4. November

Das Lager aus Fichtenzweigen, das Rehm aufgeschichtet und mit einer Zeltbahn überdeckt hat, bewährte sich gut; wir schliefen alle weit in den Morgen hinein. Die Rumänen bleiben ruhig. Die Unsrigen bauen Unterstände. Es verlautet aber, daß wir nicht lange hierbleiben.

Beim Frühstück, als der Major Marmelade aus dem Topf nehmen wollte, brachte er mit dem Löffel eine kleine tote Maus zum Vorschein. Wie sie in das Gefäß geraten ist, wer weiß es? Mäuse gibt es ja hier genug, es sind hübsche bräunliche, mit Augen wie schwarze Fischrogenkörnchen; beim Aufwachen heute sah ich eine über mir im Gezweig, die mich beobachtete. Klingensteiner wurde gerufen und zur Rechtfertigung aufgefordert, konnte aber keine andere Erklärung abgeben, als daß der Topf über Nacht vermutlich unbedeckt stehen geblieben sei. Er wurde hart angelassen, was er schweigend hinnahm; schließlich erbot er sich schüchtern, eine neue Büchse zu öffnen. Der Major schien zu schwanken, aber nur einen Augenblick, dann wies er das Anerbieten zurück, ließ die Mäuschenleiche entfernen und begann, während ihm vor Widerwillen die Augen aus dem Kopfe traten, sein Brot zu bestreichen, schob auch uns das Marmeladegefäß zu. Da er uns schaudern sah, bestrich er das Brot noch etwas dicker und erklärte knapp und brüsk, die Maus könne erst heute nacht hineingefallen, von Verwesung also noch keine Rede sein, in den Städten Deutschlands herrsche der Hunger, tausend Mütter würden sich dort glücklich schätzen, wenn sie ihren Kindern solche Marmelade auf ihr elendes Kleienbrot schmieren dürften. Dabei kaute und schluckte er gewaltsam, die Mienen von grenzenlosem Ekel verzerrt. Endlich stand er auf, strich sich stehend ein zweites Brot und ging, ohne abzuwarten, ob wir seinem Beispiel folgten, davon. Einige lachten jetzt, und einer nannte ihn ein Schwein, doch war eine gewisse Angefochtenheit bei jedem zu merken. Einer meinte schließlich, er hätte ja die Marmelade stehenlassen und mit dem trockenen Brote vorliebnehmen können; aber dies Wort ging daneben, jeder hatte gespürt, daß der Alte den Ekel mit Bewußtsein erleiden und zeigen, ja, daß er uns damit peinigen und beschämen wollte. Im stillen mochte sich auch jeder sagen, daß ein Volk, worin alle dächten und handelten wie er, ewig unüberwindbar bliebe; doch scheint es manchem befremdlich, daß aus dem bitteren kleinen Greise, der uns allzuoft halb eine Belustigung, halb ein Ärgernis gewesen ist, auf einmal etwas wie echter Schmerz und echte Größe hervorwachsen will. Sich selber traut ja jeder Erneuerungen zu; den andern aber, besonders den älteren, hält man gern für eine starre Gewordenheit und ist fast ungehalten, wenn er einem plötzlich Beweise vom Gegenteil gibt.

Bald redete keiner mehr; nachdenklich saßen alle um den Marmeladetopf, bereit, wenn es gegolten hätte, davon zu essen, aber einer durch des andern Gegenwart gehemmt.

*

Nach Mittag durchging ich mit dem Ordonnanzoffizier unsern ganzen Frontbereich. Die Gegend ist wie absterbend; manchmal knistert es im Gezweig, eine Staude wird geschüttelt, aber man sieht kein Wild, keinen Vogel. Der Wald ist Urwald; filzig-strähnige Flechtengewebe verbinden die Baumkronen und verdünnen das Licht. Ungeheure Stämme, halb aufgelöst, manche wie durchwärmte Kerzen verbogen, glühend in allen Röten und Bräunen des Verwesungsrostes, liegen auf- und nebeneinander, und überall ringt Alge, Moos und Pilz zur Welt. Ja, was höhere Natur in veredelter und festerer Form lange bewahrt und entwickelt, bis es endlich mit Augen blickt oder sich mit Flügeln auflüftet, hier, im feilsten hinfälligsten Stoff, ist es vorgeträumt seit Äonen und zerfällt, kaum geworden, in haltloser Brunst. Es gibt Schwämme, die wie Rebhuhnfittiche den Boden überbreiten, andere gleichen schwarzen Muschelschalen, aus denen ein amethystenes Geriesel kommt. Ein Flor violetter Posaunen bedeckt ganze Flächen, aus lockigem Gekräusel stehen weiße Glieder, und winzige verstümmelte Hände, lichtgrün, mit einem siegellackroten Tröpfchen statt fehlender Fingerspitzen, greifen aus morschen Rinden hervor.

Plötzlich standen wir vor einem Toten, und als hätte uns dieser den Blick geöffnet, sahen wir nun den Wald voller Leichen. Um die Höhe Lespédii herum liegen sie zu Reihen hingestürzt, lauter Rumänen; die Österreicher hat man wohl bereits begraben. Sie tragen zwiefach gespitzte Mützen, denen vorne bloß ein Goldknöpfchen fehlt, um an alte deutsche Schalkskappen zu erinnern. Alle haben ganz neue Uniformen, dazu Halbschuhe, die aus einem einzigen Stück Leder geschnitten und oben mit starker grüner, durch Löcher laufender Schnur zusammengezogen sind. Der Ausrüstung ist anzumerken, daß die Führer mit einem raschen Siegeslauf gerechnet haben.

Wir besuchten unsere sämtlichen Kompagnien; später gesellte sich Leutnant K. zu uns, der vor acht Tagen zum erstenmal an die Front gekommen ist, und wir schritten zu dritt einen weiten Bogen aus, wobei der Ordonnanzoffizier sehr anschaulich die Lage des Oitózpasses beschrieb. Der Leutnant ist ein zarter Junge, wie ihn früher kein Heer aufgenommen hätte, sein Gesicht so bleich, als wäre er erst vom Krankenbett aufgestanden. Die Begegnung mit so vielen Toten schien ihn anzugreifen; er fragte, wann sie denn begraben würden, worauf der Ordonnanzoffizier meinte, das eile nicht so sehr, der Frost bewahre die Leichen gut und lasse keine Verwesung herankommen, es gäbe für den Augenblick Wichtigeres zu tun. In einer kleinen Lichtung blieben wir stehen und betrachteten die Höhe Lespédii, die das Bataillon in den nächsten Tagen erstürmen soll. Sie nahm sich jetzt noch unbedeutender aus als gestern im Fernrohr; mit gelbem Gestein und braunem Gestrüpp glich sie dem räudigen Fell eines scheckigen Tieres, und Leutnant K. sprach nur mein eigenes Empfinden aus, als er fragte, ob es denn irgendeinen taktischen Zweck habe, für den elenden Steinhaufen deutsches Blut zu opfern, man möge ihn doch in Gottes Namen den Rumänen lassen. Der Ordonnanzoffizier sah den jungen Kameraden verwundert an wie einen Mitspielenden, der sich nicht an die Spielregeln hält, und erklärte dann, es handle sich keineswegs darum, Berge zu erobern, sondern feindliche Kräfte hier festzuhalten und wichtigere deutsche Fronten zu entlasten, und übrigens sei es an der Zeit, daß wir ins Gefecht kämen, eine lange Defensive zerstöre den Mut, ja der beste Soldat werde schlecht ohne Kampf und Gefahr.

Der Leutnant schwieg lange. Erst als wir schon den Rückweg angetreten hatten, fragte er unvermittelt, ob sich von den Friedensgerüchten, die neulich umliefen, etwas bestätigt habe. Wir verneinten es. Nun geriet er mehr und mehr in ein fieberisch-verworrenes Gerede hinein; schließlich, lachend und doch sehr erregt, erzählte er von einer Tante in Augsburg, die darauf schwöre, niemand anderer als Mars, der nahe rote Planet, habe uns den Krieg gesandt, er herrsche auf sieben Jahre über die Erde und sauge an ihren Geistern, bis sie einander aus der warmen Behausung des Lebens jagen. Der Ordonnanzoffizier war immer einsilbiger geworden; auf das letzte hin schwieg er ganz, und ich glaube, er hatte recht. Vor den Antlitzen der Toten erstirbt jedes nicht ganz wahre, nicht ganz nüchterne Wort wie in luftleerem Raum. Im Grunde fühlt wohl jeder einen Sinn in sich, der mit und über allen Planeten weiß und wirkt. Bleiben wir im engsten Kreise wachsam! Wenn einer vom eigenen Mittelpunkt aus das Nächste, Notwendige erkennt und löst, wie kann ein wandelnder Stern gegen ihn sein? Er hat sich dem Geist aller Sonnen verbunden, immer dient er den Gängen des ewigen Spiels.

In das obere Waldgebiet zurückkehrend, sahen wir die schwarze Fichtenfensterung rot und blaugolden wie mit Scheiben ausgelegt, unter uns aber, schon von Halbnacht umgeben, die große weiße Dunstsee hingebreitet, an deren östlichem Saum einzelne kleine Lichter flimmerten. Während wir uns fragten, ob diese noch unserer eigenen oder schon der gegnerischen Zone angehörten, bemerkten wir am Boden etwas Seltsames, ein kleines dunkles Tier, das, einer aufziehbaren Blechmaus ähnlich, in engen Kreisen unaufhörlich einen Baum umlief. Sein Gebaren erinnerte an die japanischen Tanzmäuse, die Wilhelm in Hellabrunn immer so viel Spaß gemacht haben; es war aber größer und nahezu schwarz. Wir näherten uns vorsichtig, da huschte es den Stamm hinauf und war verschwunden. – Im Unterstand wurde mir eröffnet, daß ich laut Brigadebefehl für die Kampftage zum Regimentsstab abkommandiert bin, wo ich einen Verbandplatz errichten soll. Das bedeutet, aus Gefahr und feuchter Niederung der Leichenwälder in Sicherheit und golden-trockene Höhenluft versetzt werden. Alle wünschen mir Glück. Ich wäre aber lieber beim Bataillon geblieben.

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