II.

Am vierten Tage nach meinem Erwachen aus der Bewußtlosigkeit lag ich, so um drei Uhr nachmittags, in meinem Bett, und es war niemand bei mir. Der Tag war hell und sonnig, und ich wußte: nach vier Uhr, wenn die Sonne untergeht, wird ein schräger rotgoldener Strahl gerade in die Ecke der Wand fallen, an der ich lag, und dort einen grellen Lichtfleck bilden. Ich wußte das von den früheren Tagen her, und der Gedanke, daß das in einer Stunde unfehlbar eintreten werde, und vor allem, daß ich dies so genau voraus wußte, wie das Ergebnis von zwei mal zwei – gerade das erboste mich bis zur Wut. Ich drehte mich wütend auf die andere Seite und plötzlich, mitten in der tiefen Stille, hörte ich deutlich die Worte: „Herr Jesus Christ, unser Herr und Gott, erbarme dich unser!“ Die Worte wurden halblaut gemurmelt, darauf folgte ein schwerer Seufzer aus tiefster Brust, und dann war wieder alles still. Ich hob schnell den Kopf.

Ich hatte auch schon früher, das heißt, schon am Abend vorher, ja sogar schon vor zwei Tagen eine gewisse andere Stimmung in unseren drei Zimmern hier unten wahrgenommen. In jenem anderen Zimmer, wo früher Mama und Lisa geschlafen hatten, schien sich ein fremder Mensch zu befinden. Schon ein paarmal hatte ich von dort verschiedene Geräusche gehört, sowohl am Tage wie in der Nacht, aber immer nur für ein paar Augenblicke, und dann war wieder vollständige Stille eingetreten, wieder für mehrere Stunden, so daß ich weiter nicht darauf geachtet hatte. Einmal war mir schon der Gedanke gekommen, Werssiloff wäre dort, da er bald nach so einem Geräusch bei mir eingetreten war, obgleich ich aus ihren Gesprächen entnommen hatte, daß Werssiloff für die Zeit meiner Krankheit irgendwohin in eine andere Wohnung gezogen sein mußte, wo er wohl auch nächtigte. Von Mama und Lisa wußte ich, daß sie jetzt oben in meinem ehemaligen „Sarg“ schliefen (damit ich mehr Ruhe hätte, wie ich glaubte), und ich fragte mich noch: „Wie haben sie sich denn da zu zweien einzurichten vermocht?“ Und nun war dort in ihrem früheren Zimmer plötzlich doch ein Mensch, und dieser Mensch war – nicht Werssiloff! Mit einer Leichtigkeit, die ich mir gar nicht zugetraut hätte (da ich bis dahin gedacht hatte, ich wäre vollkommen kraftlos), setzte ich mich auf den Bettrand, schob die Füße in die Pantoffeln, zog den grauen, mit Lammfellchen gefütterten Schlafrock an (den Werssiloff für mich geopfert hatte), und begab mich durch unser Wohnzimmer nach Mamas früherem Schlafzimmer. Was ich dort erblickte, war für mich überraschend genug: gerade das hatte ich am wenigsten erwartet! – ich blieb wie angewurzelt auf der Schwelle stehen.

Dort saß ein alter Mann mit ganz grauem, silbergrauem Haar und einem großen, furchtbar weißen Bart. Es war klar, daß er schon lange dort saß. Er saß nicht auf dem Bett, sondern auf Mamas Fußbank und stützte nur den Rücken an das Bett. Übrigens hielt er sich dermaßen gerade, daß es den Anschein hatte, als brauchte er überhaupt keine Stütze, wenn man ihm auch ansah, daß er krank war. Über dem Hemde hatte er einen kurzen, von außen mit Zeug überzogenen Pelz an, über seine Knie war Mamas großes Tuch gebreitet und seine Füße staken in Pantoffeln. Man sah sofort, daß er von hohem Wuchs sein mußte, dazu war er breitschultrig und machte, trotz seines Krankseins, einen sehr rüstigen Eindruck, obgleich er etwas bleich und mager war. Er hatte ein längliches Gesicht und dichtes, aber nicht sehr langes Haar; sein Alter konnte man auf über siebzig Jahre schätzen. Auf einem Tischchen neben ihm lagen, so daß er sie mit der Hand erreichen konnte, drei oder vier Bücher und eine silberne Brille. Ich hatte zwar mit keinem Gedanken daran gedacht, daß ich diesen Menschen hier treffen könnte, aber ich erriet sofort, wer er war, nur konnte ich noch immer nicht begreifen, wie er sich in diesen zwei Tagen so still hatte verhalten können, daß nebenan in meinem Zimmer fast nichts von ihm zu hören gewesen war.

Er rührte sich nicht, als er mich erblickte, sondern sah mich nur unverwandt und schweigend an, genau wie ich ihn ansah, bloß mit dem Unterschiede, daß in meinen Augen ein maßloses Erstaunen lag, in seinen dagegen nicht das geringste. Und nicht nur das, denn als er mich in diesen fünf oder zehn Sekunden des Schweigens bis zum letzten Zuge betrachtet hatte, lächelte er plötzlich, und dieses Lächeln ging sogar in ein stilles, unhörbares Lachen über; und wenn dieses Lachen auch schnell verschwand, so blieb von ihm doch ein heller, froher Schein in seinem Gesicht zurück, vor allem in seinen Augen, die sehr blau, strahlend und groß waren, nur daß die Lider vom Alter schwer geworden oder geschwollen zu sein schienen, und viele kleine Fältchen sie umgaben. Dieses Lachen wirkte am stärksten auf mich.

Ich finde, wenn ein Mensch lacht, wird es in der Mehrzahl der Fälle widerlich, ihn anzusehen. Am häufigsten äußert sich im Lachen der Menschen etwas Gemeines, etwas, was den Lachenden erniedrigt, wenn auch der Betreffende von dem Eindruck, den er auf andere macht, selbst fast nie etwas weiß. Ebensowenig wissen die Menschen, was für ein Gesicht sie haben, wenn sie schlafen. Mancher Mensch hat auch im Schlaf ein kluges Gesicht, bei manchen aber, und sogar bei klugen Leuten, wird das Gesicht im Schlaf furchtbar dumm und deshalb lächerlich. Ich weiß nicht, woher das kommt; ich will nur sagen, daß der Lachende, ganz wie der Schlafende, von dem Ausdruck des eigenen Gesichts nichts weiß. Die übergroße Mehrzahl der Menschen versteht überhaupt nicht, zu lachen. Übrigens ist da nichts zu „verstehen“: das ist eine Gabe der Natur, die man sich nicht künstlich aneignen kann. Es sei denn, daß man sich selbst zu einem ganz anderen Menschen erzieht, sich zum Besseren entwickelt und die schlechten Neigungen seines Charakters bekämpft: dann könnte sich wohl auch das Lachen zum Besseren verändern. Manch einer verrät sich durch sein Lachen vollständig, und man erkennt sofort den ganzen Menschen. Aber selbst ein kluges Lachen kann mitunter widerlich sein. Das Lachen verlangt vor allen Dingen Aufrichtigkeit, aber wo findet man unter den Menschen Aufrichtigkeit? Das Lachen verlangt Arglosigkeit, die Menschen lachen aber am häufigsten aus Bosheit. Ein aufrichtiges und argloses Lachen ist Fröhlichkeit, wo aber findet man in den Menschen von heute Fröhlichkeit, und verstehen sie überhaupt, fröhlich zu sein? (Diese Bemerkung über die Fröhlichkeit habe ich einmal von Werssiloff gehört und mir gemerkt). Die Fröhlichkeit des Menschen ist der Zug, der mehr als alles andere den Menschen verrät. Mancher Charakter ist lange nicht zu verstehen, aber da braucht der Mensch nur einmal aus ganzem Herzen zu lachen, und sein Charakter liegt offen vor einem, wie auf der Handfläche. Nur ein Mensch von höchster und glücklichster geistiger Ausgeglichenheit versteht es, auf eine Weise fröhlich zu sein, die ansteckend wirkt, d. h. unwiderstehlich und gutmütig. Ich spreche nicht von seinem Intellekt, sondern von seinem Charakter, von der ganzen ausgeglichenen Persönlichkeit. Also, wenn man einen Menschen durchschauen und seine Seele erkennen will, so beobachte man nicht, wie er schweigt oder wie er spricht, oder wie er weint, oder gar, wie die edelsten Ideen sein Gemüt bewegen, sondern man beobachte ihn lieber, wenn er lacht: hat er ein gutes Lachen, so ist er ein guter Mensch. Und man achte dabei auch auf alle Nuancen: so darf zum Beispiel das Lachen eines Menschen einem niemals dumm erscheinen, auch wenn er noch so fröhlich und gutmütig lacht. Bemerkt man nur eine Spur von Dummheit im Lachen eines Menschen, so hat dieser Mensch einen beschränkten Verstand, und mag er auch mit Ideen nur so um sich werfen. Oder wenn das Lachen eines Menschen nicht dumm ist, der Mensch aber, wenn er lacht, einem aus irgendeinem Grunde lächerlich erscheint, und wär’s auch nur ein wenig, so hat dieser Mensch keine wirkliche persönliche Würde, oder wenigstens nicht viel davon. Und schließlich, wenn das Lachen eines Menschen zwar ansteckend ist, einem aber aus irgendeinem Grunde vulgär erscheint, so ist auch die ganze Natur dieses Menschen vulgär, und alles Edle und Erhabene, das man früher an ihm zu bemerken geglaubt hat, ist von ihm entweder bewußt herausgekehrt, oder unbewußt von anderen angenommen; so ein Mensch wird sich in der Folge unfehlbar zum Schlechteren verändern, wird sich dem „Vorteilhaften“ zuwenden und sich nur noch mit diesem beschäftigen, die früheren edlen Regungen aber als Jugendirrungen und Schwärmereien ohne Bedauern abschütteln.

Diese lange Abhandlung über das Lachen habe ich mit Absicht hier eingefügt, und um ihretwillen sogar die Einheitlichkeit meiner Erzählung zerstört, denn diese Erkenntnis des Lachens halte ich für eine der wichtigsten, zu denen ich in meinem Leben bisher überhaupt gekommen bin. Besonders möchte ich sie jenen angehenden Bräuten empfehlen, die fast schon bereit sind, einem Manne ihr Jawort zu geben, ihn aber doch noch nachdenklich und mißtrauisch beobachten und den endgültigen Entschluß immer noch nicht fassen können. Möge man über den Jüngling nicht lachen, der sich mit Belehrungen in Dinge mischt, von denen er keinen Deut versteht; dafür weiß er aber, daß das Lachen die sicherste Probe auf einen Menschen ist. Man beobachte einmal ein Kind: nur Kinder verstehen es, vollkommen arglos zu lachen – deshalb sind sie auch so bezaubernd. Ein weinendes Kind ist mir widerlich, ein lachendes oder fröhliches aber ist ein Sonnenstrahl aus dem Paradies, ist – eine Offenbarung aus der Zukunft, wo die Menschen endlich wieder so rein und arglos sein werden, wie jetzt nur Kinder sind. Und gerade so etwas Kindliches und ganz unglaublich Anziehendes sah ich plötzlich in dem flüchtigen Lachen dieses alten Mannes. Ich ging sogleich auf ihn zu.

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