Esztelnek, 30. Oktober 1916

Nach etlichen Ruhetagen scheint es nun gewaltig zu schlaunen: Eilmärsche, mit Gefechtsübungen verbunden, brachten uns heute bis Esztelnek, dessen weißer Turm, ein Campanile, sich einige Schritte vom Kirchlein fernhält. Als mich meine Quartierwirtin im Hof willkommen hieß, erschrak ich vor der fast unnatürlichen Ähnlichkeit, womit mich Gesicht und Gebaren dieser Bäuerin an Frau Nikola, die verstorbene Oberin, erinnerte. So gibt es auch da kein Ende, und immer schaut gleiche Seele mit gleichen Augen durch die Schichten der Zeit. Jene zwar verließ ihr Leben lang das Kloster nicht; diese ist Mutter, dabei aber herb und ernst, wie vom Gesetz eines Ordens begrenzt, und all ihr Tun spielt sich im Rhythmus geistlicher Übungen ab. Sie entschuldigte sich sehr, daß sie fast kein Deutsch verstehe, und führte mich in eine Stube, deren helle Nüchternheit mein Gefühl bestätigte. Die Frau brachte Weißbrot und Äpfel, entfernte sich, kam aber bald wieder und stellte Photographien ihres Mannes und ihrer zwei Söhne auf den Tisch. Dann faltete sie in Schulterhöhe die Hände nach der Seite zusammen, neigte den Kopf darauf, indem sie eine Schlafende nachahmte, deutete hierauf zur Erde, sagte „In Galizia“ und ging wieder. Die Bilder ließ sie bei Brot und Früchten stehen, als wünschte sie, daß ich, die Gaben des Hauses genießend, auch der Toten des Hauses gedächte.

Der Nachmittag verging im Dienst. Unser Wohin ist noch immer unbekannt. Die verheißene Stiefelsendung ist nicht eingetroffen. Das Bataillon wird mit löchrigen Sohlen in den Gebirgskrieg marschieren. Aus der Heimat kommt keine Nachricht. Am Abend, vielleicht vom Turmtraum gewiesen, bestieg ich den Campanile. Wenn das Dunkel die Grenzen der einzelnen Besitztümer aufhebt und schließlich nur noch die staubweißen allhinführenden Straßen erkennbar bleiben, die jedem und keinem gehören, so schickt man gern seine besonderen Wünsche schlafen.

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