unser Volk zu einer Weltmacht umzuschmelzen gedachten, blieben im Grunde stets Träumer. Wenn Du ein „Herrenvolk“ finden willst, kannst Du eher zu Mashonas und Buschmännern gehen, als zu den Leuten in Zentral-Europa.“

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