5. Dezember

Ich verbrachte den Vormittag bei den Pionieren im Walde, wo sie einen halb zugewachsenen Weg für die Verwundeten der nächsten Tage aushauen müssen, da scholl über Hosszuhavas her Geschrei und Schießen. Zurückgekehrt erfuhr ich, daß links von unserm Abschnitt Russen die österreichische Linie durchbrochen haben, dadurch soll unsere Stellung gefährdet und wertlos geworden sein. Um den Gipfel ist noch Ruhe. Eine Ordonnanz überbringt Befehl zur Marschbereitschaft; Verletzte und Kranke sind ohne Verzug nach Palanka zu schicken. Was fang ich mit Kristl an? Er schläft noch immer. Ihn jetzt wegzuschaffen ist unmöglich; auch warnt mich etwas davor. Das Getöse kommt näher. Rehm sieht mich immer an; er errät meine Sorge. Endlich kann er nicht mehr schweigen. An der Somme, meint er, habe die Lage zuweilen schrecklicher ausgesehen und sei dennoch wiederhergestellt worden; drunten im Dorf, noch uneingesetzt, lägen zwei Reservekompagnien unseres Regiments, da könne nichts fehlen. Ich lasse ihn Tee bereiten und buchstabiere ein wenig in Glavinas Zetteln. Die Schrift ist kaum lesbar; aber ich bin einem Rhythmus auf der Spur. In diesem schwingend finde ich Sinn genug; schon hab ich mir manches vereignet und verinnigt, und wo auch nur ein Wort hingeworfen oder eine Strophe schwach angeschlagen ist, erklingt wie von selber die Folge:

„Wer aber heimkehrt, halte Bereitschaft! Jeden mit anderer Stimme ruft Gott. Ein wacher Wandel ist euer, ein langer Werktag, selten ein Fest, selten ein feiernd Lied. Schlummert wachsam wie die Gemse schläft!“

*

Es ist drei Uhr. Das Feuer hat zugenommen, doch überwiegt im Augenblick das russische nicht. Ich ging wieder zu Kristl, schüttelte ihn an der Schulter und rief ihn beim Namen. Umsonst. Er schläft zu tief.

„Die strengen, bindenden Worte fallen aus Kindes Gedächtnis. Raben tragen die goldnen Bücher aus dem Heiligtum.“

„Opfer, was frommen sie noch dem, der den Ruf überhörte? Der Dom stürzt ein über Altar und Beter, und abgesprengt, noch klingend vom Pilgerbittgesang, ins Meer hinaus, verbrennend, schwimmt die Brücke.“

„Der Geist wird stehn vor seinem eigenen Hause und nicht heim finden ...“

*

Einhalb vier Uhr. Der Lärm nimmt noch immer zu. Die Schau durchs Fenster blendet. An einigen Erhebungen des Geländes treffen so viele Schneeleuchten zusammen, daß das Auge kein Weiß mehr erträgt und es als grünlich empfindet. – Jetzt haben, in weiten Abständen, unsere bereitgestellten Züge den Plan betreten. Der Gegner bemerkt sie. Geschosse platzen über den blinkenden Helmen, eine neue Art von Schrapnellen, welche zweifarbige Wölkchen ausstoßen: es ist, als ob aus unsichtbaren Eiern Vögel schlüpften mit einem roten und einem schwarzen Flügel. Die Soldaten eilen, sie laufen fast. Plötzlich fahren, kaum gedeckt, preußische Kanonen am Dorfrand auf und feuern ohne Pause, Schlag auf Schlag. Von dem Luftdruck zerspringt uns im Verbandraum ein Fenster.

*

„Wie soll auferstehn, was nie begraben ward? Geht um in zwölften Stunden! Lest auf aus taubem Schutte das oft zerbrochne Menschenbild! Mauert es heimlich ein unter die neuen Gebäude!“

*

Einhalb fünf Uhr. Heftigen Schrittes tritt ein der Major, mit ihm der Adjutant. Hinterher kommen verwundete Deutsche und Russen. Unverwundet ist nur ein junger Russe mit grünlichbraunem Gesicht und überhellen Sperberaugen. Er soll vernommen werden; aber niemand spricht Russisch. Aus verbündeten Truppenteilen, die in der Nähe liegen, werden Leute zusammengeholt, ein Bosnier, ein Pole und ein Ukrainer, der wohl Russisch, nicht aber Deutsch versteht. Durch vier Sprachen gehen Frage und Antwort hin und her. Der junge Bursche, scharf befragt über Stellung und Stärke seines Regiments, spielt auf kindlichste Weise den Einfältigen, sagt lauter unmögliche Dinge. Der Major läßt ihm zwei Fasttage androhen, falls er nicht vernünftig antworte. Er zuckt zusammen wie gepeitscht, senkt den Kopf, spricht keine Silbe mehr. „Braver Kerl“, brummt der Alte und bedrängt ihn nicht länger. Plötzlich sucht der Russe in seinen Taschen herum, schüttelt verzweiflungsvoll den Kopf, redet heiser auf den Ukrainer ein. Spannung entsteht, Aufschlüsse werden erwartet, der Adjutant überspitzt seinen Bleistift. Aber ein Dolmetsch nach dem andern lacht. Was wir erfahren ist nur, daß der Gefangene im Gefecht seinen Tabak verloren hat; flehentlich läßt er um etliche Zigaretten bitten. Der Bosniak erfüllt seinen Wunsch, der Russe zündet an und setzt sich, da sich niemand weiter um ihn kümmert, auf einen nahen Stuhl, wo ihm Kopf und Arme sogleich niedersinken. Die Zigarette entfällt seiner Hand; er schnarcht.

Ordonnanzen kommen. Der Angriff ist abgeschlagen. Der Feind hat alles gewonnene Gelände wieder verloren. Die Ebene wird leer. Ein Rabenzug fliegt niedrig über das Tal. Der junge Russe wird unsanft zum Abmarsch geweckt. Der Major befiehlt mich für morgen zum Mittagessen nach Hosszuhavas.

Es war schon ganz finster, als ich mich im Nebenraum nach Kristl umsah. Er hatte sich aufgerichtet.

„Sind Russen da?“

„Ja, Gefangene. Sind schon abgeführt.“

„Ach so, Gefangene“, wiederholt er mißtrauisch.

„Aber der General Brussilow ist doch vorbeigefahren auf einem feurigen Wagen?“

Ein kleiner ungarischer Schlitten mit zwei brennenden Laternchen war vor einer Minute am Fenster vorbeigekommen. Das muß der feurige Wagen gewesen sein. Ich bewies es ihm umständlich, und er schien es nicht zu verwerfen. Erklärte ihm auch, daß er morgen nach Palanka gehen und von dort aus in die Heimat fahren dürfe. Er zeigte keine Freude. „Dahinten sind lauter fremde Leute“, sagte er.

Sehr bestimmt kündigte ich ihm schließlich an, er werde jetzt gleich wieder einschlafen, morgen früh aber, sobald ich ihn kräftig anhauche, wieder erwachen, ohne Furcht aufstehen, Tee trinken, Weißbrot mit Marmelade essen und guter Dinge sein. Er versuchte eine stramme Haltung und sagte: Zu Befehl. Es bedurfte nur einiger streichender Bewegungen über sein Gesicht, um ihn wieder einzuschläfern.

Bevor ich mich niederlege, noch einmal zu Glavina:

„Auf Rinden und Gesteinen wie Wandrer alter Zeit hinterlaßt ihr einander Zeichen, sogar in Sand und Schnee, und fällt euch der Tod an am Wege, vergehend lockt ihr noch mit Speise und sanfter Beschwörung wilde Vögel vom Himmel, schreibt auf weißen Fittich purpurne Liebesrunen.“

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