I.

Jetzt ist seit dieser Szene schon ein halbes Jahr vergangen; vieles ist seitdem geschehen, vieles hat sich ganz verändert, und für mich hat schon lange ein neues Leben begonnen ... Aber ich will dem Leser auch über den Ausgang Aufschluß geben.

Für mich wenigstens war sowohl damals wie noch lange nachher die wichtigste Frage: wie hatte Werssiloff sich mit einem Lambert verbünden können, und was für einen Zweck hatte er damit eigentlich verfolgt? Nach und nach bin ich zu folgender Erklärung gelangt: ich glaube, oder vielmehr ich bin überzeugt, daß Werssiloff in jenen Augenblicken, das heißt, an jenem letzten Tage und auch schon am Tage vorher, so gut wie überhaupt kein bestimmtes Ziel im Auge gehabt hat, und ich denke, er wird überhaupt nicht viel gedacht, sondern nur unter dem Einfluß eines Wirbelsturmes von Gefühlen gehandelt haben. Übrigens, daß es bei ihm ein wirklicher Wahnsinn gewesen sei, gebe ich in keinem Fall zu, um so weniger, als er auch jetzt nicht im geringsten irgendwie wahnsinnig ist. Aber den „Doppelgänger“ gebe ich unbedingt zu. Was ist nun eigentlich ein „Doppelgänger“? Nach dem Buch eines medizinischen Sachverständigen, das ich inzwischen gelesen habe, um mir darüber Klarheit zu verschaffen, versteht man unter einer Doppelgängeridee nichts anderes, als den ersten Grad einer gewissen Geistesstörung, die sogar recht schlimm enden kann. Nun, Werssiloff hatte uns ja schon selber, damals in jener Szene bei Mama, diese „Spaltung“ seiner Gefühle und seines Willens mit unheimlicher Aufrichtigkeit erklärt. Aber ich sage es noch einmal: wenn jene Szene bei Mama, die Zerschmetterung des Heiligenbildes, auch zweifellos unter dem Einfluß des „Doppelgängers“ vor sich gegangen war, so hat mir seitdem doch die ganze Zeit geschienen, daß seiner Handlung sich zugleich eine gewisse schadenfrohe Symbolik beigemischt habe: etwas wie ein Haß gegenüber den Erwartungen dieser Frauen, wie eine Wut auf ihre Rechte und ihre Richterschaft, – und da zerschmetterte er denn in Gemeinschaft mit seinem Doppelgänger dieses Heiligenbild! Es war, als hätte er damit sagen wollen: „Seht, so werden auch eure Erwartungen zerschmettert werden!“ Kurz, wenn es zum Teil auch der Doppelgänger war, so war es zum anderen Teil doch einfach Torheit ... Aber das ist schließlich nur meine Auslegung; und mit Sicherheit läßt sich so etwas wohl kaum deuten.

Es ist wahr, daß in ihm trotz seiner ganzen Vergötterung Katerina Nikolajewnas immer der aufrichtigste und tiefste Zweifel an ihrem sittlichen Werte wurzelte. Ich glaube bestimmt, daß er damals hinter der Tür nur auf ihre Erniedrigung vor Lambert gewartet hat. Aber wünschte er deshalb diese Erniedrigung, selbst wenn er auf sie wartete? Ich wiederhole: ich bin überzeugt, daß er nichts wünschte und nicht einmal zu denken vermochte. Er wollte nur dabei sein, irgendwo in der Nähe, um dann hervorzutreten, ihr etwas zu sagen, vielleicht – vielleicht sie auch zu beleidigen, und vielleicht sie sogar zu töten ... Alles konnte damals geschehen; nur wußte er, als er mit Lambert hinkam, noch nichts davon, was geschehen werde. Der Revolver gehörte Lambert, er selbst war ohne Waffen gekommen. Als er aber ihre stolze Würde sah, da ertrug er Lamberts schurkische Drohung nicht, stürzte ins Zimmer, und – dann verlor er den Verstand. Ob er sie wirklich erschießen wollte? Ich glaube, auch das wußte er nicht, aber er hätte sie bestimmt erschossen, wenn wir seinen Arm nicht weggerissen hätten.

Seine Wunde war nicht tödlich und heilte, aber er lag doch ziemlich lange danieder – natürlich bei Mama. Jetzt ist draußen schon Frühling, es ist Mitte Mai, und unsere Fenster stehen offen. Während ich dies schreibe, sitzt Mama bei ihm; er streichelt ihre Wangen, streichelt ihr Haar und sieht ihr gerührt in die Augen. Oh, das ist nur noch die Hälfte des früheren Werssiloff; von Mama trennt er sich überhaupt nicht mehr und wird auch nie wieder von ihr gehen. Ja, ihm ward sogar „die Gabe der Tränen zuteil“, wie der unvergeßliche Makar Iwanowitsch in seiner Erzählung von dem Kaufmann sich ausdrückte. Übrigens glaube ich, daß Werssiloff lange leben wird. Uns gegenüber ist er jetzt schlicht und aufrichtig wie ein Kind, ohne übrigens sein Maß und seine Zurückhaltung zu verlieren und viel Worte zu machen. Sein Verstand und sein ganzer sittlicher Aufbau sind ihm unverändert verblieben, nur daß alles, was an Idealem in ihm war, jetzt noch stärker hervortritt. Ich sage es gerade heraus: ich habe ihn noch nie so geliebt wie jetzt, und es tut mir leid, daß ich weder Zeit noch Gelegenheit habe, mehr von ihm zu sprechen. Übrigens will ich doch noch ein Erlebnis erzählen, das wir erst kürzlich mit ihm hatten (wir haben schon viele gehabt): Zu den großen Fasten war er schon vollständig genesen, und in der sechsten Woche sagte er plötzlich, er werde diesmal auch das Abendmahl nehmen. Das hatte er schon seit vielleicht dreißig Jahren, denke ich, nicht mehr getan. Mama war selig; es wurde sofort Fastenkost bereitet, aber natürlich eine ziemlich kostspielige und verfeinerte. Ich hörte im Nebenzimmer, wie er am Montag und Dienstag die Erlösungshymne vor sich hinsummte und sich an der Melodie und den Worten begeisterte. In diesen zwei Tagen sprach er ein paarmal sehr schön über Religion; aber schon am Mittwoch hörte das Fasten plötzlich auf. Irgend etwas hatte ihn gereizt, ein „komischer Widerspruch“, wie er sich lachend ausdrückte. Irgend etwas hatte ihm im Äußeren des Geistlichen oder am Gottesdienst nicht gefallen: und kaum war er nach Hause gekommen, da sagte er mit einem stillen Lächeln: „Meine Freunde, ich liebe Gott sehr, aber – dazu bin ich unfähig.“ Und noch an demselben Tage gab es zu Mittag Roastbeef. Aber ich weiß, daß Mama auch jetzt sich oft zu ihm setzt und mit leisem und stillem Lächeln manchmal von den abstraktesten Dingen mit ihm zu sprechen anfängt: jetzt wagt sie es plötzlich – wie das gekommen ist, weiß ich nicht. Sie setzt sich einfach neben ihn hin und spricht zu ihm, meist im Flüsterton. Er hört ihr lächelnd zu, streichelt sie, küßt ihre Hände, und aus seinem Gesicht leuchtet das vollkommenste Glück. Manchmal hat er auch Anfälle, die fast hysterisch sind. Er nimmt dann ihre Photographie, dieselbe, die er an jenem Abend küßte, betrachtet sie mit Tränen in den Augen, küßt sie, gedenkt vergangener Zeiten, ruft uns alle zu sich, aber spricht in solchen Augenblicken wenig ... Katerina Nikolajewna scheint er ganz vergessen zu haben; ihren Namen hat er nie wieder ausgesprochen. Auch von seiner Trauung mit Mama ist bei uns nicht mehr die Rede gewesen. Er sollte für den Sommer ins Ausland gebracht werden; aber Tatjana Pawlowna war sehr dagegen, und auch er hatte keine Lust. Den Sommer werden sie in einem Landhause in der Nähe von Petersburg verbringen. Übrigens leben wir vorläufig alle von Tatjana Pawlownas Mitteln. Eins möchte ich noch hinzufügen: es tut mir unsagbar leid, daß ich mir in diesen Aufzeichnungen oft erlaubt habe, von diesem Menschen unhöflich und von oben herab zu sprechen. Aber ich habe mir während des Schreibens mich selbst immer gar zu lebendig so vorgestellt, wie ich in dem Augenblick gewesen war, den ich gerade beschrieb. Doch als ich meine Aufzeichnungen beendet und die letzte Zeile niedergeschrieben hatte, fühlte ich plötzlich, daß ich mich selbst eben durch das nochmalige Durchleben der Erlebnisse, indem ich mir alles ins Gedächtnis zurückrief und mir vergegenwärtigte, und dann noch niederschrieb – daß ich mich eben dadurch zu einem anderen Menschen erzogen habe. Vieles von dem, was ich da geschrieben habe, möchte ich heute widerrufen und besonders den Ton mancher Zeilen und Seiten ändern, aber ich streiche nichts aus und verbessere nicht ein Wort.

Ich habe schon gesagt, daß er Katerina Nikolajewna überhaupt nicht mehr erwähnt hat; ja, ich glaube sogar, daß er vielleicht vollkommen geheilt ist. Nur Tatjana Pawlowna und ich sprechen manchmal von Katerina Nikolajewna, und auch wir tun es nur heimlich. Sie ist jetzt im Auslande; ich habe sie vor ihrer Abreise gesehen und bin mehrere Male bei ihr gewesen. Aus dem Auslande habe ich von ihr schon zwei Briefe erhalten und auch beantwortet. Doch über den Inhalt unserer Briefe und darüber, was wir vor ihrer Abreise, als wir Abschied nahmen, gesprochen haben, schweige ich: das ist schon eine ganz andere Geschichte, eine ganz neue Geschichte, eine, die sich vielleicht erst in der Zukunft verwirklichen wird. Sogar vor Tatjana Pawlowna verschweige ich noch manches. Doch – genug davon. Ich füge nur hinzu, daß Katerina Nikolajewna nicht verheiratet ist und mit Pelischtschoffs zusammen reist. Ihr Vater ist gestorben, und sie ist eine der reichsten Witwen. Augenblicklich weilt sie in Paris. Ihr Bruch mit Bjoring erfolgte schnell und ganz von selbst, das heißt, auf eine ganz natürliche Weise. Übrigens kann ich ja auch das noch erzählen.

An demselben Morgen, an dem es in Tatjana Pawlownas Wohnung zu jener schrecklichen Entladung kam, hatte der Pockennarbige – derselbe, zu dem Trischatoff und sein Freund übergegangen waren – Bjoring von Lamberts Anschlage gegen Katerina Nikolajewna noch rechtzeitig unterrichten können. Dazu war es folgendermaßen gekommen: Lambert hatte ihn, den Pockennarbigen, anfangs doch zur Teilnahme an dem Unternehmen überredet, und als er dann in den Besitz des Dokuments gelangt war, hatte er ihm alle Einzelheiten und im letzten Augenblick auch noch den Plan mitgeteilt, den Werssiloff entworfen hatte, um Tatjana Pawlowna aus ihrer Wohnung zu entfernen. Aber im entscheidenden Augenblick hatte der Pockennarbige doch vorgezogen, Lambert im Stiche zu lassen, da er vernünftiger war als sie alle und die Möglichkeit eines Totschlages voraussah. Doch der Hauptgrund seines Verrats war, daß er sich von Bjorings Dankbarkeit mehr versprach, als von dem phantastischen Vorhaben des unklugen Lambert, der sich nur zu oft hinreißen ließ, und des vor Leidenschaft fast schon wahnsinnigen Werssiloff. Das alles habe ich später von Trischatoff erfahren. Übrigens ist mir Lamberts Verhältnis zum Pockennarbigen noch immer etwas unverständlich, und ich begreife nicht, warum Lambert nicht ohne ihn auskommen konnte. Aber viel wichtiger ist für mich die Frage: wozu brauchte Lambert, nachdem er mir das Dokument schon entwendet hatte, noch Werssiloff? Die Antwort habe ich erst jetzt gefunden. Er brauchte Werssiloff nicht nur deshalb, weil dieser die Verhältnisse und Gelegenheiten so gut kannte, sondern hauptsächlich deshalb, weil er, Lambert, im Falle eines Fehlschlages die ganze Verantwortung auf Werssiloff abwälzen konnte. Und da Werssiloff doch kein Geld beanspruchte, so hielt Lambert seine Hilfe durchaus nicht für überflüssig. Aber Bjoring kam damals zu spät. Er erschien erst, als nach dem Schuß schon eine Stunde vergangen war und Tatjana Pawlownas Wohnung bereits ganz anders aussah. Denn: ungefähr fünf Minuten, nachdem Werssiloff blutüberströmt hingestürzt war, hatte sich Lambert, den wir für tot hielten, wieder aufgerichtet. Er hatte sich verwundert umgesehen, plötzlich alles begriffen, war langsam aufgestanden und in die Küche hinausgegangen, ohne ein Wort zu sagen; dort hatte er seinen Pelz angezogen, und dann war er für immer verschwunden. Das „Dokument“ hatte er auf dem Tisch liegen lassen. Ich hörte später, er sei nicht einmal krank gewesen, sondern habe sich nur eine Zeitlang wie benommen gefühlt: der Schlag mit dem Revolver hatte ihn betäubt und etwas Blut fließen lassen, ihm aber keine ernstere Verletzung zugefügt. Trischatoff war sogleich zum nächsten Arzt gelaufen; aber noch bevor der Arzt erschien, kam Werssiloff zu sich. Kurz vorher war auch Katerina Nikolajewna aus der Ohnmacht erwacht und von Tatjana Pawlowna bereits in ihren Wagen gesetzt worden, in dem diese sie nach Hause brachte. So traf denn Bjoring, als er in die Wohnung gelaufen kam, außer mir und dem Arzt nur den verwundeten Werssiloff und Mama an, der gleichfalls Trischatoff die Nachricht gebracht hatte, und die trotz ihrer Krankheit sogleich herbeigeeilt war, natürlich in großer Angst. Bjoring sah uns verständnislos an, und als er erfuhr, daß Katerina Nikolajewna die Wohnung schon verlassen hatte, begab er sich sofort zu ihr, ohne mit uns auch nur ein Wort zu wechseln.

Er sah wie vor den Kopf geschlagen aus; er wird sich wohl gesagt haben, daß ein Skandal oder wenigstens ein Gerede jetzt unvermeidlich war. Aber zu einem großen Skandal kam es doch nicht, es verbreiteten sich nur einige Gerüchte. Den Schuß hatte man zwar nicht vertuschen können, aber der Zusammenhang der ganzen Geschichte blieb doch so gut wie unbekannt. Die Nachforschungen ergaben nur folgendes: ein gewisser W., ein fast fünfzigjähriger Familienvater, hätte einer hochachtbaren Dame, die er leidenschaftlich liebte, doch die seine Gefühle gar nicht erwiderte, eine Liebeserklärung gemacht, und dann in einem Augenblick der Leidenschaft auf sich selbst geschossen. Weiter drang nichts in die Öffentlichkeit, und in dieser Gestalt kam der Vorfall denn auch als Gerücht in die Zeitungen, nur unter Angabe der Anfangsbuchstaben der Namen. Wenigstens hat man, soviel ich weiß, nicht einmal Lambert mit irgend einem Verdacht beunruhigt. Aber Bjoring, der die Wahrheit kannte, erschrak nichtsdestoweniger. Und gerade damals mußte er, als wäre es vom Schicksal gewollt, von Katerina Nikolajewnas Zusammenkunft mit dem in sie verliebten Werssiloff erfahren, die zwei Tage vor der Katastrophe stattgefunden hatte. Das machte ihn stutzig, und er ließ sich unvorsichtigerweise Katerina Nikolajewna gegenüber zu der Bemerkung hinreißen, er wundere sich nach alledem nicht mehr, daß ihr so eigentümliche Geschichten widerfahren konnten. Katerina Nikolajewna gab ihm daraufhin sofort sein Wort zurück, ohne Zorn, aber auch ohne zu zögern. Ihre vorgefaßte Meinung, eine Vernunftehe mit diesem Menschen würde für sie das Geeignetste sein, war wie Rauch verflogen. Vielleicht hatte sie ihn schon lange vorher durchschaut; aber es ist auch möglich, daß manche ihrer Anschauungen und Gefühle nach der erlittenen Erschütterung plötzlich umschlugen. Doch ich schweige schon, ich schweige schon! Im übrigen habe ich nur noch zu bemerken, daß Lambert bald darauf nach Moskau verschwand; dort soll er, wie ich gehört habe, bei einem ähnlichen Erpressungsversuch der Polizei ins Garn gegangen sein.

Trischatoff habe ich schon lange, fast schon seit diesen letzten Begebenheiten, aus den Augen verloren, und wie sehr ich mich auch gemüht habe, ihn zu finden, es ist mir nicht gelungen. Er verschwand nach dem Tode seines Freundes, des „grand dadais“: dieser hat sich erschossen.

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