Ich stehe vor den letzten vierundzwanzig Stunden der Ereignisse, von denen meine Aufzeichnungen handeln, also vor dem Ende des Endes.
Es war, glaube ich, gegen halb elf, als ich angeregt und doch, wie ich mich erinnere, seltsam zerstreut, aber mit einem endgültigen Entschluß im Herzen, in meine Wohnung gelangte. Ich hatte es nicht eilig, ich wußte schon, wie ich handeln würde. Und plötzlich, ich war kaum in unser Vorzimmer getreten, begriff ich sofort, daß ein neues Unglück hereingebrochen und die Sache noch unvergleichlich verwickelter geworden war: der alte Fürst, den sie soeben aus Zarskoje Sselo nach Petersburg gebracht hatten, befand sich in unserer Wohnung, und Anna Andrejewna war bei ihm!
Sie hatten ihn nicht bei mir untergebracht, sondern in zwei Zimmern der Wohnung meiner Wirtsleute, die unmittelbar an mein Zimmer stießen. Es waren dort schon am Tage vorher, wie ich später sah, gewisse Veränderungen und Verschönerungen vorgenommen worden, übrigens nur ganz unwichtige. Mein Wirt war mit seiner Frau in das kleine Zimmer seines rechthaberischen pockennarbigen Mieters, von dem schon einmal die Rede gewesen ist, übergesiedelt, dieser aber war für die Zeit anderweitig untergebracht worden – wo, weiß ich leider nicht.
Mein Wirt empfing mich und schlüpfte gleich hinter mir in mein Zimmer. Er sah nicht so selbstsicher drein wie tags zuvor auf der Treppe, war aber in einem sozusagen sehr belebten Zustande und ganz auf der Höhe der Umstände. Ich sagte kein Wort zu ihm, trat aber, die Stirn in die Hände gepreßt, in die Ecke und stand so vielleicht eine Minute. Er dachte zunächst, ich „stellte mich nur so an“, dann aber wurde er doch etwas ungeduldig, und schließlich erschrak er.
„Ist Ihnen etwas nicht recht?“ fragte er ungewiß. Als er sah, daß ich nicht Miene machte, zu antworten, begann er: „Ich hab’ nämlich auf Sie gewartet, um Sie zuvor zu fragen, ob Sie nicht wünschen, daß diese Tür hier aufgemacht werde, damit Sie mit den fürstlichen Gemächern verbunden sind ... und nicht über den Korridor zu gehen brauchen?“ Er deutete auf die verschlossene Seitentür, die zu den Zimmern führte, in denen er sonst wohnte, und die jetzt der Fürst einnahm.
„Also hören Sie, Pjotr Ippolitowitsch,“ wandte ich mich mit strenger Miene an ihn, „ich bitte Sie, so freundlich zu sein, zu Anna Andrejewna zu gehen und ihr zu sagen, daß ich sie zu einer sofortigen Unterredung zu mir bäte. Sind sie schon lange hier?“
„Ja, wohl schon eine ganze Stunde.“
„Also gehen Sie.“
Er ging und brachte mir die sonderbare Antwort, daß Anna Andrejewna und der Fürst Nikolai Iwanowitsch mich mit Ungeduld erwarteten. Das bedeutete, daß Anna Andrejewna nicht zu mir kommen wollte. Ich brachte meine Kleider in Ordnung, bürstete meinen Rock, in dem ich in der Nacht geschlafen hatte, wusch mich, kämmte mich, tat aber alles ohne Hast, und ging endlich mit dem Bewußtsein, daß ich die größte Vorsicht beobachten mußte, zu dem alten Herrn.
Der Fürst saß auf dem Sofa hinter dem runden Tisch, und Anna Andrejewna stand am anderen Ende des Zimmers an einem zweiten mit einem sauberen Tischtuch bedeckten Tisch, auf dem die so blank wie noch nie geputzte Teemaschine der Wirtsleute stand, und bereitete für ihn den Tee. Ich trat mit demselben strengen Gesicht ins Zimmer; der alte Fürst, der das sofort bemerkte, fuhr nur so zusammen, und das Lächeln in seinem Gesicht verwandelte sich im Nu in einen Ausdruck des Schrecks: aber da konnte ich meinem Vorsatz nicht treu bleiben und streckte ihm lachend beide Hände entgegen. Der arme Fürst stürzte sich wie erlöst in meine Arme.
Natürlich begriff ich sofort, was für einen Menschen ich vor mir hatte. Erstens wurde es mir sonnenklar, daß man aus jenem alten Herrn, der sogar noch ganz rüstig und immerhin noch ganz bei Vernunft gewesen war, und der doch immer noch einen gewissen, gleichviel was für welchen, aber jedenfalls noch einen gewissen Charakter besessen hatte, inzwischen, d. h. in der Zeit, solange ich mit ihm nicht mehr zusammengekommen war, so etwas wie eine Mumie oder ein ängstliches, mißtrauisches Kind gemacht hatte. Ich füge hinzu: er wußte ganz genau, zu welchem Zweck er hierher gebracht worden war, es war alles genau so geschehen, wie ich vorgreifend schon erzählt habe. Man hatte ihn plötzlich, ohne jede Vorbereitung, mit der angeblichen Tatsache des Verrats seiner Tochter und ihrer Absicht, ihn in eine Irrenanstalt zu bringen, überrascht, erschreckt, niedergeschmettert und um jede Überlegung gebracht. Er hatte sich dann entführen lassen, vor Angst kaum dessen sich bewußt, was er tat. Man hatte ihm gesagt, der Besitzer der Beweise sei – ich, ich hätte den Schlüssel zur endgültigen Entscheidung in der Hand. Es sei hier gleich bemerkt, daß gerade diese „endgültige Entscheidung“ und der „Schlüssel“ ihn am meisten erschreckt hatten. Deshalb hatte er denn auch nichts anderes erwartet, als daß ich mit einem Urteilsspruch auf der Stirn und einem großen Schriftstück in der Hand bei ihm eintreten werde, und um so größer war natürlich seine Freude, als er sah, daß ich vorläufig noch wie früher harmlos lachen und von allen möglichen anderen Dingen plaudern konnte. Als wir uns umarmten, rollten ihm die hellen Tränen über die Wangen. Ich muß gestehen, auch mir wurden die Augen feucht: er tat mir auf einmal so leid ... Alphonsinkas kleines Hündchen kläffte mich vom Sofa her mit dünnem Stimmchen ganz außer sich an, wagte aber trotz aller Aufregung doch nicht, vom Sofa herabzuspringen. Von diesem winzigen Hündchen trennte sich der Fürst überhaupt nicht mehr, nachdem er es gekauft hatte; es schlief sogar bei ihm.
„Oh, je disais qu’il a du cœur!“[111] wandte er sich zu Anna Andrejewna und wies dabei auf mich.
„Wie Sie sich erholt haben, Fürst, wie frisch und gesund Sie aussehen!“ sagte ich. Aber ach! – genau das Gegenteil war der Fall: er sah, wie gesagt, eher nach einer Mumie aus. Ich sagte ihm das nur so, um ihm etwas Angenehmes zu sagen.
„N’est-ce pas, n’est-ce pas?“[112] griff er freudig meine Bemerkung auf. „Oh, meine Gesundheit hat sich erstaunlich gebessert.“
„Lassen Sie sich bitte nicht stören, trinken Sie nur Ihren Tee, und wenn ich auch eine Tasse bekommen könnte, so würde ich Ihnen Gesellschaft leisten.“
„Vorzüglich! ‚Lasset uns trinken und fröhlich sein ...‘ oder wie die Verse da heißen. Anna Andrejewna, geben Sie ihm auch welchen; il prend toujours par les sentiments[113] ... geben Sie uns beiden Tee, meine Liebe!“
Anna Andrejewna reichte uns den Tee, plötzlich aber wandte sie sich zu mir und begann mit außerordentlicher Feierlichkeit:
„Arkadi Makarowitsch, wir beide, ich und mein Wohltäter, Fürst Nikolai Iwanowitsch, haben unsere Zuflucht zu Ihnen genommen. Ich will damit nur gesagt haben, daß wir zu Ihnen gekommen sind, zu Ihnen allein, und daß wir beide Sie um Ihre Hilfe bitten. Vergessen Sie nicht, daß das Schicksal dieses heiligen, dieses edlen und von aller Welt verratenen Mannes in Ihren Händen liegt ... Von Ihrem ehrlichen Herzen erwarten wir die Entscheidung! ...“
Aber sie konnte nicht zu Ende sprechen; der Fürst erschrak dermaßen, daß er am ganzen Leibe zitterte:
„Après, après, n’est-ce pas? Chère amie!“[114] unterbrach er sie mit flehend erhobenen Händen.
Ich kann gar nicht sagen, wie unangenehm ihre Herausforderung auch auf mich wirkte. Ich antwortete ihr nichts darauf und begnügte mich mit einer kalten und gemessenen Verbeugung; ich setzte mich an den Tisch und begann sofort absichtlich von etwas anderem zu sprechen, von irgendwelchen Dummheiten; ich lachte und machte Witze ... Der Alte war mir augenscheinlich sehr dankbar dafür und geriet alsbald in eine gehobene Stimmung. Aber seine Heiterkeit schien doch, obgleich er sich ihr mit ganzem Herzen hingab, gewissermaßen unsicher zu sein, und es war zu befürchten, daß sie plötzlich einer vollkommenen Niedergeschlagenheit weichen werde; das sah man auf den ersten Blick.
„Cher enfant, ich habe gehört, du wärest krank gewesen ... Ach, pardon! Das war ja ein anderer. Aber von dir habe ich gehört, du beschäftigtest dich mit Spiritismus?“
„Nicht gedacht habe ich daran!“ lächelte ich.
„Nicht? Aber wer hat mir denn vom Spiritismus gesprochen?“
„Das war vorhin unser Beamter, Pjotr Ippolitowitsch,“ erklärte ihm Anna Andrejewna, „er ist ein sehr lustiger Mensch und kennt eine Menge Anekdoten; soll ich ihn rufen?“
„Oui, oui, il est charmant[115] ... er kennt eine Menge Anekdoten ... aber rufen wir ihn lieber nicht. Wir können ihn später rufen, und er wird uns alles erzählen, mais après.[116] Stell dir vor, hier wird vorhin der Tisch gedeckt, er aber sagt plötzlich: ‚Seien Sie unbesorgt, er fliegt nicht weg, wir sind keine Spiritisten!‘ Sag doch, cher enfant, fliegen denn bei den Spiritisten wirklich die Tische in die Luft?“
„Das weiß ich nicht; man sagt allerdings, sie erhöben sich mit allen vier Füßen in die Luft.“
„Mais c’est terrible ce que tu dis,“[117] sagte er und sah mich erschrocken an.
„Oh, beunruhigen Sie sich nicht, das ist ja alles Unsinn.“
„Das hab’ ich ja auch gesagt. Nastassja Stepanowna Ssolomejeff ... du kennst sie ja ... ach nein, du kennst sie nicht ... stelle dir vor, sie glaubt auch an den Spiritismus, und stellen Sie sich vor, chère enfant,“[118] wandte er sich an Anna Andrejewna, „ich habe zu ihr gesagt: in den Ministerien stehen doch auch Tische, und auf ihnen liegen doch je acht Paar Beamtenhände, die ewig Papier beschreiben – warum tanzen denn da nicht die Tische? Stell dir doch nur vor, wie das wäre, wenn sie plötzlich zu tanzen anfingen! Eine Revolte der Tische im Ministerium der Finanzen oder der Volksaufklärung – das fehlte uns noch!“
„Was für nette Sachen Sie sagen, Fürst, ganz wie früher,“ rief ich und gab mir Mühe, recht herzlich zu lachen.
„N’est-ce pas? Je ne parle pas trop, mais je dis bien.“[119]
„Ich werde Pjotr Ippolitowitsch herbitten,“ sagte Anna Andrejewna und erhob sich.
Aus ihrem Gesicht sprach die größte Zufriedenheit: meine Liebenswürdigkeit dem Alten gegenüber freute sie. Aber kaum war sie hinausgegangen, als das Gesicht des Fürsten sich sofort veränderte. Er blickte nach der Tür und nach allen Seiten, beugte sich auf dem Sofa zu mir vor und flüsterte mit angstvoller Stimme:
„Cher ami! Oh, wenn ich sie doch beide hier zusammen sehen könnte! Oh, cher enfant!“
„Beruhigen Sie sich, Fürst ...“
„Ja, ja, aber ... wir werden sie versöhnen, n’est-ce pas?[112] Ein so leerer und kleinlicher Streit zwischen zwei so wertvollen Frauen, n’est-ce pas? Du bist meine letzte Hoffnung ... Wir werden alles in Ordnung bringen ... Aber was ist das hier für eine sonderbare Wohnung,“ sagte er plötzlich und blickte ängstlich um sich, „und weißt du, dieser Wirt ... er hat so ein Gesicht ... Sag’ doch: ist er nicht gefährlich?“
„Der Wirt? O nein, inwiefern könnte er denn gefährlich sein?“
„C’est ça. Um so besser. Il semble qu’il est bête, ce gentilhomme. Cher enfant,[120] sag’ es um Gottes willen nicht Anna Andrejewna, daß ich mich hier vor allem fürchte! Ich habe nämlich hier alles sehr schön gefunden, vom ersten Schritt an, auch den Wirt habe ich gelobt ... Höre, du kennst doch die Geschichte von dem kürzlich ermordeten von Sohn – erinnerst du dich?“
„Was ist denn damit?“
„Rien, rien du tout ... Mais je suis libre ici, n’est-ce pas?[121] Was meinst du, hier kann mir doch nichts geschehen ... etwas von der Art?“
„Aber ich versichere Sie, mein Lieber ... wie können Sie so etwas nur denken!“
„Mon ami! Mon enfant!“ rief er plötzlich und rang die Hände, ohne seine Angst noch zu verbergen. „Wenn du wirklich im Besitz von irgendwelchen Dokumenten bist ... wenn du mir wirklich etwas zu sagen haben solltest, so sag’ es lieber nicht: sag’ mir um Gottes willen nichts davon ... schweig’, so lange du noch irgend kannst ...“
Er wollte sich erheben und mich umarmen, Tränen rollten über sein Gesicht; ich kann gar nicht beschreiben, wie mein Herz sich zusammenkrampfte: der arme Alte war wie ein schwaches, bedauernswertes, erschrockenes Kind, das Zigeuner aus dem Elternhause gestohlen und zu fremden Leuten entführt hatten. Doch zu unserer Umarmung kam es nicht: die Tür öffnete sich, und Anna Andrejewna erschien, aber nicht mit dem Wirt, sondern mit ihrem Bruder, dem Kammerjunker. Diese Überraschung betäubte mich förmlich; ich erhob mich und ging zur Tür.
„Arkadi Makarowitsch, erlauben Sie, daß ich Sie bekannt mache ...,“ sagte Anna Andrejewna mit lauter Stimme, so daß ich gezwungen war, stehen zu bleiben.
„Ich kenne Ihren Bruder nur zu gut,“ sagte ich, indem ich jedes Wort langsam aussprach und mit besonderer Betonung der Worte „nur zu gut“.
„Ach, es handelte sich damals um einen unverzeihlichen Irrtum! Und ich be–dau–ere ihn so sehr, lieber Andr... Andrei Makarowitsch,“ begann der junge Mensch, kam mit ganz außerordentlich liebenswürdigem Ausdruck auf mich zu und ergriff meine Hand, die ich ihm leider nicht mehr entziehen konnte – „an allem war nur mein Stepan schuld: er hatte Sie mir damals so dumm gemeldet, daß ich Sie für einen anderen hielt, – das war in Moskau,“ erklärte er seiner Schwester. „Nachher wollte ich Sie unbedingt aufsuchen und Ihnen das Mißverständnis erklären, aber da erkrankte ich. Bitte, fragen Sie doch meine Schwester, ob es wahr ist. Cher prince, nous devons être amis même par droit de naissance[122] ...“
Und der unverschämte junge Mann wagte es sogar, den Arm um meine Schultern zu legen, was denn doch der Gipfel dieser frechen Familiarität war. Ich trat zur Seite und zog es vor, da ich mich verwirrt fühlte, ohne ein Wort der Erwiderung hinauszugehen. In meinem Zimmer setzte ich mich erregt und in Gedanken auf mein Bett. Die Intrige würgte mich geradezu, aber es war mir trotzdem unmöglich, Anna Andrejewna nun einfach fallen zu lassen. Ich fühlte plötzlich, daß auch sie mir teuer war, und daß sie sich in einer schrecklichen Lage befand.