Esztelnek, 31. Oktober

Um fünf Uhr marschierten wir ab. Es wehte scharf aus Nordost. Bald fror ich im Reiten und ging lieber zu Fuß. Dunkelgrüne Wintersaaten breiten sich bis zu den Bergen hinan, denen wir uns rasch näherten. Über den Gipfeln lagen erdgraue Wolkenschichten, die sich nach und nach rötlich fleckten und auf einmal Feuer fingen. Schließlich aber ging die Sonne nicht an dem Punkt auf, wo es am heftigsten flammte, sondern etwas links davon in gleichmäßig hellem Gewölk. Wir erblickten bereits das Türmchen von Bereczk, da kam ein Befehlträger nachgesprengt und übergab dem Major ein Blatt, gleich scholl ein Halt, und nach Minuten folgte Befehl: Zurück in die alten Quartiere! Mit lauten Rufen bezeugten die Kompagnien ihre Freude. Vielleicht war ich der einzige, der im Augenblick den Marsch lieber fortgesetzt hätte. Ist Aufschub einer Entscheidung dem vorwärtsgerichteten Geiste doch immer gespenstisch, als verböge sie den geraden Gang des Geschicks. Um zehn Uhr gelangten wir nach Esztelnek zurück, wo uns die gestern noch so freundlichen Dörfler mit bestürzter Zurückhaltung betrachteten. Unsere Wiederkehr kommt ihnen überaus verdächtig vor; sie vermuten dahinter den Beginn eines deutschen Rückzugs und sehen uns im Geiste bereits über die Maros gejagt. Meine gute Wirtin dagegen begrüßte mich mit unverhohlener Freude; sie schien mich erwartet zu haben. Jemand hatte ihr nachträglich die ärztlichen Zeichen an meinem Kragen gedeutet, nun wollte sie Versäumtes nachholen. Über Stufen führte sie mich in eine Kammer, wo Heiligenbilder in russischem Stil an den Wänden hängen und leere zierlich bemalte Ostereier den Deckenbalken entlang an Nägelchen aufgespießt sind. In einem zum Fenster gerückten Bett mit grellroter Decke lag eine kaum Sechzehnjährige, von der Schwindsucht gezeichnet. Die Mutter geriet ganz aus ihrer Gehaltenheit und redete viel und schnell. Wenn ich zu erklären versuchte, daß ich nicht eines ihrer Worte verstünde, nickte sie mir zu mit solchem Beifall, als wärs gerade das, was sie zu hören wünschte. Wozu auch Worte! Sie suchte Hilfe, das war leicht zu begreifen. Das Kind ist schön; schwarzes feuchtes Haar über dem Schwächeglanz der Stirne hoch emporgekämmt, in den Augen brennt das ganze in die Enge getriebene Leben, wie eine Flamme in reinem Sauerstoff brennt. Der Leib ist schrecklich eingeschmolzen; die Brüste nur, steil und straff, trotzen noch selig dem Tod.

Während des Untersuchens wurde wieder einmal offenbar, wie sehr doch das lange Kriegsleben die innere Gestalt verändert. Was durch Jahre tägliches Geschäft gewesen war, das Durchspüren der Organe nach den Herden des Zerfalls, es will nicht mehr so recht von der Hand gehen. Ja, mir kam vor, als wärs ein gröbliches verfängliches Beginnen, blasse Magie, die weder guten Tod noch gutes Leben bringt. Ich glaube, mancher Arzt wird künftig seinen Kranken anders gegenüberstehen als bisher. Vielleicht müßte man sich selber gewissen Übungen und Enthaltungen unterwerfen, wenn man tiefe Verschattungen einer anderen Natur durchdringen und auflösen will, vielleicht auch viele Kranke abweisen, um wenige desto sicherer zu heilen. Für diesmal war es nur ein Scheindienst, was ich leistete; und als ich nach der Untersuchung andeutete, daß ich Arzneien aus dem Sanitätswagen holen wolle, waren Mutter und Tochter für den Augenblick zufrieden und getröstet. Die Frau ging und brachte einen Teller mit Pflaumen, bot erst mir, dann der Kranken und aß auch selber davon. Schweigend saßen wir nun beisammen, sie meiner, ich ihrer Sprache unkundig. Heiße Nachmittagssonne schien herein, sie durchleuchtete rötlich die braunen Paprikaschoten, die wie kleine Hörner in Büscheln am Fenster hängen. Wespen summten, und leiser Geschützdonner kam von den Bergen herüber. Auch die Mutter sprach nicht mehr; zuweilen, wenn sie mich zum Essen ermahnen wollte, rührte sie mit der Hand leicht an mein Kinn und deutete dann auf die Früchte. Bald stand ich auf und ging. Wie ein ewiger Abschied von allem dumpf Leidenden, Schwindenden war mir die Szene. Und seltsam, nicht mehr als niedrig-widriges Zehrergezücht erschien mir auf einmal das dunkle Reich der Mikroben, vielmehr als eine heilig-schreckliche Macht, verbunden und pflichtig den stärksten Energien der Natur. Solche zu bekämpfen kann jetzt kaum unser Dienst sein. Schon deuten sich andere Gewalten an, denen wir uns entgegenstellen oder denen wir uns verbünden müssen.

„Es gibt abwartende Gifte, die das Blut nicht beschädigen, solange sich das vergiftete Wesen im Finstern hält, wogegen sie bei hellem Tage sogleich zu gären und zu töten beginnen.“ Wie klärt sich mir langsam dies dunkle Wort!

Vor dem Abendessen verschlief ich eine halbe Stunde. Mir träumte von meinem Pferd. In dem Augenblick, da ich es besteigen wollte, verwandelte es sich in ein junges nacktes Weib.

Der Adjutant kündigt an, daß es morgen in aller Frühe weitergeht. Er versichert uns, daß wir diesmal nicht zurückgerufen werden.

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