Hosszuhavas-Rakottyás, 1. Dezember

Die Nacht zum letzten November blieb ruhig. Um zwölf Uhr mittags wurden wir alarmiert, und sogleich folgte der Aufbruch. Es verlautete, Russen und Rumänen hätten die ungarische Linie durchstoßen, den Berg Mihályszállás erstürmt. Unserm Bataillon falle die Aufgabe zu, den Feind aufzuhalten, den Berg zurückzunehmen. Man suchte auf der Karte den Mihályszállás und war verwundert, sich in solcher Nähe des Gegners zu befinden. Die Feldküchen, die bereits geheizt hatten, kochten während des Marsches weiter. Auf dem Ufergeröll wurde das Essen eingenommen, dann ging es eilig den Fluß entlang. Anfangs hatten uns Frauen und Kinder von Középlak neugierig begleitet; bald blieben sie mit zweifelnden Gebärden stehen. Ein verirrtes rabenschwarzes Schweinchen lief arglos eine Weile zwischen unseren Leuten mit, schon stritten sich zwei Gruppen der 8. Kompagnie um den sicheren Fang; aber ein kleiner Junge kam nachgelaufen und jagte es mit hellen Jubelrufen ins Dorf zurück.

Der Tag war kurz und düster. Nebel wuchs wie Schimmel um die niedrigen Fichten, mit welchen die Hügel spärlich besetzt sind. Gruppen von Flüchtlingen mit Haustieren und Fahrzeugen begegneten uns in der Dämmerung, zuletzt ein kleiner Leiterwagen, von schön gehörnten silbergrauen Stieren gezogen. Führerin des Gespanns war eine große Frau mit schwarzem Kopftuch, langem braunem Mantel und einem Stab in der Hand. Ein Kind, sein Püppchen an sich gepreßt, saß oben auf wirr zusammengeraffter Habe; ein alter Mann und ein junges Mädchen schoben nach und lasen auf, was etwa herabfiel. Ein Knabe, kaum zehn Jahre alt, mit wunderbar entrücktem, unbegreiflich heiterem Gesichtchen, lief neben dem Wagen her und summte wie aus tiefer Geborgenheit eine Weise. Unter dem linken Arm trug er ein schwarz eingerahmtes Bild, mit der Rechten langte er von Zeit zu Zeit Maiskörner aus der Tasche und gab sie einem Stierkälbchen zu fressen, das, am Wagen angebunden, mithüpfte. Diese Gestalten wurden mir im Geiste sogleich statuarisch, besonders die mütterliche Führerin, und ich verstand, was Glavina meinte, als er schrieb, es sei etwas Heiliges um den Fremdling, der nur einmal an uns vorübergehe, nicht befleckt von gleichgültiger Erfahrung. Die Haltung stolz, frei, das Antlitz reife, gebietende Jugend, die starken Brauen schmerzlich zusammengezogen, blickte sie geradeaus, ohne uns zu beachten, als wäre sie das wahre ganze Leben, wir aber abgefallen und verirrt.

Es wurde Nacht; wie Asche fiel der Nebel, endlos entzog sich das Tal. Streckenweise wateten wir im Wasser, das mit Gurgeln unsere löcherigen Stiefel füllte. Einmal riß die 6. Kompagnie ab und verirrte sich in ein Seitental: mit schreienden Boten und Lichtsignalen wurde nach einer halben Stunde die Verbindung wiederhergestellt. Unendliche Müdigkeit zermürbt die Seelen. Mancher brüllt Wut und Verzweiflung geradehinaus: „Gebt uns wenigstens ganze Stiefel, wenn ihr Krieg führen wollt!“ murrt eine Stimme. „Ein Narr, wer noch mitläuft! Ich bleibe zurück!“ kreischt eine andere. Die Offiziere aber kümmern sich nicht um aufrührerische Rufe. Sie haben selber zu dulden genug. Auch wissen sie, daß die Schreier ja doch mitkommen werden. Wer ohne gültiges Zeugnis die Truppe verläßt, vermindert wohl Mühe und Gefahr, aber neue und schimpfliche Leiden beginnen für ihn. Im fernen Dunkel flammt es zweimal bläulich, man hört Abschüsse, dann heult es an, und scharf nacheinander stoßen Granaten in den Kies. Ein Mann bricht zusammen. Leutnant S. ist verwundet. Wir verbinden ihn, so gut es im Dunkeln geht. Vermutlich hatten unsere Signale die Geschosse hergelenkt. Ein strenges Verbot, Licht anzuzünden, wird ausgegeben. Mit dem Aufbegehren ist es zu Ende. Vom Feinde selber in die Zucht gescheucht, beginnen die Leute ruhig zu plaudern; eine gefaßte, aufgeräumte Stimmung nimmt überhand.

Um zwölf Uhr gelangten wir auf trockenen, ebenen Boden. Der Adjutant, der mit dem Major eine Strecke vorausgeritten war, kam uns entgegen. Von einem Nachtgefecht, erklärte er, sei nicht mehr die Rede, die Gegner hätten den Berg zur Hälfte wieder aufgegeben und sich in der Nähe festgegraben, wir stünden in dem Dorfe Hosszuhavas und bekämen Quartiere, freilich Alarmquartiere, niemand dürfe die Stiefel ausziehen.

Mit Offizieren und vielen Mannschaften fand ich Unterkunft in einem Bauernhause, das von seinen Eigentümern verlassen war. Auf dem Tische stand bei Brot und Äpfeln ein schräg abgeschabter Salzkegel, daneben, mit Öl gefüllt, eine Lampe, die wir anzündeten. Ein Stapel Brennholz lag hinter dem Ofen; unter einer Bank, in Käfigen, waren Hühner untergebracht. Auf diese stürzten sich im Nu die halbverhungerten Soldaten, um sie einem Kochkundigen zu überliefern. Die Stube war voll Zeichen übereilter Flucht. In dem gewaltigen Webstuhl steckte noch ein Stück Leinwand. Schrank und Lade standen halb offen. Einiges war herausgerissen und wieder hineingeworfen worden; darunter aber, in schimmernder Ordnung, lagen ganze Schichten fein und rauh gewebter Tücher und gestickter Hemden. Bunte Decken verkleideten die Wände; darüber hingen Heiligenbilder mit getrockneten Sträußen, daneben ein Teller mit dem goldgemalten Namen Julesa.

Da ich die herrlich durchstickten Linnen so sehr bewunderte, vermuteten mehrere Leute, ich wolle sie besitzen, und redeten mir zu, ich solle doch unbedenklich etwas besonders Hübsches zum Andenken mitnehmen. Vielleicht gelüstete manchen selbst nach solchem Schatz, und hätte ich, als einer der Älteren, mir ein Stück angeeignet, wärs am Ende die Losung zum allgemeinen Raub geworden. Eigentlich stachen mir die reizenden Muster sehr in die Augen, auch stellte ich mir Vallys und Wilhelms Entzücken vor, falls ich mit solchen Mitbringseln in die verarmende Heimat käme, mußte überdies den Kameraden recht geben, die da sagten, verloren sei doch einmal alles, in wenigen Stunden würden wir vor- oder zurückgeben und das Verschonte andern deutschen Truppen oder dem Feind überlassen. Auf einmal standen mir die Flüchtlinge vor dem Blick, die uns begegnet waren; der Gedanke, daß gerade dieses Haus ihr verlassenes Eigentum sein könnte, gewann eine seltsame Macht, und nun erst ermaß ich die Größe ihres Unglücks. Gesichthaft nahe trat die königliche Führerin; um Wirklichkeit unbekümmert sprach ich sie als Hausherrin an und schloß mit ihr einen Bund. Sie aber schien einfach zu sagen: Was willst du? Die Winternächte des Wachens und Webens, kennst du sie? Hemden liegen hier für Großväter, Väter, Mütter und Kinder, – auch unsere Leichenhemden, bedenk es wohl! Möchtest du deine Frau oder dein Kind darein hüllen? Die Deutschen, sagt man, sind ein hartes, verwegenes, den andern oft schwer begreifliches, im Grund aber ein frommes Volk, – seht doch, wie alles offen vor euch daliegt! Nichts haben wir vor euch versteckt, nichts verhehlt, eurer Großmut alles anvertraut. Nehmt, was not ist, um Durst und Hunger zu stillen, aber an den Geweben der Mütter geht vorüber!

Plötzlich zuckten wir alle zusammen; das Heulen und Weinen kam wieder durch die Luft, es war, als flöge feiner Flaum über die Wimpern, und in größter Nähe fiel der Schlag. Das Haus schien sich in seinem Grunde zu lockern, Geschirr und Fensterglas klirrten herab, die Lampe erlosch. Ein schlimmes Versäumnis kam in diesem Augenblick jedem zum Bewußtsein. Keinem war eingefallen, die Fenster zu verhängen, und so hatte die weithin leuchtende Lampe den Feind gereizt. Im Finstern harrten wir auf den zweiten Schuß, er blieb aus. Nun wurden sorgfältig alle Fenster von außen mit Zelttüchern überspannt und erst nachher wieder Licht gemacht. Der Koch war gelassen bei den Hühnern stehengeblieben, deren Bratenduft allmählich die Luft würzte; ich aber hatte in aller Stille die lockenden Laden hineingeschoben, fand es auch für gut, sie mit Unnahbarkeit zu umgeben, indem ich die großen ledernen Verbandtaschen davor, aufbauen ließ und meinen Mantel darüberlegte.

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