I.

Ich lief zu Lambert. Oh, wie sehr ich auch wünschte, meinen Handlungen an diesem Abend und in dieser Nacht ein logisches Aussehen zu geben und auch nur den geringsten vernünftigen Sinn in ihnen zu entdecken, so bin ich doch selbst heute noch außerstande, obgleich ich jetzt alles überschauen kann, sie in einem klaren und richtigen Zusammenhang zu schildern. Es war da ein Gefühl, oder richtiger, ein ganzes Chaos von Gefühlen, in dem ein Sich-Verirren unvermeidlich blieb. Freilich gab es unter diesen Gefühlen eines, das vorherrschte, eines, das mich unsäglich bedrückte und alle anderen Gefühle gleichsam tyrannisierte, doch ... soll ich es bekennen? Zumal ich noch nicht einmal ganz sicher bin ...

Als ich zu Lambert ins Zimmer stürzte, war ich selbstverständlich außer mir. Ich jagte sogar ihm und Alphonsinka einen Schrecken ein. Es ist mir übrigens immer aufgefallen, daß selbst die liederlichsten und verkommensten Franzosen den Hang haben, in ihrer häuslichen Lebensführung an einer gewissen Art von bourgeoiser Ordnung zäh und kleinlich festzuhalten, – an einer Ordnung, die überaus prosaisch, alltäglich, zeremoniell und ein für allemal anerkannt ist. Aber Lambert begriff doch sehr bald, daß etwas geschehen war, und freute sich riesig, daß er mich endlich bei sich, das heißt, endlich in der Falle hatte. Das war ja sein Traum, sein sehnlichster Wunsch in allen diesen Tagen gewesen, denn ohne mich konnte er ja doch nichts machen! Und siehe da: nachdem er seine ganze Hoffnung fast schon aufgegeben hatte – erschien ich plötzlich bei ihm, ich selbst, und dazu noch in einer Verfassung, in der er mich gerade brauchte.

„Lambert, gib Wein her!“ rief ich: „Trinken wir, laß uns fröhlich sein! Alphonsina, wo ist Ihre Gitarre?“

Die Szene, die hierauf folgte, will ich nicht weiter beschreiben – sie ist nebensächlich. Er hörte mir gespannt zu. Ich machte ihm offen und als Erster den Vorschlag zu einer Verschwörung.

„Vor allen Dingen müssen wir Katerina Nikolajewna durch einen Brief zwingen, zu uns zu kommen ...“

„Das kann man,“ stimmte mir Lambert zu, der auf jedes meiner Worte achtete.

„Zweitens müssen wir ihr zur Sicherheit mit diesem Brief eine Abschrift des ‚Dokuments‘ schicken, damit sie sich selbst davon überzeugen kann, daß man sie nicht betrügen will.“

„Ja, das muß man, das muß man!“ pflichtete Lambert mir sogleich eifrig bei, während er mit Alphonsina ununterbrochen Blicke wechselte.

„Und drittens mußt du, Lambert, sie von dir aus herbitten, angeblich im Auftrage eines Unbekannten, der gerade aus Moskau angekommen sei; ich hätte dann die Aufgabe, Werssiloff mitzubringen.“

„Ja, auch Werssiloff könnte noch dabei sein,“ bestätigte Lambert wieder.

„Nicht könnte, sondern er muß, und zwar unbedingt!“ rief ich. „Um seinetwillen soll doch das Ganze überhaupt gemacht werden!“ erklärte ich und trank Schluck auf Schluck aus meinem Glase. (Wir tranken alle drei, aber ich glaube, ich trank die ganze Flasche Champagner allein aus: sie aber taten nur so, als tränken sie gleichfalls.) „Werssiloff und ich werden im Nebenzimmer sitzen (Lambert, wir müssen uns noch ein Nebenzimmer verschaffen!), und wenn sie dann auf alles eingegangen ist – auf den Kaufpreis in Geld und auch auf den anderen Kaufpreis, denn die Weiber sind doch alle ehrlos – dann erscheine ich mit Werssiloff, und wir überführen sie ihrer Schändlichkeit. Und dann wird Werssiloff, wenn er selbst gesehen hat, wie gemein sie ist, mit einem Schlage von seinem Wahn geheilt sein und sie hinauswerfen! Und Bjoring muß auch noch dabei sein, damit auch er es sieht!“ fügte ich außer mir hinzu.

„Nein, Bjoring ist überflüssig,“ bemerkte Lambert.

„Nein, der muß auch unbedingt, unbedingt dabei sein!“ ereiferte ich mich wieder.

„Du begreifst ja nichts, Lambert, weil du dumm bist! Versteh doch, es soll ja gerade zu einem Skandal in diesen ihren höheren Kreisen kommen – damit rächen wir uns an diesen Kreisen und an ihr, sie soll nur ihre Strafe empfangen! Lambert, sie wird dir einen Wechsel geben ... Ich brauche das Geld nicht – ich spucke aufs Geld, du aber kannst dich bücken und es aufheben, wenn du magst, und mit meinem Speichel in die Tasche stecken, ich aber, ich – vernichte sie dafür!“

„Ja, ja,“ hetzte Lambert, „das mußt du tun ...“ Er wechselte wieder einen Blick mit Alphonsinka.

„Weißt du, Lambert, sie verehrt Werssiloff ungeheuer: ich habe mich soeben davon überzeugt,“ lallte ich schon mit schwerer Zunge.

„Das ist gut, daß du sie belauscht hast! Ich hätte niemals gedacht, daß du ein so guter Spion sein könntest und überhaupt so gescheit bist!“ Er wollte mir damit eine Schmeichelei sagen.

„Du lügst, Franzos, ich bin kein Spion, aber gescheit bin ich allerdings! Und weißt du, Lambert, sie liebt ihn ja doch!“ fuhr ich fort, nur von dem Verlangen getrieben, mich auszusprechen: „Aber heiraten wird sie ihn nicht, denn Bjoring ist Gardeoffizier, und Werssiloff ist – nur ein großmütiger Mensch und ein Menschheitsfreund, und so einer ist nach den Anschauungen ihres Kreises nur eine lächerliche Figur und nichts weiter! Oh, sie begreift seine Leidenschaft und genießt sie, sie kokettiert mit ihm und lockt ihn an, aber sie heiratet ihn nicht! Sie ist ein Weib, eine Schlange! Jedes Weib ist Schlange und jede Schlange Weib! Ihn aber muß man davon heilen; man muß ihm die Binde von den Augen reißen: er soll erkennen, wie sie ist, dann wird er gesund werden. Ich bringe ihn zu dir, Lambert!“

„Ja, das mußt du,“ stimmte mir Lambert eifrig bei, und goß mir schon wieder das Glas voll.

Er hatte ja nur eine Angst: daß er mich durch Widerspruch erzürnen, und daß ich zu trinken aufhören könnte. Das machte ihn so ungeschickt und unschlau, daß es mir damals schon auffiel. Und doch hätte ich um keinen Preis fortgehen können: ich trank und sprach ununterbrochen, denn ich stand ganz unter dem unbezwingbaren Verlangen, mich vollends auszusprechen. Als Lambert nach einer neuen Flasche ging, spielte Alphonsinka auf der Gitarre irgendein spanisches Lied. Ich hätte beinah zu weinen angefangen.

„Lambert, du weißt ja noch nicht alles!“ rief ich mit tiefem Gefühl. „Diesen Menschen muß man unbedingt retten, weil er jetzt ... in einem Zauberbann ist. Wenn sie ihn heiratete, würde er sie am Morgen nach der ersten Nacht mit der Peitsche hinausjagen ... das kommt doch vor. Denn so eine gewaltsame und wilde Liebe ist wie ein Anfall, wie eine Schlinge um den Hals, wie eine Krankheit, doch kaum hat sie ihre Befriedigung erreicht, da fällt einem die Binde von den Augen, und es stellt sich gleich das entgegengesetzte Gefühl ein: Ekel und Haß, der Wunsch zu vernichten, zu zertreten. Kennst du die Geschichte von Abisag[16], Lambert, hast du sie gelesen?“

„Nein, ich ... erinnere mich nicht; ist’s ein Roman?“ stotterte Lambert unsicher.

„Ach, du weißt aber auch gar nichts, Lambert! Du bist unglaublich, unglaublich unwissend ... aber ich mach mir nichts draus. Mir ist alles gleich. Ich weiß, er liebt Mama; er hat ihr Bild geküßt; er würde jene am anderen Morgen hinausjagen und zu Mama gehen; aber dann wäre es zu spät, und deshalb muß man ihn jetzt retten ...“

Zum Schluß fing ich bitterlich zu weinen an, redete aber immer weiter und trank furchtbar viel. Von Lambert war es sehr schlau, daß er kein einziges Mal nach dem „Dokument“ fragte und wo es sei, und daß ich nun auch mit dem Dokument herausrücken, es ihm auf den Tisch legen solle. Was wäre natürlicher gewesen, als danach zu fragen, zumal wir doch schon beschlossen hatten, gemeinschaftlich zu handeln? Doch wir sprachen nur davon, daß es nötig sei, „das“ zu tun, aber wo „das“ geschehen sollte, wann und wie –, davon sprachen wir auch kein Wort! Er stimmte mir in allem fast widerspruchslos zu und wechselte dabei heimlich Blicke mit Alphonsinka – das war alles, was er zu tun wagte! Damals konnte ich darüber freilich nicht nachdenken, aber ich sah es doch und habe es behalten.

Die Szene endete damit, daß ich bei ihm auf dem Diwan, wie ich da saß, einschlief. Natürlich in den Kleidern. Ich schlief sehr lange und erwachte sehr spät. Ich weiß noch, daß ich, als ich erwachte, eine Zeitlang wie betäubt auf dem Diwan liegen blieb und mir Mühe gab, mich dessen zu erinnern, was am Abend eigentlich geschehen war; dabei tat ich, als ob ich immer noch schlief. Ich bemerkte bald, daß Lambert nicht mehr im Zimmer war: er mußte ausgegangen sein. Es war schon zehn Uhr morgens; im Ofen prasselte das Feuer, ganz wie damals, nach jener Nacht, als ich das erstemal von Lambert in dieses Zimmer gebracht worden war. Hinter dem Schirm aber bewachte mich Alphonsinka: das bemerkte ich sogleich, weil sie zweimal hinter ihm hervorlugte und mich musterte, aber ich schloß jedesmal schnell die Augen und stellte mich schlafend. Ich tat es einerseits, weil ich noch ganz wie zerschlagen war, und andererseits, weil ich mir meine Lage erst einmal überlegen wollte. Mit Entsetzen erkannte ich die ganze Schändlichkeit und Sinnlosigkeit meiner nächtlichen Beichte vor Lambert und meiner Verschwörung mit ihm; erkannte vor allem die Tragweite meines Fehlers, daß ich ihn überhaupt aufgesucht hatte! Aber zum Glück war das Dokument ja noch immer bei mir, war ja noch immer in meiner Seitentasche eingenäht; ich fühlte unwillkürlich mit der Hand danach – Gott sei Dank, es war da! Also brauchte ich jetzt nur aufzustehen und davonzulaufen; mich höchstens vor Lambert noch zu schämen – aber das war er ja gar nicht wert!

Doch ich schämte mich vor mir selbst! Ich war mein eigener Richter, und – o Gott, was ging in meiner Seele vor! Ich möchte diese höllische, unerträgliche Pein, dieses Gefühl und Bewußtsein der eigenen Schmutzigkeit und Gemeinheit nicht beschreiben! Doch ich muß. Ich muß auch das aussprechen, weil, wie mir scheint, die Zeit dazu gekommen ist, und in meinen Aufzeichnungen nichts verschwiegen werden soll. So mag man denn wissen, daß ich sie nicht etwa darum in den Schmutz ziehen und beinahe Zeuge dessen sein wollte, wie sie Lambert den Kaufpreis zahlen würde (oh, Niedrigkeit!) – nicht darum, um den wahnsinnigen Werssiloff zu retten und ihn Mama zurückzugeben, sondern darum ... weil ich selbst in sie verliebt und eifersüchtig war! Eifersüchtig auf wen: auf Bjoring, auf Werssiloff? Oder auf alle, die sie auf den Bällen sehen, und mit denen sie sprechen könnte, während ich in der Ecke stand und mich meiner selbst schämte? ... Oh, welch eine Erbärmlichkeit!

Kurz, ich weiß nicht, auf wen ich eifersüchtig war; aber ich fühlte und hatte mich an jenem Abend so sicher überzeugt – wie ich sicher bin, daß zweimal zwei vier ist – hatte mich überzeugt, daß ich sie verloren, daß diese Frau mich von sich stoßen und verlachen werde wegen meines Betruges und meiner Schändlichkeit! Sie war ehrlich und aufrichtig, ich aber – ich war ein Spion mit unterschlagenen Dokumenten!

Das alles habe ich seitdem in meinem Herzen geheimgehalten, aber jetzt ist die Zeit gekommen, und – ich ziehe die Summe. Doch wiederum und zum letztenmal sei es gesagt: ich habe mich vielleicht um die Hälfte oder sogar um fünfundsiebzig Prozent schlechter dargestellt, als ich war! In jener Nacht haßte ich sie wie ein Mensch, der außer sich ist, und dann wie ein tobender Betrunkener. Ich habe schon gesagt, daß es ein Chaos von Gefühlen war, in denen ich mich selbst nicht zurecht fand. Aber gleichviel, ausgesprochen mußten sie werden, weil doch ein Teil dieser Gefühle immerhin tatsächlich vorhanden war.

Mit unüberwindlichem Widerwillen und mit leidenschaftlichem Entschluß alles wieder gutzumachen, sprang ich plötzlich vom Diwan auf; aber kaum war ich aufgesprungen, da schoß auch schon Alphonsinka hinter dem Schirm hervor. Während ich nach meinem Pelz und meiner Mütze griff, beauftragte ich sie, Lambert zu sagen, alles, was ich gestern hier phantasiert und zu meinem eigenen Bedauern von einer Dame Häßliches geredet hatte – sei nur ein Scherz von mir gewesen – ferner: daß Lambert nicht wagen solle, jemals noch zu mir zu kommen ... Alles das brachte ich überstürzt hervor, auf Französisch, und wahrscheinlich recht unklar. Aber zu meiner Verwunderung verstand Alphonsinka alles ausgezeichnet; und was am sonderbarsten war – sie schien sich sogar darüber zu freuen.

„Oui, oui,“ griff sie das Gesagte auf und nickte dazu, „c’est une honte! Une dame ... Oh, vous êtes généreux, vous! Soyez tranquille, je ferai voir raison à Lambert[110] ...“

Ich blieb einen Augenblick in Zweifeln stehen, als ich diesen so unerwarteten Umschwung in ihren Gefühlen gewahrte, und danach auf einen solchen etwa auch bei Lambert schließen mußte. Ich sagte aber nichts und ging schweigend hinaus; in meinem Innern war alles trübe, und ich konnte nur mit Mühe denken. Nachher habe ich auch dieses Verhalten begriffen, aber dann war es schon zu spät! Oh, was war das für ein teuflisches Ränkespiel! Ich will hier die ganze Geschichte im voraus erklären, denn sonst könnte der Leser das Weitere unmöglich verstehen.

Schon bei meiner ersten Begegnung mit Lambert – damals, als ich in seiner Wohnung allmählich „aufgetaut“ war – hatte ich ihm wie ein rechter Dummkopf anvertraut, daß ich das Dokument eingenäht in der Brusttasche trug. Und als ich darauf auf dem Diwan für kurze Zeit eingeschlafen war, hatte Lambert sofort die Gelegenheit benutzt, die Tasche zu befühlen und sich davon zu überzeugen, daß tatsächlich ein Papier in ihr eingenäht war. Auch später hatte er sich einigemal davon überzeugen können, daß ich das Papier immer noch bei mir trug; so hatte er mich auch während unseres Gesprächs nach dem Mittagessen im Tatarischen Restaurant, als wir bei Miljutin Champagner tranken, ein paarmal um die Schultern gefaßt. Und als ihm endlich die ganze Wichtigkeit dieses Dokumentes aufgegangen war, da war in ihm ein Plan gereift, den ich ihm nie und nimmer zugetraut hätte. Wie ein rechter Dummkopf hatte ich mir die ganze Zeit eingebildet, er rufe mich nur zu dem Zweck zu sich in die Wohnung, um mich ungestört überreden zu können, mit ihm zusammen die Sache zu machen. Aber, o weh! – er hatte es in einer ganz anderen Absicht getan. Er hatte mich zu sich locken wollen, um mich bis zur Besinnungslosigkeit betrunken zu machen, und, wenn ich dann bewußtlos dalag – mir das Dokument aus der Tasche herauszutrennen. Und das hatten sie, er und Alphonsinka, in dieser Nacht denn auch getan. Alphonsinka trennte die Tasche auf, und nachdem sie den Brief, ihren Brief, mein Moskauer Dokument, glücklich hatten, nahmen sie einen einfachen Bogen Postpapier von derselben Größe, legten ihn an seine Stelle und nähten die Tasche wieder zu, als wäre nichts geschehen, so daß ich auch nichts von der Auswechselung bemerken konnte. Alphonsinka war es, die die Tasche wieder zunähte. Und so ging ich denn, ging ich bis zum Schluß, also noch ganze anderthalb Tage, in dem Glauben umher, ich, ich wäre der Besitzer des Dokuments, und Katerina Nikolajewnas Schicksal sei immer noch in meiner Hand!

Noch ein letztes Wort: dieser Diebstahl des Dokuments war die Ursache des ganzen Unglücks, das nun folgte.

Share on Twitter Share on Facebook