Jetzt – von etwas ganz anderem.
Ich kündige zwar immer an: „von etwas anderem, etwas anderem“, und doch rede ich nach wie vor immer nur von mir. Dabei habe ich schon tausendmal erklärt, daß ich keineswegs mich selbst schildern will: das wollte ich sogar unbedingt vermeiden, als ich diese Aufzeichnungen begann. Ich verstehe doch, daß ich dem Leser völlig gleichgültig bin. Ich schildere andere und wollte ja von Anfang an nur andere schildern, nicht mich, und wenn nun meine Person doch immer wieder dazwischen kommt – so ist das nur ein bedauerliches Mißlingen meiner Absicht, da ich es eben auf keine Weise vermeiden kann, wie sehr ich es auch möchte. Vor allem ärgert mich, daß ich, wenn ich meine eigenen Erlebnisse mit solchem Eifer beschreibe, damit selbst den Anlaß gebe, von mir zu denken, ich wäre jetzt noch ganz derselbe, der ich damals war. Aber der Leser dürfte sich erinnern, daß ich schon mehr als einmal ausgerufen habe: „Oh, wenn ich das Geschehene doch umändern und ganz von neuem anfangen könnte!“ So etwas hätte ich doch nicht ausgerufen, wenn ich inzwischen nicht ein vollständig anderer Mensch geworden wäre. Das leuchtet wohl ein; und wenn sich einer nur vorstellen könnte, wie zuwider mir schon alle diese Entschuldigungen und Vorreden sind, die ich gezwungen bin, alle Augenblicke einzuflechten, sogar jetzt noch, mitten in meine Aufzeichnungen hinein!
Zur Sache!
Nachdem ich neun Tage lang bewußtlos dagelegen hatte, erwachte ich als ein Wiedergeborener, doch nicht als ein Gebesserter; übrigens war meine Wiedergeburt ziemlich dumm und natürlich nicht das, was man im weiteren Sinne darunter versteht; wenn sie jetzt geschähe, würde sie vielleicht ganz etwas anderes sein. Meine Idee, das heißt, mein Gefühl, bestand wiederum (wie ja schon tausendmal vorher) nur darin, daß ich von allen diesen Menschen fort wollte, diesmal aber unbedingt, und nicht mehr so, wie früher, da ich mich tausendmal vor die Entscheidung gestellt und mich doch immer nicht endgültig hatte entscheiden können! Rächen wollte ich mich an keinem, darauf gebe ich mein Ehrenwort, – obschon ich von ihnen allen beleidigt worden war. Ich wollte einfach weggehen von ihnen, ohne Haß, ohne Verwünschungen; ich wollte eigene Kraft zeigen, wirklich eigene Kraft, die von keinem von ihnen und niemand in der ganzen Welt abhing; hatte ich mich doch mit allem in der Welt beinahe schon ausgesöhnt! Dieser Zukunftstraum war damals nicht ein Gedanke, den ich erwog, sondern nur eine Empfindung, der ich einfach ausgeliefert war. Solange ich im Bette lag, wollte ich diese Empfindung nicht einmal zu formulieren versuchen. Ich lag in Werssiloffs Zimmer, das man zu meiner Krankenstube gemacht hatte, und erkannte mit Schmerz, wie kraftlos ich war: da lag ja nur noch ein Strohhälmchen, aber nicht ein Mensch, ein Strohhälmchen auch dann, wenn ich nicht krank gewesen wäre, – und oh, wie mich das kränkte! Doch siehe da, aus der tiefsten Tiefe meines Wesens erhob sich ein Protest dagegen, und mir verging der Atem vor einem eigenen Gefühl unendlich gesteigerten Hochmuts und maßloser Überhebung. Ich kann mich in meinem ganzen Leben keiner Zeit erinnern, wo ich von so anmaßenden Gefühlen erfüllt gewesen wäre, wie in jenen ersten Tagen meiner Genesung, d. h. wie gerade damals, als ich wie ein Strohhälmchen im Bett lag.
Aber fürs erste schwieg ich und nahm mir sogar vor, vorläufig noch über nichts nachzudenken. Ich sah ihnen immer nur in die Gesichter und bemühte mich, aus ihren Gesichtern alles zu erraten, was ich wissen wollte. Ich sah es ihnen an, daß auch sie mich nicht ausfragen und nicht neugierig sein wollten, und nach Möglichkeit nur von Nebensächlichem sprachen. Das gefiel mir, und zu gleicher Zeit erbitterte es mich wieder; diesen Widerspruch will ich nicht weiter erklären. Lisa sah ich seltener als Mama, wenn sie auch täglich zu mir hereinkam, gewöhnlich sogar zweimal am Tage. Aus einzelnen Bruchstücken ihrer Unterhaltung, die ich dann und wann auffing, und auch aus ihrem ganzen Gebaren schloß ich, daß Lisa wohl sehr viel zu tun hatte und wegen ihrer eigenen Angelegenheiten sogar sehr oft und stundenlang nicht zu Hause war: aber schon in dieser Möglichkeit, daß sie „eigene Angelegenheiten“ hatte, lag für mich gleichsam etwas Kränkendes. Übrigens waren das alles nur krankhafte, rein physiologische Empfindungen, die zu beschreiben sich nicht lohnt. Auch Tatjana Pawlowna kam fast täglich zu mir, und obgleich sie durchaus nicht zärtlich zu mir war und noch nicht einmal besonders rücksichtsvoll, so schimpfte sie doch nicht wie früher. Gerade das aber ärgerte mich fürchterlich, weshalb ich ihr schließlich ins Gesicht sagte: „Sie, Tatjana Pawlowna, Sie sind wahrhaftig, wenn Sie nicht schimpfen, geradezu sträflich langweilig!“ – „So, dann komme ich überhaupt nicht mehr zu dir,“ versetzte sie kurz und ging. Ich aber war froh, daß ich wenigstens eine hinausgejagt hatte.
Besonders quälte ich Mama, und über sie ärgerte ich mich am meisten. Es stellte sich bei mir ein mächtiger Hunger ein, und ich murrte fortwährend darüber, daß ich mein Essen zu spät bekäme (dabei bekam ich es niemals zu spät). Mama wußte nicht, wie sie es mir recht machen sollte. Einmal brachte sie mir die Suppe und begann, wie sie das gewöhnlich tat, selbst mich mit dem Löffel zu füttern, ich aber murrte die ganze Zeit und hatte an allem etwas auszusetzen. Plötzlich ärgerte ich mich über mich selbst, weil ich so unausstehlich war: „Sie ist vielleicht der einzige Mensch, den ich wirklich liebe,“ sagte ich mir, „und dabei quäle ich gerade sie!“ Aber meine Bosheit ließ deshalb nicht nach, und auf einmal brach ich vor lauter Wut in Tränen aus, sie aber, die Arme, dachte wohl, ich weinte vor Rührung und beugte sich über mich und begann mich zu küssen. Ich biß die Zähne zusammen und hielt es aus, so gut es ging, aber ich haßte sie in diesem Augenblick wirklich. Und doch habe ich Mama immer liebgehabt, und auch damals liebte ich sie und haßte sie gar nicht, es geschah nur das, was immer geschieht: wen man am meisten liebt, den kränkt man am ehesten.
Wirklich gehaßt habe ich in jenen ersten Tagen nur den Arzt. Es war das ein noch junger Mann, der mit aufgeblasener Miene in sehr scharfem Tone und sogar recht unhöflich zu reden pflegte. Diese Leute tun wahrhaftig immer so, als hätten sie erst gestern und ganz unerwartet etwas Besonderes erfahren, was außer ihnen, den Wissenschaftlern, noch niemand weiß; dabei haben sie aber in Wirklichkeit überhaupt nichts erfahren. Doch so ist ja der Durchschnitt und die „Gasse“ immer. Ich ertrug das lange genug, aber schließlich riß mir die Geduld, und ich erklärte ihm in Gegenwart aller, daß er sich ganz umsonst herbemühe, da ich auch ohne seinen Beistand gesund werden würde; daß er, obgleich er sich den Anschein eines aufgeklärten Menschen zu geben suche, doch voll von Vorurteilen sei und nicht einmal das begreife, daß die Medizin allein noch nie einen Menschen geheilt habe; und ich fügte hinzu, daß er aller Wahrscheinlichkeit nach vollständig ungebildet wäre, „wie das ja bei uns jetzt alle diese Techniker und Spezialisten sind, die neuerdings die Nase so schrecklich hoch tragen“. Der Doktor fühlte sich sehr beleidigt (damit allein bewies er schon, was für ein Mensch er war), stellte aber trotzdem seine Besuche nicht ein. Da erklärte ich Werssiloff, daß ich, wenn der Doktor seine Besuche nicht einstellte, ihm irgend etwas noch zehnmal Unangenehmeres sagen würde. Werssiloff meinte daraufhin nur, man könnte sich wohl kaum etwas ausdenken, was auch nur zweimal unangenehmer wäre als das, was ich schon gesagt hatte, geschweige denn etwas zehnmal Unangenehmeres. Es freute mich, daß er das bemerkt hatte.
Nein, was das doch für ein Mensch ist! Ich meine Werssiloff. Er, nur er allein, war an allem schuld – und dennoch: nur über ihn allein ärgerte ich mich damals nicht. Es war nicht nur sein Verhalten zu mir, das mich bestach. Ich glaube, wir fühlten damals beide, daß wir uns gegenseitig viele Erklärungen schuldeten ... und daß es gerade deshalb das beste war, nichts zu erklären. Es ist wirklich ungemein angenehm, in solchen Lebenslagen auf einen klugen Menschen zu stoßen! Ich habe schon im zweiten Teil meiner Aufzeichnungen vorgreifend erwähnt, daß er mir sehr kurz und klar alles von dem Brief des Fürsten an mich, von Serschtschikoff und meiner Rehabilitierung durch ihn usw., mitgeteilt hatte. Da ich mir aber vorgenommen hatte, zu schweigen, so stellte ich an ihn nur ganz trocken zwei, drei kurze Fragen, auf die er mir wiederum klar und genau antwortete, ohne alle überflüssigen Worte und, was das beste war, ohne überflüssige Gefühle. Gerade damals fürchtete ich nichts so sehr, wie überflüssige Gefühle.
Von Lambert schweige ich, aber der Leser wird natürlich schon erraten haben, daß ich nur zu oft an ihn dachte. In meinen Fieberdelirien hatte ich mehrmals von ihm gesprochen; aber als man mir dann sagte, ich hätte laut phantasiert, erschrak ich und versuchte dahinterzukommen, was sie denn gehört haben konnten; doch ich gewann sehr bald die Überzeugung, daß sie von Lambert nichts wußten, auch Werssiloff nicht. Das freute mich und meine Angst verging. Später jedoch erfuhr ich zu meinem Erstaunen, daß ich mich darin getäuscht hatte: Lambert war bereits während meiner Bewußtlosigkeit dagewesen, nur hatte Werssiloff mir dies verschwiegen, und so konnte ich damals in dem Glauben leben, Lambert hätte mich schon vollständig vergessen. Nichtsdestoweniger dachte ich oft an ihn, ja, noch mehr als das: ich dachte nicht nur ganz ohne Widerwillen an ihn, nicht nur mit einer gewissen Neugier, sondern sogar mit wirklichem Interesse, als hätte ein Vorgefühl mir gesagt, daß meine Bekanntschaft mit ihm meinen neuen, im Entstehen begriffenen Plänen zustatten kommen könnte. Jedenfalls beschloß ich, den Fall Lambert als erstes zu überdenken, sobald ich mit dem Nachdenken erst einmal anfangen würde. Übrigens verdient ein Umstand, als sonderbar erwähnt zu werden: ich hatte vollständig vergessen, wo er wohnte, in welcher Straße sich das damals zugetragen hatte. Das Zimmer, die Alphonsina, das Hündchen, den Korridor – alles das sah ich noch so deutlich vor mir, daß ich es gleich hätte zeichnen können; aber wo das gewesen war, in welcher Straße, in welchem Hause – dessen konnte und konnte ich mich nicht mehr entsinnen. Und das Sonderbarste dabei war noch, daß mir dies erst am dritten oder vierten Tage, nachdem ich wieder zu vollem Bewußtsein gekommen war, auffiel, während ich mich in Gedanken gerade mit Lambert schon lange und eifrig beschäftigt hatte.
Also das waren meine ersten Empfindungen nach meinem Erwachen. Ich habe nur das Nebensächlichste aufgezeichnet und das Wichtigste wahrscheinlich nicht aufzuzeichnen verstanden. In der Tat, es ist sehr wohl möglich, daß alles Hauptsächliche sich gerade damals in meinem Herzen geklärt und formuliert hat; ich habe mich in der Zeit doch nicht nur geärgert und gebost, etwa weil ich auf meine Suppe warten mußte! Oh, ich weiß noch, wie traurig ich zeitweise sein konnte und wie oft ich mich damals quälte, besonders wenn ich lange allein blieb. Die anderen hatten zum Unglück auch noch herausgefühlt, daß es mir manchmal schwer wurde, mit ihnen zusammen zu sein, und daß ihre Teilnahme mich nur reizte, und so ließen sie mich denn immer öfter allein: das war nun eine ganz unnötige Rücksicht von ihnen, zu der ein vollkommen überflüssiges Feingefühl sie veranlaßte.