Kóstelek, 13. Dezember 1916, ½12 Uhr nachts

Alle schlafen, auch ich schon zur Hälfte; dennoch will ich mir Weg und Ankunft vergegenwärtigen, morgen ist vielleicht keine Zeit. Früher wußte ich ja nicht, wozu man Aufzeichnungen schreibt; jetzt aber sind sie mir wie die Brotkrümchen, welche Hänsel und Gretel im Walde ausstreuten, um gewiß wieder nach Hause zu finden. Freilich, als die Kinder dann wirklich den Heimweg antreten wollten, da hatten die Vögel alles aufgepickt, – aber da beginnt ja auch erst das eigentliche Märchen.

Der Schneefall dauerte noch den ganzen Vormittag. Die Leute hatten innerhalb der Baracken in großen Blechkesseln Feuer angezündet; einige wuschen sich, andere lagen rauchend und lesend auf dem halbgrünen Maisstroh. Jeder spürte nun erst seine ganze Ermüdung, jeder lobte das beharrliche, ruheverbürgende Gestöber. Draußen sah ich einen Mann, der aus Übermut Brot in Schnee packte und über das Barackendach warf. So besprengt man da und dort in Niederbayern zur Weihnachtszeit Schneeballen mit geweihtem Wein und schleudert sie über das Haus, um es vor Unglück zu bewahren. Aber nach zwölf Uhr schneite es nicht mehr; Ostwind öffnete den Himmel, und bald hörte man wieder Schüsse aus schwerem Geschütz das Tal durchhallen. Um die zweite Stunde kam der Marschbefehl. Dem Trotusul entlang zogen wir bald über ungarisches, bald über rumänisches Gebiet. Eine Strecke ging es durch das Gesichtsfeld der Russen, deren Bergstellungen sich dort nahe heranbiegen. Sie bemerkten uns, zielten aber schlecht; Granaten schlugen in den Fluß und jagten Wassersäulen auf, beschädigt wurde niemand. Ciugesu durcheilten wir ohne Aufenthalt und stiegen dann durch ein Seitental aufwärts. Überall ist Schnee zu hohen Wehen durcheinander gebaut; blaue Schattenwände stießen an Wände von brennendem Silber. In Cyges warteten wir über eine Stunde, niemand wußte, worauf. Der Major war vorausgeritten; der Adjutant, wunderlich verstimmt und verstockt, gab keine Auskunft über das Ziel der Bewegung. Einmal, an kahler Gegenwand, springt die Straße schräg nach oben zurück, und während wir als Letzte noch tief unten in Schattenkälte gingen, sahen wir unsere vordersten Gruppen bereits hoch über uns vor orangerot beleuchtetem Gestein aufsteigen und dahinter verschwinden. Diese gehorsam-stetige Prozession grauer Männer, die aus der scharf abscheidenden Helle ins Unbekannte wanderte, zog immer wieder den Blick empor; man freute sich, auch bald auf den hochbeglänzten Steig zu gelangen und vergaß darüber den beschwerlichen Weg.

Oben, während einer kurzen Rast auf weitem Schneefeld, meldete sich ein Infanterist krank, einer der Neulinge, die erst in Palanka zu uns gekommen sind. Während er sich nähert, muß er von Leuten seines Zuges harte Worte hören, ja einer macht Miene, ihm den Weg zu vertreten, und weicht erst auf meinen Anruf zurück. „Achtundzwanzig Monate wart ich auf Urlaub,“ schreit der alte Lutz; „krumm und grau werd ich im Krieg, und du, papieriger Kerl, willst dich am zweiten Tage drücken!“ „Durchhalten, Herr Kamerad, durchhalten!“ höhnt ein anderer. Der junge Mensch, ein verwöhntes Knabengesichtchen unter viel zu großem Stahlhelm, erklärt fast weinend, er habe sich freiwillig zur Front gemeldet und werde wiederkommen, sobald er gesund sei, jetzt aber könne er nicht mehr. Man lacht ihn aus. Sein Atem stößt weißrauchend in die Kälte, und die Augen glänzen von Fieber; aber dafür haben die andern jetzt keinen Blick. Von Müdigkeit und ungewisser Zukunft überreizt, hassen sie wie Verdammte einen jeden, der sich der gemeinsamen Hölle entziehen will. Ich beschloß, die zudringlichen Schreier einfach zu überhören und die Sache kurz zu machen, fühlte den Puls, fragte nach bestimmten Symptomen und wollte eben eins der rotgeränderten Täfelchen nehmen, um die nötigsten Angaben daraufzuschreiben und es dem Kranken an den Mantel zu heften, damit er seinen Weg ins Lazarett antreten könne, da rennt, mit ängstlicher Miene, Dehm daher, entschuldigt sich wegen Verspätung und beginnt nun aus der alltäglichen Sache eine große Angelegenheit zu machen, schiebt die zwei riesigen Ledertaschen auf dem Schnee zusammen, läßt den Mann darauf lagern, befiehlt ihm, Mantel und Rock auszuziehen und meldet mir gestreng, daß Infanterist Löhr zur Untersuchung bereitliege. Nach und nach fing ich wieder einmal an, Dehms überlegene Weisheit zu begreifen. Er hat bedacht, wie gar ansteckend die Neigung, sich krank zu melden, in solchen Fällen werden kann; selber Soldat von festestem Holz, will er lieber grausam scheinen, als die längst gefährdete Zucht gelockert sehen. Ja, die mißtrauischen Späher sollen erfahren, daß es bei uns keine Läßlichkeit gibt, daß wir peinlich wie Krämer die Schwere der Krankheit abwägen wollen. Achtungsvoll, doch unerbittlich, leitet er mich in die Rolle des höchst schwierigen Sanitätsoffiziers hinein, – was bleibt mir übrig, als den frierenden Menschen umständlich abzuklopfen, abzuhorchen, ihm den Fiebermesser einführen zu lassen wie im Spital? Still wird es um uns; im Banne der klinischen Zeremonien erstirbt jedes widerwärtige Wort. An dem schwach Darniederliegenden erkennen die andern allmählich, wie sehr sie selber doch stark und aufrecht sind, und als der Junge wieder angekleidet, gegürtet und mit seinem Krankentäfelchen behangen ist, stapft er unbehelligt wie ein Räudiger gegen Palanka davon.

Vor fünf Uhr hielten wir an einem hohen steilen Hang; man sah in das Tal eines halbvereisten Flusses hinab. Zwischen Häusern brannten Lagerfeuer, in deren Schein österreichische Soldaten ruhig hin und her gingen. Wir standen und schauten. Von Osten scholl Kampflärm; ein breiter Gipfel erschien von Leuchtraketen und Einschlägen vulkanisch, doch nur eine Minute lang, dann reihte sich der Berg unscheinbar grau zu vielen andern. Rings aber schuf der letzte Sonnenrand ein seltsames Licht. Hellgrün lagen die Schatten auf rötlichem Schnee, ein Birkenbäumchen war mit reinstem Smaragd hingezeichnet, und wer vor sich hinsah, erblickte sich selber als grüne Gestalt. Niemand hatte Lust zu reden; man hörte Stückchen gefrorenen Schnees klingend hinunterhüpfen wie leichtes Metall. Auf einmal wehte es kälter, da war auch schon das untergängliche Licht vom Weiß der Landschaft abgelaufen wie von Porzellan. Der Adjutant, auf der Karte suchend, erläuterte, wir stünden über dem Sulta-Tal, und die Häuser gehörten zu dem ungarischen Grenzdorf Sóstelek, von hier aus hätten wir noch sechs Kilometer nach Kóstelek zurückzulegen.

Da sich kein Fußweg fand, stiegen und rutschten wir hinunter wie es ging. An den Feuern vorbei, deren Glut unsere Wangen streifte, zogen wir auf der Straße weiter, von jetzt ab die Front im Rücken. Nach manchen Aufenthalten erreichten wir Kóstelek um elf Uhr. Der abnehmende Mond stand schon hoch, zwei ruhig leuchtende Planeten dicht über ihm. Mit dem Adjutanten, dem Assistenzarzt, dem Ordonnanzoffizier und einigen Telephonisten bin ich in der großen Stube eines Häuschens untergebracht, das abgesondert auf einem Hügel steht. Von einem qualmenden Lämpchen war der Raum halb hell. Ein schönes Weib erhob sich, als wir eintraten, völlig angekleidet, mit zwei ganz verschlafenen Mädchen von einem breiten, mit Heu gefüllten Bettgestell. Sie sah uns an, gefaßt, wachsam. Endlich, mit stolz-gastfreundlicher Geste, gab sie zu verstehen, daß sie uns das Lager abtreten und auf Stroh neben dem Ofen schlafen wollten, in allen übrigen Räumen des Hauses sei es für die Kinder zu kalt. Wir lehnten dies ab und ließen merken, daß wir für uns bleiben und ihre Ruhe so wenig als möglich stören wollten.

Während wir uns zu Tische setzten, kehrten sich die drei zur Wand und sprachen halblaut ein Gebet, manchmal sich verneigend oder sich bekreuzigend, wobei das kleine Schwesterchen sich jedesmal mit aller Faustkraft in die Magengrube schlug. Ich beugte mich vor, um das Kruzifix oder Heiligenbild zu sehen, dem sie solche Verehrung erwiesen; aber da war nur ein Haken, darunter ein heller viereckiger Fleck mit schwarzem Saum an der leeren Wand. Hier also hatte das Bild gehangen, gewiß viele Jahre; nun ist es verschwunden, vielleicht von Soldaten als Brennholz verwendet, wer weiß es, dem Blick der Frommen aber sichtbar alle Zeit. Glavinas Traum fiel mir ein, wie er als Kind über Gebirge ging und auf einem leeren Blatt beseligende Dinge las, unbekümmert um Gewitter und Rufe der Toten.

Die Mädchen schliefen bald wieder; die Frau saß noch eine Zeit am Bette, das Kinn in der Hand. Ihr schmales bleiches Gesicht ist durch allen Kummer hindurch von wunderbarer Beständigkeit und Klarheit. Sie muß Böses erlitten haben und erwartet auch von uns nichts Gutes. Mir kam nun erst die schreckliche Kahlheit des Zimmers zum Bewußtsein. Nicht nur das eine Heiligenbild fehlt, auch andere Tafeln sowie Kreuz und Uhr sind bloß durch Staub und Spinnenweben angedeutet.

Der Adjutant wurde jetzt gesprächiger; er verriet uns, daß die Russen weit vorgedrungen seien und den Gymespaß gefährdeten, wir müßten uns auf unruhige Tage gefaßt machen. Übrigens sei die Lage nicht klar, er wenigstens wisse keineswegs genau, welche Berge vom Gegner besetzt seien.

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