Abends

Wirklich sind die Bosniaken ausgeblieben, vielleicht von einer anderen Truppe weggefangen. Unsere gefährlichst Verwundeten nach Oitóz zu tragen, haben sich mehrere Leichtverletzte erboten; bis Mitternacht werden sie dort ankommen. Nun konnten die Bleibenden besser gelagert, auch fünf Rumänen in den Unterstand aufgenommen werden. Von den übrigen starben noch drei; die anderen drängten sich dicht um ihr Feuer, wobei sich einige die Stiefel verbrannten. Es sind lauter junge Leute, glattgefällige Vollgesichter, – wie mager, wie geprägt, wie grüblerisch-versonnen, wie kriegsgealtert sehen dagegen die jungen deutschen Soldaten aus! Der jüdische Unteroffizier, des Deutschen kundig, fragte mich im Namen aller, wann sie wohl in ein Lazarett befördert würden, worauf ich nach der Wahrheit erklärte, daß das nächste Lazarett mehr als zwanzig Stunden entfernt sei, auch daß die bestellten Sanitätssoldaten uns verfehlt hätten und schwerlich vor morgen eintreffen würden. Sichtlich ungern übersetzte der Dolmetsch die schlimme Auskunft, und in der Tat war die Verzweiflung, die nun auf allen Gesichtern erschien, so fürchterlich, daß ich mich zu einer Torheit verleiten ließ, indem ich, wie man Kinder durch leichtfertige Verheißungen zu beschwichtigen sucht, ihnen aufs Geratewohl sagte, sie sollten sich nur noch ein Weilchen behelfen und gedulden, ob nun die Träger kämen oder nicht, in jedem Fall würde ich sie alle noch vor Dunkelheit unter Dach bringen und ihnen reichlich zu essen geben lassen. Wort um Wort übersetzte der Jude; ermutigt horchten sie auf. Kaum aber war das Versprechen gegeben, da fiel es mir in seiner ganzen Unsinnigkeit auf das Herz. Wir haben kaum Unterkunft für die Unsrigen, dazu so kärgliche Nahrung, daß immer die Lebenden sich gierig auf die Brote der Gefallenen stürzen, auch fehlt mir jede Befehlsgewalt, – wie hatte ich dies alles vergessen können? Gefreiter W. meinte, die Kerle verdienten nicht so viel Federlesens, auch unsere Kameraden lägen auf dem Berg in Eis und Schnee, Krieg sei Krieg, die Rumänen hätten ihn vom Zaun gebrochen, sie sollten ihn nur spüren. Darauf war im Augenblick nichts zu erwidern; ich erneuerte mir indessen die Hoffnung, daß die Bosniaken doch noch kommen Würden, und ging, da im Unterstand gerade nichts zu tun war, ein wenig den Berg hinauf, anfangs dicht hinter der Linie, wo Posten, bekleidet mit weißen Schneehemden und -mützen, wie Priester, die eine stille Messe zelebrieren, hinter ihren Brustwehren standen. Befehlbringer kamen und gingen; mit singendem Ton strichen Kugeln. Höher gelangend, sah ich durch das Gestöber einen huschenden rötlichen Schein; dieser konnte nicht mehr unserm Bereich angehören, da schräg über die nächste Höhe schon die feindliche Stellung läuft. Gestalten traten in den Glanz, nahmen eine Bahre auf und trugen sie davon, da verlosch die Erscheinung. Ich stieg weiter und kam an einen hohen Baum, durch dessen Astwerk ein weißgrauer Vogel flatterte, fast amselgroß, vielleicht ein Schneefink, der erste Vogel, der mir in diesen stummen Wäldern zu Gesicht gekommen ist. Schnee fiel noch immer; in Millionen Stückchen schien der Weltraum herzusinken, man spürte die saugenden und belebenden Wellen des Nichts.

Als ich in den Hallesul zurückkehrte, wurde mir eine Überraschung. Ich spähte nach meinen Rumänen; keiner war da. Nur die Toten, schon zugeschneit, lagen bei den verrauchenden Kohlen. So sind die Träger doch gekommen, dachte ich und wollte weitergehen, traf aber den ungarischen Kompagnieführer, der uns am Morgen den Verbandplatz gezeigt hat; er schien mich erwartet zu haben. Und nun erfuhr ich, was in kleiner wie großer Menschenwelt hie und da einmal vorkommen mag, daß irgendeiner halten muß, was ein anderer leichtfertig versprochen hat. Mit knappen Worten entschuldigte sich der Hauptmann, weil er die deutschen Kompetenzen ein wenig verletzt und in meiner Abwesenheit die Gefangenen an einen anderen Ort habe schaffen lassen, seine Leute hätten mich überall vergeblich gesucht. Durch das runde Fensterchen seines nahen Unterstandes habe er den ganzen Tag wie vor einer Zauberlaterne die Gruppe der Verwundeten und Sterbenden mit ihrem armseligen Feuer vor Augen gehabt, allmählich sei es seinen etwas anfälligen Nerven zu viel geworden. Abseits in einer Schlucht stehe eine leere Reisighütte, dort befinden sich die Leute jetzt, er habe ihnen auch warmes Essen geschickt. Ich erwiderte etwas Verbindliches; er wollte nichts hören. „Ihr armen Deutschen“, sagte er lachend, „habt ja selber nichts mehr zu brechen und zu beißen, während wir Ungarn vorderhand noch im Überflusse schwimmen.“ Damit führte er mich durch Gestrüpp und Schneewehen in die Schlucht hinein. In der Hütte bei Kerzenschein lagen die Verwundeten auf Tannenzweigen. Sie aßen Fleisch aus Blechbüchsen und tranken aus ihren Feldbechern heißen Tee. Der Unteroffizier stand auf, erstattete dem Offizier in deutscher Sprache eine Meldung, wandte sich sodann zu mir und sprach im Namen aller für Unterkunft und Speisung seinen Dank aus. Befremdet sah mich der Ungar an. Ich suchte den einen über seinen Irrtum aufzuklären und bekannte dem andern mein unbesonnenes Versprechen; beide lächelten höflich, doch scheint mich keiner so recht verstanden zu haben.

Als wir wieder ins Freie traten, hatten Deutsche und Rumänen schon begonnen, durch Aufsenden unzähliger Leuchtkugeln einander zu warnen und zu bewachen; grellrot und grün flackerte der ganze Hallesul bis zu den Bergen hinauf, und wie Konfetti fiel durch die farbenwechselnde Beglänzung der Schnee. Selten wird ein Schuß abgegeben; zuweilen, durch das Raketenzischen, hört man wieder, wie am Kishavasberg, aus großer Entfernung Wölfe heulen.

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