IV.

Ich will mich möglichst kurz fassen. Mein Entschluß war unerschütterlich, und ich machte mich sogleich auf den Weg zu Tatjana Pawlowna. O weh! Ein großes Unglück wäre verhütet worden, wenn ich sie damals zu Hause getroffen hätte; aber es war wie vom Schicksal vorgesehen, daß mir an diesem Tage alles mißlang. Ich ging natürlich auch zu Mama, erstens um mich nach ihr, der Armen, zu erkundigen, und zweitens, weil ich sicher war, Tatjana Pawlowna dort anzutreffen. Aber auch bei Mama traf ich sie nicht an: sie war gerade fortgegangen, man wußte nicht, wohin; nur Lisa war bei Mama, die krank zu Bett lag. Lisa bat mich, nicht hineinzugehen und Mama nicht zu wecken: „Sie hat die ganze Nacht nicht geschlafen und sich gequält; Gott sei Dank, daß sie wenigstens jetzt eingeschlafen ist.“ Ich umarmte Lisa und sagte ihr nur in ein paar Worten, daß ich einen großen, schwerwiegenden Entschluß gefaßt hätte und ihn sogleich ausführen würde. Sie hörte mich ohne besondere Verwunderung an, als hätte ich etwas ganz Gewöhnliches gesagt. Oh, sie hatten sich damals schon alle daran gewöhnt, daß ich „große Entschlüsse“ faßte und sie dann kleinmütig aufgab! Diesmal aber – diesmal war es etwas anderes! Ich begab mich zunächst in die Kellerwirtschaft am Kanal und setzte mich dort hin, um die Zeit abzuwarten, bis ich Tatjana Pawlowna voraussichtlich zu Hause antreffen konnte. Übrigens muß ich noch erklären, wozu ich diese Dame gerade jetzt so notwendig brauchte.

Ich wollte sie sogleich zu Katerina Nikolajewna schicken, um sie in ihre, Tatjana Pawlownas, Wohnung bitten zu lassen und ihr dann in Tatjana Pawlownas Gegenwart das Dokument zu übergeben und alles ein für allemal zu erklären ... Kurz, ich wollte nur meine Pflicht tun; und ich wollte mich zugleich ein für allemal rechtfertigen. Und wenn das geschehen war, wollte ich unbedingt und mit aller Dringlichkeit, zu Anna Andrejewnas Gunsten sprechen, und dann, wenn möglich, Katerina Nikolajewna und Tatjana Pawlowna gleich zu mir führen, oder vielmehr zum alten Fürsten, die beiden Feindinnen versöhnen, den Fürsten aus seiner Pein erlösen und ... und ... kurz, alle diese Menschen noch heute glücklich machen, – wenigstens diesen kleinen Kreis, so daß dann nur noch Werssiloff und Mama übrigblieben. An dem Gelingen meines Vorhabens zweifelte ich keinen Augenblick: Katerina Nikolajewna konnte mir in ihrer Dankbarkeit für die Rückgabe des Briefes, für die ich von ihr nichts verlangen wollte, eine solche Bitte nicht abschlagen. O weh! Ich glaubte mich ja immer noch im Besitze dieses unseligen Briefes! Oh, in was für einer dummen und unwürdigen Lage ich mich damals befand, ohne es selbst zu ahnen!

Es dämmerte bereits, und die Uhr war schon vier, als ich wieder bei Tatjana Pawlowna klingelte. Marja, ihre Köchin, antwortete mir auf meine Frage in unhöflichem Tone, sie wäre „nicht gekommen“. Ich muß jetzt wieder an den eigentümlichen Blick denken, mit dem Marja mich lauernd ansah, aber damals konnte ich natürlich noch keinen Verdacht schöpfen. Statt dessen stach mich plötzlich ein anderer Gedanke: als ich geärgert und ein wenig niedergeschlagen die Treppe wieder hinunterstieg, fiel mir der arme alte Fürst ein, der vorhin die Arme nach mir ausgestreckt hatte – und ich bereute schmerzlich, daß ich ihn verlassen hatte, vielleicht sogar nur aus persönlichen Gründen und gekränktem Ichgefühl. Beunruhigt malte ich mir aus, was ihm da alles während meiner Abwesenheit zugestoßen sein konnte, und begab mich schleunigst nach Haus. Zu Hause war jedoch inzwischen folgendes geschehen:

Anna Andrejewna hatte trotz ihrer Enttäuschung und ihres Zornes den Mut noch nicht verloren. Nebenbei bemerkt: sie hatte schon am Morgen nach Lambert geschickt und dann noch einmal, und da Lambert beide Male nicht zu Hause gewesen war, hatte sie schließlich ihren Bruder ausgeschickt, ihn zu suchen. Es war der Armen nach meinem Widerstand eben nichts anderes verblieben, als ihre ganze Hoffnung auf Lambert und seinen Einfluß auf mich zu setzen. So erwartete sie ihn denn mit Ungeduld und wunderte sich nur, daß er, der bis dahin unablässig um sie herum gewesen war, sich plötzlich überhaupt nicht mehr sehen ließ. Aber wie hätte sie auch ahnen können, daß Lambert als Besitzer des Dokuments bereits ganz andere Pläne hatte und sich natürlich mit Absicht nicht mehr sehen ließ und sich vor ihr verbarg. In dieser Unruhe und wachsenden Angst war Anna Andrejewna kaum fähig gewesen, den alten Fürsten zu zerstreuen. Dabei hatte sich seine Aufregung in geradezu beängstigendem Maße gesteigert: er stellte seltsame und angstvolle Fragen, begann sogar, sie mißtrauisch zu betrachten und weinte ein paarmal. Der junge Werssiloff war nicht lange bei ihm geblieben, und Anna Andrejewna hatte dann Pjotr Ippolitowitsch zu ihm gebracht, von dessen Unterhaltungskunst sie sich viel versprach, aber seine Unterhaltung hatte dem Fürsten nicht nur nicht gefallen, sondern zum Schluß sogar seinen Widerwillen erregt. Überhaupt begann der Fürst meinen Pjotr Ippolitowitsch mit wachsendem Mißtrauen und sonderbarem Verdacht zu beobachten. Mein Wirt aber mußte zum Unglück richtig wieder vom Spiritismus sprechen, mußte von irgendeinem Schwarzkünstler und dessen haarsträubenden Wunderstückchen erzählen, die er selbst gesehen zu haben behauptete: nämlich wie dieser angereiste Scharlatan angeblich vor dem gesamten Publikum mehreren Menschen die Köpfe abgeschnitten hätte, daß das Blut nur so in Strömen geflossen wäre, was alle gesehen hätten: und dann hätte er die Köpfe wieder auf die Hälse gesetzt, und sie wären alle wieder angewachsen, gleichfalls vor besagtem Publikum, und alles das wäre geschehen im Jahre achtzehnhundertundneunundfünfzig. Der Fürst erschrak darüber so und geriet dabei, Gott weiß weshalb, in solche Wut, daß Anna Andrejewna sich genötigt sah, den Erzähler schleunigst zu entfernen. Zum Glück wurde in dem Augenblick das Mittagessen gebracht, das schon tags vorher (durch Lamberts und Alphonsinkas Vermittlung) bei einem vorzüglichen französischen Koch bestellt worden war, der zufällig stellungslos in der Nähe wohnte und gerade eine neue Stellung in einem vornehmen, reichen Hause oder in einem Klub suchte. Das Essen und der Champagner, den es dazu gab, versetzten den alten Herrn in die beste Laune: er aß mit Genuß und scherzte sogar. Nach dem Essen wurde er natürlich müde und schläfrig, und da er nach Tisch immer ein wenig zu schlafen pflegte, so richtete Anna Andrejewna ihm das Bett her. Vor dem Einschlafen küßte er ihr immer noch die Hände, sagte ihr, sie sei sein Paradies, seine Hoffnung, seine „Houri“, seine „Goldene Blume“ – kurz, er erging sich in den orientalischsten Lobpreisungen. Schließlich schlief er ein, kurz bevor ich zurückkehrte.

Anna Andrejewna trat eilig in mein Zimmer, faltete die Hände vor mir und sagte, sie beschwöre mich, nicht um ihretwillen, sondern um des Fürsten willen, die Wohnung nicht wieder zu verlassen, und wenn er aufwachte, zu ihm hinüberzugehen. „Ohne Sie ist er verloren, er kann einen Nervenchok bekommen; ich fürchte sogar, daß er es nicht einmal bis zum Abend aushält ...“ Sie fügte hinzu, sie selbst müsse jetzt unbedingt ausgehen, und „es könnte sein“, daß sie nicht vor zwei Stunden zurückkehren werde; so müsse sie den Fürsten ganz unter meinen Schutz stellen. Ich gab ihr sogleich mit größter Bereitwilligkeit mein Wort, bis zum Abend zu Hause zu bleiben, und wenn er aufwachte, mich nach Kräften zu bemühen, ihn zu zerstreuen.

„Und ich werde meine Pflicht tun!“ sagte sie entschlossen. Sie ging. Ich will dem Leser auch gleich mitteilen, weshalb sie ausging: sie wollte Lambert suchen: auf ihn setzte sie ihre letzte Hoffnung; außerdem fuhr sie zu ihrem Bruder und zu ihren Verwandten, den Fanariotoffs; man kann sich also denken, in was für einer Stimmung sie zurückkehren mußte.

Der Fürst erwachte ungefähr nach einer Stunde. Ich hörte sein Stöhnen durch die Wand und lief sofort zu ihm: ich fand ihn auf dem Bett sitzend, im Schlafrock, aber dermaßen erschreckt durch die Einsamkeit, das Licht der einsamen Lampe und das fremde Zimmer, daß er, als ich eintrat, zusammenfuhr, aufsprang und aufschrie. Ich trat schnell auf ihn zu, und als er mich erkannte, fiel er mir mit Tränen der Freude um den Hals.

„Du bist’s! Cher enfant! – Stell dir vor, man sagte mir, du wärest in eine andere Wohnung übergesiedelt, hättest Angst bekommen und wärest davongelaufen.“

„Wer hat Ihnen das sagen können?“

„Wer? Hm ... vielleicht hab’ ich es mir selbst ausgedacht, aber vielleicht hat es mir auch wirklich jemand gesagt. Stell’ dir vor, ich hab’ soeben einen Traum gehabt: es kam ein alter Mann mit einem großen Bart und einem Heiligenbild zu mir, einem in zwei Stücke gespaltenen Heiligenbild, und auf einmal sagte er: ‚So wird sich auch dein Leben spalten!‘“

„Ach Gott, Sie haben gewiß von irgend jemand gehört, daß Werssiloff gestern das Heiligenbild zerschlagen hat?“

„N’est-ce pas?[112] Ich glaube auch, daß ich es gehört habe. Ja, richtig, ich habe es heute morgen von Darja Onissimowna gehört, als sie mein Hündchen und meinen Koffer herbrachte.“

„Nun und da hat Ihnen denn jetzt davon geträumt.“

„Eh bien;[123] und stell dir vor, dieser alte Mann hat mir immer mit dem Finger gedroht. – Wo ist Anna Andrejewna?“

„Sie wird gleich zurückkehren.“

„Woher? Ist sie denn auch fortgefahren?“ fuhr er erschrocken auf.

„Nein, nein, sie wird sofort wieder da sein; sie hat mich gebeten, so lange bei Ihnen zu bleiben.“

„Oui, zu bleiben. Hm ... Also unser Andrei Petrowitsch ist verrückt geworden ... ‚wie plötzlich doch und unverhofft!‘ Ich hab’s ihm ja immer prophezeit, daß er damit enden werde. Mon ami, weißt du ...“ Er faßte mich plötzlich am Rock und zog mich näher zu sich.

„Der Wirt hier,“ flüsterte er, „der hat mir vorhin Photographien gebracht, ganz abscheuliche Photographien nackter Weiber in verschiedenen orientalischen Stellungen, und er hat sie mir durch ein Glas gezeigt. Ich, weißt du, ich nahm mich zusammen und sagte, ich fände sie sehr schön, aber hat man nicht auch zu jenem Unglücklichen gemeine Weiber gebracht, um ihn bequemer betrunken machen zu können? ...“

„Ach, Sie denken schon wieder an Herrn von Sohn![17] Aber ich bitte Sie, Fürst! Der Wirt ist ein Dummkopf und weiter nichts!“

„Ein Dummkopf und weiter nichts! C’est mon opinion! Mon ami,[124] wenn du kannst, so rette mich und bring mich fort von hier!“ bat er mich plötzlich mit flehend erhobenen Händen.

„Fürst, ich werde alles für Sie tun, alles, was nur in meinen Kräften steht! Ich bin Ihnen ganz und gar ergeben ... Mein lieber Fürst, haben Sie nur noch ein wenig Geduld, und ich werde alles in Ordnung bringen!“

„N’est-ce pas?[112] Wir nehmen einfach unsere Sachen und laufen davon, aber den Koffer lassen wir hier, so zum Schein, weißt du, damit er glaubt, wir kämen wieder.“

„Wohin sollen wir laufen? Und Anna Andrejewna?“

„Nein, nein, zusammen mit Anna Andrejewna ... Oh, mon cher, in meinem Kopf geht alles durcheinander ... Wart mal ... dort in meinem Handkoffer, rechts, ist Katjäs Bild – ich habe es heute morgen heimlich hineingesteckt, damit Anna Andrejewna und besonders diese Darja Onissimowna es nicht bemerkten – gib es mir her, um Christi willen, aber schnell, damit sie uns nicht überraschen ... Kann man die Tür nicht verriegeln?“

In der Tat fand ich in seinem Handkoffer eine Photographie von Katerina Nikolajewna in einem ovalen Rahmen. Er nahm sie in die Hand, hielt sie ans Licht, und plötzlich rollten Tränen über seine gelben, hageren Wangen.

„C’est un ange, c’est un ange du ciel!“[125] rief er aus. „Mein ganzes Leben lang bin ich vor ihr schuldig gewesen ... und jetzt erst! Chère enfant, ich glaube ihnen nichts, nichts glaube ich ihnen! Mon ami, sag’ mir doch: ist es denn denkbar, daß sie mich ins Irrenhaus sperren wollen? Je dis des choses charmantes et tout le monde rit[126] ... und einen solchen Menschen will man plötzlich ins Irrenhaus stecken!“

„Aber daran denkt ja kein Mensch!“ rief ich aus. „Das ist ein Irrtum! Ich kenne ihre Gefühle!“

„Und du kennst auch ihre Gefühle? Das ist gut! Mon ami, du hast mich von den Toten auferweckt! Wie haben sie mir denn das alles von dir vorerzählt? Mon ami, rufe Katjä her, sie sollen sich hier beide vor mir küssen, und ich werde sie wieder nach Hause bringen, und den Wirt, den verjagen wir einfach!“

Er erhob sich, streckte die Hände aus und fiel vor mir nieder:

„Cher,“ lispelte er in sinnloser Angst und zitterte wie ein Espenblatt, „mon ami, sage mir die ganze Wahrheit: wohin wird man mich jetzt bringen?“

„Mein Gott!“ rief ich erschrocken, hob ihn auf und legte ihn aufs Bett. „Schließlich werden Sie auch mir nicht mehr glauben, werden denken, daß auch ich zur Verschwörung gehöre? Ich werde hier niemandem erlauben, Ihnen auch nur ein Haar zu krümmen!“

„C’est-ça,[127] erlaub du nichts,“ lallte er und klammerte sich mit beiden Händen an meine Ellbogen, während er immer noch am ganzen Leibe zitterte. „Gib mich niemandem! Und belüge mich nicht ... wird man mich denn wirklich von hier fortführen? Höre, dieser Wirt – Ippolit, oder wie er da heißt ... ist er nicht der Doktor?“

„Was für ein Doktor?“

„Das hier ... ist das nicht eine Irrenanstalt hier, dieses Zimmer?“

In dem Augenblick öffnete sich plötzlich die Tür, und Anna Andrejewna trat herein. Wahrscheinlich hatte sie hinter der Tür gelauscht und in der Erregung die Tür etwas zu plötzlich geöffnet – der Fürst, der schon beim leisesten Geräusch zusammenfuhr, schrie zu Tode erschrocken auf und warf sich mit dem Gesicht aufs Kissen. Er bekam nun doch so etwas wie einen Anfall, der sich in heftigem Schluchzen entlud.

„Sehen Sie, das sind die Folgen Ihrer Taten,“ sagte ich zu ihr und wies auf den Alten.

„Nein, das sind die Folgen Ihrer Taten!“ erwiderte sie scharf und mit erhobener Stimme. „Zum letztenmal wende ich mich an Sie, Arkadi Makarowitsch: wollen Sie endlich diese teuflische Intrige gegen den schutzlosen alten Mann aufdecken und Ihre ‚sinnlosen und kindischen Liebesträume‘ opfern, um Ihre leibliche Schwester zu retten?“

„Ich werde Sie alle retten, aber nur so, wie ich es Ihnen vorhin gesagt habe! Ich werde sofort gehen, und vielleicht schon in einer Stunde wird Katerina Nikolajewna hier sein! Ich werde alle versöhnen, und alle werden glücklich sein!“ rief ich nahezu begeistert.

„Bring sie, bring sie mir her!“ rief der Fürst flehend und wie neu belebt. „Bringt mich zu ihr! Ich möchte Katjä sehen und sie segnen!“ rief er mit erhobenen Händen und versuchte vom Bett aufzustehen.

„Sehen Sie,“ sagte ich zu Anna Andrejewna und wies auf ihn, „jetzt haben Sie gehört, was er sagt: jetzt kann Ihnen auch kein Dokument mehr helfen!“

„Das sehe ich, aber das Dokument könnte wenigstens meine Handlungsweise vor den Augen der Welt rechtfertigen, so aber – bin ich an den Pranger gestellt! Doch genug; mein Gewissen ist rein. Ich bin von allen verlassen, sogar von meinen Verwandten und von meinem leiblichen Bruder, den die Möglichkeit eines Mißlingens erschreckt hat ... Doch ich werde meine Pflicht erfüllen und bei diesem Unglücklichen bleiben, als seine Pflegerin, seine Krankenwärterin!“

Jetzt durfte ich keine Zeit verlieren, und ich lief aus dem Zimmer.

„Ich kehre in einer Stunde zurück, und ich komme nicht allein!“ rief ich ihnen noch von der Schwelle aus zu.

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