„Jetzt will ich euch erzählen, was für ein Wunder sich einmal bei uns in der Stadt Afimjewsk zugetragen hat. Es lebte da ein Kaufmann, Skotoboinikoff hieß er, Maxim Iwanowitsch mit sonstigen Namen, und in der ganzen Gegend war kein Reicherer denn er. Eine große Kattunfabrik hatte er sich erbaut, und Arbeiter hielt er etliche hundert; und eingebildet war er über die Maßen. Man muß schon sagen, daß alles nach seinem Wink ging, und auch die hohe Obrigkeit war ihm in nichts entgegen, und der Archimandrit[15] selbst dankte ihm noch für seinen Glaubenseifer: viel hatte er schon für das Kloster gestiftet, und wenn es über ihn kam, seufzte er sehr um sein Seelenheil und war um das zukünftige Leben nicht wenig besorgt. Witwer war er und hatte keine Kinder; von seiner Frau aber erzählte man, daß er sie schon im ersten Jahr geprügelt habe; denn schon von Jugend auf habe er seine Fäuste nicht gern im Zaum gehalten: nur war das alles schon lange vor dieser Zeit gewesen; von neuem aber wollte er sich durch eine Heirat nicht binden. Auch das Trinken war eine Schwäche von ihm, und wenn seine Zeit kam, so lief er in der Betrunkenheit nackend durch die Straßen und brüllte: es war ja keine vornehme Stadt, aber eine Schande war’s doch. Wenn aber die Zeit vorüber war, wurde er böse, und alles, was er dann sagte, mußte somit gut sein, und alles, was er befahl, mußte somit richtig sein. Mit seinen Arbeitern aber rechnete er so ab, wie es ihm gefiel: nimmt das Rechenbrett, setzt die Brille auf: ‚Du, Foma, wieviel hast du zu bekommen?‘ – ‚Hab’ seit Weihnachten nichts bekommen, Maxim Iwanowitsch; neununddreißig Rubel hab’ ich zugut.‘ – ‚Hu, wieviel Geld! Das ist zuviel für dich; so viel bist du alles in allem nicht wert; so viel Geld paßt gar nicht zu dir: zehn Rubel zieh’ ich dir ab, neunundzwanzig kannst du kriegen.‘ Und der Mensch steht und schweigt; es wagte eben keiner, wider ihn zu murren; alle schwiegen sie.
‚Ich weiß schon, wieviel man einem jeden geben kann,‘ sagte er. ‚Mit diesen Leuten kann man ja anders gar nicht umgehen. Das hiesige Volk ist doch mehr als verderbt; ohne mich würden sie alle Hungers sterben, wie viele ihrer hier nur sind. Und Diebe sind’s auch: was einer sieht, das stiehlt er schon, ’s ist gar keine Männlichkeit in ihnen. Und schließlich sind’s auch Trunkenbolde: zahlst du ihm alles aus, so trägt er’s sofort zum Wirt und bleibt dort, bis er alles versoffen hat, auch das letzte Fädchen, und nackend verläßt er die Schenke. Und auch Jämmerlinge sind sie, diese Kerle: da setzt sich denn so einer auf einen Stein gegenüber der Schenke hin, und dann hebt das Geweine an: „Meine Mutter hat mich geboren, ach, warum hast du mich Saufbold in die Welt gesetzt? Hättest du mich Elenden doch bei der Geburt erwürgt!“ – Ist denn so einer überhaupt ein Mensch? Das ist doch ein Tier, aber kein Mensch; so einen muß man zuvor aufklären, und dann erst kann man ihm Geld geben. Oh, ich weiß schon, wann ich ihm welches gebe!‘
Also sprach Maxim Iwanowitsch von den Leuten in Afimjewsk; und wenn er auch viel Schlechtes sprach, so war doch manches Wahre dabei: die Leute waren wahrlich schwach, konnten der Versuchung nicht standhalten.
Es lebte aber in derselben Stadt noch ein anderer Kaufmann, und der starb. Das war ein noch junger und leichtsinniger Mensch; und der machte Bankrott und büßte sein ganzes Vermögen ein. Das letzte Jahr zappelte er noch wie ein Fisch auf dem Sande und versuchte noch immer, sich zu retten, aber seine Tage waren schon gezählt. Mit Maxim Iwanowitsch hatte er sich die ganze Zeit nicht gut gestanden und war ihm viel Geld schuldig. Also kam es, daß er in seiner Sterbestunde Maxim Iwanowitsch verfluchte. Und er hinterließ eine Witwe in jungen Jahren und fünf kleine Kinderchen. Schon eine einsame Witfrau ist nach des Mannes Tode wie eine Schwalbe ohne Nest, – das ist keine kleine Prüfung! Und nun noch eine, die mit fünf kleinen Kindern zurückbleibt, für die sie kein Stückchen Brot hat, um sie zu ernähren: das Letzte, was sie noch besaß, war ein Holzhaus, und das nahm ihr nun Maxim Iwanowitsch für die Schuld weg. Da ging sie denn mit ihren Kinderchen zur Kirche, stellte sie alle eins neben das andere an der Kirchentür auf: das älteste, ein Knabe, war achtjährig, die anderen waren Mädelchen, eins immer ein Jahr jünger als das andere, eins kleiner als das andere; das älteste war erst vier Jährchen alt, das jüngste noch auf dem Arm an der Mutterbrust. Der Gottesdienst war zu Ende, Maxim Iwanowitsch kam heraus, und wie sie ihn erblickten, da fielen alle Kinderchen vor ihm auf die Knie, die ganze Reihe – so hatte die Mutter ihnen gesagt – und die Händchen legten sie bittend zusammen, und als letzte stand sie selbst mit dem fünften Kindchen auf dem Arm. Und während alle die Leute zusahen, verneigte sie sich tief vor ihm und bat ihn mit ihren Kinderchen: ‚Väterchen, Maxim Iwanowitsch, erbarm’ dich der Waisen, nimm ihnen nicht ihr Letztes, wirf sie nicht aus ihrem Nest!‘ Und allen, wer dort nur war, wurden die Augen feucht – so gut hatte sie den Kinderchen das beigebracht. Sie dachte wohl: ‚So vor allen Leuten wird er zu stolz sein, mir meine Bitte abzuschlagen, und wird das Haus den Waisen zurückgeben.‘ Doch es kam anders. Maxim Iwanowitsch blieb stehen: ‚Du,‘ sagt er, ‚du bist eine junge Witwe und willst nur einen Mann. Nicht wegen der Waisen weinst du, und von deinem Mann weiß ich wohl, daß er mich noch auf dem Sterbebett verflucht hat!‘ Und mit diesen Worten ging er vorbei und gab ihnen das Haus nicht zurück. ‚Wozu sich von ihren Dummheiten rühren lassen? Erweist man ihnen Wohltaten, so schmähen sie einen noch mehr; alles das ist doch nur eitel, und das Gerede wird davon bloß noch größer.‘ Und es gab auch wirklich ein Gerede, wonach er dieser Witwe, als sie noch ein junges Mädchen war, so an die zehn Jahre zurück, heimlich ein großes Geld durch Kuppler hatte anbieten lassen (denn schön war sie sehr), und hatte dabei nicht gedacht, daß selbige Sünde gerade so groß ist, wie wenn einer ein Gotteshaus zerstört. Aber er hatte damals nichts erreicht. Und solcher Schändlichkeiten beging er in der Stadt und sogar im ganzen Umkreise nicht wenig und hatte in dieser Sache wahrlich jedwedes Maß verloren.
Die Mutter und ihre Kinder aber weinten laut; er trieb sie aus dem Hause und tat es nicht nur aus bösem Herzen, sondern – wie der Mensch so manchmal selber nicht weiß, was ihn veranlaßt, hartherzig auf seinem Willen zu bestehen und nicht nachzugeben. Eine Zeitlang halfen ihr gute Leute, dann suchte sie sich Arbeit. Aber was gibt es denn in so einer Kleinstadt für Arbeit, außer auf der Fabrik? Hier wusch sie die Dielen auf, dort jätete sie im Gemüsegarten oder heizte eine Badestube; dabei das jüngste Kindchen immer auf dem Arm; und die vier anderen spielen derweil im Hemdchen auf der Straße. Als sie die Kinderchen vor der Kirchentür niederknien ließ, da hatten sie doch noch alle Schuhchen angehabt und Kleidchen, gleichviel was für welche, aber es waren doch immer noch Kaufmannskinder gewesen! Nun aber liefen sie schon barfuß: an Kinderchen sind doch Kleider wie Zunder, das weiß man ja. Aber was machen sich denn Kindchen daraus? Wenn nur die Sonne scheint, freuen sie sich schon; sie ahnen ja das Unheil nicht, ganz wie Vögelchen sind sie, und ihre Stimmchen klingen wie Glöckchen. Die Witwe aber denkt bei sich: ‚Wenn es nun Winter wird, wo lasse ich sie dann? Wenn Gott euch doch vorher zu sich nähme!‘ Aber sie brauchte nicht einmal so lange zu warten. Es gibt dort in der Gegend einen argen Husten, Keuchhusten nennen sie ihn, und der geht von einem Kinde auf alle anderen über, mit denen es zusammenkommt. Als erstes starb das jüngste Kindchen, danach erkrankten auch die anderen, und noch im selben Herbst begrub sie alle ihre vier Mädchen. Eins davon war auf der Straße überfahren worden. Und was glaubt ihr wohl? Selbst hatte sie gewünscht, Gott möge die Armen zu sich nehmen, doch als sie sie begrub, weinte sie laut, denn es tat ihr doch weh. So ist das Mutterherz!
Von allen ihren Kinderchen blieb ihr nur noch der älteste Knabe am Leben, und den hütete sie nun wie ihren Augapfel, so zitterte sie für ihn. Ein schwächlicher und zarter Knabe war’s, von Angesicht lieblich wie ein Mädchen. Schließlich brachte sie ihn auf die Fabrik zu seinem Taufpaten, der dort Verwalter war, selbst aber wurde sie bei einem Beamten Kinderfrau. Da geschah es, daß der Knabe einmal auf den Hof lief, und plötzlich kommt Maxim Iwanowitsch in seinem Wagen mit zwei Pferden vorgefahren, und er hatte wieder einmal getrunken; der Knabe aber springt die Treppe herunter, stolpert und rennt dem Maxim Iwanowitsch, der gerade aus dem Wagen steigt, mit beiden Fäusten in den Bauch. Der packt den Knaben wütend an den Haaren und brüllt ihn an: ‚Wer bist du? Ruten her! Prügelt ihn! Sofort! Hier vor meinen Augen!‘ Der Knabe war zu Tode erschrocken. Man holte Ruten herbei und begann ihn zu schlagen, Maxim Iwanowitsch aber brüllte: ‚So schreist du noch? Prügelt ihn, bis er aufhört zu schreien,‘ befahl er. Ob man ihn nun viel oder wenig schlug, wer kann das wissen? Aber er schrie die ganze Zeit, bis er wie tot liegen blieb. Da hielt man erschrocken inne: der Knabe atmet gar nicht mehr, liegt ganz bewußtlos da. Später sagte man, sie hätten ihn nicht einmal stark geschlagen, der Knabe wäre nur gar zu schreckhaft und zart gewesen. Auch Maxim Iwanowitsch erschrak! ‚Wem gehört er?‘ fragte er; man sagte es ihm. ‚Hm! Bringt ihn zu seiner Mutter; was hat er hier auf der Fabrik zu suchen?‘ Zwei Tage lang schwieg er, dann fragte er wieder: ‚Wie steht’s denn mit dem Knaben?‘ Mit diesem aber stand es schlecht: er lag krank bei der Mutter im Stubenwinkel, und die Mutter hatte ihre Stelle bei dem Beamten aufgeben müssen, denn der Knabe war noch dazu an Lungenentzündung erkrankt. ‚Hm!‘ sagte Maxim Iwanowitsch, ‚und wovon denn eigentlich? Ich wollte nichts sagen, wenn man ihn Gott weiß wie sehr gedroschen hätte: er sollte doch nur etwas eingeschüchtert werden. Ich habe noch ganz anders prügeln lassen, und es hat doch noch niemand deshalb solche Dummheiten gemacht!‘ Er wartete nun darauf, daß die Mutter des Knaben ihn verklage, und so schwieg er aus Stolz. Aber wie durfte sie ihn denn verklagen, das wagte sie ja gar nicht. Da schickte er ihr von sich aus fünfzehn Rubel und den Arzt; nicht deshalb, weil er Angst gehabt hätte, sondern nur so, er war nachdenklich geworden. Dann kam aber wieder seine schlimme Zeit, und er trank drei Wochen lang.
Der Winter ging vorüber, und gerade am Ostersonntag, am heiligen Feiertag, fragt Maxim Iwanowitsch wieder einmal: ‚Wie geht es denn jenem Knaben?‘ Den ganzen Winter über hatte er geschwiegen, nichts gefragt. Und man sagt ihm: ‚Der ist gesund geworden, ist bei der Mutter, die tagsüber wieder für Lohn arbeitet.‘ Da fuhr Maxim Iwanowitsch noch an selbigem Tage zu der Witwe, ging aber nicht ins Haus hinein, sondern ließ sie zum Hofpförtchen rufen; selbst sitzt er im Wagen: ‚Hör’ mich an, ehrbare Witwe,‘ sagt er, ‚ich will deinem Sohn ein wirklicher Wohltäter werden und ihm alles Gute erweisen: ich nehme ihn zu mir in mein Haus. Und wenn er mir nur ein wenig gefällt, so verschreibe ich ihm ein gewisses Kapital; und wenn er mir sehr gut gefällt, so kann ich ihm auch mein ganzes Vermögen verschreiben und ihn zu meinem Erben und Nachfolger einsetzen, gleichwie einen leiblichen Sohn; jedoch mit der Bedingung, daß Ihr selber nicht in mein Haus kommt, außer an hohen Feiertagen. Wenn Ihr darauf eingeht, so bringt den Knaben morgen früh zu mir. Es ist Zeit für ihn, mit dem Spielchenspielen aufzuhören.‘ Und nachdem er so gesagt hatte, fuhr er davon, die Mutter aber war wie von Sinnen. Die Leute, die davon hörten, sagten zu ihr: ‚Dein Sohn wird heranwachsen und dir selber Vorwürfe machen, daß du ihm solch ein Glück vorenthalten hast.‘ Da weinte die Mutter die ganze Nacht über ihren Sohn, am Morgen aber brachte sie ihn hin. Der Knabe war vor Angst mehr tot als lebendig.
Maxim Iwanowitsch ließ ihn wie ein vornehmes Kind ankleiden, nahm für ihn einen Lehrer ins Haus und setzte ihn unverzüglich hinter die Bücher; und es kam so weit, daß er ihn nicht mehr aus den Augen ließ, immer war er bei ihm. Kaum sah der Knabe vom Buch auf, da schrie er ihn schon an: ‚Sieh ins Buch! Lern! Ich will aus dir einen Menschen machen.‘ Der Knabe aber war kränklich: nach jenem selben Tage, als er damals geprügelt worden war, hatte er zu husten angefangen. Maxim Iwanowitsch wunderte sich: ‚Hat er bei mir nicht ein gutes Leben? Bei der Mutter ist er barfuß umhergelaufen und hat nur Brotkrusten gekaut, warum ist er denn jetzt kränklicher als zuvor?‘ Der Lehrer aber sagt zu ihm: ‚Jeder Knabe,‘ sagt er, ‚muß auch etwas ausgelassen sein und nicht immer nur über den Büchern sitzen; ihm tut Bewegung not,‘ und er erklärte ihm alles ganz vernünftig. Maxim Iwanowitsch dachte nach. ‚Du hast recht,‘ sagte er. Dieser Lehrer aber, Pjotr Stepanowitsch hieß er, Gott hab’ ihn selig, war eigentlich sozusagen ein behafteter Mensch, und trinken tat er so viel, daß man sagen kann, es war schon mehr als zuviel, und deshalb hatte er auch schon lange keine Stelle mehr und lebte in der Stadt, so gut es ging von milden Gaben und zufälliger Unterstützung, dabei war er aber von großem Verstande und wußte in allen Wissenschaften Bescheid. ‚Mein Platz ist nicht hier,‘ sagte er selber von sich, ‚mein Platz wäre an der Universität, Professor müßt’ ich in der Hauptstadt sein, hier aber bin ich im Schmutz versunken und meine Kleider selbst haben Abscheu vor mir.‘ Maxim Iwanowitsch aber setzte sich somit hin und schreit den Knaben an: ‚Bewege dich!‘ – Der Knabe aber wagt kaum vor ihm zu atmen. Und es kam so weit, daß der Knabe, sobald er nur seine Stimme hörte, schon zu zittern anfing. Maxim Iwanowitsch aber wundert sich immer mehr: ‚Er ist dies nicht und ist das nicht; ich hab’ ihn aus dem Schmutz gezogen, in teures Tuch gekleidet, er hat die feinsten Halbstiefelchen an, ein Hemd mit Stickereien, wie einen Generalssohn halte ich ihn, – weshalb ist er mir nun nicht zugetan? Weshalb schweigt er wie so’n kleiner Wolf?‘ Und wenn man auch schon längst aufgegeben hatte, sich über Maxim Iwanowitsch noch zu wundern, hiernach fing man doch wieder an sich über ihn zu wundern: der Mensch war gar nicht mehr derselbe; er hing an diesem Knaben, daß er ihn nicht mehr aus den Augen ließ. ‚Ich will nicht leben, wenn’s mir nicht gelingt, diesen Starrsinn in ihm auszurotten! Sein Vater hat mich noch auf dem Sterbebett verflucht, nachdem er schon die heiligen Sakramente empfangen hatte, und diesen Charakter hat er von seinem Vater.‘ Dabei schlug er ihn nicht ein einziges Mal mit der Rute (seit jenem selben Tage wagte er es nicht mehr). Aber der Knabe war nun einmal eingeschüchtert, das war’s! Da bedurfte es gar keiner Rute mehr, er zitterte schon so vor ihm.
Und dann geschah das Unglück. Er war einmal gerade aus dem Zimmer gegangen, da sprang der Knabe von den Büchern fort und stieg auf einen Stuhl: sein Ball war vorher auf ein Eckschränkchen gefallen, und den wollte er herunterholen, aber sein Ärmel blieb an der Lampe hängen; und auf einmal fiel die Lampe um, fiel krachend zu Boden und zerschlug in tausend Stücke, daß es im ganzen Hause zu hören war. Es war eine kostbare Lampe: sächsisches Porzellan. Und das hörte nun Maxim Iwanowitsch aus dem dritten Zimmer, und wie er’s hörte, brüllte er los. Der Knabe lief vor Entsetzen davon, ohne zu sehen, wohin, lief auf die Terrasse hinaus und in den Garten und durch ein kleines Pförtchen geradeswegs zum Fluß. Dort am Flußufer aber führt eine Straße entlang mit alten Weidenbäumen – eine hübsche Stelle. Er lief bis dicht ans Ufer, die Menschen sahen es, und wie er das Wasser erblickte, fuhr er zusammen, blieb stehen vor Schreck und stand wie angewurzelt. Das war gerade an der Stelle, wo die Fähre anlegt. Der Fluß ist dort breit und reißend. Frachtkähne ziehen vorüber. Auf dem anderen Flußufer sind Läden, ein großer Platz und eine Kirche mit goldenen glänzenden Kuppeln. Und da kam gerade die Frau des Obersten Fersing mit ihrem Töchterchen zur Fähre, – ein Regiment Infanterie stand in der Stadt. Das kleine Fräulein war auch erst so ein Kindchen von acht Jahren, in einem weißen Kleidchen; und es sieht den Knaben an und lacht, und in der Hand hat es so ein kleines Weidenkörbchen, wie die Bauern sie anfertigen, und in dem Körbchen ist ein Igel. ‚Sehen Sie, Mamachen,‘ sagt sie, ‚sehen Sie, wie dieser Knabe meinen Igel ansieht.‘ – ‚Nein,‘ sagt die Frau Oberst, ‚er scheint nur erschrocken zu sein, – was hat dich denn so erschreckt, mein Junge?‘ fragt sie ihn (so wurde das später alles erzählt von denen, die es gehört hatten). ‚Wie nett er aussieht, und wie gut er gekleidet ist, – wer bist du denn, mein Junge?‘ fragte sie ihn. Er aber hatte noch nie einen Igel gesehen; da trat er näher, um das Tierchen zu sehen, und schon vergaß er alles andere – man weiß ja, wie Kinder sind! ‚Was ist das da,‘ fragt er, ‚was ist das, was Sie da haben?‘ – ‚Das ist unser Igelchen,‘ sagt das kleine Mädchen, ‚wir haben ihn vorhin von einem Bauern gekauft, der hat ihn im Walde gefunden.‘ – ‚Was ist das für ein Igel?‘ fragt der Knabe, und schon lacht er und rührt ihn mit dem Fingerchen an, und der Igel faucht und sträubt seine Stacheln, das Mädchen aber freut sich über den Knaben. ‚Wir werden ihn nach Haus bringen,‘ sagt sie, ‚und ihn ganz zahm machen.‘ – ‚Ach,‘ sagt der Knabe, ‚schenken Sie ihn mir, den Igel!‘ Und er bat so rührend, aber kaum hatte er das gesagt, da erscholl auf einmal Maxim Iwanowitschs Stimme vom Gartenpförtchen oben: ‚Ha! Da bist du! Haltet ihn!‘ (Er war so aufgebracht, daß er ihm ohne Mütze vom Hause aus nachgelaufen war.) Da fiel dem Knaben plötzlich alles wieder ein, er schrie auf und stürzte zum Wasser, preßte seine beiden kleinen Fäuste an die Brust, sah hinauf zum Himmel (das hat man gesehen, viele haben es gesehen!) – und plötzlich warf er sich in den Fluß! Alles schrie auf, von der Fähre sprang man ihm nach und versuchte, ihn herauszuziehen, aber die Strömung trug ihn fort: der Fluß ist reißend. Und als man ihn dann endlich herausgezogen hatte, war er schon ertrunken – war tot. Er hatte ja immer schon eine schwache Brust gehabt, da hatte er das Wasser nicht vertragen, und wieviel ist denn auch nötig für so einen? Aber soweit die Menschen dort zurückdenken konnten, entsannen sie sich nicht, daß jemals ein so kleines Kind sich selbst umgebracht hätte! So eine Sünde! Was kann denn wohl so eine kleine Seele Gott dem Herrn in jener Welt antworten? Über diese selbe Sache begann Maxim Iwanowitsch nun nachzudenken. Und der ganze Mensch veränderte sich so, daß man ihn nicht wiedererkennen konnte. Er war schon sehr traurig. Er fing wohl zu trinken an, trank viel, aber dann ließ er es, – es half nicht. Er fuhr auch nicht mehr nach der Fabrik und hörte überhaupt nicht mehr darauf, was man zu ihm sprach. Sagt man ihm etwas – er schweigt oder winkt nur mit der Hand ab. So verbrachte er fast zwei Monate und dann begann er mit sich selber zu sprechen: er ging ganz allein umher und sprach mit sich. In der Nähe der Stadt brannte das Dörfchen Wasskowo ab, neun Häuser brannten nieder. Maxim Iwanowitsch fuhr hin, um sich das anzusehen. Die Abgebrannten umringten ihn, weinten und klagten, – da versprach er, ihnen zu helfen und traf auch die Anordnungen. Aber dann ließ er den Verwalter rufen und widerrief alle Anordnungen: ‚Es ist nichts nötig,‘ sagt er, ‚es wird ihnen nichts gegeben,‘ und sagt nicht einmal, weshalb. ‚Gott hat mich zum Niedertreten der Menschen bestimmt,‘ sagt er, ‚und wenn ich schon mal ein Ungeheuer sein soll, dann mag es also sein. Wie der Wind,‘ sagt er, ‚hat sich mein Ruf in der Welt verbreitet.‘ Schließlich kam der Archimandrit in eigener Person zu ihm gefahren; der war ein strenger Greis, hatte im Kloster das gemeinschaftliche Leben eingeführt. ‚Was ist das mit dir?‘ fragt er ihn so ganz streng. ‚Das ist mit mir,‘ sagt Maxim Iwanowitsch und schlägt vor ihm die Bibel auf und zeigt die Stelle:
‚Wer aber ärgert dieser Geringsten einen, die an mich glauben, dem wäre besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehängt, und er ersäuft würde im Meer, da es am tiefsten ist.‘ (Matth. 18, 6.)
‚Ja,‘ sagte der Archimandrit, ‚wenn das auch nicht ganz auf diesen Fall paßt, so kommt es doch nahe heran. Wehe, wenn ein Mensch sein Maß verliert – dann ist er verloren. Und deine Überhebung hat auch keine Grenzen mehr gekannt.‘
Maxim Iwanowitsch saß da wie erstarrt. Der Archimandrit sah ihn lange an.
‚Höre mich,‘ sagt er schließlich, ‚und merke dir, was ich dir sagen werde. Es steht geschrieben: „Die Worte des Verzweifelten verweht der Wind.“ Und vergiß nicht, daß auch die Engel Gottes unvollkommen sind, vollkommen aber und sündlos ist nur unser Herr Jesus Christus, dem die Engel deshalb auch dienen. Du aber wolltest doch nicht den Tod dieses Knaben, du warst nur unbesonnen. Und noch eines,‘ sagt er, ‚ist mir wunderlich: du hast doch noch viel größere Schandtaten begangen, hast doch nicht wenig Menschen ins Verderben gebracht, hast doch nicht wenige verführt und zugrunde gerichtet – so gut wie durch Mord? Und sind nicht alle vier Schwesterchen dieses Knaben fast unter deinen Augen gestorben, und das hast du doch ruhig geschehen lassen? Weshalb hat dich nun der Tod dieses einzelnen Knaben auf einmal so erschüttert? Alle anderen hast du doch nicht nur nicht bedauert, sondern hast, denke ich, nicht einmal an sie gedacht oder schon längst an sie zu denken vergessen. Weshalb ängstigt dich nun dieser Knabe so, an dessen Tod du noch nicht einmal so große Schuld trägst?‘
‚Er erscheint mir im Traum,‘ sagte Maxim Iwanowitsch.
‚Und?‘
Aber Maxim Iwanowitsch sagte nichts weiter, er sitzt und schweigt. Da wunderte sich der Archimandrit, aber er erfuhr nichts und mußte ihn auch so verlassen: Da war nichts weiter zu machen.
Maxim Iwanowitsch aber schickte nach dem Lehrer des Knaben, dem Pjotr Stepanowitsch; seit jenem Geschehnis damals hatten sie sich nicht mehr gesehen.
‚Weißt du noch?‘ fragt er.
‚Ich weiß noch,‘ sagt jener.
‚Du,‘ sagte er, ‚du hast hier für das Wirtshaus mit Ölfarbe Bilder gepinselt und hast auch von dem Porträt des Bischofs eine Kopie gemacht. Kannst du mir nun auch mit Ölfarbe ein Bild fertigmalen?‘
‚Ich,‘ sagt er, ‚ich kann alles; ich,‘ sagt er, ‚ich hab’ alle Talente und kann alles!‘
‚Also dann mal’ du mir ein Bild, so groß wie die ganze Wand, und mal’ mir drauf ganz zuerst den Fluß und das Ufer und die Fähre; und mal’ mir auch alle Menschen, die damals dort waren, auf das Bild. Und daß auch die Frau Oberst und ihre Tochter auf dem Bilde zu sehen sind, und auch der Igel. Und das ganze andere Ufer malst du mir auch drauf, damit man es ganz so sieht, wie es ist: die Kirche und den großen Platz und die Läden und die Droschken an der Haltestelle, – alles, wie es ist, malst du mir auf das Bild, verstanden? Und nun in der Mitte vor dem Fluß, an der Anlegestelle der Fähre, malst du mir den Knaben, gerade dort, wo er stand, und unbedingt so, wie er die beiden kleinen Fäuste an sich drückt, gerade so an beide Brustwarzen. Das vergiß du mir nicht. Und vor ihm, gerade ihm gegenüber, also über der Kirche auf dem anderen Ufer, machst du den Himmel auf, und von dort läßt du alle Engel in himmlischem Licht herabschweben, die ihm entgegenkommen, um ihn aufzunehmen. Kannst du mir das malen oder ist das zuviel verlangt?‘
‚Ich kann alles,‘ sagt Pjotr Stepanowitsch.
‚Du brauchst nicht zu glauben, daß ich nur so einen Peter wie du dazu brauche, ich könnte mir auch den allerersten Maler aus Moskau verschreiben oder aus der Stadt London sogar, wenn ich will, aber du – du hast ihn gesehen, du weißt, wie er aussah. Wenn du ihn mir aber nicht ähnlich malst oder nur wenig ähnlich, so kriegst du nur fünfzig Rubel, wenn er aber ganz ähnlich ist, so geb’ ich dir zweihundert Rubel. Weißt du noch – blaue Augen hatte er ... Und das Bild muß so groß sein wie nur irgend möglich!‘
Die Vorbereitungen wurden getroffen; Pjotr Stepanowitsch machte sich an die Arbeit, aber auf einmal kommt er wieder zu Maxim Iwanowitsch.
‚Nein,‘ sagt er, ‚so geht das nicht.‘
‚Warum nicht?‘
‚Weil diese Sünde, der Selbstmord, die größte aller Sünden ist. Wie können ihn nach einer solchen Sünde noch die Engel im Himmel empfangen? Das geht nicht.‘
‚Aber er war doch noch ein Kind, ihm kann’s doch noch nicht angerechnet werden!‘ sagt Maxim Iwanowitsch.
‚Nein, er war kein Kind mehr! er war schon ein Knabe von acht Jahren, als dies geschah. Immerhin wird er sich verantworten müssen.‘
Da erschrak Maxim Iwanowitsch noch mehr.
‚Ich aber hab’ mir das so ausgedacht,‘ sagt Pjotr Stepanowitsch, ‚den Himmel da so großartig zu öffnen und Engel ihm entgegenfliegen zu lassen – das ist überflüssig; statt dessen werd’ ich vom Himmel nur so einen hellen Strahl fallen lassen, der ihm sozusagen entgegenkommt: das wäre dann immerhin etwas.‘
Und so ließen sie denn so einen Strahl fallen. Ich hab’ später selber dies Bild gesehen, und da war auch wirklich der Strahl und der Fluß – über die ganze Wand hatte er ihn ausgereckt, ganz blau, und auch der kleine Knabe war da zu sehen, und er drückte auch richtig beide Fäustchen so an die Brust, und auch das kleine Fräulein war da und der Igel – alles hatte er fertiggebracht. Nur zeigte Maxim Iwanowitsch damals keinem Menschen das Bild, sondern schloß die Tür seines Arbeitszimmers zu, und so blieb es vor allen Augen verborgen. In der Stadt aber war man mächtig neugierig, und alles strömte hin, um das Bild zu sehen, er aber ließ alle fortjagen. Darüber war dann ein großes Gerede in der Stadt. Der Pjotr Stepanowitsch aber, der war danach ganz furchtbar stolz. ‚Ich,‘ sagt er, ‚ich kann alles! Ich,‘ sagt er, ‚ich gehöre nach St. Petersburg an den Kaiserlichen Hof!‘ Ein guter Mensch war er, aber überheben tat er sich damals schon gar zu sehr. Und so ereilte ihn das Schicksal: nachdem er die ganzen zweihundert Rubel erhalten hatte, betrank er sich gleich und zeigte allen sein Geld und prahlte unmäßig; und in derselben Nacht, als er ganz betrunken war, erschlug ihn ein Kleinbürger aus der Stadt, mit dem er zusammen getrunken hatte, und raubte ihm das Geld; doch kam das alles schon am nächsten Morgen an den Tag.
Die Sache aber mit Maxim Iwanowitsch endete so, daß man dort noch heutigestags davon spricht. Auf einmal kommt Maxim Iwanowitsch wieder bei jener Witwe angefahren: sie hatte sich ganz am Rande der Stadt in der Hütte einer Kleinbürgerin eingemietet. Diesmal aber stieg er aus und ging hinein, trat vor sie hin und verneigte sich tief vor ihr. Sie aber war seit jenem selben Unglück ganz krank und konnte sich kaum bewegen. ‚Mütterchen,‘ rief er, ‚ehrsame Witwe, heirate mich Ungeheuer, mach’ es mir wieder möglich, auf Erden zu leben!‘ Die aber sieht ihn an und ist ganz starr vor Entsetzen. ‚Ich will,‘ sagt er, ‚daß uns beiden ein Knabe geboren werde, und wenn uns einer geboren wird, dann hat der Tote uns verziehen: dir und mir verziehen. So hat er mir im Traum gesagt.‘ Sie sieht, der Mensch ist nicht bei voller Vernunft, sieht, daß er außer sich ist, aber sie konnte doch nicht an sich halten und sagte:
‚Das ist doch alles nur leeres Geschwätz und nichts als Kleinmut,‘ sagt sie. ‚Durch denselben Kleinmut habe ich alle meine Kinderchen verloren. Ich will Euch nicht einmal vor meinen Augen sehen, – wie sollte ich da noch diese ewige Qual auf mich nehmen!‘
Maxim Iwanowitsch fuhr nach Haus, aber von seiner Werbung ließ er nicht ab. Die ganze Stadt geriet in Aufregung ob solchen Wunders. Maxim Iwanowitsch schickte nun Brautwerber zu ihr. Aus einem abgelegenen Bezirk des Gouvernements rief er brieflich zwei Tanten herbei, beide waren sie Kleinbürgerinnen. Ob es nun gerade Tanten waren oder nicht, immerhin waren sie mit ihm verwandt, und somit war’s immerhin eine Ehre: die fingen nun an, auf sie einzureden, sie zu umschmeicheln, und wichen gar nicht mehr von ihrer Seite. Er schickte aber auch andere aus der Stadt und aus der Kaufmannschaft hin, sogar die Frau des Oberpopen ging zu ihr, und auch Beamtenfrauen suchten sie auf. Die ganze Stadt redete auf sie ein, sie aber antwortet sogar mit Verachtung: ‚Wenn meine armen Kinder dadurch wieder lebendig würden, aber wozu soll ich das so? Und was für eine Schuld würde ich mir damit vor meinen Kindern aufladen!‘ Maxim Iwanowitsch aber wußte selbst den Archimandriten für sich zu gewinnen, auch der sprach dann ein Wort für ihn: ‚Du könntest,‘ sagt er, ‚einen neuen Menschen in ihm erwecken.‘ Da erschrak sie. Die Menschen aber wunderten sich und konnten sie nicht verstehen. ‚Wie ist das nur möglich, daß sie ein solches Glück zurückweist!‘ Endlich aber fand er etwas, womit er sie doch besiegte: ‚Er ist doch ein Selbstmörder,‘ sagte er, ‚er war nicht mehr ein Kind, und seinem Alter nach könnte man ihn nach dieser Sünde nicht mehr ohne weiteres zum Heiligen Abendmahl zulassen, denn ihn trifft doch schon die Verantwortung für seine Tat. Wenn du mich nun heiratest, so gelobe ich, einzig zum Gedächtnis seiner Seele eine neue Kirche zu erbauen.‘ Dem konnte sie nicht widerstehen, und da willigte sie denn ein. So wurden sie schließlich getraut.
Und es kam so, daß alle sich mächtig wunderten. Sie lebten vom ersten Tage an in großer und ungeheuchelter Eintracht und nahmen es mit ihren Ehepflichten sehr genau und waren wie eine Seele in zwei Leibern. Noch in demselben Winter wurde sie schwanger, und sie besuchten beide sehr viele Gotteshäuser, da sie den Zorn Gottes fürchteten. Drei Klöster suchten sie auf und beteten inbrünstig und hörten die Prophezeiungen. Er aber ließ getreu seinem Gelöbnis die Kirche erbauen und außerdem noch in der Stadt ein Kranken- und ein Armenhaus, und für Witwen und Waisen stiftete er eine große Summe Geldes. Und er entsann sich aller, die er einmal übervorteilt hatte, und machte es wieder gut. Geld gab er eine Unmenge aus, so daß schließlich seine Frau und selbst der Archimandrit ihn davon zurückhielten und sagten: ‚Nun hast du schon übergenug gegeben.‘ Da besann sich Maxim Iwanowitsch ein wenig. ‚Ich hab’ aber dem Foma,‘ sagt er, ‚zu wenig ausgezahlt.‘ Nun, Foma wurde gerufen, und es wurde ihm sofort alles ausgezahlt. Dem Foma aber kommen darüber die Tränen. ‚Ich,‘ sagt er, ‚ich war’s ja auch so zufrieden ... Ich bin schon ohnedem Dank schuldig und werde ewig für Euch zu Gott beten.‘ So waren denn alle, wie man sieht, ganz ergriffen dadurch, und es zeigte sich, daß man die Wahrheit spricht, wenn man sagt: Durch gutes Beispiel lebt der Mensch. Und die Menschen sind dort ein gutherziges Volk.
Die Fabrik begann nun die Frau selber zu leiten, und auf eine Weise, daß man noch heute davon spricht. Zu trinken hörte er wohl nicht auf, aber die Frau ließ ihn dann nicht aus den Augen, und allmählich versuchte sie, ihn davon abzubringen. Seine Rede wurde ehrbar und sogar seine Stimme veränderte sich. Mit allen hatte er jetzt Mitleid, sogar mit Tieren: einmal sah er aus dem Fenster, wie ein Bauer sein Pferd ganz unmenschlich schlug, und sofort schickte er hinaus und kaufte von ihm das Pferd für den doppelten Preis. Und ihm ward auch die Gabe der Tränen zuteil: sein Herz war leicht zu erweichen und er war schnell gerührt. Und als ihre Zeit kam, da erhörte der Herr ihre Gebete und schenkte ihnen einen Sohn; da wurde Maxim Iwanowitsch zum erstenmal seit jener Zeit wieder heiter; er verteilte viel Geld unter die Armen, erließ viele Schulden und lud fast die ganze Stadt zur Taufe ein. Und die ganze Stadt feierte denn auch die Taufe mit, aber am folgenden Morgen kam er aus seinem Zimmer, finster wie die Nacht. Die Frau sah ihm an, daß etwas mit ihm geschehen war, und somit brachte sie den Neugeborenen zu ihm. ‚Sieh,‘ sagt sie, ‚der Knabe hat uns verziehen, er hat unsere Tränen und Gebete um ihn gehört.‘ Sie hatten das ganze Jahr kein Wort davon gesprochen, sondern beide nur im stillen daran gedacht. Maxim Iwanowitsch aber sah sie düster an. ‚Warte,‘ sagt er, ‚das ganze Jahr ist er nicht gekommen, heut nacht aber ist er mir wieder im Traum erschienen.‘ – ‚Da drang das Entsetzen zum erstenmal auch in mein Herz, nach diesen schrecklichen Worten,‘ hat sie dann später erzählt. Und nicht grundlos war ihr Entsetzen gewesen. Kaum hatte Maxim Iwanowitsch dies ausgesprochen, da geschah etwas mit dem Neugeborenen: er erkrankte plötzlich. Acht Tage lang war das Kindchen krank; man betete unermüdlich und rief alle Ärzte herbei, auch aus Moskau kam ein sehr berühmter Arzt, den sie gerufen hatten, mit der Eisenbahn angefahren. Er besah sich das Kindchen und wurde böse: ‚Ich,‘ sagt er, ‚bin der allererste Arzt, ganz Moskau wartet auf mich.‘ Er verschrieb dann irgendwelche Tropfen und fuhr eilig wieder zurück. Achthundert Rubel nahm er mit. Das Kindchen aber starb noch am selben Abend.
Und was geschah danach? Maxim Iwanowitsch verschrieb seinen ganzen Besitz seiner lieben Frau, übergab ihr sein ganzes Vermögen und alle Papiere, ließ auch alles gesetzlich bestätigen; und dann trat er vor sie hin, verneigte sich vor ihr bis zur Erde und sagte: ‚Gib mich frei, meine unschätzbare Gattin, laß mich meine Seele erretten, solange es noch möglich ist. Und wenn ich auch vergeblich um den Frieden meiner Seele ringen sollte, zurückkehren werde ich doch nicht mehr. Wohl bin ich hart und grausam gewesen und habe manchen Menschen schwer heimgesucht, aber ich glaube dennoch, daß um des Leides und der Pilgerschaft willen Gott der Herr mir manches erlassen wird, denn es ist kein kleines Kreuz und kein geringes Leid, alles zu verlassen, woran das Herz hängt.‘ Seine Frau aber bat ihn und flehte mit vielen Tränen: ‚Du bist der einzige, den ich jetzt auf Erden noch habe, wo bleibe ich, wenn du mich verläßt? Ich habe,‘ sagt sie, ‚in diesem Jahr viel Liebe für dich in meinem Herzen gefunden!‘ Und die ganze Stadt redete ihm einen Monat lang zu und bat ihn im guten und wollte ihn schließlich mit Gewalt zurückhalten. Er aber hörte nicht darauf, und in einer Nacht ging er heimlich davon und kehrte nicht mehr zurück. Wie man hört, kämpft er noch heute auf Pilgerfahrten und in Geduld. Seiner lieben Frau aber schickt er in jedem Jahr einmal Kunde von sich ...“