II.

Ich erwähnte auch schon den Tod des alten Fürsten Nikolai Iwanowitsch. Der gute und sympathische alte Herr starb bald nach jenen Ereignissen – übrigens doch erst einen ganzen Monat später – er starb in der Nacht, in seinem Bett, an einem Gehirnschlag. Ich habe ihn seit dem Tage, den er in meiner Wohnung verbrachte, nicht wiedergesehen. Man hat mir von ihm nur erzählt, er sei diesen letzten Monat viel vernünftiger gewesen, viel beherrschter, er habe sich nicht mehr gefürchtet und habe nicht mehr geweint und in dieser ganzen Zeit nicht ein einziges Mal ein Wort von Anna Andrejewna gesprochen. Seine ganze Liebe hatte sich seiner Tochter zugewandt. Katerina Nikolajewna hat ihm einmal, eine Woche vor seinem Tode, den Vorschlag gemacht, mich zu seiner Zerstreuung rufen zu lassen, aber das soll ihn geradezu gekränkt haben: diese Tatsache teile ich ohne alle Erklärungen mit. Nach seinem Tode zeigte sich, daß sein Landbesitz in bester Ordnung war, und außerdem hinterließ er ein sehr bedeutendes Barvermögen. Ein Drittel dieses Vermögens wurde, nach einer Bestimmung des alten Herrn, unter seine zahllosen Patentöchter verteilt; aber sehr sonderbar erschien es allen, daß Anna Andrejewna in seinem Testament überhaupt nicht erwähnt war: ihr Name war einfach übergangen. Mir ist indessen folgende verbürgte Tatsache bekannt: einige Tage vor dem Tode hatte der alte Herr seine Tochter und seine Freunde, Herrn Pelischtschoff und den Fürsten W., zu sich gerufen und in ihrer Gegenwart Katerina Nikolajewna befohlen, im Falle seines Todes, von dem hinterlassenen Vermögen Anna Andrejewna sechzigtausend Rubel auszuzahlen. Seinen Willen drückte er klar und einfach aus, ohne jede Gefühlsäußerung oder nähere Erklärung. Nach seinem Tode, als die ganzen Angelegenheiten geordnet waren, ließ dann Katerina Nikolajewna durch ihren Bevollmächtigten Anna Andrejewna benachrichtigen, daß sie die sechzigtausend zu jeder Zeit abheben könne; aber Anna Andrejewna lehnte trocken und ohne überflüssige Worte das Angebot ab: sie weigerte sich, das Geld anzunehmen, trotz aller Versicherungen, daß dieses Vermächtnis tatsächlich der letzte Wille des Fürsten gewesen sei. Das Geld liegt noch heute da und wartet auf sie, und Katerina Nikolajewna hofft immer noch, daß sie ihren Entschluß ändern werde; aber das wird nicht geschehen, das weiß ich genau, denn ich bin jetzt einer der nächsten Freunde und Bekannten Anna Andrejewnas. Ihre Ablehnung erregte ein gewisses Aufsehen, und es ist viel davon gesprochen worden. Ihre Tante, Madame Fanariotoff, die wegen jenes Skandals mit dem alten Fürsten sehr böse auf sie war, änderte plötzlich nach der Zurückweisung des Geldes ihr Verhalten zu Anna Andrejewna und versicherte sie ihrer Hochachtung. Ihr Bruder dagegen hat sich mit ihr deswegen endgültig überworfen. Ich besuche Anna Andrejewna sehr oft, aber ich will damit nicht sagen, daß ich mit ihr sehr vertraulich stünde; die alten Geschichten erwähnen wir überhaupt nicht; sie empfängt mich sehr gern bei sich, doch unsere Unterhaltung dreht sich fast nur um abstrakte Dinge. Übrigens hat sie mir ruhig und sicher erklärt, daß sie unbedingt ins Kloster gehen werde; es war das vor nicht langer Zeit, aber ich will es ihr noch nicht glauben und halte die Äußerung einer solchen Absicht vorläufig nur für ein schmerzliches Wort.

Aber ein schmerzliches, ein wahrhaft schmerzliches Wort habe ich noch über meine Schwester Lisa zu sagen. Ja, hier – hier ist das Leben wirklich zum Unglück geworden, und was sind alle meine Mißerfolge im Vergleich zu ihrem harten Schicksal! Es fing damit an, daß der Fürst Ssergei Petrowitsch nicht genas und, noch bevor seine Sache zur Verhandlung kam, im Lazarett starb. Er starb noch vor dem Fürsten Nikolai Iwanowitsch. Lisa blieb mit ihrem zukünftigen Kinde allein zurück. Sie weinte nicht und war äußerlich ganz ruhig, ja, sie wurde sanft und still; die frühere Glut ihres Herzens war plötzlich irgendwo in den Tiefen ihres Wesens begraben. Sie half freundlich Mama, pflegte den kranken Andrei Petrowitsch, aber sonst war sie schweigsam und sah keinen Menschen und keine Sache an. Es war, als wäre ihr alles gleichgültig, als ginge sie an allem nur so vorüber. Als es Werssiloff allmählich besser ging, begann sie viel zu schlafen. Ich brachte ihr Bücher, aber sie las sie nicht. Zu gleicher Zeit magerte sie furchtbar ab. Ich wagte nicht, ihr Trost zuzusprechen, obgleich ich oft mit dieser Absicht zu ihr kam; aber in ihrer Gegenwart konnte ich die Worte nicht finden, um an sie heranzukommen. So ging das weiter, bis der Unglücksfall kam: sie fiel von der Treppe, nicht hoch, im ganzen nur drei Stufen, aber sie kam vor der Zeit nieder, und ihre Krankheit zog sich den ganzen Winter hin. Jetzt hat sie das Bett bereits verlassen, aber ihre Gesundheit ist wohl für immer untergraben. Zu uns verhält sie sich wie früher, ist schweigsam und vergrübelt; mit Mama hat sie wohl ein wenig zu sprechen begonnen. Alle diese Tage hat die Frühlingssonne hoch und hell am Himmel gestanden, und ich mußte immer wieder an jenen sonnigen Morgen denken, im vergangenen Herbst, als ich mit ihr auf der Straße ging, und wie wir beide voll Freude waren und Hoffnung, und voll Liebe zueinander. Was ist aus uns geworden? Ich klage nicht; ich darf es auch nicht: für mich hat ein neues Leben begonnen; aber sie? Ihre Zukunft ist mir ein Rätsel, und ich kann an sie nicht denken, ohne tiefen Schmerz zu empfinden.

Aber vor ungefähr drei Wochen gelang es mir doch einmal, sie durch eine Mitteilung über Wassin aufzurütteln. Er war aus der Haft entlassen und endgültig freigesprochen worden. Man sagt, dieser vernünftige Mensch habe die genauesten Erklärungen gegeben und überaus wichtige Mitteilungen gemacht, die ihn in den Augen derjenigen, von denen sein Schicksal abhing, vollkommen gerechtfertigt hatten. Und selbst sein vielbesprochenes Manuskript war, wie sich zeigte, nur eine Übersetzung aus dem Französischen, nur Material gewesen, das er ausschließlich für sich gesammelt hatte, in der Absicht, später einmal eine Kritik darüber zu schreiben, in der Form eines Aufsatzes für eine Zeitschrift. Er hat sich jetzt in das Gouvernement H. begeben. Sein Stiefvater Stebelkoff sitzt dagegen noch immer in Untersuchungshaft wegen seines Vergehens, das, je mehr man der Sache nachgeht, desto verwickelter wird. Lisa hörte meine Mitteilungen über Wassin mit einem sonderbaren Lächeln an und bemerkte schließlich, daß es ihm auch gar nicht anders hätte ergehen können. Aber sie war doch sichtlich befriedigt, – natürlich nur deshalb, weil die Anzeige des verstorbenen Fürsten Ssergei Petrowitsch Wassin nicht ernstlich geschadet hatte. Von Dergatschoff und den anderen wüßte ich nichts weiter mitzuteilen.

Ich habe meine Aufzeichnungen abgeschlossen. Vielleicht möchte der eine oder andere Leser noch wissen: wo denn nun meine „Idee“ geblieben sei, und was es denn für eine Bewandtnis mit diesem neuen Leben hat, das jetzt für mich beginnt, und das ich so geheimnisvoll andeute? Aber dieses neue Leben, dieser neue Weg, der sich vor mir aufgetan hat – ist ja eben meine „Idee“, dieselbe, die ich früher hatte, nur in einer so anderen Gestalt, daß sie kaum wiederzuerkennen ist. Doch in meine „Aufzeichnungen“ paßt das schon nicht mehr hinein, eben weil es etwas ganz anderes ist. Das alte Leben liegt schon weit hinter mir, und das neue beginnt erst kaum. Aber eins muß ich doch unbedingt erwähnen: Tatjana Pawlowna, mein aufrichtiger und lieber Freund, redet mir fast jeden Tag zu, unbedingt und sobald wie nur möglich die Universität zu beziehen: „Nachher, wenn du dein Studium beendet hast, dann kannst du dir ja Ideen ausdenken, so viel du willst, jetzt aber lerne erst mal zu Ende.“ Ich muß gestehen, ich habe über ihren Vorschlag schon des öfteren nachgedacht, aber ich weiß wirklich noch nicht, wozu ich mich entschließen werde. Unter anderem habe ich eingewendet, ich hätte jetzt nicht einmal mehr das Recht zu studieren, da ich arbeiten müsse, um Mama und Lisa zu ernähren; aber sie bietet mir die Mittel zum Studium von ihrem Gelde an und versichert, es werde für die ganze Zeit meines Studiums ausreichen. So entschloß ich mich denn endlich, einen Menschen um Rat zu fragen. Ich suchte unter meinen Bekannten und traf dann nach sorgfältiger und kritischer Überlegung meine Wahl: sie fiel auf – Nikolai Ssemjonowitsch, meinen einstigen Erzieher in Moskau, Marja Iwanownas Mann. Ich wählte ihn nicht deshalb, weil ich so sehr eines fremden Rates bedurft hätte, sondern weil ich einfach den unbezwingbaren Wunsch hatte, die Meinung gerade dieses vollkommen unbeteiligten Menschen zu hören, der ein etwas kühler Egoist, jedoch zweifellos ein sehr kluger Kopf ist. Ich schickte ihm mein ganzes Manuskript, mit der Bitte um Verschwiegenheit, da ich es noch keinem Menschen gezeigt hatte, namentlich Tatjana Pawlowna nicht. Mein Manuskript erhielt ich von ihm nach zwei Wochen zurück und er schrieb mir dazu einen ziemlich langen Brief ... Aus diesem Brief will ich nun einige Auszüge hier anhängen, da ich in ihnen eine gewisse allgemeine Anschauung und gleichsam etwas Erklärendes finde. Es sind diese Sätze:

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