Als man mich Anna Andrejewna meldete, warf sie sofort ihre Näharbeit hin und kam mir eilig ins erste Zimmer entgegen, – was früher nie geschehen war. Sie reichte mir beide Hände und errötete. Schweigend führte sie mich in ihr Zimmer, setzte sich wieder an ihre Handarbeit und wies auf einen Stuhl ihr gegenüber. Aber die Arbeit nahm sie nicht wieder auf, sondern sah mich mit glühender, lebhafter Teilnahme an, ohne ein Wort zu sagen.
„Sie haben Darja Onissimowna zur mir geschickt,“ begann ich ohne Umschweife, ein wenig bedrückt durch ihre so auffallend gezeigte Teilnahme, obgleich diese mir doch auch schmeichelte.
Da begann sie plötzlich zu sprechen, ohne auf meine Frage einzugehen.
„Ich habe alles gehört, ich weiß alles. Diese schreckliche Nacht ... Oh, wie müssen Sie gelitten haben! Ist es denn wahr, wirklich wahr, daß man Sie besinnungslos, halb erfroren, gefunden hat?“
„Das hat Ihnen ... Lambert ...“ murmelte ich und errötete.
„Ich habe gleich damals alles durch ihn erfahren; und ich habe auf Sie gewartet. Oh, ganz erschrocken kam er zu mir, um mir alles zu erzählen. In Ihrer Wohnung ... dort, wo Sie krank lagen, hat man ihn nicht zu Ihnen gelassen ... und hat ihn überhaupt sehr sonderbar empfangen ... Ich weiß zwar nicht genau, wie sich alles zugetragen hat, aber er hat mir viel von dieser Nacht erzählt: er erzählte mir auch, daß Sie, als Sie kaum zu sich gekommen waren, sogleich von mir gesprochen haben und ... und von Ihrer Ergebenheit für mich. Ich war zu Tränen gerührt, Arkadi Makarowitsch, ich weiß nicht einmal, wodurch ich diese Ihre glühende Anteilnahme verdient habe, und noch in der Lage, in der Sie sich selbst damals befanden! Sagen Sie, dieser Herr Lambert ist Ihr Jugendfreund?“
„Ja, aber bei diesem Wiedersehen ... ich muß gestehen, war ich etwas unvorsichtig und habe ihm vielleicht etwas zuviel vertraut.“
„Oh, von dieser schrecklichen Intrige hätte ich auch ohne ihn erfahren! Ich habe schon längst vorausgesehen, daß diese Menschen Sie so weit bringen würden. Sagen Sie, ist es wahr, daß Bjoring gewagt hat, seine Hand gegen Sie zu erheben?“
Sie tat so, als wäre ich damals nur durch Bjoring und „sie“ in jene Verfassung an der Mauer gekommen. Und sie hat recht, dachte ich, aber ich brauste doch auf:
„Wenn er gegen mich die Hand erhoben hätte, so wäre er ungezüchtigt nicht davongekommen, und ich würde jetzt nicht ungerächt so vor Ihnen sitzen,“ erwiderte ich heftig. Ich fühlte, daß sie mich zu irgend etwas reizen, gegen irgend jemand hetzen wollte (es war mir übrigens klar, gegen wen); und doch fiel ich darauf herein.
„Wenn Sie sagen, Sie hätten es vorausgesehen, daß man mich so weit bringen werde, so war das von seiten Katerina Nikolajewnas selbstverständlich nur ein Zweifeln an mir ... allerdings ist es wahr, daß ihr Vertrauen sich etwas zu schnell in dieses Mißtrauen verwandelt hat ...“
„Ja, gar zu schnell, das ist es ja eben!“ griff Anna Andrejewna mit überschwänglichem Mitgefühl meine Behauptung auf. „Oh, wenn Sie wüßten, was sie jetzt dort für Intrigen spinnen! Freilich, Arkadi Makarowitsch, Ihnen dürfte es schwer fallen, die ganze Peinlichkeit meiner Lage zu begreifen,“ sagte sie errötend und schlug die Augen nieder. „Inzwischen habe ich – nach jenem Vormittag, als wir uns zum letztenmal sahen – habe ich einen Schritt getan, den nicht ein Jeder so verstehen kann, wie ihn ein Mensch von Ihrem reinen Verstande und mit Ihrem liebevollen, unverdorbenen und frischen Herzen zu verstehen vermag. Seien Sie überzeugt, mein Freund, daß ich Ihre Ergebenheit mir gegenüber zu schätzen weiß und sie Ihnen mit ewiger Dankbarkeit lohnen werde. Die Gesellschaft wird natürlich den Stein gegen mich erheben, sie hat es ja schon getan. Und selbst wenn sie recht hätte, von ihrem niedrigen Standpunkte aus, wer kann, wer darf selbst in diesem Fall mich verurteilen? Ich bin seit meiner Kindheit von meinem Vater verlassen; wir Werssiloffs sind ein altes vornehmes Geschlecht, und doch sind wir Kinder Heimatlose, und ich esse fremdes Gnadenbrot. Ist es da nicht natürlich, daß ich mich an den gewandt habe, der mir seit meiner Kindheit den Vater ersetzt hat, und dessen Güte ich soviel verdanke? Meine Gefühle für ihn kennt nur Gott, er mag sie richten, doch den Urteilsspruch der Welt über mich erkenne ich nicht an! Und wenn nun noch die hinterlistigsten Intrigen gesponnen werden, und die eigene Tochter ihren vertrauensvollen und großmütigen Vater ins Unglück stürzen will, ja, darf man dann noch zögern? Nein, und wenn es mich auch meinen Ruf kostet, ich rette ihn! Ich bin bereit, einfach als Pflegerin bei ihm zu leben, seine Wärterin, seine Krankenschwester zu sein, doch niemals werde ich zulassen, daß die kalte und niedrige Berechnung der Welt triumphiert!“
Sie sprach in großer Erregung, und obschon diese Erregung zur Hälfte vielleicht gemacht war, so war sie insofern doch ehrlich, als man aus allem ersah, wie weit sie schon in diese ganze Sache hineingezogen war. Oh, ich fühlte es, daß sie log, wenn sie auch ehrlich log (denn man kann auch ehrlich lügen), und daß sie in diesem Augenblick schlecht handelte; aber es ist sonderbar, wie das einem so mit den Frauen ergeht: diese scheinbare Anständigkeit, diese feinen Formen, diese unerreichbare gesellschaftliche Vornehmheit und stolze Keuschheit – alles das brachte mich aus der Fassung, und ich begann, ihr in allem recht zu geben, das heißt, solange ich bei ihr war; wenigstens konnte ich mich nicht entschließen, ihr zu widersprechen. Oh, ein Mann befindet sich entschieden in moralischer Abhängigkeit von der Frau, besonders wenn er großmütig ist! So eine Frau kann einen großmütigen Mann alles glauben machen. „Sie und Lambert – du lieber Gott!“ dachte ich und sah sie ungläubig an. Übrigens, um alles zu sagen: ich bin auch heutigentags nicht imstande, mir über sie ein Urteil zu bilden: ihre wahren Gefühle konnte wirklich nur Gott allein kennen, und außerdem ist der Mensch eine so komplizierte Maschine, daß man in manchen Fällen wirklich nichts von ihm verstehen kann: und nun gar, wenn dieser Mensch – eine Frau ist!
„Anna Andrejewna, was erwarten Sie nun eigentlich von mir?“ fragte ich sie aber doch ziemlich entschlossen.
„Wieso? Was wollen Sie damit gesagt haben, Arkadi Makarowitsch?“
„Mir scheint nach allem ... und noch einigen anderen Erwägungen ...“ erklärte ich befangen, „daß Sie nach mir geschickt haben, weil Sie etwas von mir erwarteten; um was handelt es sich?“
Sie fing sofort wieder zu sprechen an, ohne jedoch auf meine Frage zu antworten, und sprach wieder so schnell und lebhaft wie zuvor.
„Ich kann nicht, ich bin zu stolz, um auf Auseinandersetzungen und Abmachungen mit unbekannten Personen, wie dieser Herr Lambert, einzugehen. Ich habe auf Sie gewartet, nicht auf Herrn Lambert. Meine Lage ist einfach furchtbar, Arkadi Makarowitsch! Ich muß Winkelzüge machen, weil ich von Spionen dieser Frau umgeben bin, – und das ist unerträglich. Ich habe mich fast bis zu Intrigen erniedrigen müssen und habe auf Sie gewartet wie auf meinen Retter. Man kann es mir nicht verdenken, daß ich mich unter diesen Umständen nach einem Freunde umschaue, und wie sollte ich mich nicht glücklich schätzen, daß ich so einen Freund habe: wer in einer Nacht, da er selbst halb erfroren aufgefunden wird, noch meinen Namen nennt, der muß mir doch ergeben sein! Das habe ich mir die ganze Zeit immer wieder gesagt, und deshalb habe ich auch meine ganze Hoffnung auf Sie gesetzt.“
Sie sah mir mit ungeduldig fragendem Ausdruck in die Augen. Und siehe da, mir fehlte wieder der Mut, ihr den Glauben zu nehmen und ihr geradeaus zu erklären, daß Lambert sie betrogen, und daß ich ihm durchaus nicht gesagt hatte, ich sei ihr so sehr ergeben, geschweige denn, daß ich „nur ihren Namen“ auf den Lippen gehabt hätte. Mit meinem Schweigen aber unterstützte ich gewissermaßen Lamberts Lüge. Oh, ich bin fest davon überzeugt, daß sie dabei nur zu gut wußte, daß Lambert alles übertrieben und sie einfach belogen hatte, einzig und allein, um einen Vorwand zu haben, bei ihr zu erscheinen und die Beziehung zu ihr aufrechtzuerhalten; und wenn sie mir nun so in die Augen sah, als wäre sie wirklich von dem Gesagten und von meiner Ergebenheit überzeugt, so wußte sie eben, daß ich es nicht wagen würde, ihrer Annahme zu widersprechen, einerseits aus Zartgefühl und andererseits infolge meiner jugendlichen Schüchternheit. Übrigens, ob ich mit dieser Vermutung recht habe oder nicht – das weiß ich nicht. Vielleicht bin ich nur schrecklich verdorben.
„Mein Bruder wird für mich eintreten,“ sagte sie plötzlich erregt, als sie sah, daß ich keine Antwort geben wollte.
„Man sagte mir, Sie seien mit ihm in meiner Wohnung gewesen,“ stammelte ich verwirrt.
„Aber der unglückliche Fürst Nikolai Iwanowitsch kann sich ja nirgendwohin mehr retten, vor dieser ganzen Intrige, oder richtiger, vor seiner eigenen Tochter, als in Ihre Wohnung, das heißt, in die Wohnung seines Freundes; denn er hat doch wohl das Recht, Sie wenigstens für seinen Freund zu halten! ... Und dann, wenn Sie etwas für ihn tun wollen, so tun Sie es, wofern in Ihnen soviel Großmut und – Kühnheit ist ... und wenn Sie für ihn wirklich etwas tun können. Oh, nicht um meinetwillen, nicht für mich, sondern für ihn, für den unglücklichen alten Mann, der Sie wirklich aufrichtig liebt, der Sie von ganzem Herzen wie seinen eigenen Sohn liebt, und der sich auch heute noch nach Ihnen sehnt! Für mich erwarte ich gar nichts, auch nicht von Ihnen – hat doch selbst mein eigener Vater mir einen so hinterlistigen, so boshaften Streich gespielt!“
„Ich glaube, Andrei Petrowitsch ...“ begann ich.
„Andrei Petrowitsch,“ unterbrach sie mich mit bitterem Hohnlächeln, „Andrei Petrowitsch hat mir damals auf meine offene Frage ehrenwörtlich versichert, daß er niemals die geringste Absicht auf Katerina Nikolajewna gehabt habe, was ich ihm auch glaubte, als ich meinen Schritt tat; indessen dauerte dieser Verzicht nur so lange, bis er die erste Nachricht von einem gewissen Herrn Bjoring erfuhr.“
„Das ist nicht so zu verstehen,“ rief ich, „es hat einen Augenblick gegeben, wo auch ich an seine Liebe zu dieser Frau glaubte – aber das ist es nicht ... Ja, und selbst wenn es der Fall gewesen wäre, so kann er doch jetzt ganz beruhigt sein ... da dieser Herr ja schon verabschiedet worden ist.“
„Welcher Herr?“
„Bjoring.“
„Wer hat Ihnen denn das gesagt? Vielleicht hat dieser Herr noch niemals so viel Einfluß gehabt, wie eben jetzt,“ lachte sie boshaft; mir schien sogar, daß sie mich dabei spöttisch und scharf beobachtete.
„Mir sagte es Darja Onissimowna,“ stammelte ich in einer Verwirrung, die zu verbergen ich nicht imstande war, und die sie nur zu gut bemerkte.
„Darja Onissimowna ist ja eine sehr nette Person, und natürlich kann ich ihr nicht verbieten, mich zu lieben, aber sie hat gar keine Mittel, etwas zu erfahren, was sie nicht zu wissen braucht.“
Mein Herz krampfte sich zusammen; und wenn sie beabsichtigt hatte, meinen Unwillen zu entflammen, so war ihr das allerdings gelungen, da es in mir heiß zu sieden begann, nur war es nicht Unwille über jene Frau, sondern Unwille über sie, Anna Andrejewna, selbst. Ich erhob mich.
„Als anständiger Mensch muß ich Sie im voraus darauf aufmerksam machen, daß Ihre Erwartungen ... in bezug auf mich ... sich als sehr hinfällig erweisen können ...“
„Ich erwarte von Ihnen, daß Sie für mich eintreten,“ sagte sie und sah mich fest an, „für mich, die ich von allen verlassen bin ... für Ihre Schwester, wenn Sie es wollen, Arkadi Makarowitsch.“
Einen Augenblick noch, und sie hätte zu weinen angefangen.
„Nun, dann erwarten Sie lieber nichts von mir, weil ich Sie vielleicht enttäuschen könnte,“ stammelte ich in unsäglicher Pein.
„Wie soll ich Ihre Worte verstehen?“ fragte sie mich ganz zaghaft.
„Einfach, daß ich von ihnen allen fortgehe und – damit basta!“ rief ich plötzlich voller Wut – „und das Dokument – zerreiße ich. Leben Sie wohl.“
Ich verbeugte mich vor ihr und ging schweigend hinaus, dabei wagte ich kaum, sie anzusehen; aber ich war noch nicht die Treppe hinuntergegangen, als Darja Onissimowna mich einholte und mir ein zweimal zusammengefaltetes Blatt Briefpapier überreichte. Woher diese Darja Onissimowna plötzlich kam, und wo sie sich während meiner Unterredung mit Anna Andrejewna befunden hatte, – weiß ich nicht. Sie sagte mir kein Wort, übergab mir nur das Papier und lief wieder zurück. Ich entfaltete das Blatt: auf ihm stand nichts weiter als Lamberts Adresse, die offenbar schon vor einiger Zeit geschrieben war. Ich erinnerte mich plötzlich, daß ich damals, als Darja Onissimowna bei mir gewesen war, ihr gesagt hatte, ich wüßte nicht, wo Lambert wohne, aber natürlich in dem Sinne, daß ich die Wohnung auch gar nicht wissen wollte. Inzwischen aber hatte ich die Adresse Lamberts schon durch Lisa erhalten, die ich gebeten hatte, sich im Adreßbüro zu erkundigen. Dieser Schachzug Anna Andrejewnas erschien mir denn doch schon zu rücksichtslos, ja, sogar zynisch: ungeachtet meiner Weigerung, ihr zu helfen, schickte sie mich nun einfach zu Lambert. Mir wurde nur zu klar, daß sie den Inhalt des Dokumentes kannte – und durch wen hätte sie den erfahren können, wenn nicht durch Lambert, zu dem sie mich jetzt sandte, damit es zwischen uns zu einer Vereinbarung käme!
„Sie halten mich ja alle, ohne Ausnahme, für einen dummen Jungen, der weder eigenen Willen noch Charakter hat, und mit dem man machen kann, was man nur will!“ dachte ich empört.