22. Oktober

Um fünf Uhr waren wir marschbereit. Die Frau, beim Abschied, brach Zweige von einem getrockneten Pflanzenbüschel, der am Stubengebälk befestigt ist, und reichte sie mir mit bedeutsamem Blick. Vermutlich ist es als Talisman gemeint; der Geruch erinnert halb an Thymian, halb an Rosmarin. Sie redete noch viel und eindringlich, als ich das Pferd bestieg; verstand ich recht, so wollte sie mich einladen, dereinst nach dem Kriege wieder als Gast in ihrem neugebauten Hause einzukehren. – Der Major, noch vor neun Stunden im Fieber ächzend, sitzt fest auf seinem Rappen und berserkert wider Offizier und Mann. „Was haben Sie dem Kerl für Zeug gegeben?“ schrie mir Leutnant F. zu. Ich sagte, mir könne es recht sein, daß er meinen Mittelchen so viel Wirkung zutraue, aber der Alte wisse genau, daß ihn viele weit weg wünschten, das sei auch keine schlechte Arznei.

In langen Märschen entschleppte sich der Tag. Es ging über kahle und bewaldete Hügel, und immer durch gleiches Regenperlengrau der Luft sah man das gleiche stumpfe Blau der Häuser. Die Soldaten, geblendet noch vom Glanz des Gestern, empfanden mürrisch Obdachlosigkeit, karges Essen, zerrissene Stiefel und ungewisses Ziel, und an allem gaben sie dem Major die Schuld, dem sie überdies seine Genesung nicht verzeihen können. Laute Flüche schrieen sie ihm zu, wenn er vorüberritt; er stellte sich taub und nahm Rache, indem er übermäßig lang auf eine Marschpause warten ließ, die schließlich der Adjutant auf meinen Wunsch von ihm erbat.

In Székely-Udvarhely waren mehrere Gebäude gründlich zerstört, die Luft noch voll Brandgeruch. Auf den Hügeln aber, in geringen Abständen, staken blanke Nähmaschinen, treffliche deutsche Ware, bald im Straßenschlamm, bald in der Ackererde. Ungern mag sich der fliehende Gegner dieser wertvollen Beutestücke entledigt haben.

Abends klagten viele über äußerste Ermüdung. Vielleicht wirkt noch die Typhusimpfung im Blut. Ich selbst spüre wenig, obgleich ich, um das kranke Pferd zu schonen, den Weg, mit Gepäck beladen, zu Fuß zurückgelegt habe. Die Mäßigkeit, die ich mir seit Beuvraignes verordne, scheint zu nützen; auch lebe ich, vielleicht unter Glavinas Eingebungen, wachsamer als früher und mache mir aus unserm Zug nicht viel mehr und nicht viel weniger als ein großes Abenteuer. Damit gewinne ich viel: der unfreie Dienst wird mir leichter und läßt einen freieren ahnen, der vielleicht aus ihm hervorgehen wird. Von den Mitteln, die man gegen Erschöpfung anpreist, laß ich Tee und Kaffee gelten; grobtäuschende, wie Tabak und Branntwein, hab ich vorderhand ausgeschieden. Den leichtesten und geistigsten möchte ich am liebsten trauen. Wie wenige kennen die unbemeßbaren, immer wirkungsbereiten Energien des lebendigen Wortes! Daß es bei Dichtern Strophen gibt, herzgeborene, geladen mit der Kraft ganzer Geschlechter, vergleichbar den radioaktiven Elementen, aber weit wunderbarer, da sie, schon irdisch vernichtet, noch die Kräfte der Welt anziehen und Fluten von Erneuerung verströmen, wer weiß etwas davon? Mächtig genug wären manche, um das Schwungrad auch der ermüdetsten Seele neu anzutreiben, und vielleicht sind schon sie allein es wert, daß man sich eine Weile auf den Bergen des Todes aufhalte, weil sie dort gewiß am reinsten und stärksten klingen. Schwingt aber die Seele frei, was brauchen die Sinne viel Aufreizung? Brot, Früchte, eine Handvoll felsgeschöpften Wassers, ein Geruch wilder Minze sind Erquickung genug.

Es war schon tiefe Nacht, als wir ankamen. Den Namen des Dorfes hab ich vergessen. Alle Häuser sind mit Infanterie bereits überfüllt; wir sind gerade noch in einem verlassenen, ausgeplünderten Hüttchen untergekommen, wo sich auch etwas Heu gefunden hat. Die anderen haben sich schon unter ihre Decken und nassen Mäntel gestreckt, mein Kerzenstümpfchen flackert zu Ende, ich muß eilen, mir noch ein Lager zu sichern.

„Die Welt, die rauhe, rohe, ungeheure, ich lebe jetzt in ihr wie in dem Innern einer feinen, heftig schillernden Seifenblase und halte den Atem an, um sie nicht zu zersprengen“, las ich bei Glavina.

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