Pronville, 9. Oktober 1916

Um drei Uhr früh weckte mich Rehm. Ich trank den Tee im Bett, blieb noch eine Viertelstunde liegen, bedachte manches. Das Einpacken ging schnell. Einige Bildchen ließ ich, den Dämonen zum Opfer, an der Wand hängen. Wilhelms Zeichnung, ein Ding halb wie ein Schiff, halb wie ein Vogel, nahm ich am Ende doch mit. Beinah wäre die rote Wachshand der kleinen Regina in der Schublade liegen geblieben. Ich hatte das Kästchen gestern beim Umräumen übersehen. Nun sind es zwei Jahre. Was Kindern für Einfälle kommen! Aber eigentlich hatte die Mutter schuld daran. Warum zwang sie das Mädchen, eine wächserne Hand auf den Mariahilfberg zu tragen? Da wars kein Wunder, daß Regina dachte: der Doktor hat mehr Mühe gehabt als die Mutter Gottes, warum soll er leer ausgehn? Daß ich die Reliquie immer bei mir haben soll, war freilich ein Verlangen. Aber schließlich schleppe ich nicht schwer daran. Ists nicht Liebe, so ists Aberglaube; auch der hat viel Gewalt.

Die alten Varniers waren bereits aufgestanden und angekleidet, als ich in die Küche kam, um Abschied zu nehmen und Dank zu sagen. Sie wehrten ab, – „on remplit son devoir“, sagte die Dame höflich. Doch drückten wir uns kräftig die Hände. Um halbfünf Uhr, bei Finsternis, rückten wir ab und erreichten Ham um halbneun Uhr. In sehr langsamer Fahrt, über Cambrai hinaus, verging der kurze Tag; es dunkelte schon wieder, als der Marsch nach Pronville begann. Der Mond stand hinter Wolken; doch ferne Felder schimmerten von ihm. Im Winde war ein Gurren wie von Lachtauben; dürres Laub lief über den Boden wie Mäuse. Von der Somme her tost es wie Weltuntergang; von tausend Mündungsblitzen und Leuchtraketen fiebert der Himmel.

Um Mitternacht, auf der Landstraße, aßen wir bei den Feldküchen Bohnen und Büchsenfleisch; das war Mittag- und Abendessen zugleich und schmeckte köstlich. Gern hätte man sich den Teller noch einmal füllen lassen; aber die Vorräte sind bedenklich knapp geworden, und der Mannschaft ein Beispiel tüchtigen Hungers zu geben, kaum rätlich. Während wir noch aßen, zersetzte sich das Gewölk zu Flocken; der Himmel „häutete sich“, wie wir in Bayern sagen, der Mond wurde frei.

Die Straße ist voll ziehender Kolonnen; erst kommt preußische Infanterie, bringt böse Kunde, Maurebas verloren, Péronne gefährdet, klagt über viel zu geringe Wirksamkeit unserer Artillerie, ja ohne die ungeheure Leistung der Infanterie, meint ein Offizier, wäre die Front gewiß bereits durchbrochen. Bald hierauf kommen preußische Artilleristen, bestätigen die schlimmen Nachrichten, schmälen über das arge Nachlassen der Infanterie und begreifen nicht, warum wir alle herzlich lachen, als sie beteuern, die Artillerie ganz allein halte noch die Front.

Franzosen in langen dunklen Mänteln, die Schultern fröstelnd hochgezogen, marschieren in Gefangenschaft. Einige von unseren jungen Tapsen nähern sich ihnen, scharren ihre paar Vokabeln zusammen, möchten gerne wissen, wieviel sie drüben Löhnung, was für Essen sie haben, wann Friede werde und dergleichen. Die Fremden scheinen nicht recht zu verstehen; ihre bleichen Gesichter starren undurchdringlich im Mondlicht, und in ihrer Lage, mitten in ihrem zerstörten Lande, ist es ihnen kaum zu verdenken, wenn sie der naturhaften süddeutschen Zutraulichkeit wenig entgegenkommen.

Endlich kam bayrische Artillerie auf dem Weg in Ruhequartiere. Infanterist Wimmer von der 6. Kompagnie tritt mich kräftig auf den Fuß, rennt mit flüchtigster Entschuldigung weiter, leuchtet jedem Artilleristen mit der Taschenlampe ins Gesicht. „Licht aus!“ ruft man ihm zornig zu. „Es sind ja die Achter!“ schreit er verzweifelt; „bei denen ist mein Vater Kanonier“, dreht aber das Lämpchen doch ab. Zum Glück wird bei den Batterien Halt befohlen, und bald gelingt es durch eifriges Fragen wirklich, den Kanonier Wimmer zu finden. Er ist ein hagerer, schon ergrauender Mann mit hartem, rasiertem Gesicht voll kleiner Falten, die Mundwinkel eingekniffen; der Mondschein fiel gerade auf ihn, so daß ich sah, wie seine Augen vor Staunen und Freude groß wurden. Die beiden schauten sich an, hielten sich bei den Händen, kamen lange in kein Gespräch. Die Kunde von dem ungewöhnlichen Zusammentreffen läuft schnell herum, und man zieht sich zurück, um die zwei nicht zu stören. Schließlich nimmt der Vater ein Päckchen aus der Tasche und gibt es dem Sohn. Die Kompagnieführer verzögern den Abmarsch; endlich aber ertönt der Ruf: An die Gewehre! Der lange, schon eingereiht, gibt im Augenblick des Abmarsches seiner Ergriffenheit unwillkürlich den einzigen Ausdruck, der ihm innerhalb der soldatischen Form zur Verfügung sieht: er macht vor dem zurückbleibenden Vater eine regelrechte Ehrenbezeigung, obgleich dieser keinerlei Charge bekleidet, eine rührende Gebärde, die unter den anderen ein leises gutmütiges Lachen hervorruft.

Nach Mitternacht erreichten wir Pronville. Ich wurde in ein schloßartiges, parkumgebenes Gebäude verwiesen. Auf dem Flur erschien ein Offiziersdiener, der mir vertraulich riet, lieber in die Nachbarschaft zu ziehen, dort wären saubere Räume frei, hier dagegen wimmele es von Läusen. Ich vermutete gleich, was bald herauskam, daß der Bursche auf einen Zweck hinredete. Sein Herr hatte bis jetzt in zwei Zimmern recht bequem gewohnt; nun sollte er eins davon mir einräumen, und diese Pein suchte der treue Diener von ihm abzuwenden. Auch Rehm durchschaute den Schlauen und überhob mich der Antwort, indem er freundlich erklärte, wir fürchteten uns nicht vor Läusen, es könnte sogar sein, daß wir etliche mitbrächten, worauf jener wie ein mit Weihwasser besprengtes Gespenst verschwand.

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