Ottelve, 24. Oktober 1916

Bis Mittag stiegen wir durch windgetriebene Nebelwolken über bewaldete Hügel. Nach ein Uhr klärte sich unter uns das Tal von Csik Szereda, in das wir hinabstiegen. Hier war die Luft still und warm.

Um die Stadt rankt sich ein Kranz neuer Gräber. Innen sind viele Gebäude zerstört und ausgeraubt, die eisernen Schutzläden vielfach mittels Handgranaten zerrissen. Fliehende Rumänen hatten die Alutabrücke gesprengt; nun ist von preußischen Pionieren eine hölzerne Notbrücke, ein kühnes, fast zierliches Bauwerk, in wenigen Stunden errichtet worden.

Vor Ottelve gab es ziemlich lange keine Marschpause. Eben kamen die siebenbürgisch-rumänischen Grenzberge zum erstenmal in Sicht, da erscholl aus einem der vorderen Züge ein lautes Halt!, das nach hinten weitergegeben wurde. Die Gruppen gerieten in Unsicherheit; einige wollten stehenbleiben, andere weitergehen. Bald stellte sich heraus, daß weder der Major noch Leutnant Leverenz, die beide eine Strecke vorausgeritten waren, einen Haltbefehl erteilt hatte. Irgendein Mann mußte gerufen, ein anderer den Ruf weitergegeben haben. Der Marsch wurde fortgesetzt. Als wir bald nachher auf einer Wiese lagerten, verbot Leverenz seiner Kompagnie das Abnehmen der Tornister, ließ sie in voller Ausrüstung antreten und erklärte, daß er sie so lange stehen lassen werde, bis ihm der freche Störer gemeldet sei. Unterdrückte Verwünschungen wurden hörbar; den Gehorsam zu verweigern wagte aber keiner, ja mehrere, die den Tornister bereits abgelegt hatten, nahmen ihn zwar murrend, aber hurtig wieder auf. An etwas erhöhter Stelle trat Leverenz mitten vor die Mannschaft und, wiederholte seinen Beschluß. Er setze voraus, sagte er, daß nahezu alle den meuterischen Rufer verurteilten; sei der zu feig, um sich zu nennen, so müsse es ein anderer tun. Geschehe dies noch während der Ruhestunde, so werde der Schuldige bestraft, und damit habe es sein Bewenden, wo nicht, so werde die ganze Kompagnie, die Herren Zugführer nicht ausgenommen, zu büßen haben. Keiner murrte jetzt mehr; es wurde sehr still, Soldaten anderer Züge kamen auf einige Entfernung heran, neugierig, wie das ausgehen werde. Der Anblick war beklemmend. Hier stand einer der besten Offiziere der Division, mit seinen meisten Untergebenen stamm- und artverwandt, vielgerühmt als furchtlos und besonnen, verehrt als einer, der niemals aus bloßem Ehrgeiz die Seinigen in gefährliche Lagen brachte, im Kriege früh alternd, mit Narben geschmückt, jetzt bleich vor Erbitterung über die ihm vermeintlich angetane Schmach, die scharfen runden Augen ein wenig auf Uhuart einander zugedreht, einen Mann um den andern fixierend, sichtlich entschlossen, die Sache zum Äußersten zu treiben, dennoch weise genug, sie vorderhand gewissermaßen unter vier Augen austragen zu wollen, – ihm gegenüber die abgemattete Mannschaft, über sich selbst erschrocken, eben sich noch dumpf in einem Rechte fühlend, das aber, sobald es ausgesprochen werden sollte, zu Nichts zerfiel, im stillen die Haltung des Führers vielleicht schon bewundernd, – wo las ich doch einmal, daß eulenhafte Menschen allen andern überlegen seien?

Suchte man sich den Vorgang ins klare zu denken, so sah man eigentlich nur ein Übel akut aufbrechen, das nun schon lange unter uns umschleicht. Ins dritte Jahr zieht sich der Krieg; der Soldat, vielfach unberufen, spärlich ernährt, mangelhaft gekleidet und beschuht, selten beurlaubt, im Urlaub von Mutlosen entmutigt, verliert Nervenkraft und Zucht. Die Offiziere wissen es und lassen, besonders die jüngeren, aus Verlegenheit manches hingehen, überhören sträfliche Zurufe, reden sich auch wohl ein, diese seien nicht böse gemeint und werden in der Nähe des Feindes von selber verstummen. Solch lax-zweideutiges Verhalten muß einer klaren Kriegernatur wie Leverenz’ durchaus bedenklich und unwürdig vorkommen, und wenn er nun sein ganzes Ansehen einsetzt, um wenigstens seinen kleinen Bereich gewaltsam in die Ordnung zurückzubiegen, so fühlt man mit ihm wie mit einem Arzt, welcher einen Eingriff auf Tod und Leben wagt.

Der Major indessen saß abseits, in einem Notizbuch blätternd wie unbeteiligt, und gewiß war es sein bester Geist, der ihm eingab, sich zunächst nicht in den Handel zu mischen.

Schon dehnte sich die Szene schier unerträglich, da fand sie höchst unverhofft eine Entspannung. Hervor mit kleinen schnellen Schritten trat Infanterist Kristl und bekannte sich klar und bündig als den Mann, der „Halt“ gerufen habe. Eine Weile standen alle wie erstarrt, dann ging eine leichte behagliche Regung durch die büßende Kompagnie. Mir war ja diese Selbstbezichtigung nicht unverdächtig, denn Kristl war keineswegs vorne, sondern eher in der Mitte marschiert; aber wie er nun dastand, bleich und zusammengenommen, in seinem ganz verfärbten Waffenrock, die schwachen silbrigen Augenbrauen hoch hinaufgezogen, Leverenz anblinzelnd, als ob dessen Anblick ihn blende, da konnte einen sein Geständnis wirklich überzeugen. Durch des Leutnants ernstes Gesicht flimmerte jetzt ein überaus flüchtiges Lächeln, seltsam zu sehen, als ob ein steinerner Gott einen Atemzug lang Mensch würde. Vielleicht ging es ihm wie mir, und er hielt es für möglich, daß Kristl sich falsch beschuldigte, um die ersehnte Entfernung von der Front zu bewirken, und er bedauerte ihn ein wenig wie einen, der eine Sache immer wieder verkehrt anfängt, war ihm wohl auch heimlich einigermaßen dafür dankbar, daß der Bogen nicht mehr stärker gespannt zu werden brauchte, – jedenfalls griff er zu: ohne Verhör, kühl, streng erkannte er den Täter an und verkündete, daß er Entziehung des Urlaubs auf ein Jahr als Strafe beantragen werde, stellte jedoch Nachlaß in Aussicht, falls Kristl sich vor dem Feind auszeichnen werde. Jemand lachte bei diesem Wort, aber niemand lachte mit. Unverzüglich wurde die Kompagnie freigelassen, während Kristl verwirrt und, wie es schien, enttäuscht, noch eine Weile stehen blieb.

Unter Gewitterhimmel, den ein zartes nervenbeschwichtigendes Lilalicht weithin durchatmete, zogen wir eine Stunde später nach Ottelve weiter; Zuversicht und Gefühl des Zueinandergehörens waren plötzlich mächtiger als seit langer Zeit. Das gemeinsam Erlebte so vieler Monate, Aufbrüche, Nachtmärsche, Kampf, Wut, Todesangst, – man merkt mit einer Art Schrecken, daß es Eigentum und innerster Bestand geworden ist, daß man es, ohne von sich selber abzufallen, nicht mehr wegwerfen kann. Kristl, heute der einzige Handelnde unter lauter Leidenden, ist zu einem wundersamen Ansehen gelangt. Ob er wirklich der Haltrufer gewesen, danach fragt niemand. Aber jeder bietet ihm irgend etwas an, Zigaretten, Schokolade, Nüsse. Auch Leute von den anderen Kompagnien grüßen freundlich den sonderbaren Menschen und bekräftigen sein Lob.

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