2. November

Ich erwachte mit dem Gefühl absterbender Zehen, verließ das Zelt und umschritt stampfend das Lager. Später meldeten sich einige Soldaten mit wirklich abgefrorenen Zehen und Ohren. Bei mir brachten Gespräch, Bewegung und heißer Kaffee, dem nur gar zu viele Wacholdernadeln beigemischt waren, das Blut bald wieder in seinen Lauf. Aus den rumänischen Bergen aber hob sich die Sonne, und wunderbar zeigte sich heute die strahlenbeugende Kraft irdischer Atmosphäre: nicht als kreisrunde Scheibe, sondern als mächtiges karminrotes Ei lag das Gestirn minutenlang über schwarzen Wäldern, bis es nun, langsam steigend, sich entrötet und rundet. In den Tiefen aber ist unermeßliches Weiß ausgegossen, ein glattes, dichtes, mit Gipfelinseln überstreutes Meer von Flaum, das uferlos mit lilablauem Strich im Westen endet. An dem uns nahen Rande, wo es noch seicht ist, läßt es Felsen und Bäume durchscheinen; man könnte glauben, diese spiegelten sich darin.

Der Marsch, der um neun Uhr begann, war oft von Rastpausen unterbrochen; vermutlich durften wir nicht zu früh ankommen. Die Mittagstunde verbrachten wir nahe dem Gipfel des Berges Kishavas auf einer moosigen, mit Steinblöcken und Wacholderbüschen besetzten Fläche voll neuer Gräber. Einige Kreuze sind sorgfältig mit Grün umwunden, manchmal nur ein kleiner Stecken einem größeren mit Waldreben zu flüchtigstem Gedenken angeknüpft. Zwischen zwei Steinen steht ein Pfahl mit aufgeschnitztem Halbmond und der Inschrift: Brica Hamid, 29. X. 16. Durch kalten Wind wirken scharfe Höhestrahlen, Reifkörner verdampfen an den Spitzen des Wacholders, von Stunde zu Stunde bräunen sich die Gesichter. Es ist sehr still, die Lust zu sprechen gering, der Geist unterhält sich noch immer mit jenem unendlichen Weiß.

Ein ungarischer Beobachter gesellte sich zu uns; er lud mich und H. schließlich ein, auf seinem Standort mit ihm Tee zu trinken, und ließ uns durch sein Scherenfernrohr schauen. Wie man das Blickfeld eines Mikroskops nach den schädlichen rot oder blau gefärbten Pilzen absucht, so wird hier nach den moosgrün gekleideten rumänischen Soldaten gefahndet. Der Offizier hatte die Höhe Lespédii eingestellt; er verriet uns, daß unser Bataillon sie werde erstürmen müssen, und zwar bald. Im übrigen war er ärgerlich, weil keiner der Grünen sich zeigen wollte; gar zu gern hätte er ihnen ein paar Granaten hinübergesandt. Ich sah im Glas einen kleinen steinigen Hügel mit etwas Baumwuchs und viel Gestrüpp. An einem Schräubchen drehend, entdeckte ich auf einmal hinter Wacholderbüschen eine ganze Gruppe schanzender Rumänen, wollte schon den Beobachter aufmerksam machen, fühlte mich aber gehemmt und schwieg. Zum ersten Male stand ich gewissermaßen vor der Pflicht, den Tod auf Menschen zu lenken; denn der verschonte Gegner kann im nächsten Augenblick die eigenen Landsleute gefährden. Anderseits waren die arbeitenden Leute von drüben hier in dem kleinen Glase gleichsam in meine Hand gegeben; ich sah, wie der eine sich eben eine Pfeife stopfte, ein anderer aus der Feldflasche trank, sie hielten sich für völlig sicher, und solange ich sie nicht verriet, geschah ihnen auch nichts, – ein seltsamer Fall für einen Menschen, der nicht Soldat ist und mit sich selber in leidlichem Frieden lebt. Während mir das Herz wunderlich zu klopfen begann, trat ein älterer bosnischer Hauptmann herzu, der nachts aus dem Urlaub zurückgekehrt ist, und wandte durch lebhaftes Erzählen alle Aufmerksamkeit auf sich, so daß der magische Spiegel ganz in Vergessenheit geriet. Die Hofburg in Wien, berichtete jener, soll Tag und Nacht von Massen hungernden Volks umlagert sein, die den alten Kaiser beschwören, er möge einen Schritt für den Frieden tun.

Als wir zum Lager zurückkehrten, sahen wir eine Karawane von Tragtieren dem großen Wolkenglanz entsteigen; die Führer sagen, es gebe drunten im Lande einen trüben Tag. Um drei Uhr rückten wir, durch dichten Wald absteigend, in die Stellungen, wo wir bosnische Infanterie ablösten. Eine Moos- und Reisighütte wurde mir als Befehlsstelle bezeichnet; hier ließ ich mein Gepäck zurück und ging weiter, um die Verteilung der Kompagnien zu erfahren. Die Rumänen verhalten sich still; doch entgeht ihnen schwerlich, daß eine neue Art Feind in den Wald eingezogen ist. Hatten sich nämlich die tapferen, aber etwas bequemen Bosniaken lieber der dauernden Todesgefahr ausgesetzt und Nächte durch gefroren, als daß sie sich mit dem Ausbau der Stellung abgaben, so geht es jetzt unter unbändigem Jauchzen und Gesang an ein deutsch-gründliches Graben, Baumfällen, Sägen und Hämmern, als stünden wir auf heimatlichem Grund und müßten für Kind und Kindeskind Häuser bauen.

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