16. November 1916 Hallesul, am Fuß des Runcul mare

Um halb zwei Uhr wurden wir geweckt, die Zelte abgebrochen, alles rasch zusammengepackt; fast schlaftrunken brachen wir auf. Eine Strecke leuchteten uns herabgebrannte Lagerfeuer nach, dann tappten wir in Waldfinsternis aufwärts. Jeder sucht irgendeine Helligkeit an der Figur des Vorausgehenden; mich führte der schwache Glanz eines Zinnbechers an einem Gürtel. Schnee fiel durch Nebel; es wurde dabei lichter: der Mond mußte über uns stehen. Immer schneller vollzog sich die Bewegung, bald an Abgründen, bald über Stege, bald um Felsen herum, stundenlang. Die Soldaten trugen das leichteste Sturmgepäck; die Tornister sind in Oitóz aufbewahrt.

Als wir in das bewaldete Tälchen gelangten, das Hallesul heißt, erhob sich durch den Dunst eine mächtige Bergform; im Nu spürte jeder: wir sind da. Hier war eine andere Aufgabe gestellt als vor dem Hügelchen Lespédii: ein steiler, vom Feinde stark besetzter Grenzberg, der, nahe dem wichtigsten Paß, das Land Siebenbürgen bedrohte, war zu erstürmen. In einer halben Stunde mußte es geschehen sein, oder es geschah niemals. Auf Kanonenhilfe war verzichtet; indianerhaft, in weit auseinandergezogenen Gruppen sollten zwei Kompagnien anschleichen, um gewaltsamsten Angriffs von Mann zu Mann den Gegner in Entsetzen und Flucht oder in den Tod zu jagen. Nahe dem Punkt, wo die Züge unter Leitung des Majors zu gesondertem Vorgehen verteilt wurden, blieben wir Ärzte mit dem Adjutanten zurück und erwarteten weitere Befehle. Wir sahen uns um, wo vielleicht ein Verbandplatz zu errichten wäre; aber da fand sich weder Unterstand noch fließendes Wasser. Schon zeigt die phosphoreszierende Uhr die Zeit fast überschritten, ein vager Gedanke regt sich, es könnte noch in letzter Sekunde die Aktion widerrufen worden sein oder gar bereits eine Friedensbotschaft draußen die finstere Welt umfliegen, – da rast das deutsche Kampfgeschrei, ein Augenblick tiefer Stille folgt, und nun setzt ein Feuer ein, wie wir es in solcher Verdichtung nie gehört haben. Deutlich unterscheiden wir die hellen, gezielten Salven der Unsrigen von den dumpfen vereinzelten Schüssen der Aufgescheuchten. Ohne Befehl abzuwarten, verließen wir den Wald, und nun war wie mit einem Ruck Morgen geworden. Entgegen stand uns ein kahler, zerklüfteter Kegel, von dem dünne Dunstschwaden ins Blaue wehten. Als erste Gestalten erblickten wir gefangene Rumänen, die behutsam deutsche Schwerverwundete zu Tal trugen, und unversehens fanden wir uns unter Leidenden und Sterbenden gezwungen, den ungeschützten Platz, wo wir uns eben befanden, zum Verbandplatz zu machen. Schon hatte eine Granate zwischen uns eingeschlagen und zwei Verwundete getötet, da kam der Hauptmann einer ungarischen Reservekompagnie des Weges und verriet uns die Nähe eines leidlich eingerichteten Sanitätsunterstandes, auf einem Felsen im Walde. Wir ließen pfadweisende Täfelchen an Bäume nageln und brachten die Verwundeten in den fast leeren Raum, dem eine schmale Ärztezelle mit Pritschen und einem Tischchen angefügt ist. Zwei sehr junge ungarische Sanitätsfähnriche geschmeidig-zart, rotseidene Genfer Kreuze auf schneeweißen Armbinden, begrüßten uns, boten sich als Gehilfen an und begannen die Arbeit mit einer Geübtheit, die wir ihren feinen Knabenhänden kaum zugetraut hätten. In hundert Formen wogte Leiden heran, und sehr ungelegen kam ein Bote des Majors, der um neun Uhr mich und den Kollegen R. zur Befehlsstelle berief. Wir übereilten uns nicht und begannen den Aufstieg erst nach zehn Uhr.

Es ist ein Berg der Blindnis und des Todes, den wir langsam erklimmen. Vom östlichen Hang herüber, wo der Kampf noch nicht abgeschlossen ist, schallen durch Gewehrgeknatter wilde Schreie; hüben aber in unserem Bereich beginnt eben der Feind, den Eroberern das Eroberte zu verleiden. Wie Hornisse zerstechen Granaten das Gefelse, Fleisch reißend aus Lebendigen und Toten. Bald rufen uns deutsche Verwundete an, bald rumänische, die nun das Eisen ihrer Brüder zum zweiten Male verstümmelt hat. Manche leiden regungslos; viele krümmen sich wie Schlangen. Mitten aber durch tödliche Zone sahen wir deutsche Leichtverletzte nach unten steigen, einige bleich, verstört, andere voll Übermut, mit bunten Gürteln, Westen, Ordenszeichen toter Gegner wie zum Karneval aufgeputzt. Einer hat aus der rumänischen Stellung ein Grammophon mitgenommen; nun kommt ihm der Einfall, es aufzuziehen und auf einen Stein zu stellen, der Page aus dem Figaro beginnt zu singen, und wie die Stimme eines Irren klingt Mozarts Lied in zerrütteter Welt. An einer Granitplatte, nahe der Kommandostelle, lehnte der Befehlträger Glavina, noch atmend, aber schon ganz mit der einsichtigen Miene der Toten. Man sah kein Blut. Schmerz und Schauder zurückscheuchend, suchten wir die Wunde und fanden endlich einen feinen, in den Nacken eingedrungenen Splitter. Bald stand die Atmung still. Einige dichtbeschriebene Meldezettel, die ihm aus der Tasche gefallen sein mußten, nahm ich mit, um sie dem Adjutanten zu geben, merkte aber auf dem Wege, daß sie nichts Dienstliches enthielten; nun verwahre ich sie vorderhand bei mir. Dem Major sagten wir, daß die bestellten bosnischen Verwundetenträger noch nicht eingetroffen seien; er versprach, die Division anzurufen, und sandte uns bald in den Hallesul zurück.

Indessen hatte sich das Wetter verfinstert; es fing zu schneien an. Ein fließender weißer Vorhang nahm den Geschützen das Ziel; eines nach dem andern verstummte, fast ungefährdet gingen wir hinab. Ein Rumäne, zwischen zwei Birkenstämmen hingestreckt, lag mir im Wege; ich hielt ihn für tot und wollte über ihn wegsteigen, vernahm aber ein Ächzen und fühlte mich mit schwacher, doch spürbarer Gewalt am Mantel gefaßt. Zurücktretend sah ich das Leichengesicht eines kaum Dreißigjährigen, die Lider fast geschlossen, die Mundwinkel äußerst schmerzlich verzogen. Die Finger hielten noch immer den Zipfel meines Mantels fest. Durch einen grauen Umhang, der seine Brust bedeckte, dampfte es leicht; R. schlug zurück, unter aufgesprengten Rippen lagen die Brustorgane frei, das Herz zuckte schlaff. Mehrere silberne und kupferne Heiligenmedaillen, die er an schwarzem Band um den Hals getragen hatte, waren tief ins Fleisch hineingetrieben, einige stark verbogen. Wir deckten wieder zu. Der Mann öffnete halb die Augen, bewegte die Lippen. Um nur etwas zu tun, füllte ich die Morphiumspritze, und wirklich schien er etwas dergleichen gewünscht zu haben: er ließ den Mantel los und bemühte sich, mir den Arm zurechtzulegen. Schwer erklärbares Verhalten eines fast schon Gestorbenen! Aber vielleicht gibt es einen unendlich scharfen, unendlich peinlichen Schmerz, den der wach Sterbende um jeden Preis los haben will, weil er ihn brennend im Leben festhält, ihn am freien klaren Scheiden hindert, wer weiß es? Nach der Einspritzung legte er fast bequem seinen Kopf an der Birke zurecht und schloß die Augen, in deren tiefe Höhlen sogleich große Schneeflocken fielen. Wir gingen eilig weiter; es war fast ein Uhr, als wir im Hallesul ankamen.

Der Schneefall dauert an. Die Geschütze ruhen. Immer aber streifen oben Gewehrkugeln durch die Baumkronen; die Luft ist voll Harzgeruch des tausendfach verletzten Waldes. Vergeblich warten wir auf die bosnischen Träger. Sie müssen sich verirrt haben. Im Unterstand ist kaum noch Raum für Madjaren und Deutsche; die schwerverwundeten Rumänen liegen draußen zwischen den Fichten im Schnee. Einen ihrer Sanitätsunteroffiziere, einen jungen Juden, haben wir bei ihnen gelassen. Er hat ihnen ein Feuer angezündet, das kümmerlich brennt und unter Schneeflocken zischt. Einige halten die Hände darüber. Ein anderer lächelt immer und bekreuzigt sich von Zeit zu Zeit.

Im Unterstand verdunstet immer dichter das Blut. Mit klebrig-tierischem Gestank reizt und verdüstert es die Nerven; man läuft immer wieder ins Freie. Der rote Saft, an den das Leben mit Lust, Qual, Wut, Barmherzigkeit, Wahnsinn und Weisheit gebunden ist, warum erregt er, sobald er verschüttet wird, unleidlichen Ekel?

Share on Twitter Share on Facebook